Franziska Gräfin zu Reventlow
Der Selbstmordverein
Franziska Gräfin zu Reventlow

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Es war sehr spät gewesen, und. als Erasmus am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich benommen im Kopf und hatte eine unklare Erinnerung, daß etwas Bedrückendes vorgefallen sei. Langsam stellte er die Ereignisse des Vorabends wieder zusammen, als Josias kam und ihm Hedys Besuch meldete.

«Du hast sie doch nicht weggeschickt?»

«Nein, Fräulein Hedy wartet beim Herrn Doktor, er ist heute morgen zu Hause geblieben.»

Man wird also ernste Worte mit Hedy reden, überlegte er, und später mit dem Jungen. Mittags kommt der Papa, und ich muß ihm einen Kommentar geben, wenn es ihn heute noch interessiert, und dann schließlich noch wieder mit Käthe das Ganze bearbeiten. Ja, da wird immer viel gesprochen und zugeschaut, wie die Dinge sich entwickeln, aber es kommt nie dazu, daß man eingreifen und für sich oder die anderen handeln könnte. Liegt das nun an uns oder an den Umständen?

«Fräulein Hedy sitzt schon seit einer Stunde beim Herrn Doktor und hat geweint», berichtete Josias, «ich habe ihr dann Kaffee gebracht.»

«Ja, recht so, Josias, du bist alt und siehst das alles schon aus der Ferne an, aber wir haben immer Geschichten und Geschichten, und man kommt nicht zur Ruhe. Was würdest du nun machen, wenn das deine Kinder oder Enkel wären?» Und er erzählte ihm mit kurzen Worten, was es gab.

Josias war es gewöhnt, daß man ihn öfters ins Vertrauen zog und, er sein Urteil abgeben sollte. Für ihn gab es hier einen Unterschied, den er streng gewahrt haben wollte. Das war die ältere Generation und die junge. Die ältere mußte tadellos dastehen, da durfte nichts vorkommen, was irgendwie Ärgernis erregen konnte. Henning, der Vater zum Beispiel, hatte in seinen Augen den Nimbus der Unantastbarkeit verloren, seit er durch seine zweite Heirat den Niedergang der Familie heraufbeschworen. Jede Respektlosigkeit fiel seiner alten Dienerseele schwer, aber er begegnete ihm seither mit einer Zurückhaltung, die jener wiederum mit leutseliger Distanz zu ignorieren suchte.

Mit der Jugend war es etwas anderes, der Jugend gegenüber bewies Josias eine unendliche Toleranz. Sie war noch nicht verantwortlich und hatte nicht zu repräsentieren. Er mußte wohl selbst einmal jung gewesen sein, oder er hatte zuviel mitangesehen, denn er begriff, daß es da nicht ohne Irrtümer und Verfehlungen abgehen konnte, einerlei welchen Kreisen man angehörte. In diesem Sinne äußerte er sich nun auch über Georg und Hedy, die er als Schützlinge seines jungen Gebieters zärtlich liebte, den Kommerzienrat dagegen verurteilte er als alten Sünder, der nur seine Hände davon lassen sollte.

Hedy saß also bei Burmann und trank ihren Kaffee an dem Frühstückstisch, der noch auf Henning wartete, und erzählte, erzählte ohne Ende. Burmann war ungewöhnlich aufgeregt über das, was er zu hören bekam. In den Elternhäusern der beiden stand jedenfalls eine Katastrophe bevor, in die er, soweit es Georg betraf, mitverwickelt wurde.

«Der elende Mensch wird nicht den Mund halten, das ist ganz ausgeschlossen», erklärte Hedy in bezug auf Schönlank. «Die Mutter würde ich vielleicht noch herumkriegen, sie ist ziemlich schwach mir gegenüber und hat nur Angst vor dem Gerede, aber der Vater» – sie schloß einen Moment die Augen wie vor einer zermalmenden Gefahr –, «nein, ich laufe fort, ich gehe nicht wieder nach Hause.»

«Das tun Sie nicht, Hedy, man wird Sie einfach wiederholen, und dann ist alles schlimmer als vorher. Was kann Ihnen denn schließlich passieren, man schickt Sie vielleicht ein Jahr in Pension, und nachher ist alles wieder in Ordnung. Es ist ja lächerlich, wenn man noch das ganze Leben vor sich hat.»

Sie wippte mit dem Stuhl und lächelte eigensinnig: «Das sagt ihr immer, das ganze Leben. Was nützt uns das? Man kann doch jung sterben. Wir wollen uns gerade jetzt nicht trennen.»

«Kinderei, Menschen, die wissen, daß sie wirklich zusammengehören, halten auch eine Trennung aus – erst recht. Will man etwas vom Leben, so muß man auch seinen Beitrag zahlen. Das ist nun einmal so, und da gibt's auch für euch keine Ausnahme. Ruhig, Hedy, ich weiß schon, was Sie mir antworten wollen – daß wir ja mit im Komplott waren und euch gewähren ließen. Ja, du lieber Gott, was sollten wir denn tun? Ihr standet sozusagen unter unserem Schutz, und wir konnten das bis zu einem gewissen Grade verantworten. Daß ihr euch traft, zusammen spazierengingt oder zu uns kamt, das alles mochte noch hingehen, auch wenn die Eltern davon erfuhren. Das haben alle getan, als sie in eurem Alter waren, und man hätte nicht viel Aufhebens davon gemacht. Aber ihr laßt jede Vorsicht außer acht, ihr müßt in Séparées und Nachtlokale gehen, koste es, was es wolle, da können wir nicht mehr für euch einstehen, wenn ihr in der Klemme sitzt, können euch nicht mehr helfen, gar nichts. Im Gegenteil, wenn eure Eltern uns auf die Bude rücken, stehen wir in einem üblen Licht da, daß wir solchen Scherzen Vorschub geleistet haben.»

Während er noch sprach, war Erasmus hereingekommen, hatte Hedy stillschweigend die Hand gegeben und war dann ans Fenster getreten. Er hörte zu, was der Doktor sagte, und sah dabei nach den Spatzen, die draußen in den kahlen Baumzweigen hüpften.

«Ich muß auch leider zugeben, daß es ein großer Fehler war, eure Geschichte zu protegieren. Was wißt ihr denn von Liebe – das ist ja alles Kinderei und Vergnügungssucht.»

Blaß und stumm saß sie da, lauschte fast mit Entsetzen auf die harten, unheilschweren Worte, die auf sie niederregneten. Es nahm gar kein Ende mehr, was sie alles getan und angerichtet hatte. Eine beklemmende Ratlosigkeit kam über sie, und sie blickte hilfesuchend nach Henning, der ihr den Rücken zuwandte und an den Fensterscheiben trommelte. Ihn irritierten Burmanns Reden und das Gefühl, daß er wohl recht hatte und man hier gar nichts tun konnte.

Als er endlich an den Tisch kam und sich niedersetzte, begegnete er einem vorwurfsvollen und bittenden Blick. Hedy hatte auch heute ihre erwachsene Frisur, und ihm schien, es sei nicht mehr der Backfisch, den er brüderlich beschützte, sondern eine junge Dame, die einen Roman erlebte, für die man Schritte tun und die üblichen Ritterpflichten auf sich nehmen mußte. Aber wie war das in diesem Fall möglich? Da hatten irgendwelche Eltern, fremde unbekannte Leute, zu bestimmen, und was sie bestimmten, geschah.

«Gib jetzt Ruhe», sagte er schließlich, möglichst heiter, um die lastende Stimmung zu bannen. «Wir wollen doch erst einmal abwarten, ob denn nun wirklich ein solches Erdbeben anheben wird, wie ihr zu erwarten scheint. Der unangenehme Kommerzienrat, von dem unser aller Wohl und Wehe abhängt, kann doch auch seinen Entschluß ändern und stillschweigen. Dann werden die beiden fortan vorsichtiger sein... Du, Hans, kannst ganz außerhalb bleiben, den Verkehr hier im Hause und meinetwegen auch die Nachtexpedition schreiben wir auf mein Konto. Ich bin ja einstweilen an keine sozialen Rücksichten gebunden. Du hast gewiß recht in vielem, was du da sagst, aber es hat jetzt gar keinen Zweck, den begangenen Fehlern nachzugehen. Man begeht keine weiteren, macht wieder gut, was gutzumachen ist, und nimmt etwaige Unannehmlichkeiten auf sich. Letzteres bezieht sich auf Sie, Hedy. Selbst wenn das furchtbare Ereignis eintreten sollte, daß man Sie in eine Pension schickt... wir halten ja doch zu Ihnen, man schreibt Ihnen, besucht Sie...»

«Ja, ich...», antwortete sie beklommen, «aber was wird mit Georg? Seine Eltern waren schon außer sich über die Vereinsgeschichte. Wenn es jetzt wieder etwas gibt, meint er, sie nehmen ihn einfach von der Schule und stecken ihn in ein Geschäft. Und er will doch studieren, große Reisen machen.»

«Mit Ihnen, nicht wahr? Nun, über diese Reisen wollen wir uns noch nicht weiter aufregen. Um Georg ist mir nicht bange, der läßt sich nicht so leicht einschüchtern.»

«Ihr kennt ihn ja gar nicht», sagte Hedy mit großer Überlegenheit. «Er spricht immer so bagatellmäßig, wenn ihr dabei seid. Mir hat er gesagt, eher würde er sich eine Kugel vor den Kopf schießen.»

Burmann wurde ärgerlich: «Ja, natürlich, siehe Selbstmordverein. So reden alle grünen Jungen, und mit all diesen Geschichten hat er zur Genüge bewiesen, daß er noch ein grüner Junge ist. Lassen Sie ihn nur am Nachmittag heraufkommen, ich möchte aber allein mit ihm sprechen, und seien Sie nur ganz ruhig, das sind Redensarten. Wer vorher damit droht, hat sich noch nie eine Kugel durch den Kopf geschossen. – Ich gehe jetzt – entschuldige mich bei deinem Vater, Henning, ich kann meine Leute nicht länger warten lassen, aber möglicherweise komme ich schon bald zurück. Und laß Hedy vorher fortgehen, er kann jeden Moment hiersein.» – «Gott, ist der heute schlechter Laune», sagte Hedy, als Burmann fort war, «dann muß ich also gleich gehen. Warten Sie einen Moment.»

Sie stürzte in den Korridor, wo sie ihre Sachen abgelegt hatte, und kam mit einem kleinen, in Seidenpapier gewickelten Paket wieder.

«Da ist Ihr Schuh», und sie stellte einen winzigen, schiefgetretenen Kinderschuh vor ihm hin. Er war mit Gold bronziert und wirkte dadurch etwas steif, beinah als ob er aus Gips wäre. Daran sei die Mama schuld, erklärte Hedy, die habe eben all die abgelegten Schuhchen bronzieren lassen. Sie hätte ihm lieber einen «wirklichen» gebracht, aber da sei keiner mehr zu finden. Henning betrachtete den vergoldeten, winzigen Schuh, der vor ihm auf dem weißen Tischtuch stand.

«Das schadet nichts, Hedy, Sie machen es vielleicht ebenso, wenn Sie einmal verheiratet sind. Er freut mich sehr, ich stelle ihn auf meinen Schreibtisch.»

«Ja, als Andenken.»

«Andenken, das brauchen wir einstweilen noch nicht. Sie sind ja noch hier...»

«Den Kuß sollen Sie auch noch haben», sagte Hedy mit einem Lächeln und suchte sich zu beherrschen, denn ihre Nerven ließen nach, und sie war dem Weinen nahe. Henning zog sie an sich und legte den Arm um sie: «Ja, was ist denn, Kind. Mut, Mut, ich weiß schon, das Leben ist manchmal nicht schön, aber es wird dann schon wieder besser.»

Hedy aber warf sich förmlich in seine Arme und schluchzte verzweifelt. Er suchte sie zu beruhigen, wie man ein Kind tröstet, mit zärtlichen Worten, trocknete ihr immer wieder die Augen und beneidete sie im stillen, daß sie noch so fassungslos weinen konnte, und worüber? Über einen Kommerzienrat, der sie bei ihren Eltern verklagen wollte. Daneben empfand er es wie eine Liebkosung, daß sie sich mit ihrem kindischen Leid an ihn schmiegte. Das war alles noch so unverbraucht und verschwenderisch, gab und nahm, was es grade brauchte oder übrig hatte, ohne darüber nachzudenken.

«So, jetzt hören wir aber auf, Hedy», sagte er dann sehr energisch, schob sie ein wenig zurück und nahm ihre beiden Hände. Er wollte nicht etwa noch selber gerührt werden und in keiner Weise aus der Rolle des älteren Freundes fallen.

«Ja, ich höre schon auf», wiederholte sie mit einer störrischen Kopfbewegung und biß sich auf die Lippen. Das Sprechen wurde ihr schwer, und die hellbraunen Augen waren stark verweint.

Draußen wurde geklingelt, und man hörte Josias zur Haustür gehen. Erasmus vermutete, daß es sein Vater sei, und das Mädchen wollte erschrocken zur anderen Tür hinaus.

«Laß gut sein, Kind, keine Eile, es ist wirklich ganz gleichgültig», dann zog er sie wieder an sich und küßte sie auf die Stirn und den Mund. Sie waren neben dem Fenster, als der alte Herr hereinkam. Er stand noch unter dem peinlichen Eindruck des vorigen Abends und war nicht eben freudig überrascht, dasselbe Mädchen, welches die Szene veranlaßte, in anscheinend vertraulichem Zwiegespräch mit seinem Sohne schon wieder vorzufinden. Ihr verstörtes Aussehen aber rührte ihn, sie nahm sich in diesem niedergedrückten Zustand jedenfalls besser aus als gestern in ihrer zornigen Frechheit, und er sagte sich, daß er ja nicht wissen könne, was sich hinter alledem abspielte.

Sie gab ihm verlegen die Hand, als Erasmus vorstellte, vermochte ihre Tränen aber immer noch nicht zu bezwingen und lief dann rasch aus dem Zimmer. Erasmus folgte und schien sie noch die Treppe hinunter zu begleiten. Es dauerte eine Weile, bis er wiederkam, und der Vater ging inzwischen zerstreut im Zimmer hin und her, blieb schließlich vor dem vergoldeten Kinderschuh stehen, nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn eingehend.

«Armer Vater», sagte Erasmus noch in der Tür, «das fade Theaterstück von gestern hat sich gerächt. Du gerätst seitdem von einer dramatischen Szene in die andere. Ein Kommerzienrat wird geohrfeigt und sinnt auf Rache, ein weinendes Mädchen erscheint, und dein Sohn, der sonst zu nichts Besonderem gut ist, tröstet die jugendliche Sünderin. Denke nur nicht, daß es immer so bewegt bei uns hergeht.» Dann hielt er es für angemessen, einige Erläuterungen zu geben.

Der alte Baron folgte aufmerksam und wiegte den Kopf hin und her: «Schade um das Mädchen, man sollte sie eine Zeitlang fortschicken und dann verheiraten. Ich danke Gott, daß ich keine Töchter habe. Man soll streng mit den Mädels sein, unerbittlich streng, sonst hat man auf Schritt und Tritt die unmöglichsten Begebenheiten, und wenn sie hübsch und temperamentvoll sind wie diese Kleine, ist das nicht so leicht. – Und du bist nicht etwa nebenbei in sie verliebt?»

«Ach, Papa, etwas verliebt ist man in jedes weibliche Wesen, wenn es Charme hat. Aber Hedy beschütze ich nur wie ein älterer Herr, außerdem respektiere ich immer die Rechte der anderen, auch wenn es nur Gymnasiasten sind. Ausgenommen natürlich wenn man eine Frau durchaus haben will. Die Rechte des verdammten Schweden sind mir zum Beispiel ganz gleichgültig.»

Der Vater überhörte diese Bemerkung, er wollte nun einmal von Lucy nichts wissen. Diese unsichtbare Schwiegertochter ärgerte ihn, und er hielt sie, falls sie wirklich existierte, für etwas ganz Bedenkliches. Statt dessen interessierte er sich für Georg, der hatte ihm gefallen, wie er gestern abend so begossen und selbstbewußt Schönlank gegenüberstand. Zudem war er des Doktors Vetter, für den er eine starke Sympathie hegte. Ihm imponierte die zielbewußte Tüchtigkeit, die unbeirrt ihren Weg ging und die er ohne weiteres für eine Burmannsche Familieneigenschaft hielt, ebenso wie er die gegenteilige Veranlagung als unabänderliche Henningsche Eigentümlichkeit erachtete.

Während dieses Thema noch behandelt wurde, kam der Doktor zurück und hatte wie schon manchmal sein ironisches Vergnügen daran, wenn der Baron Theorien aufstellte. Josias erschien, um den Tisch abzuräumen, sie gingen in Burmanns Arbeitszimmer hinüber, und er holte verschiedene Familienphotographien hervor, auch von Georg und seinen Eltern und Geschwistern. Es war tatsächlich auffallend, wie fast all diesen Gesichtern ein gewisser geschlossener klarer Ausdruck eigen war. «Nur gerade Georg ist anders», sagte Burmann. «Mag sein, daß ich ihn deshalb immer besonders gern hatte. Sehen Sie, rein äußerlich guter Durchschnitt, aber unter der Durchschnittsmaske hat er eine Anlage zum Fanatismus, was übrigens die Linien um den Mund auch erkennen lassen.»

«Hältst du das für ein Glück?» fragte Erasmus.

«Glück? Nein, aber Glück ist ja auch nicht unbedingt das Wünschenswerteste. Die Menschen mit bloßen Glücksanlagen haben es meist nicht einmal besonders gut auf der Welt.»

«Und die Fanatiker?»

«Du mußt das nur richtig verstehen, nicht im übertriebenen Sinn. Ich sprach nur von einer Anlage und meine damit, daß jemand imstande ist, sich unbeirrt für eine Sache einzusetzen, eine Idee, ein Werk, ein Ziel, was weiß ich... das ergibt sich natürlich erst im Lauf des Lebens.»

«Einstweilen für Hedy», sagte Erasmus.

«Nun ja, auch das ist ihm blutig ernst. Ich habe, wie du gehört hast, dem Mädel heute gründlich die Leviten gelesen und werde es mit Georg ebenso machen, aber eigentlich nur, weil ich es für richtiger halte, den überlegenen Älteren zu zeigen, anstatt sie, wie ihr, in Verständnis und Mitgefühl einzuwickeln. Selbstverständlich kann man nicht verlangen, daß er sich wie ein ausgereifter Mann benimmt. Aber sonst... wir behandeln die Geschichte immer wie einen Babyroman, den wir komisch und liebenswürdig nehmen – im Grunde ist es doch wohl ein ganz ernstes Stück Leben, das wir da mit ansehen.»

Der alte Baron lauschte mit Interesse. Ihm war es etwas Ungewohntes, daß man allem so auf den Grund ging, aber vielleicht – meinte er – lernt man dann über manches anders denken, es war sonst nicht so einfach, mit der jüngsten Jugend Fühlung zu behalten, weil man sich zu leicht über ihre törichten Sprünge nur ärgert.

«Und diese Geschichte mit dem Verein, die Ihr Vetter da veranstaltet hat? Als man selbst noch in diesem Alter war...» Das war bei ihm eine häufig wiederkehrende Betrachtung, bei der er sich dann in Gedanken verlor.

«Wer jemals wirklich jung war, hat sicher auch gelegentlich mit Selbstmordgedanken gespielt. Das braucht noch lange nicht pathologisch zu sein. In der ersten Jugend liegt das Leben am verlockendsten und auch am bedrohlichsten vor uns, und beides wirft leicht aus dem Gleichgewicht... Man hat das wieder einmal viel zu wichtig behandelt... der Junge, der sich tatsächlich umgebracht hat, hätte es auch ohne Verein getan. Und die anderen fühlen sich als interessante Verbrecher und fordern das Schicksal heraus. Sie machen den Schulweg nur noch zusammen, gehen mit ihren Mädchen spazieren... ‹Jetzt fällt es uns erst recht nicht mehr ein, auf Musterknaben zu posieren›, sagte mir Georg. Ja, und wer weiß, Herr Baron, was Ihr Freund Schönlank da jetzt für einen neuen Stein in den Teich werfen wird.»

«Mein Freund!» erwiderte der Baron unwillig und spöttisch, «wollte ich mich seiner eigenen Redeweise bedienen, so dürfte man ihn höchstens als meinen Geschäftsfreund bezeichnen. Offen gesagt, ich neige allmählich immer mehr dazu, gegen ihn Partei zu nehmen.»

«So hast du doch etwas bei uns gelernt», meinte Erasmus, der auf einer Ecke des großen Tisches saß. Er war ungeduldig, wie immer, wenn ihm das Gespräch zu eingehend wurde. «Mir hat dein Geschäftsfreund von vornherein einen fatalen Eindruck gemacht, und jetzt hat er vollends verspielt. Ein Kommerzienrat auf Kriegsfuß mit der Schuljugend, das hat einen Beigeschmack von Lustspielfigur. Mach dir keine Hoffnung, daß ich eine von seinen Töchtern heirate, um mich zu rangieren.» Damit glitt er von der Tischecke herab und öffnete die Tür zum Eßzimmer: «Josias, wo hast du den Schuh hingetan, der bei meinem Platz stand?»

«Ist das ein Schuh, Herr Baron?» fragte Josias zurück und machte irgendeine Bemerkung, über die Erasmus laut lachte.

«Gib her», sagte er dann, «ich will ihn auf meinen Schreibtisch stellen, und du wirst achtgeben, daß ihm nichts passiert.» Er ging in das andere Zimmer hinüber, und dann entfernten sich seine Schritte, während der Alte weiter mit Tellern und Besteck klapperte.

«Sie sehen, es sind unweigerlich die Gegensätze, die sich anziehen», meinte Burmann. «Ihnen gefällt das, was Sie meine Tatkraft nennen und was nichts weiter ist als meine Methode, mit dem Leben fertig zu werden. Ich wiederum habe die Vorliebe für meinen Vetter, weil ich ihn für fähig halte, Extravaganzen zu begehen, und für Ihren Sohn, weil er eigentlich ein sentimentaler Dekadent ist. Sehen Sie nur, was er wieder für Wesens mit dem Schuh des kleinen Mädchens treibt.»

Dann erschrak er selbst über das, was er gesagt hatte. Der Baron verzog eine Sekunde lang das Gesicht, wie jemand, der Zahnschmerzen hat, sie aber zu ignorieren wünscht.

«Das ist ein harter Ausdruck, lieber Doktor», sagte er langsam. «Ich fürchte ja, Sie haben recht, aber ich höre hier bei Ihnen so oft sagen, man müsse Menschen und Dinge so nehmen, wie sie einmal sind.»

Der Nachmittag und Abend verlief ziemlich farblos. Erasmus widmete sich fast ausschließlich seinem Vater, der nun sicher morgen abfahren wollte. Sie hatten einander nicht mehr viel zu sagen, das Geschäftliche war verhandelt worden, und das Persönliche blieb, wie es immer gewesen war. Beide fühlten, daß das Leben und seine Geschehnisse ihnen weder je eine wirkliche Entfremdung noch eine besonders tiefgehende Annäherung bringen würden, und waren ganz zufrieden damit. Der Vater sprach wohl den Wunsch aus, Erasmus möchte einmal wieder nach Hause kommen, sei es zu einem kurzen Besuch oder einem längeren Aufenthalt. Er deutete auch an, daß er dort jederzeit eine bleibende Stätte finden könne, falls er sich mit Beruf und Karriere nicht abfinden würde. Es war da ein entlegenes, unbewohntes Jagdhaus, das als Knabe sein Traum gewesen und wo er ganz als sein eigener Herr residieren konnte. Erasmus quittierte das alles mit dankendem Lächeln, versprach zu kommen, und wer weiß, vielleicht hielt er auch einmal als schiffbrüchiger Bankjurist seinen Einzug in das Jagdhaus und spielte dort den gefährlichen Einsiedler für die Damen der Umgegend. «Oder wenn ich doch noch die Käthe heirate», fügte er scherzend hinzu. So redeten sie beide voll freundlichem Entgegenkommen und wußten sehr gut, daß von alledem nichts geschehen würde. Der Sohn würde nach wie vor den Besuch zu Hause umgehen, und wenn ihm nichts anderes glückte, doch schwerlich auf seine Kinderträume von einem Häuschen im Walde zurückkommen. Was noch kommen mochte, wußte man ja niemals, aber daß dieses oder jenes bestimmt nicht eintreten würde, konnte man schon jetzt mit Bestimmtheit wissen.

Es waren noch einige geschäftliche Gänge zu machen, Besorgungen und Abschiedsbesuche. Auch bei Käthe gab es eine letzte Teestunde zwischen Nachmittag und Abend, an der Erasmus sich nicht beteiligte. Sie sah den liebenswürdigen alten Herrn ungern scheiden, der ihr halb väterlich die Cour gemacht und sie abwechselnd an ihren eigenen Vater und an ihren sehr viel älteren Mann erinnerte. Er wiederum bewunderte sie, und es war ihm lieb zu wissen, daß sein Sohn eine solche Frau wenigstens zur Freundin hatte. Kurz, es bestand eine Brücke zwischen ihnen, auf der herzliche und sympathische Gefühle hinüber- und herüberwanderten.

«Sie müssen wiederkommen, Baron», sagte sie zum Abschied, «und womöglich zu einem festlichen Anlaß, entweder wenn wir Lucy entdeckt haben und sie sich vielleicht doch zur Schwiegertochter eignet oder wenn es unseren vereinten Bemühungen noch gelingt, Ihren Sohn zum erfolgreichen Streber zu machen. Ich fahre derweil fort, meine beiden Junggesellen zu behüten, die ja leider ihre wärmeren Gefühle immer für andere Frauen reservieren. Es ist fast, als hätte ich zwei Ehemänner, die mich fortgesetzt betrügen.»

«Ein unverzeihlicher Irrtum, Frau Käthe, den ich nie begangen hätte, wäre ich Ihnen früher begegnet», sagte er galant und küßte ihr in der Korridortür die Hand. Erasmus trieb sich indessen in den Straßen herum und beschloß, sobald er wieder allein sei, sich mit verbissener Energie der Neuregulierung seines Lebens zu widmen. Geredet hatte man jetzt genug davon.

So ging der Tag zu Ende, wie manchmal letzte Tage eines längeren Beisammenseins in einer gewissen Stumpfheit ausklingen, wenn alles schon gesagt und gefühlt worden ist, worauf es ankam.

Der nächste aber begann damit, daß schon in aller Frühe die Mutter Georgs antelephonierte und sofort den Doktor zu sprechen verlangte. Er lag noch im Bett und beauftragte Josias, zu fragen, ob jemand krank sei. Gleich nach zehn Uhr könne er hinauskommen. Sein Onkel, der Architekt Burmann, wohnte weit draußen in einem Vorort. Merkwürdig, dachte er dann, ärgerlich über die frühe Störung, sie haben doch ihren Hausarzt und pflegen mich sonst nicht zu beehren.

Josias kam zurück: «Nein, Herr Doktor, niemand ist krank, aber ob wir nicht wüßten, wo der junge Herr Georg sei. Er ist seit vorgestern abend nicht heimgekommen, sagte die gnädige Frau, und sie meinte, er wäre vielleicht hier bei uns.»

«Josias», sagte Burmann in plötzlichem Erschrecken und fuhr in die Höhe.

Der Alte sah ihn fragend an, mit dem Denken ging es bei ihm nicht so schnell.

«War Georg gestern hier?» fragte Burmann und besann sich. Ja, richtig, er hatte kommen sollen, aber man war nicht zu Hause gewesen und hatte hinterlassen, er möge im Hotel anrufen, wo sie den Abend verbrachten.

«Nein, Herr Doktor, niemand von den jungen Herrschaften ist dagewesen.»

Josias blieb unschlüssig stehen, während der Doktor sich rasch ankleidete; noch ehe er fertig war, wurde wieder angerufen, und diesmal ging er selbst hinaus.

Georgs Mutter schien sehr beunruhigt. Wo könne der Junge stecken, hatte ihn gestern niemand gesehen? Bis jetzt hatte es sich durch kleine Zufälle und Listen glücklich so gefügt, daß ihr Mann sein Fernbleiben nicht bemerkte, aber wenn er auch heute nicht wieder erschien, war das nicht länger aufrechtzuerhalten. «Was macht er nur, wo treibt er sich herum?» sagte sie, und Burmann gingen die verschiedensten Gedanken durch den Kopf, während er wiederholte, daß er nichts wisse. Er hatte diese Tante sehr gern, sie war eine ruhige, üppige Frau mit schöner, klangvoller Stimme, die jetzt am Telephon, vielleicht auch infolge der Angst, merkwürdig verändert und fremd klang. «In Gottes Namen soll er treiben, was er mag, nur will ich keine Angst um ihn haben. Du weißt ja doch sicher etwas, Hans, und sollst es mir nur nicht sagen. Aber du mußt mir helfen.»

«Ich habe keine Ahnung», antwortete er, «er wollte gestern zu mir kommen, hat sich aber nicht sehen lassen.»

«So rate mir doch wenigstens, was ich tun soll... in der Schule anfragen... ich fürchte, wenn er nicht da war, erregt es erst recht Aufsehen», sie machte eine Pause, schien mit jemand zu sprechen. «Hörst du, Hans? Mein Mann kommt zu Tisch nicht nach Hause, so gewinnen wir Zeit. Aber bis Abend muß der Junge dasein. Geh du doch zur Schule, frage seine Kameraden, unauffällig. Was meinst du, vielleicht steckt eine Weibergeschichte dahinter, mir wurde schon mehrmals erzählt, daß er mit einem Mädchen gesehen wurde.»

«Das ist wohl möglich», antwortete Burmann mechanisch, «das kommt ja vor, mein Gott.»

«Es ist auch ganz gleichgültig, hörst du, er braucht deswegen keine Angst zu haben. Schaffe ihn mir nur wieder her, ehe dein Onkel etwas merkt.»

Er versprach, sein möglichstes zu tun. Ja gewiß, er konnte mittags, wenn die Schule aus war, die Kameraden fragen. Sie sollte nur versuchen, sich nicht so aufzuregen und den Onkel hinzuhalten, etwa sagen, der Junge hätte mit ihm, Hans Burmann, einen Ausflug gemacht, etwas unwahrscheinlich um diese Jahreszeit, aber er hatte ja manchmal Patienten außerhalb der Stadt.

Darauf ging er zu Henning hinein, dem Josias inzwischen berichtet hatte, fand ihn vollständig wach mit aufgestützten Ellenbogen, und er sah wieder aus wie ein müder Stierkämpfer. Burmann setzte sich auf den Bettrand: «Was sagst du dazu? Was haben die zwei nur wieder angestellt? Das ist ein schöner Erfolg meiner gestrigen Moralrede.»

«An die dachte ich gerade auch. Hat nicht Hedy gesagt, sie wolle überhaupt nicht wieder nach Hause?»

Burmann sah angestrengt vor sich hin und rekapitulierte das gestrige Gespräch.

«Allerdings, ja, das hat sie gesagt, aber wie man so etwas hinredet, ohne festen Plan. Es ist doch kaum anzunehmen, daß sie allen Ernstes miteinander durchgebrannt sind... wohin? und mit was?... Für so kopflos halte ich Georg denn doch nicht.»

«Aber Hedy, und bei solchen Anlässen gibt die Ansicht der Dame meistens den Ausschlag. Welcher Mann würde je durchbrennen, wenn ‹sie› es nicht wollte.»

«Was hast du denn nachher noch mit ihr gesprochen?»

«Nichts. Sie hat nur geweint, und ich habe sie getröstet, bis dann der Papa kam.»

Henning richtete sich auf und wurde sehr unruhig. Die ganze Szene stand wieder deutlich vor ihm, und ihm schien, als sei er gestern in unbegreiflicher Unachtsamkeit an etwas vorbeigegangen, was ihm jetzt erst in der richtigen Beleuchtung erschien. Hedy hatte geweint wie eine völlig Verzweifelte und hatte sich überhaupt benommen wie jemand, der Abschied nimmt.

Er sagte jedoch nichts weiter darüber, sondern stand nun ebenfalls auf und machte eilig Toilette. Die elektrischen Lampen brannten noch, während es draußen längst hell geworden war. Henning warf ungeduldig alles durcheinander, was ihm in die Hände kam, und blieb dazwischen unentschlossen stehen, um einer Vermutung nachzugehen oder zu hören, was Burmann sagte. Es war eine Stimmung wie inmitten eines Aufbruches, einer plötzlichen Veränderung des Bisherigen in einem Milieu, wo man nicht an unerwartete Ereignisse gewöhnt ist.

Dann gingen sie zusammen hinunter, und Josias brachte das Frühstück. Wie er gestern Hedy mit einem guten Kaffee trösten wollte, so suchte er jetzt auf die beiden Freunde durch besonders liebevolle Bedienung beruhigend einzuwirken. Er schenkte ihnen ein, was sonst jedem selbst überlassen blieb, reichte ihnen zu, was sie brauchten, und blieb dann abwartend im Hintergrund stehen. Man ließ ihn gewähren, er gehörte ja mit dazu und war von großer Besorgnis erfüllt.

Henning meinte, man müsse vor allem zu erfahren suchen, ob auch Hedy nicht heimgekommen sei... Sie besuchte die Selekta einer Mädchenschule, und die Schule lag in der Nähe jenes Postamts, wo er sie damals mit Georg getroffen hatte. Das ließ sich leicht erfahren, er selbst wollte um die Mittagszeit hingehen und, falls Hedy nicht sichtbar würde, eines der anderen Mädchen fragen.

«Gut», sagte Burmann. «und ich patrouilliere um die gleiche Zeit vor dem Gymnasium – dann treffen wir uns. Natürlich frage ich vorher noch einmal an, ob Georg inzwischen nach Hause gekommen ist. Vielleicht löst sich der ganze Schrecken in eine neuerliche, noch etwas gewagtere Eskapade der beiden auf. Es wird nun aber doch allmählich zu arg, und das sollen sie mir entgelten. Man hätte wohl Besseres zu tun, als sich um die zwei zu ängstigen und Detektiv vor den verschiedenen Kinderschulen zu spielen... Übrigens, ich gestehe, daß ich vorhin gründlich erschrocken war, aber jetzt bei Tageslicht kommt es mir übertrieben vor, sich so verhängnisvoll zu gebärden, weil ein dummer Junge eine Nacht nicht nach Hause kommt. Vielleicht haben sie nur wieder gebummelt, und er ist bei einem seiner Bekannten geblieben.»

«Gut, versuchen wir es wieder mit Optimismus», sagte Henning. «Dein Kaffee, Alter, hat Wunder getan an uns... bei Hedy wollte er gestern nicht viel anschlagen... Und du übernimmst den Telephondienst, während wir weg sind. Ist etwas zu melden, so sage es mir zwischen eins und drei Uhr ins Hotel. Dann bringe ich meinen Vater an die Bahn und komme selbst wieder her.»

Burmann machte sich auf, um einen Kollegen zu bitten, er möge ihn heute nachmittag vertreten, und Erasmus ging gleich in die Stadt. Vielleicht gab es der Zufall, daß er den beiden Sündern begegnete. Er ging einige Male durch die Hauptstraßen und dann in eine Konditorei, wo er wußte, daß sie häufig verkehrten. Dort fragte er ganz beiläufig, ob sie gestern hier gewesen seien. «Nein, vorgestern war die junge Dame da und holte ein Paket ab, was sie hiergelassen, seitdem nicht mehr.» Henning saß am Fenster und sah über seine Zeitung hinweg hinaus, viele Unbekannte und hin und wieder auch Bekannte kamen vorüber mit flüchtigem Seitenblick, wie man im Gehen die Fenster von Läden und Lokalen streift. Das bedienende Mädchen ordnete etwas am Nebentisch und sagte zu ihm hinüber: «Die Herrschaften kommen immer nur nachmittags.» Henning gefiel ihr, und es erweckte ihr Interesse, daß er so teilnahmslos vor sich hinsah, sie hätte gern ein Gespräch mit ihm angefangen, aber er hatte keine Lust.

Der Vormittag nahm kein Ende, endlich war es halb zwölf, er erkundigte sich nach der Mädchenschule und schlenderte dort auf und ab, bis es Mittag schlug. Bald nachher kamen Scharen von Kindern und halbwüchsigen Mädchen aus dem Gebäude, die größeren folgten etwas später, gingen langsamer und meist zu zweien oder dreien. Auch Lehrer und Lehrerinnen kamen vorbei und sahen ihn mißtrauisch oder neugierig an. Er war auf dem Trottoir stehengeblieben und musterte die einzelnen Gruppen. Hedy war nicht darunter, aber er glaubte das Mädchen zu erkennen, das sie damals begleitet hatte und dann fortlief, als er und Georg kamen. Auf alle Fälle, ob sie es nun war oder nicht, warf er ihr einen vielsagenden Blick zu und winkte mit den Augen. Sie stutzte, ihre Gefährtinnen lachten und machten Bemerkungen. Dann machte sie sich von ihnen los und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Henning folgte ihr ohne weiteres, sie wandte sich auch halb um und erwartete wahrscheinlich ein Abenteuer... Nun zog er den Hut und sprach sie an. Es war ein schlankes Mädchen mit einer dicken Franse über der Stirn und lustigen Augen. Die lustigen Augen wurden zwar einen Moment beleidigt, als sie begriff, daß es sich gar nicht um sie handelte, aber das ging rasch vorüber. Es bedeutete immerhin ein Erlebnis, daß ein schöner, eleganter Mann hierher kam, um über wichtige Dinge mit ihr zu sprechen. Ja, sie war Hedys Freundin und in deren Liebeshandel eingeweiht. Bei ihr wurde Hedy eingeladen, wenn es sich um einen Vorwand zum Fortbleiben handelte. Aber gestern und heute war sie nicht in die Schule gekommen, vielleicht war sie krank.

Die Freundin erbot sich, gleich nach Tisch hinzugehen und sich zu erkundigen.

«Ja, tun Sie das», sagte Henning und sah auf die schmale Gestalt, die mit der Schulmappe neben ihm hertrabte. Nun erzählte er ihr, daß auch Georg verschwunden wäre.

«Dann sind sie sicher zusammen durchgebrannt», rief das Mädchen erregt. «Hedy wollte doch immer zum Theater gehen.»

«Ja, liebes Kind», sagte er sehr überlegen, «das ist ja ein ungeheurer Unsinn. Aber ihr seid alle gleich, ihr stellt euch das vor wie in einem Roman: Ach, wie spannend! Man brennt durch, man geht zum Theater, und alles ist auf das angenehmste erledigt, man kann das Buch zuklappen. In Wirklichkeit aber gerät man in eine Sackgasse von Unmöglichkeiten.»

«Ich weiß», meinte das Mädchen kleinlaut, «solange man nicht mündig ist...»

«Es kann eine schöne Geschichte werden», fuhr Henning ingrimmig fort. «Ein Aufruhr unter allen Eltern und Verwandten und was weiß ich... Die beiden Missetäter wird man bald gefunden haben und ihnen kein angenehmes Dasein bereiten. Hüten Sie sich nur davor, kleines Fräulein, auf ähnliche Dummheiten zu verfallen... und jetzt gehen Sie heim, später sprechen Sie bei Hedys Eltern vor und bringen mir Nachricht... Ja wohin?...» Er überlegte und verabredete dann, daß er sie nachmittags in jener Konditorei treffen wollte. Der Backfisch gab ihm die Hand, schaute ihn an und verschwand, erfüllt von der Wichtigkeit seiner Mission.

Henning sah ihr nach.

Das ging nun wahrscheinlich den ganzen Tag so fort, daß man sich traf, suchte, auf Nachrichten wartete. Die Spannung des Morgens hatte schon nachgelassen, man wurde nervös und unlustig, fühlte sich versucht, die Dinge einfach ihren Weg gehen zu lassen und sich ins Alltägliche zurückzuziehen, zum Beispiel Käthe aufzusuchen und ein belangloses Gespräch mit ihr zu führen.

Es war halb eins, und er mußte sich eilen, um Burmann nicht zu verfehlen, der ihn schon an der vereinbarten Stelle erwartete und sich in ähnlicher Stimmung zu befinden schien. «Man kommt sich ja einfach dumm vor», sagte er, «läuft da herum wie ein Narr, ängstigt sich, blamiert sich, und die beiden sitzen derweil irgendwo im Versteck und amüsieren sich königlich... Also Hedy ist auch verschwunden, Georg nicht wiedergekommen. Seine Mutter ist außer sich und meint nun, es sei ihm etwas zugestoßen. Es nützt ja nichts, daß ich hingehe und sie zu trösten versuche. Irgendwie und -wann wird sich ja der Sachverhalt herausstellen, und die hoffnungsvollen Sprößlinge werden auslöffeln müssen, was sie sich eingebrockt haben... Ich glaube, es ist am gescheitesten, wenn wir jetzt einfach die Finger davon lassen.»

«Wen hast du denn dort gesprochen – seine Freunde?»

«Ja, die Jünglinge vom Selbstmordverein. Sie waren feierlich und verschlossen. Gesehen hätten sie ihn nicht und wüßten nicht, was er vorhabe. Als ich mit ihnen sprach, kam der Klassenlehrer vorbei, besah sich die Jungen voller Argwohn und fragte, was ich wünsche. Oh, nichts Besonderes, ich kam zufällig in die Gegend und wollte meinen Vetter, Georg Burmann, abholen. – Der fehle seit zwei Tagen, er wolle sich heute erkundigen lassen, ob er krank sei. Darauf warfen sich die jungen Verschwörerblicke zu, etwa so: Wir halten zusammen und verraten nichts. – Sie wissen sicher ganz genau Bescheid.»

«Und jetzt?»

«Jetzt kümmern wir uns vorläufig nicht weiter darum und lassen die leidige Affäre auf sich beruhen. Nach Tisch werde ich dann noch einmal mit Georgs Mutter sprechen.»

Der Vater ging vor dem Hotel auf und ab, als sie ankamen, und wärmte sich an der mittäglichen Märzsonne. Er bedauerte, daß er nicht noch länger bleiben könne, und betrachtete das Straßenbild, das gerade hier in der Nähe des Bahnhofs sehr belebt war, mit etwas leerem, gespanntem Blick, wie man Dinge ansieht, die einen im Grunde nichts mehr angehen.

«Ich glaube, am schwersten fällt dir der Abschied vom Stadtleben», sagte Erasmus, «hoffe aber, daß dir auch unsere Gesellschaft fehlen wird, wenn du wieder nur deine Gutsnachbarn um dich hast und die unvermeidlichen Gespräche über Pferdehandel und Ernteaussichten.»

Der alte Herr war heute ziemlich abwesend, als sei schon ein Teil seines Wesens auf der Reise. Die Worte seines Sohnes erwiderte er mit einem konventionellen Lächeln, von dem auch der Doktor seinen Teil bekam.

«Gewiß ja, ich werde eure angenehme Gesellschaft sehr entbehren. Im übrigen magst du recht haben: Mir ist das Landleben, oder sagen wir lieber das Leben auf meinem Gut, eine liebe und vertraute Gewohnheit, aber im Grunde bleibt man doch immer Stadtmensch. Wenn ich nicht so gebunden wäre...»

«Das ist deine eigene Schuld... wärst du Junggeselle geblieben, so könnten wir uns hier ein gemütliches Leben zusammen machen... Nun gehst du wieder fort, und wer weiß, wann und unter was für Umständen man sich wiedersieht.»

«Bitte, nur keine graue Abschiedsstimmung», warf Burmann dazwischen, während sie die Stufen zum Hotel emporstiegen. «Zu einem guten Abschied gehört, daß man das Vergangene wie das Kommende mit Wohlwollen ins Auge faßt.»

«Aber der Papa ist heute düster gestimmt, ich übrigens auch», sagte Erasmus. «Um dem abzuhelfen, wird man jetzt sehr gut essen, einige Flaschen trinken und dann...»

«Dann kehrt der gestürzte Minister in sein Exil zurück», bemerkte der Vater trocken, als sie an dem großen Spiegel in der Halle vorbeikamen und er sich des ersten Abends erinnerte. Sodann richtete er sich straff empor und sah so unerreichbar vornehm aus, als ob er noch um Königreiche zu würfeln habe. Diese Haltung behielt er halb ironisch bei, zeigte sich während der Mahlzeit, die als stilgemäßes Junggesellendiner begangen und endlos ausgedehnt wurde, von seiner bestechendsten Seite, erzählte Anekdoten von seinem betrügerischen Inspektor und von seinen Gutsnachbarn, die er freundlich verachtete, und spöttelte über das schlimme Geschick, das über dem Hause Henning waltete. Er behandelte dieses Geschick gewissermaßen, als sei es seine Tischdame, mit der er eine sarkastische Konversation zu führen habe. So kam der leichte, gleichgültige Ton, den alle wünschten, anscheinend mühelos zustande, und es waren vielleicht die heitersten Stunden, die man zusammen verlebt hatte.

Die Flaschen wurden leer, der unruhige, bedrückende Morgen verschwand wie hinter einem Schleier. Man dachte kaum mehr daran, bis gelegentlich der Hotelbesitzer durch den Saal ging, an dem Tisch stehenblieb und den scheidenden Gast in ein längeres Gespräch verwickelte. Er begann mit einigen Worten des Bedauerns, daß der Herr Baron wieder abreisen wolle, hoffte, er sei mit seinem Aufenthalt hier im Hause zufrieden und würde dasselbe bei nächster Gelegenheit wieder beehren, machte dann einige allgemeine Bemerkungen über Tagesereignisse und erzählte schließlich, daß sich eben jetzt die Nachricht von einem sensationellen Selbstmord verbreitet habe – ein blutjunges Liebespaar, beide aus bester Familie, hatte sich in den Anlagen außerhalb des westlichen Stadtviertels zusammen erschossen... Es hieß, man habe sie trennen wollen... es hieß, das Mädchen sei von seinen Eltern verstoßen worden, es hieß... Der Mann stand da mit seiner behäbigen Gestalt und seiner lässigen Kellnergrazie und sprach mit häufigem Achselzucken und nicht ohne Bewegung über die verschiedenen Gerüchte, die wie immer bei derartigen Ereignissen die Gemüter erhitzen. Dann kam er wieder auf den Fremdenverkehr und sein Hotel zurück.

Die beiden Freunde waren ihm dankbar für seine Gesprächigkeit, die sich vor allem an den alten Baron wandte und von diesem wortkarg und gelangweilt erduldet wurde. Sie beherrschten sich, wechselten nur ein paar leise Worte miteinander und versuchten noch einmal, die endgültigen Befürchtungen abzuwehren, die sich ihnen jetzt wieder aufdrängten. Es war ja noch nicht gesagt, daß es jene beiden waren, es war nicht einmal sehr wahrscheinlich. Ebensogut konnte es sich um das gemeinsame Ende irgendwelchen fremder und gleichgültiger Menschen handeln.

Endlich ging der Wirt, und Burmann verabschiedete sich unter dem Vorwand eines ärztlichen Besuches, um gleich nach der Polizei zu fahren und sich über den Fall zu erkundigen.

Erasmus überwachte indessen die Abreise seines Vaters, es schien ihm jetzt, daß dieser gerade im rechten Moment abfuhr, und er fürchtete beinah, er möchte den Zug versäumen. Er ging mit ihm in das Zimmer hinauf, und während der alte Herr langsam und exakt die letzten Vorbereitungen traf, erwähnte er in kurzen Worten das Verschwinden der beiden und daß man nicht ohne Sorge um sie sei. Der Vater hörte nur halb hin, fand es bedauerlich und aufregend, war aber mit seinen Gedanken bei Kofferschlüsseln und ähnlichen Dingen und drängte zur Eile. Als alles erledigt war, blieb ihnen am Bahnhof noch eine halbe Stunde. Das Restaurant war überfüllt und ungemütlich, deshalb blieben sie auf dem Perron und gingen langsam auf und ab. Als die Reisenden allmählich anfingen einzusteigen, kam Burmann durch das Gedränge auf sie zu. Sein Ausdruck war verschlossen und hart, er ging wie jemand, der große Eile hat.

«Beinah zu viel Liebenswürdigkeit, Herr Doktor», sagte Henning senior, hielt dann plötzlich inne und sah ihn erstaunt an. Alle drei standen einen Moment schweigend und wie verlegen da.

«Was ist denn?» fragte der Baron, «ist etwas Schlimmes passiert?»

«Ja», antwortete Burmann, wie wenn er als Arzt über einen ernsten Fall zu berichten hätte. «Man hat uns vorhin im Hotel von einem Liebesdrama erzählt... Sie haben vielleicht nicht so darauf geachtet, Herr Baron. Uns beide dagegen hat es gleich beunruhigt, da mein Vetter und das junge Mädchen seit gestern vermißt wurden. Ich war jetzt auf der Polizei, dann in der Leichenhalle – es stimmt alles, sie sind tot, die beiden... Sinnlos ist die ganze Geschichte», fügte er hinzu, nur um weiterzusprechen, da niemand etwas sagte, «so unnötig. Warum gleich sterben? Aber da ist jetzt nichts mehr zu machen, sie sind tot.»

Erasmus sprach keine Silbe und schien weder erregt noch erschrocken. Ihm war, als hätte er es die ganze Zeit schon gewußt und es sei ihm jetzt nur offiziell bestätigt worden. Er sah gradeaus auf die große Bahnhofsuhr – fünf Uhr zehn... gestern um diese Zeit lebten sie wohl noch, dachte er... wo mögen sie gewesen sein... was sprachen sie miteinander? und wie stellten sie sich die Sache vor?... Und wir machten Abschiedsbesuche... vielleicht hätte man es noch verhindern können, oder auch nicht.

Der Vater dagegen, den es doch am wenigsten anging, war sichtlich schwer erschüttert. «Mein Gott», sagte er einmal über das andere, und seine Lippen zuckten, als hätte ihn selbst etwas Schweres betroffen.

Dann suchte er nach passenden Worten, die der Situation entsprachen. Den ganzen Zug entlang stiegen immer hastiger die Leute ein, hier und dort wurden schon die Türen zugeschlagen.

«Es ist Zeit, Papa», sagte Erasmus, «grüße zu Hause und schreibe mir bald.» Es fiel ihm auf, daß der Vater blaß geworden war und ihm mit einer wunderlichen Besorgnis in die Augen sah, als wollte er sich nach seiner inneren Verfassung erkundigen... Aber als er dann eingestiegen war und am Coupéfenster erschien, hatte er seine Haltung schon wieder korrigiert, nur das Lächeln ließ er fort, weil es jetzt nicht am Platz war. Dann fuhr er in den Abend hinaus, und man sah ihm nach, worauf die beiden anderen den Heimweg antraten.

Die Straßen waren hell erleuchtet und der Himmel voll schwarzer Frühlingswolken. «Erzähl mir nichts», sagte Erasmus hastig, aber nach einer Weile begann er dennoch ausführlich nach allen Einzelheiten zu fragen, als sei das Sensationelle daran noch das einzige, was es etwas erträglicher machte. Viele Einzelheiten gab es übrigens nicht zu berichten. Geschehen war es mutmaßlich heute morgen in aller Frühe oder noch in der Nacht. Ein Parkwächter hatte sie in den Vormittagsstunden gefunden, und da Georg eine Brieftasche mit Visitenkarten bei sich trug, war seine Persönlichkeit ohne weiteres festgestellt worden. Wer das Mädchen war, wußte man nicht, Burmann hatte ihre Personalien angegeben. Nun würde er gleich zu Georgs Eltern gehen müssen... Er sprach rasch und einsilbig und hielt es wohl für besser, das Gefühlsmäßige einstweilen auszuschalten und sich um so intensiver dem geschäftlichen Teil der Sache zu widmen.

Henning empfand eine Art von Eifersucht, Burmann war doch wenigstens irgendwie beteiligt, er selbst stand wie ein müßiger Zuschauer mit den Händen in der Tasche, und was er fühlte, kam für niemand in Betracht. Er wollte den Abend nicht allein verbringen und beschloß, Käthe aufzusuchen.

«Tu das», sagte Burmann, «besser, sie erfährt es jetzt durch dich als morgen durch die Zeitung oder durch gleichgültige Leute. Sie ist sehr sensibel.»

«O nein, ich möchte gerade mit ihr zusammensein, als ob nichts geschehen wäre.»

Sie trennten sich. Erasmus ging zu Käthe, und sie freute sich über den unerwarteten Abendbesuch. Es traf sich, daß sie wegen Kopfschmerzen eine Einladung abgesagt hatte und nun gezwungen war, zu Hause zu bleiben. Sie ließ ein kleines Souper herrichten, nachher lag sie noch etwas matt auf der breiten Chaiselongue, zwischen einem Wald von weichen seidenen Kissen, und ließ sich von Henning bedienen und unterhalten.

Er tat sein Bestes, war sehr gesprächig, und Käthe erklärte sich zufrieden. «Ein so guter Causeur wie Ihr Papa sind Sie noch nicht», meinte sie, «aber Sie machen doch Fortschritte... Was werden wir denn nun machen, wo er wieder fort ist? Wollen wir wirklich wieder nach Lucy suchen?»

«Ich glaube nicht. Wir haben sie mit unserem Suchen nur verjagt. Es nützt nichts mehr.»

«Und wieder abends in den Bars tanzen», sagte Käthe nachdenklich, «aber hoffentlich ohne diesen peinlichen Kommerzienrat. Apropos, was ist denn daraus geworden?»

«Ich weiß nicht», sagte Erasmus rasch, «man wird es schon erfahren.»

«Haben Sie die Kinder seitdem nicht mehr gesehen?»

«Nein, seitdem nicht mehr, ich war gestern und heute immer mit dem Papa zusammen.»

«Wenn der Schönlank mir nicht so unendlich widerwärtig wäre», begann Käthe von neuem, «so könnte ich eigentlich ein Wort für Hedy bei ihm einlegen. Ich habe sowieso in einer Geschäftssache mit ihm zu tun, und anstatt es telephonisch zu erledigen... Ja, ich werde morgen in seinem Bureau vorsprechen. Es war doch zum Teil meine Schuld, daß die Kinder dorthin kamen. Wer weiß, was das arme Mädel für Unannehmlichkeiten davon hat. Wir sind schlechte Kinderhüter, Henning.»

«Ja, das sind wir», bestätigte er, «aber jetzt ist es zu spät.»

«Wieso zu spät?»

«Man hätte gleich etwas tun sollen, den nächsten Tag. Und nun hören Sie bitte auf, von diesem Typ zu sprechen. Er kommt mir vor wie der Satan in einem Märchen.»

Er stand auf und machte einen Gang durch das Zimmer, das halb im Dunkeln lag, nur der Platz bei der Chaiselongue mit dem Tischchen davor war beleuchtet.

«Ich könnte mir wohl denken, daß er einen Pferdefuß hat», sagte Käthe von ihrem Lager her.

Die ganze Sache in der Bar drängte sich ihm wieder auf, vor allem die Figur des Herrn Schönlank mit seinem soignierten Äußeren und dem kulanten Lächeln... er sah tatsächlich so aus, wie man sich einen Geschäftsfreund vorstellt. Erasmus schwelgte förmlich in seiner Antipathie gegen ihn, obgleich er einsah, daß man ihm keinerlei Schuld beimessen konnte.

Georg und Hedy waren jedenfalls seitdem nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, und sein Verbrechen bestand nur darin, daß er überhaupt zugegen gewesen war.

Dann versuchte er darüber nachzudenken, warum die beiden nicht mehr hatten leben wollen, aber Käthe hob den Kopf von ihren Kissen und beunruhigte sich über sein sonderbares Wesen. So kehrte er in den Umkreis der Lampe zurück.

«Sicher hat er den», sagte er als Antwort auf ihre Bemerkung von dem Pferdefuß des Kommerzienrats, «oder er hat den bösen Blick oder etwas Ähnliches. Und solche Leute sollte man meiden.»

Sie lachte und meinte, sie sei sehr müde.

«Sie werden jetzt heimgeschickt, es war ein sehr hübscher häuslicher Abend. Nun werden wir alle einmal gründlich ausschlafen, ehe wir unsere folies communes wiederaufnehmen. Das junge Volk aber darf nicht mehr mit.»

«Nein, das nehmen wir nicht mehr mit», antwortete er und küßte ihr die Hand. «Und wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, so gehen Sie morgen nicht zu dem Mann mit dem Pferdefuß. Ich nehme Ihnen den Gang nächster Tage mit Freuden ab.»

Halb im Scherz ging sie darauf ein, dachte aber anderen Tags nicht mehr daran und suchte dennoch den Kommerzienrat in seinem Bureau auf. Sie wollte ihn bitten, doch dem jungen Mädchen keine Schwierigkeiten zu bereiten, ihm sagen, daß es ihr persönlich bekannt sei und sie fortan ein wachsames Auge auf die kleine Liebesgeschichte haben würde.

Man ließ sie im Vorzimmer warten, dann kam Schönlank von draußen im Zylinder mit Trauerflor, er hatte eben seinen Kondolenzbesuch bei einer befreundeten Familie gemacht, deren Tochter... er ließ Käthe in das Bureau eintreten, stellte den Zylinder auf ein spiegelblankes Tischchen und fuhr sich über die Stirn... eine unbegreifliche Geschichte... ein blutjunges Ding aus angesehener Familie und mit einem Liebhaber in den Tod gegangen... «Gott, wie traurig», sagte Käthe, die sich niedergelassen hatte und mechanisch den Zylinder auf dem blanken Tischchen betrachtete. Der Kommerzienrat warf sich noch in voller Gemütsbewegung ebenfalls auf einen Sessel, sah Käthe an und schien über etwas nachzudenken.

«Entschuldigen Sie mich, gnädige Frau, ich verliere sonst nicht so leicht die Contenance, aber dies geht mir nah, ich muß mich erst einen Augenblick sammeln, dann wollen wir Ihre Angelegenheit besprechen. Die Papiere sind da, es ist alles in Ordnung.»

Der Mann mit dem Pferdefuß scheint doch ein Herz zu haben, dachte sie.

Er erhob sich wieder, ging an einen Geldschrank und schloß ihn auf. Käthe mußte an einen albernen Film denken, den sie neulich gesehen. Da schloß ein ruinierter Bankier mit genau derselben Geste seinen völlig leeren Kassenschrank auf, holte aus einer Ecke desselben eine Schnapsflasche und ein Gläschen hervor und trank sich Mut an. Es hätte sie gar nicht verwundert, wenn jetzt Schönlank es ebenso gemacht hätte. Aber er nahm nur ein Kuvert mit Papieren heraus und legte es vor sie hin, dann saß er ihr wieder gegenüber.

«Sie haben ja übrigens das Mädchen neulich gesehen», sagte er, immer noch ergriffen, «an dem Abend, wo ich das unerwartete Vergnügen hatte, Sie in einer Bar zu treffen...»

Er sprach nun noch des längeren über das Mädchen und dessen Eltern, mit denen er seit langem bekannt war, über Jugend, über Fehltritte und Selbstmorde. Käthe hörte ihm schweigend und wie gelähmt zu und beeilte sich dann fortzukommen. Ihr war nachher, als habe sie stundenlang dagesessen und nicht einmal die Augen bewegen können, während Schönlank sie lauernd beobachtete.

Aber der dachte gar nicht daran, ihm war nicht das geringste in ihrem Wesen aufgefallen, und er kam nicht einmal auf den Gedanken, daß sie das Mädchen näher gekannt habe. Er war überhaupt ein ziemlich harmloser Mensch und hätte sich sehr verwundert, daß man ihn so wenig leiden konnte und ihm eventuell teuflische Qualitäten, sei es auch nur einen Pferdefuß, zutraute. Und sein Mitgefühl für den schwer betroffenen Geschäftsfreund, Hedys Vater, war durchaus aufrichtig.

 


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