Franziska Gräfin zu Reventlow
Der Selbstmordverein
Franziska Gräfin zu Reventlow

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Die Ninis und Lulus, die bisher eine ziemliche Rolle in Hennings Leben spielten, hatten jetzt schlechte Zeiten, und über ihn selbst gingen bald trübe Gerüchte um. Es hieß, er sei finanziell ruiniert und habe sich an die vermögliche Frau Käthe Tergens gehängt, die ihn zu heiraten und zu rangieren gedenke. Überall begegnete man den beiden zusammen, sie machten alle Vergnügungen der Saison mit, wurden außerdem viel in Restaurants, Tea-rooms, Kaffeehäusern und nächtlicherweile in den Bars gesehen – derselbe Baron Erasmus von Henning, der wohl für einen Lebemann, gleichzeitig aber als einwandfreier Gesellschaftsmensch galt, und dieselbe Frau Käthe Tergens, gegen deren unbescholtenes Dasein sich bisher keine Beweise hatten aufbringen lassen.

Tatsächlich hatten die beiden eine Art Bund miteinander geschlossen und, wie sie an jenem Sonntagabend halb scherzend vereinbarten, gemeinsam die Jagd nach dem Phantom Lucy und dem Schweden aufgenommen, dem verdammten Schweden, wie man ihn in einer Mischung von Ressentiment und Wohlwollen auch fernerhin bezeichnete... Die große Chance war, Lucy selbst wieder zu begegnen, aber auch wenn es nur gelang, den Schweden aufzufinden, so ließen sich ja jedenfalls Anhaltspunkte über ihre Personalien und ihren Verbleib gewinnen. In Henning nun hatte sich die Idee festgesetzt, daß er sie schwerlich auf der Straße oder in irgendeinem normalen Tagesmilieu treffen würde, sondern eher, wie jenes erste Mal, in einer Umgebung von Lärm, Menschenfülle und festlicher Bewegtheit. Als Jagdgründe galten daher vor allem die Stätten des Vergnügens, und zwar durchmaß man die vornehmeren wie die minderwertigen und zweifelhaften, da man ja über Lucys soziale Sphäre, über ihre Neigungen, wie über alles andere, vollkommen im unklaren tappte.

«Ich taxiere sie auf Typus ‹Schlange›», hatte Käthe gemeint, «ein bißl dämonisch, wie es dazugehört. Dämonische Schlangen haben selbstredend extravagante Gelüste und wollen sich überall herumtreiben, um so mehr, wenn sie den verantwortlichen Begleiter damit ärgern können – in diesem Fall den verdammten Schweden.»

«Hoffen wir, daß sie ihn bis aufs Blut ärgert», antwortete Henning voller Eifersucht, «aber auf dämonische Weiber bin ich sonst noch nie hereingefallen, das kann also nicht ganz stimmen, Schlange – vielleicht ein wenig, wenn auch in anderem Sinn... Wo übrigens haben Sie diese Weisheit her, Frau Käthe?»

«Ich weiß nicht... ich habe die Schlangen immer so beneidet, sie verstehen es so gut, anderen die Männer wegzunehmen. Aber es läßt sich nicht lernen, wenn man kein angeborenes Talent dazu hat.»

Sie sah dabei ganz sehnsüchtig drein, und Henning betrachtete sie mit Interesse. Sie war ruhig, elegant, selbstsicher, und alle Einzelheiten stimmten, im Äußeren wie im Wesen. Das sagte er ihr auch und setzte hinzu, sie brauche keine Schlangen zu beneiden, durchaus nicht, und solle nur ja so bleiben, wie sie sei.

«Aber wer soll ihr dann den Schweden abspenstig machen?»

«Sie selbst wird abspenstig gemacht, den Schweden brauchen wir dann überhaupt nicht mehr.»

Doktor Burmann war unzufrieden mit den beiden, besonders wenn er sie über solchen und ähnlichen Gesprächen betraf, die jetzt an der Tagesordnung waren. Schier endlos konnten sie darüber fortreden, wer Lucy wohl sei und wie sie sei, was sie täte, wie sie lebte, oder sich ausmalen, was für Situationen zustande kommen würden. Sie machten einen ganzen Roman oder eine Legende daraus, in der sie lebten und in die sie immer neue Züge hineinphantasierten. Und er, Burmann, fand dieses Treiben mehr als absurd. Wenn es schließlich nur das gewesen wäre, aber bei Henning fing es nachgerade an ins Pathologische abzuirren.

Er hatte niemals ausgesprochene Interessen gehabt und sich nie in besonders nützlicher Weise betätigt, aber jetzt setzte er sich dieses Weib in den Kopf, das er nicht einmal kannte, und beschäftigte sich damit wie ein Gelehrter mit einem wichtigen Problem oder auch wie ein Monomane mit seiner fixen Idee. Und Käthe, die sonst so Vernünftige, machte das alles enthusiastisch mit und ohne darauf zu achten, daß sie sich auf eine unsinnige Weise kompromittierte.

«Höre einmal, mein Lieber, wie lange soll das eigentlich noch so fortgehen?» fragte Burmann eines Morgens beim ersten Frühstück, das sie gemeinsam im Eßzimmer einnahmen. Henning war eben erst aus seinem heißen Bade gestiegen, saß da im Frottiermantel und betrachtete vertieft seine gepflegte Hand. Er war sichtlich in jener weichen, verträumten Morgenstimmung, die man gerne noch eine Weile festhalten möchte. Aber jetzt hob er den Kopf, und Burmann betrachtete ihn kritisch, ein wenig ärgerlich. Zweifellos war er ein schöner Mensch, nur wenn man ihn näher kannte, begriff man nicht recht, weshalb die Natur ihn mit so energischen, beinah harten Zügen ausgestattet hatte, die durch das dunkle Haar und die dunklen Augen unter einer breiten gewölbten Stirn noch mehr betont wurden. Er sah in dieser seiner Morgentoilette aus wie ein Stierkämpfer, der Pause macht und mit seinem heroischen Metier innerlich gar nichts zu tun hat.

«Bis wir sie finden», sagte er abwesend.

«Wer sagt dir denn, daß sie überhaupt noch hier ist?»

«Sicher ist sie hier. Man hat uns neulich in der Bar Rouge ein Paar beschrieben – es schien alles zu stimmen, auch wie sie getanzt hat und wie der Schwede aussah. So gehen wir jetzt vorläufig gegen zwölf oder eins in diese Bar, die zwar an sich ziemlich mesquin ist. Aber es ist momentan chic, dahin zu gehen, und man findet sogar ganz mögliche Leute.»

«Kannst du denn nicht allein hingehen? Ich finde ja nur, du solltest Käthe aus dem Spiel lassen.»

«Ah, die Käthe!» sagte Henning voll Bewunderung. «Nein, laß sie nur, sie ist alt genug, um für sich selbst einzustehen.» Er hatte dabei aufgesehen und begegnete einem beobachtenden Blick.

«Nein, nein, es besteht durchaus keine unerlaubte Beziehung zwischen uns... wir haben nur einen Spleen miteinander. Das ist eine ganz zarte Sache. Wenn ich mich geschraubt ausdrücken darf, etwas beinah Mystisches. Ja, lache nur.»

Burmann sah ihn jetzt wirklich maßlos erstaunt an.

«Gott sei mit dir, du fängst wahrhaftig an zu reden wie ein Kaffeehausliterat.»

Henning schenkte sich zum drittenmal Kaffee ein, trank ihn langsam aus und schob dann die Tasse weg.

«Was willst du, man ist nicht gewöhnt, von subtileren Gefühlen zu reden, und deshalb klingt es uns nach Literatur. Aber ich genieße alles das wirklich wie etwas ganz Neues.»

«Die subtilen Gefühle?»

«Ja... ich träume von diesem Mädchen – du mußt auch diesen lyrischen Ausdruck verwinden – und davon, daß ich sie kriegen könnte. Sie hat eben einen ganz seltenen Eindruck auf mich gemacht. Ich bin fest überzeugt, ich weiß es beinah, daß ich sie wiedertreffe und daß sie mich auch will. Ich habe also jetzt eine Art Vorfreude mit einiger Unruhe und Sehnsucht. Mach doch nicht so ein Gesicht... du hast wirklich keine Fühlfäden für solche Dinge...»

«Wer weiß...»

«Aber Käthe hat sie», fuhr Henning unbeirrt fort, «sie geht in jeder Beziehung mit. Du glaubst gar nicht, wieviel Romantik in ihr steckt, ich hatte sie immer für ein wenig nüchtern gehalten. Aber wie sie all die Stimmungen genießt und, last not least, wie sie flirten kann. Da ist ein Barkavalier, der ihr auf Tod und Leben die Cour macht und nicht begreift, was sie an mir findet, wo wir doch immer so stumpfsinnig miteinander herumsäßen... ich schwärme einfach für Käthe. Überhaupt, früher habe ich mich entweder gelangweilt oder amüsiert, jetzt bin ich nahezu so etwas wie glücklich – eine Frau, die mich wirklich reizt, der ich nachlaufe, gewissermaßen wie im Nebel, aber sie wird, so Gott will, einmal sichtbar werden, und eine, die mir derweil Gesellschaft leistet und dabei immer sympathischere Seiten entwickelt.»

«Es wird damit enden, daß ihr zwei euch ineinander verliebt.»

«Gott bewahre, ich sage dir ja, wir haben nur einen Spleen miteinander.»

«Ach, Henning, alter Junge, was soll aus dir werden», sagte Burmann mit einiger Herzlichkeit. Er wußte selber nicht warum, aber seine Verstimmung begann zu weichen. «Was man so im allgemeinen einen Charakter nennt, bist du ja nie gewesen... bitte, nimm mir das nicht übel.»

«Weit entfernt, ich weiß es selbst.»

«Schön – es fällt mir auch nicht ein, dir einen Vorwurf daraus zu machen. Nur beunruhigt es mich neuerdings, daß du gar so wenig Rückgrat hast. So, wie dein Leben bisher war, bist du ja ganz gut ohne das ausgekommen. Es waren keine Widerstände da, und die begehrten Dinge fielen dir schmerzlos in den Schoß. Aber jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, dich ein wenig zusammenzuraffen und deine Lage, die sich über kurz oder lang bedeutend verändern wird, ins Auge zu fassen...»

«Genau dasselbe hält mir mein Vater in jedem seiner Briefe vor – dabei ist er geradeso wie ich, hat sich sein Leben lang um nichts gekümmert und denkt jetzt nur an seine junge Frau und wie er die Zukunft ihrer Sprößlinge sicherstellen soll. Mir dagegen, meint er, könne es nicht schwerfallen, mit der Zeit eine glänzende Position zu erringen, mit meinem Namen und meiner Begabung, welches beides ich natürlich von ihm habe...»

«Und statt dessen bummelst du weiter und gerätst mit deiner Bummelei nun auch noch auf phantastische Geleise...»

«Ja», sagte der andere ruhig und überzeugt, «und was nützt es, so viel darüber zu reden und nachzudenken. Du siehst immer nur den Bummler und untüchtigen Menschen in mir, im Grunde aber bin ich ein großer Philosoph. Es muß doch nicht nur tüchtige Leute geben, ich zum Beispiel würde nur anderen, die es nötiger haben, den Platz und die Arbeit wegnehmen... Du hast Ziele und willst vorwärts, aber wo kommt man denn schließlich hin mit diesem Vorwärts? Ich habe keine Ziele und denke: Laßt mich nur da, wo ich bin...», er stützte seine muskulösen, gut gebildeten Arme auf den Tisch, «trotzdem – da man beabsichtigt, wenn auch ohne jeden bösen Willen, mir diese so sehr geschätzte Gegenwart unter den Füßen wegzuziehen, werde ich wohl einen oder mehrere Versuche machen, mich anders zu arrangieren. – Der alte Herr will nächste Woche selbst herkommen und alles mögliche mit mir bereden... Ja und jetzt –»

«Ich muß zu meinen Patienten. Und was hast du vor?»

«Mit Käthe spazierenfahren... wir essen dann draußen. Es wäre hübsch, wenn du auch einmal mitkämest, aber du hast ja nie Zeit für uns.»

Henning zögerte an der Tür, als wäre noch etwas zu sagen, dann kam er zurück. Burmann war am Tisch sitzen geblieben und blätterte in seinem Notizbuch. Dann sah er auf, ihre Blicke trafen sich, und in beiden stieg eine unklare Bewegung auf.

«Hans, mein Sohn», sagte der andere in möglichst trivialem Ton, «wenn der gemeinsame Spleen dich ernstlich stört... nein, sagen wir, etwas stört, was vielleicht noch werden könnte. Du weißt doch hoffentlich, daß mein Mangel an Charakter vor Rücksichtslosigkeiten und dergleichen haltmacht.»

«Ja, gewiß, aber das andere weiß ich selbst noch nicht recht. Ich kann allerdings nicht leugnen, daß ich in dieser Zeit manchmal etwas Ähnliches wie Eifersucht gefühlt habe.»

«Ihr beide solltet euch heiraten. Diese sogenannte Freundschaft ist doch schließlich eine halbe Sache, oder meinst du, man müsse zum Heiraten richtig verliebt sein?»

«Sie denkt nicht daran», sagte Burmann kurz.

Ein wenig nachdenklicher als gewöhnlich ging Henning eine Stunde später die Straße hinunter. Da ihn Käthe erst um 11 Uhr erwartete, wollte er sich erst noch etwas Bewegung machen, dann einen Wagen nehmen und sie abholen. In diesen letzten Wochen, die bei allem Charme doch von einer spannenden Unruhe erfüllt waren, sehnte er sich manchmal förmlich nach einer Weile des Alleinseins, was ihm sonst nie in den Sinn gekommen war. Das Morgengespräch mit seinem Freunde ging ihm wieder durch den Kopf, und er beschloß, Käthe doch gelegentlich zu sondieren. Wie dumm eigentlich, wenn zwischen den beiden etwas bestand, was sich zu engeren Beziehungen eignete, so hätten sie doch eher darauf kommen können, anstatt jahrelang nebeneinander herzulaufen und eine gemütliche Freundschaft zu kultivieren. Freilich hatte man sich allseitig wohl dabei befunden, und es sollte am liebsten so bleiben.

Als er grade so weit mit seinen Gedanken gekommen war, wurde er schon wieder gestört. Der kleine Georg tauchte neben ihm auf, Schulbücher unter dem Arm, fragte woher und wohin und schloß sich an. Es gefiel ihm, neben dem eleganten Mann herzugeben und kollegial behandelt zu werden, wenn man Bekannten begegnete.

«Was macht denn Ihr Phantom, Baron?» fragte er. «Haben Sie es gefunden? Sie sind ja nie mehr zu Hause.»

«Nichts gefunden», sagte Henning. «Phantomen begegnet man nicht so leicht im Tageslicht wieder.»

«Und dann ist es auch kein richtiges Phantom mehr, es wäre vielleicht schade», bemerkte Georg, der heute merkwürdig ernst war.

«Das ist eine richtige Jugendweisheit. Wird man älter, so möchte man doch lieber etwas Wirklichkeit in der Hand als eine schöne Illusion auf dem Dach haben. Aber erzählen Sie mir lieber etwas von sich. Wie war denn der Abend im Séparée damals? Mir scheint, seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen.»

«Es war sehr komisch», erzählte Georg. «Man hat uns erst ziemlich dumm angeschaut, dann hab ich dem Ober fünf Mark Trinkgeld gegeben. Er hat in verschiedene Türen hineingesehen und uns schließlich in ein Zimmer geführt, aber es sah anders aus, als ich mir dachte. Da stand zum Beispiel ein Käfig mit einem Papageien... Ich treibe mich ja sonst nicht mit Weibern herum und kenne diese Geschichten nicht», sagte Georg ein wenig verächtlich, denn er war ein ziemlicher Idealist, «es war ja nur Hedys wegen, damit sie nicht gesehen würde.»

Henning mußte ein wenig lachen.

«Warum lachen Sie?»

«Ach, nur über den Papagei, ja, und dann?»

«Dann haben wir schließlich doch noch Pech gehabt. Auf dem Korridor, als wir fortgingen, sind wir dem alten Kommerzienrat Schönlank begegnet, Sie wissen doch, der mit dem Hut im Nacken, der ihre Eltern kennt, und der droht ihr nun jeden Augenblick, er würde es zu Hause erzählen, wenn sie ihn nicht etwas freundlicher anschaue. Das fällt ihr natürlich nicht ein, sie kann keine älteren Herren ausstehen, besonders wenn sie zudringlich sind.»

«Da hat sie ganz recht.»

«Ach, es gibt immer so viele Geschichten», sagte Georg aufseufzend, «aber jetzt muß ich Hedy drüben am Telegraphenamt treffen. Da steht sie schon.»

Henning ging mit. Drüben stand Hedy mit einem anderen Backfisch, der ihr inzwischen Gesellschaft geleistet hatte und nun diskret davonstob. Hedy kniff ihre lichtbraunen, etwas kurzsichtigen Augen mit den langen Wimpern flüchtig zusammen, um zu erkennen, wer da mit Georg kam. Der wenige braune Zopf mit einer großen Schleife ließ ihr noch etwas Kindliches, sonst war, wie immer, die ganze Erscheinung für ihr Alter etwas zu mondän, und sie benahm sich mit vollendeter Sicherheit. Man konnte kaum annehmen. daß sie sich vor aufdringlichen Kommerzienräten ernstlich fürchtete. Sie reichte Henning die Hand und machte Konversation.

Eine Schönheit wird sie nicht, dachte er, aber immerhin ganz hübsch, ganz pikant, etwas für den Salon. Vielleicht ein wenig zu schmächtig... aber das wächst ja noch, fiel ihm ein... das ist noch nicht ausgewachsen, hat noch nicht seine endgültige Form angenommen.

Er fühlte heute ein fast zärtliches Wohlwollen für die beiden, und es reizte ihn, Hedy im Gegensatz zu ihrer Damenhaftigkeit als Kind zu behandeln.

So trat er in die nächste Konditorei, kaufte ihr Pralinés und lud dann beide ein, die Spazierfahrt mitzumachen. Es gefiel ihm, wie eine unbefangene Freude in ihren Augen aufging und sie Georg mit einem fragenden Blick streifte. Nein, es war nichts einzuwenden, wenn man nur rechtzeitig nach Hause kam, und nun gingen alle drei weiter, um einen Wagen zu nehmen.

«Um die nächste Ecke ist eine Haltestelle», sagte Georg, der geborne Großstädter, der jede Haltestelle, jedes Postamt, und was es sonst an nützlichen und notwendigen Dingen gab, sofort im Kopf hatte. Henning aber erklärte, er habe heute Lust, langsam und beschaulich zu fahren, und wollte deshalb eine Pferdedroschke, die denn auch bald gefunden wurde.

«Nein, nein, nein, nicht die», protestierte Hedy plötzlich aufgeregt. «Schimmel bringen Unglück...»

«Wer hat Ihnen das gesagt?»

«Meine alte Kinderfrau... sie weiß auch immer vorher, wenn jemand stirbt.»

Sie war tatsächlich ganz erschrocken und sah einen Moment blaß und unglücklich aus.

«Aber Hedy», sagte Georg mit etwas gezwungenem Lachen und dann leiser, «so nimm dich doch zusammen.»

«Jetzt nehmen wir grade den Schimmel, und Sie sollen sehen, daß er Ihnen Glück bringt», und Henning schob sie in den Wagen und setzte sich neben sie.

«Wie kommen denn grade Sie zu einer phantastischen Kinderfrau, mir scheint, das paßt nicht recht zu Ihnen.»

«Gott, sie ist irgendwo aus Pommern... ich war dort als Baby bei meinen Großeltern, während Papa sich hier etablierte, und dann hat man sie mit hergenommen. Sie kann auch aus der Hand wahrsagen...»

«So, und was hat sie Ihnen denn schon gewahrsagt?»

«Nicht viel Gutes – ach, ich pfeife darauf...»

Aber dann verstummte sie und war wieder ganz Weltdame.

Nach einigen Minuten hielt der Wagen vor Käthes Haus. Sie hatte schon ungeduldig und wohleingehüllt auf dem Balkon gewartet und kam gleich herunter, dann rollte man weiter in den hellen Wintervormittag.

Hedy machte wieder Konversation und bewunderte Käthe im stillen.

«Kinder, erzählt mir etwas Neues, etwas ganz Neues», sagte sie auf einmal, «ich bin heute mit dem linken Fuß aufgestanden, und mir kommt alles so fad vor. Ich möchte etwas Lustiges hören, womöglich eine kleine Sensation. Himmel, die Welt ist manchmal so langweilig.»

«Ich weiß nichts.»

«Sie wissen nie etwas, Henning. Bei Ihnen könnte immer etwas passieren, aber es passiert nichts, wie mit Lucy. Also Georg, Hedy, dann ihr, ihr seid doch immer voll von Erlebnissen... meinetwegen auch eine Schulgeschichte – ihr glücklichen Menschenkinder geht ja noch in die Schule.»

«Ja, das tun wir», sagte Georg mit Nachdruck und sehr ernstem Gesicht, es war, als wenn sich plötzlich eine Maske über seine Züge legte, «wir gehen noch in die Schule, und da passiert allerhand. Ich weiß auch eine Schulgeschichte für dich, Käthe, wenn du gerne eine Sensation willst, aber lustig ist sie nicht.»

«Erzähl sie nur»– sie lehnte sich zurück und war bereit, die Schulgeschichte über sich ergehen zu lassen –, «aber was machst du denn für ein Gesicht, Junge?»

«Gar kein Gesicht – weißt du, es hat gestern einer aus unserer Klasse einen Selbstmordversuch gemacht, in der Pause auf dem Schulhof. Er hat sich die Adern aufgeschnitten, dann hat man ihn ins Krankenhaus gebracht, und er ist gestorben.»

«Aber Georg, das ist ja schrecklich – ein Freund von dir – in deinem Alter?»

Käthe fuhr in die Höhe und legte die Hand auf seinen Arm. «Man sollte doch wirklich nicht so frivol reden. Kaum hab ich mir ganz gedankenlos eine Sensation gewünscht... Aber warum denn?»

Georg war ganz blaß, und Hedy sah ihn an, als wollte sie sagen: Warum sprichst du darüber? Ihr war die Angelegenheit natürlich schon bekannt, und beide hatten seitdem einige Aufregung durchgemacht.

Man war inzwischen aus der Stadt herausgekommen und begegnete in den Anlagen zu dieser Tagesstunde nur wenigen Spaziergängern oder vereinzelten Reitern, die in dem weichen Reitweg hintrabten, und hatte den Eindruck, jetzt geht alles nach Hause zum Mittagessen.

«Hat er etwas mit den Lehrern gehabt?» fragte Käthe weiter.

«Nein, man weiß nicht warum... das heißt, es ist noch etwas anderes dabei.»

«Junge, sei doch nicht so geheimnisvoll!»

«Ich habe allen Grund dazu», sagte Georg verstört, «... aber mit euch kann ich ja schließlich darüber sprechen. Die Sache ist die...», fuhr er immer noch etwas zögernd fort, «wir haben in der Klasse einen Selbstmordverein gegründet gehabt... es ist noch nicht lange her... und es war eigentlich nur halb im Spaß...»

«Einen Selbstmordverein?» fragte Henning starr vor Staunen, «aber lieber Georg, das sind doch – – – und was meinen Sie damit, halb im Spaß? Der Junge, von dem Sie sprechen, scheint es doch ziemlich ernst genommen zu haben.»

«Deshalb begreifen wir ja auch nicht... Den Verein haben wir nicht gemacht, damit man sich nun auf jeden Fall umbringen soll. Wir waren nur zusammen und sprachen vom Sterben und solchen Sachen. Wir hatten auch etwas getrunken den Abend.»

«Und daraufhin gründet ihr einen Selbstmordverein... nein, weißt du...»

«Ach, du mußt es nicht falsch verstehen. Nicht einen richtigen Verein wie die Spießbürger...»

Hedy bekam einen kleinen Lachanfall bei dem Gedanken, daß Spießbürger einen solchen Verein gründen sollten, aber im Grunde bewunderte sie das düstere Pathos, das über der Sache lag, und genierte sich dann, daß sie gelacht hatte.

«Es könnte auch nach dummen Buben klingen, Georg.»

«Nein»– Georg fühlte sich hin und her gezerrt von seinen Empfindungen, er war noch beklommen von dem Ereignis und sehnte sich nach Mitteilung, aber es reute ihn beinah, darüber gesprochen zu haben, wenn er nicht richtig verstanden wurde. «Nein, wir sind keine dummen Buben mehr, wir sind nur junge Menschen, und die Probleme sind für uns ebensogut da wie für euch. Das mit dem Sterben ist eines, womit man sich schon als Kind herumquält... Da war einer, der hat mit angesehen, wie sein Vater starb, und er sagte, es sei so schrecklich gewesen, daß er immer nur gedacht habe: Nein, nur nicht so. Ja, Gott, wie soll man das erklären, wir kamen dann schließlich überein, daß wir alle auf eine anständige Art sterben wollten, wenn es einmal soweit ist, oder wenn man keine Lust mehr hat. Das kann doch jedem passieren.»

«Ja, dagegen ist eigentlich nichts einzuwenden», meinte Henning sachlich, «irgendeinen Grund wird Ihr Freund wohl auch gehabt haben. Oder meinen Sie etwa, daß ihn die Sache mit dem Verein exaltiert hat?»

Der Junge zuckte die Achseln. «Das weiß niemand. Aber die Geschichte ist aufgekommen... er hatte einen Brief an uns andere geschrieben, den hat man in seiner Tasche gefunden und ohne weiteres gelesen... Nun wird in den nächsten Tagen Konferenz gehalten, wir sollen einzeln ausgefragt werden, und es kann sein, daß man uns alle relegiert.»

Georg lehnte sich wie ermüdet zurück und sah sorgenvoll aus wie ein Erwachsener. Hedy hatte kein Wort geäußert, nur ihre Augen wanderten bei seiner Erzählung immer mit.

«Was machen wir dann?» sagte sie jetzt unruhig und sah abwechselnd Henning und Käthe an. Diese so viel älteren und erfahrenen Leute mußten doch irgendeinen Rat wissen.

«Wenn Georg auf eine andere Schule käme, und ich soll hierbleiben...»

Aber sie schwiegen und dachten nach. Gewiß, das war eine traurige Geschichte, aber es passiert ja so viel dergleichen. Kinder, junge Leute werden mit dem Leben nicht fertig oder verzweifeln, wenn etwas nicht klappt, den Erwachsenen geht es ebenso. Und die ganz jungen werfen vielleicht die Flinte eher ins Korn, weil sie noch nicht erfahren haben, daß doch immer wieder etwas Neues kommt. Da saßen diese beiden, die bisher immer voll Vergnügen mit ihren Schulbüchern unter dem Arm ins Leben hineintrabten, und hatten Unannehmlichkeiten, schwere Gedanken und Befürchtungen.

Käthe versuchte etwas unbestimmt zu trösten: Abwarten – und man wird ja sehen...

Das schöne Wetter und das Vergnügen am Draußensein hatte man darüber ganz vergessen. Erst als der Kutscher sich umwandte und fragte, ob er noch weiterfahren solle, fiel es allen wieder ein: «Gott, wir fahren ja spazieren, und es ist gleich Mittag», und Käthe schlug vor, auszusteigen und in dem kleinen Restaurant am Waldrand zu essen. Es würde sich für die beiden schon ein Vorwand finden, den man nach Hause telephonieren konnte.

Das geschah denn auch. Man umstand das Telephon, und eines nach dem anderen sagte seinen Spruch. Georg erzählte von einem Ausflug mit Kameraden und Hedy mit heller Stimme von einer Freundin, die sie unerwartet eingeladen habe. Doktor Burmann dagegen wurde gebeten, wenn er nicht gleich abkommen könne, wenigstens zum Kaffee zu erscheinen.

Henning verhandelte indessen mit dem Kellner und stellte das Menü zusammen. «Da wir heute Kindergesellschaft haben, muß es zum Schluß wohl Süßigkeiten und Sekt geben», sagte er zu Käthe.. «Inszenieren wir um Gottes willen etwas Lustigkeit, ich kann solche Stimmungen auf die Länge nicht vertragen. Diese dumme Schultragödie, wie es deren schon Dutzende gegeben hat und die nun ihren Schatten auf unsere beiden Krabben zu werfen gedenkt. – Haben Sie gesehen, wie das Mädel verängstigt dreinschaut, wenn man sie nicht beobachtet? Das Leben, dieses sogenannte Leben, ist wirklich ungeschickt und taktlos, diesen hübschen kleinen Roman sollte es doch ruhig stehenlassen, bis er von selbst aufhört... Und Sie haben heute auch einen nervösen Zug, teure Käthe...»

Sie stand vor dem Spiegel, und es war Henning schon öfters aufgefallen, daß sie sich in dieser Geste von den meisten anderen Frauen unterschied. Sie hatte fast nie etwas an sich zu nesteln und zu ordnen. Wenn sie morgens aus ihrem Ankleidezimmer hervorging, war die Sache erledigt, ihre Frisur, ihre Kleidung, alle ihre Einzelheiten blieben den Tag über, wie sie selbst, harmonisch und besonnen. Sah sie in den Spiegel, was gern und häufig geschah, so war es eigentlich nur, um das mit wohlwollendem Interesse festzustellen.

«Pfui, das höre ich nicht gerne», antwortete sie auf Hennings Bemerkung, «aber Sie haben wohl recht, ich habe es eben schon selbst konstatiert. Ich glaube, wir bummeln doch etwas zuviel, und ich muß allmählich daran denken, mich zu konservieren. Ihnen als Mann macht es ja nichts, wenn Sie Lebefalten bekommen, aber ich danke dafür. Außerdem hat die Sensation, die ich mir frivolerweise wünschte und die Georg mir dann so prompt servierte, mich ganz trübe gestimmt.» Wieder warf sie einen längeren Blick in den Spiegel: «Ich mußte eben daran denken, wenn ich selbst Kinder hätte.»

«Nun, die wären vermutlich noch in zarterem Alter.»

«Aber einmal würden sie doch groß... außerdem, wissen Sie, lieber Baron, daß ich nächstens 34 Jahre alt werde?»

Wie unvorsichtig, dachte Henning, ein paar Jahre weiter wird sie sich ärgern, daß man es ihr nachrechnen kann. Überhaupt, Frauen sollten ihr Alter immer unbestimmt lassen, möglichst viel Raum für Illusionen, in jeder Beziehung.

Und dann sagte er scherzend:

«Barmherzigkeit, Frau Käthe, Sie haben heute eine Tendenz zu entgleisen, und das paßt nicht zu Ihnen. Sie können nicht von Ihrem Spiegel wegfinden, stehen da und machen Betrachtungen über Ihr Alter und die Kinder, die Sie haben könnten... übrigens, vielleicht würde es Ihnen ausgezeichnet stehen – eine Schar blühender Kinder.»

«Das dachte ich gerade auch, aber ich bin eine kinderlose Witwe, die von ihren Renten lebt... greulich.»

«Heiraten Sie doch Hans Burmann, il ne demande pas mieux.»

«Burmann... nein.»

«Dann mich... ich würde Ihre Renten gar nicht greulich finden.»

Sie warf ihm einen raschen Blick zu und lachte dann: «Geben Sie acht, daß ich Sie nicht beim Wort nehme. Aber was wird dann mit Lucy? Ich würde eifersüchtig sein und mich mit dem verdammten Schweden trösten.»

«Ach, Lucy... ich glaube jetzt kaum mehr, daß wir sie noch finden. Außerdem ist sie nichts zum Heiraten – – – Lucy wünscht sich gewiß keine Kinder.»

Georg und Hedy kamen jetzt endlich herein, sie hatten im Korridor am Telephon endlos miteinander zu flüstern gehabt, und das Personal streifte sie mit neugierigen Blicken.

Das kleine Gastzimmer war voll Wintersonnenschein und gut geheizt. Man setzte sich zu Tisch, hatte guten Appetit und fühlte sich bald gemütlich und in einiger Ferne von allen sonstigen Angelegenheiten. Keiner hatte mehr Lust, über unangenehme Ereignisse oder bedrückende Fragen zu sprechen.

Henning saß neben dem jungen Mädchen und machte ihr die Cour in aufgeräumter Stimmung, die er auch den anderen mitzuteilen suchte.

«Machen Sie jetzt, bitte, vergnügte Augen, wenn es auch nur für mich ist. Georg hat es vielleicht gerne, wenn Sie manchmal tragisch dreinblicken. Zur wahren Liebe gehört ja immer etwas Tragik. Kann sie das auch, Georg?»

Der lächelte überlegen.

«Darüber werden keine Details veröffentlicht.»

Hedy trank Wein und lachte. Sie brauchte eine Reaktion, und sie fühlte sich wohl unter diesen Menschen, die gesellschaftlich und dabei leger waren. Zu Hause und in ihren Kreisen war das ganz anders, und sie begann darüber nachzudenken, warum, allerlei wirre Gedanken, denen sie schließlich mit der Bemerkung Ausdruck gab: «Ich glaube, meine Eltern sind, was man Protzen nennt.» Alle lachten, aber man begriff, daß sie mit diesem Bekenntnis den Versuch machte, ihnen näherzukommen.

«Ja, deine Eltern», sagte Georg, «es ist schrecklich, daß alle Menschen Eltern haben. Könnte man doch einfach so da sein.»

Henning dachte mit einem Seufzer an seinen Vater und die junge Stiefmutter und meinte: «Ja, sie sind oft lästig, aber man muß sie nehmen, wie sie sind. Sehen Sie, Hedy, mein Vater ist sehr vornehm und war einmal sehr reich, aber ihm lief das Geld durch die Finger, und ich werde eines schönen Tages – – lassen wir das. Sie dagegen stört es, daß Ihre Eltern, wie Sie eben so hübsch sagten, Protzen sind. Aber das hat auch seine Vorzüge. Seien Sie froh, daß man Sie mit allen Annehmlichkeiten des Daseins umgibt. Ihr eigenes Milieu können Sie sich später immer noch machen, wie es Ihnen zusagt... Sie wissen doch, was ein Milieu ist?»

«Ja, natürlich weiß ich das», sagte sie halb beleidigt, sah ihn aber dabei vertrauend und lernbegierig an.

«Nur die materiellen Dinge nicht unterschätzen, solange man jung ist, später hat man dann... o nein, es stimmt nicht ganz, was ich sagen wollte. Aber wenn Sie einmal die Kinderschuhe ausgetreten haben...»

«Kinderschuhe... ich werde Ihnen einen Kinderschuh von mir schenken, einen recht ausgetretenen, damit Sie endlich begreifen, daß ich kein Backfisch mehr bin.»

«Ja, tun Sie das, ich werde mich sehr darüber freuen.»

«Meine Mama hat eine ganze Menge davon aufgehoben, die läßt sie dann vergolden und hängt oder stellt sie irgendwo auf – ist das nicht geschmacklos?»

«Es geht... wie man's nehmen will. Es hat auch etwas Ergreifendes, eine Mama, die Reliquien sammelt. – Sind Sie das einzige Kind?»

«Nein, ich habe noch einen greulichen kleinen Bruder...», und sie begann weiter von ihrem Zuhause zu erzählen.

Käthe und Georg, die ihnen gegenübersaßen, hatten sich inzwischen in ein ernsteres Sondergespräch vertieft. Dann kamen das Dessert, der Sekt und gleich darauf Burmann.

«Immer eure Situationen, die ich mitmachen soll», sagte er, «was ist denn das wieder für ein Winteridyll – – ein Sünder und eine achtbare Witwe dinieren mit der jüngsten Lebewelt, außerhalb des Weichbildes einer Großstadt... Ich habe übrigens einen wundervollen Gang gemacht, hier heraus, und ausnahmsweise gar keine Lust, euch ins Gewissen zu reden. Gebt mir lieber zu trinken. Sei still, mein Junge, ich weiß natürlich schon alles. Dein Vater hat endlos mit mir telephoniert. Wir werden sehen, was sich tun läßt.»

Käthe legte Georg mütterlich die Hand auf die Schulter, sie hatte den Jungen besonders gern und sagte: «Na, hoffen wir, daß die Wolke wieder vorüberzieht. Und du, Hans, bist ja heute in Extralaune, was ich von mir nicht gerade behaupten könnte. Wohlwollend und tolerant für die Schwächen deiner Mitmenschen.»

«Ich habe einen schweren Patienten durch die Operation gebracht, aber das versteht ihr ja doch nicht. Prosit!»

Man stieß an.

«Also prosit», sagte Henning, «es lebe... es muß doch irgend etwas leben, wenn man anstößt.»

«Der Selbstmordverein!» rief plötzlich Hedy mit ihrer etwas zu hellen Stimme, während der Schaum von dem übervollen Glas ihr über die Finger lief. Sie war schon ein wenig angeheitert.

«Nein, kleine Kusine», und der Doktor war gleich wieder ernster, «ich bin dafür, daß man diesen Verein so rasch wie möglich wieder begräbt. Sprechen wir lieber nicht mehr davon.»

«Begraben wir ihn dann wenigstens lustig», meinte Henning. «Spiel, Hans, wir werden ein bißchen tanzen.»

«Richtig, tanzen wir», sagte Käthe wie erleichtert, «tanzen wir uns alle die dummen Geschichten vom Gemüt herunter.»

«Du auch?» fragte Burmann und sah sie verwundert an.

«Sie hat, solange wir da tafeln, keine zehn Worte gesprochen.»

«Ja... ich weiß nicht... die Kinder waren nicht wie sonst, Henning versuchte das Seelische zu ignorieren, was ihm aber nicht recht glückte. Und heute hat's mich auch.»

Damit ging sie an das Klavier, machte es auf und schlug ein paar Töne an: «Ach, das Ding ist auch verstimmt, aber es macht nichts. Also spiel, Hans, und ich werde mit Henning den Ball eröffnen.»

«Schön, spiel, Hans», wiederholte Burmann resigniert und begann eine Mazurka, «aber vertanzt mir dann, bitte, eure Phantome und Selbstmordvereine und andere Verrücktheiten recht gründlich.»

Der Kellner schaute verwundert drein, während er die Tische und Stühle beiseite schob. Diese Leute schienen ihm merkwürdig, was sie alles für krause Dinge redeten, und nun wollten sie am hellen Nachmittag tanzen.

«Lassen Sie den Sektkübel stehen und die Gläser», rief ihm Henning zu, «und zwei neue Flaschen. – Georg, Hedy, rührt euch, oder meint ihr, wir wollten euch vortanzen und ihr dürft nur zuschauen?»

Sie gehorchten halb mechanisch. Hedy war dann bald mit großer Lebendigkeit bei der Sache, sie fand diesen improvisierten Ball herrlich. Georg dagegen war zerstreut, es war das erste Mal, daß sie miteinander tanzten, bisher hatte sich nie Gelegenheit dazu geboten, und er bewunderte die leichte Selbstverständlichkeit, mit der sie sich bewegte. Er liebte sie in dieser Stunde mehr wie je, aber dazwischen dachte er immer noch wie hypnotisiert an seinen toten Schulfreund und an seine eigene Zukunft. Bisher war ihm das Leben immer glatt und ohne Verwicklungen hingegangen, zu Hause wie in der Schule und mit Hedy, an das Weitere dachte man nicht. Nun kam es vielleicht an ihn heran, alles mögliche konnte herankommen, und er fühlte selbst, daß es noch zu früh sei. Man war noch Gymnasiast und der Sohn einer geordneten Familie, der über nichts selber zu bestimmen, ja noch nicht einmal mitzureden hatte.

Burmann spielte unermüdlich einen Tanz nach dem anderen, trank dazwischen ein Glas Sekt und einen schwarzen Kaffee, dachte an seinen geretteten Patienten und daß es ganz angenehm sei, hier und da einen freien Nachmittag zu erleben, so wie heute am Klavier zu sitzen und befreundete Menschen um sich zu haben. Er selbst tanzte nicht gern.

Die Paare wechselten, jetzt tanzte Georg mit Käthe und Henning mit der Kleinen. Das Wirtspaar kam zuschauen, der Wirt fragte höflich, ob er sich erlauben dürfe, die Damen um ein Tänzchen zu bitten, was dann wieder Henning verpflichtete, seine Frau einigemal herumzuschwenken. Sie war entzückt, mit einem leutseligen Baron zu tanzen, und sagte, man solle doch öfters kommen, hier draußen sei man ja ganz ungeniert. Untertags und überhaupt in der Woche gebe es selten Gäste.

«Ja, ja», sagte Henning zustimmend und war ganz froh, als er dann wieder die leichte Hedy im Arm hatte.

Draußen wurde es allmählich dunkler, die Sonne ging rot und langsam unter.

«Nun tanzen wir zum Schluß einen Konversationswalzer... erzählen Sie mir noch weiter von sich, Hedy. Wir lernen uns ja heute erst etwas näher kennen... Und dann schickt man die Kinder nach Hause.»

Ihr war sehr wohl, und sie genoß den sonderbaren Tag mit lauter ungewohnten Dingen, den es heute für sie gab. Weintrinken, Gesellschaft und Tanzen, wo man sonst um diese Zeit Sprach- oder Musikstunden hatte.

Drüben walzten Georg und Käthe, bald dicht an ihnen vorbei, bald wieder in der Entfernung. Sie sprachen eifrig zusammen und riefen manchmal dem Doktor, der mit heroischer Ausdauer immer noch am Klavier saß, ein paar Worte zu. Hedy lehnte sich zurück an Hennings Schulter mit halbgeschlossenen Augen und fühlte sich sehr geborgen und zutraulich.

«Ich möchte, es wäre immer so, alle Tage so ähnlich wie heute», sagte sie halblaut, «aber dann muß man wieder nach Hause.»

«Zu Hause haben Sie doch wahrscheinlich auch allerhand angenehme Dinge... ein hübsches Zimmer, schöne Sachen...»

«Ja, alles, was ich will, aber es ist sehr langweilig. Und sprechen Sie doch nicht immer mit mir wie mit einem kleinen Kind...»

«Ich weiß immer noch nicht recht, was Sie sind.»

«Das wird sich zeigen... wenn zum Beispiel Georg jetzt wirklich von der Schule käme...», meinte sie sehr energisch und warf einen langen Blick zu Georg hinüber, der ihn auffing und zurücklächelte.

«Wieso denn?»

«Dann bleibe ich auch nicht mehr zu Hause.»

«Kind, das sagt man so. Ihr vergeßt noch immer, daß überall die sogenannte rauhe Wirklichkeit dazwischensteht. Sie ist tatsächlich sehr rauh, wenn man mit ihr in nähere Berührung kommt und sich mit hundert praktischen Fragen auseinandersetzen soll, die bisher von anderen Personen erledigt wurden. Sie können doch nicht das alles, was Sie heute umgibt, nur so hinwerfen und mit dem Herzliebsten in die Welt hinauslaufen wie in einem Volkslied.»

«Oh, man kann alles mögliche», erwiderte Hedy gläubig. «Ich könnte vielleicht zum Theater gehen oder Tänzerin werden oder sonst etwas. Das haben schon andere auch getan.»

«Nur ohne Georg leben kann man nicht?»

«Nein», sagte sie vollkommen überzeugt, «das kann ich nicht. Doch glaubt mir jetzt vielleicht niemand, ich weiß schon. So wie meine Freundin, mit der ich heute mittag an der Post war – die ist die einzige, die alles weiß, und meint auch, ich sei doch nur ein oberflächlicher Fratz. In zwei oder drei Jahren würde man mich verheiraten, und dann hätte ich Georg bald vergessen. Sie behauptet, so endete es mit allen Jugendlieben. Kann sein, daß ich sonst oberflächlich bin, es macht mir Spaß, schöne Kleider zu haben und Ringe und dergleichen, und wenn man mir nachsteigt... schon weil es die anderen Mädchen ärgert»– sie machte eine Pause, man kam gerade an den anderen vorbei, die jetzt auf dem Sofa saßen und ausruhten, und hörte Käthe atemlos sagen: «Die werden ja überhaupt nicht müde.»

«Nur weiter, Hedy, die anderen ärgern sich also...»

«Und wie!» sagte sie wegwerfend. «Mir steigen ja viele Buben nach und auch Erwachsene. Das macht mir Vergnügen, aber ich mache mir nichts aus ihnen, absolut nichts. Ich werde nie jemand anders gern haben als Georg...»

Das ist die Sprache der Leidenschaft, dachte Henning, wenn auch noch schulmädchenhaft formuliert. Und Entschlossenheit, Mut, es ist alles da, was das Leben von einer Liebesaffäre verlangt.

Und dann sagte er: «Wir müssen Schluß machen, man wird ungeduldig. Dann lassen wir ein Auto rufen und fahren euch nach Hause... Schade, ich hätte gerne noch etwas weitergefragt. Ich möchte noch verschiedenes von Ihnen wissen – aber dann vielleicht nicht mehr, wie man ein Kind fragt.»

Er fühlte, wie bei seinen Worten ein leiser Schrecken durch ihren Körper lief, sie schlug die Augen jetzt voll auf und wurde rot.

«Nein, fragen Sie lieber nicht. Man kann nicht von allem sprechen.»

«Nicht aus Neugier, Hedy, oder aus Indiskretion, aber man könnte doch so etwas wie Besorgnis um euch zwei haben. Eigentlich haben Sie mir auch schon geantwortet. Und ich bin doch schließlich kein Kommerzienrat.»

«Schluß, Schluß», riefen die anderen vom Sofa her, und Burmann hörte auf zu spielen. Man kühlte sich noch eine Weile ab, dann kam das Auto... Während der Heimfahrt warf Hedy sich dicht an Georg heran.

 


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