John Retcliffe
Solferino
John Retcliffe

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Epilog.

Sylvester!

Es ist Sylvesterabend – das Jahr 1860 scheidet, – das neue 1861 tritt in seine Rechte.

Ein verhängnißvoller Wechsel auch für Preußen! Die Regentschaft mit dem Ministerium der neuen Aera dauert fort, der sterbende König liegt bewußtlos auf seinem Todeslager zu Sanssouci, und die Umnachtung seines einst so herrlichen Geistes erspart ihm wenigstens all' die bittern Erfahrungen des Undanks und der Gehässigkeit, mit welchen die Politik Auerswald-Schwerin vor ihrem totalen Fiasco alle die Freunde und Männer des alten Systems verfolgte, um bei der Gegenpartei captatio benevolentiae zu machen, die klug genug ist, die Ruinirung der bisherigen Autoritäten anzunehmen, dann aber dem Ministerium in die Zähne zu lachen und ihre eigene Macht zu sichern.

Es ist eine traurige Periode des Uebergangs! Gar mancher Fehler der reactionairen Regierung und der Junkerkammer rächt sich – denn auch diesen mangelte es an politischen Sünden wahrhaftig nicht! – aber schwerer und gefährlicher auf der Zukunft Preußens lastet das System liberaler Versuche. Man reißt die alten Pfeiler des Baues ein – ohne zuvor neue gesichert zu haben; – eine tiefe Verstimmung herrscht im Lande und keine der Parteien ist zufrieden.

Herr von Manteuffel war gegangen – wir wollen nicht sagen, ein Numa zum Pfluge zurück; aber den Preußens Geschichte von Achtundvierzig schändenden Scandal hatte er sicher nicht verdient, daß ein auf Beförderung gieriger Assessor auf criminalistische Spekulationen in das Tusculum des November-Mannes abgesandt wurde und sich die Hypothekenbücher nachschlagen ließ, ob der zähe Gegner und Besieger der Demokratie etwa mit dem Vertrauen seines Königs selbst Speculationen gemacht! – Die Staatsanwaltschaft – in Zeiten politischer Schwankungen oft ein sehr gefährliches Institut! – hatte sich dazu brauchen lassen, die Autorität der Polizei und ihrer eigenen Vorgänger an Zedlitz, Stieber, Nörner, Patzke, Spiegelthal u. s. w. zu ruiniren, um zuletzt kläglich an der Ehre Preußischer Gerichtshöfe zu scheitern! – Räthe aus den Ministerien schämten sich nicht, Entdeckungsreisen in die Provinzen zu machen, um Anklagepunkte gegen politische Gegner zu suchen, die bisher ehrenwerth, aber zu conservativ oder zu schroff an den Spitzen der Verwaltung gestanden! – die Dispositionsstellungen regneten, ohne daß Einer die Auerswald'sche Geistesgegenwart von 48 besaß, sich für das Patent eines Tages 2000 Thlr. Pension zu sichern! – Namen wie Kleist, Peters, Byern, Milbach u. A. waren der demokratischen Verfolgung vervehmt! – alte gediegene Beamte wichen den Privatsecretairen der neuen Machthaber und speculativen Ränkemachern; – der alte Adel des Landes zog sich zurück – das Professorenthum begann sich in den Sattel der hohen Politik zu schwingen – und die Schöpfung der Kreisrichter sich als die bestallte Censur der Minister zu fühlen!

Die Demokratie nutzte so viel als möglich die Gelegenheit, um ihre Leute in die Behörden zu schieben und die alten vervehmten Freunde wieder zu Ehren zu bringen; – denn man muß ihr das Verdienst lassen, sie ist dankbar und klug, zwei Eigenschaften, die der Gegenpartei völlig fehlen! Der Nationalverein etablirte sein Regiment neben den deutschen Kabineten!

Nur die Schöpfung des sterbenden Königs, das Herrenhaus, bildete noch einen Damm gegen die Herrschaft des Liberalismus und man debattirte eifrig seine Reorganisation.

Unter all' dieser Zerfahrenheit und diesen innern politischen Kämpfen arbeitete der Regent still und ernst an einer anderen – an jenem gewaltigen Werk, das sechs Jahre später durch seine Früchte Europa in Staunen und Schrecken setzen sollte, und seine Hand allein hielt eine feste Stütze seines Werkes in diesem Ministerium des Wirrwars aufrecht in dem ehernen Charakter eines Roon während der kluge Heydt es verstand, auch der neuen Aera gerecht zu werden und Industrie und Finanzen zu fördern. Si vis pacem – para bellum! – Mit Entrüstung hatte der edle Prinz den Antrag des Mannes an der Seine zurückgewiesen, Preußen zu arrondiren gegen Abtretung des linken Rheinufers, während der König von Hannover seinen Minister Borries für den Vorschlag in den Grafenstand erhob, das Ausland gegen Preußen zu Hilfe zu rufen. Das Jahr 1860 bereitet Düppel, Königgrätz und Langensalza vor!

Aber auch draußen in der andern Welt wogte und gährte es gewaltig an allen Ecken und Enden!

Das Provisorium von Villafranca – in Zürich sehr mangelhaft besiegelt! – war mit Hohn zerrissen! – Louis Napoleon hatte seinen Wechsel auf Graf Cavour und Victor Emanuel mit der Komödie der Volksabstimmung von Nizza und Savoyen einkassirt! – Die Politik Englands hatte die Freibeuterschiffe Garibaldi's geschützt, als der kühne Condottieri mit seinen Rothhemden die Revolution. nach Sicilien und von da über die Meerenge trug und den Thron der Bourbons in Neapel stürzte, – wohl mehr, um die Murat'schen Pläne und somit das Wachsthum der Napoleoniden zu hindern, als aus Sympathieen für den Re gentilhuomuo, der die beutelustige Hand auf ganz Italien legt und trotz des Kirchenbanns die Armee des Heiligen Vaters schlagen und von Persano Ancona bombardiren läßt.19. September. Die französische Flotte schützt den Golf von Gaëta, um den Todeskampf des Bourbons und seiner heldenmüthigen Gemahlin zu verlängern. Es war ein böses Jahr für die Söhne des heiligen Ludewig.

An der Seine ist man eifersüchtig auf die spada d'Italia und England halt Revuen über seine Milizen zur Landesvertheidigung gegen die Gelüste Frankreichs! In Beyrut und Damaskus ist das Christenblut in Strömen geflossen und die Expedition französischer Truppen kann vierzigtausend unterm Schutz der türkischen Regierung Ermordete nicht wieder in's Leben rufen. Dafür steuerten die unglücklichen Chinesen mit dem erstürmten Peking zum gloire der beiden großen humanen Nationen bei; – Spanien hat einen Fetzen von Marokko, 20 Millionen Piaster und einen Herzog von Tetuan gewonnen; – das kleine Dänemark höhnt das große Deutschland und knechtet die Herzogthümer; – Kaiser Alexander trinkt wieder auf's Wohl seines besten Bundesgenossen, Oesterreich's, das den Kaufpreis von 30 Millionen Napoleond'ors für Venetien verwirft, um es nach sechs Jahren für einen Wilhelmsd'or einem Louis zu Füßen zu legen, und das einstweilen sich die drohende Revolution in Ungarn vom Halse zu schaffen sucht, indem es sie in Warschau begünstigt.

Verwirrung – Zerfahrenheit – Kampf – Rebellion und Umsturz überall – Sturm und Gewitter auf allen Strichen der politischen Windrose: – das ist die Zeit, mit der unser neuer Roman beginnen soll – sei nicht so thöricht, Leser, Dich aus alter Freundschaft für den Autor in diese Erinnerungen zu stürzen und Deine politische Moral zu riskiren – sondern folge ihm lieber zu Kroll, wo ein Engel dirigirt und die anderen sehr precairer Natur nur Deine bürgerliche auf dem Sylvesterball bei schlechtem Champagner in Gefahr bringen!

Die Polka rauschte und hob die Füße – einige Commis von Gerson oder der Disconto thaten sich hervor in Linksum und Hackenschottisch – die Hälfte der Schönen schaute sehnsüchtig nach dem Römischen Saal, ob es nicht bald Zeit wäre, daß sie statt des unfruchtbaren Tanzes zur Tafel geführt würden.

Droben in der Loge Nr. 9 saß eine lustige Gesellschaft, der Tugendbund und seine Leidensgefährten im Studium des Genusses. Nur der Kommissionsrath fehlte – seit Jahr und Tag, und Niemand wußte, wohin er ohne Abschied gegangen, anscheinend auf Nimmerwiederkehr, denn sein Haus in der Stadt und seine Villa in Charlottenburg waren unter der Hand durch den Kommissionair Günther verkauft worden, oder vielmehr hatte dieser selbst das Haus gekauft und saß jetzt als Berliner Partikulier und Grundbesitzer mit langer Pfeife darin, hielt die Dienstmädchen seiner unglücklichen Miether durch tägliche Predigten an der Hofpumpe zur strengen Moral an, und hatte Aussicht, nächstens zum Armenvorsteher des Bezirks gewählt zu werden.

Die Putzmachermamsell, die Schlächtertochter und die seidenumrauschte Lorette der Prinzenstraße amüsirten sich prächtig. Die lungernde und bummelnde Herrenwelt Berlins, die am Tage auf den Comtoirbänken und den Büreaustühlen rutscht, die Bilder fabricirt für den Kunstverein und Journalartikel schreibt – die Zeile sechs baare Pfennig! – die Attachés der hohen Diplomatie und die Lieutenants und Fähnriche in Civil – alte und junge Taugenichtse in Menge »immer mit'm Hut«, – Schauspieler und Cavaliere, Börse und Wissenschaft – Alles florirte und flanirte bunt durcheinander und zeigte vor Allem das Streben, eine Dame am Arm zu haben, oder über die Paare seine Glossen zu machen und einen Unglücklichen zu hänseln, der es gewagt hatte, sich wirklich zu einem Maskenkostüm zu emancipiren und eine Larve mit Bulldoggnase aufzusetzen.

Auch an Mitgliedern der vornehmeren Welt fehlte es nicht – selbst Damen, Fremde und Einheimische, die sich unter dem Schutz des Domino's und der Halbmaske, wie der Ball masqué et paré es gestattete, das bunte Treiben ansahen und bis Mitternacht mitmachen wollten. Der Vergnügteste von Allen aber war der Schöpfer all' dieses Vergnügens, wie er so durch den Saal strich, eine Choristin kneipte und zur nöthigen Tugend ermahnte, für seine neue erste Liebhaberin schwärmte und den lackirten Backenbart strich, oder dem Orchester ein vornehmes Kopfschütteln zuwarf, weil die Bratsche gequikt, oder die zweite Clarinette um einen Takt zu spät eingesetzt hatte, da die Augen und Gedanken des Bläsers ganz wo anders waren! –

Der glückliche Engel – er kannte nicht nur Jedermann, sondern auch Jedemännin, schüttelte den Ersteren die Hände und duzte die zweiten.

Zwei Herren, der eine von hoher schlanker Gestalt, der andere kleiner und blond, beide in gewöhnlichem Domino, wie sie der Garderobier am Eingang verleiht, stehen im Gedräng an den Pfeilern zur Conditorei.

»Merk' auf – da kommt sie!«

Die Worte werden geflüstert. Aus dem Gewühl der Paare des sich eben auflösenden Contretanzes kommt langsam ein Paar herbei, dass offenbar den vornehmeren Ständen angehört.

Der Herr ist ohne Maske, tadellos elegant gekleidet, der kostbare Solitair in seiner Cravatte ist allein ein Kapital, das eine ehrliche Handwerker-Familie viele Jahre nähren könnte. Er ist etwa 35 oder 36 Jahr, seine Züge sind fein, aber etwas abgelebt, der Mund sinnlich, die Augen klug, aber etwas müde, hängen mit großer Aufmerksamkeit an seiner Begleiterin.

Diese ist von mittlerer Größe und überaus zierlicher Figur wie selbst trotz des kostbaren Spitzendomino's zu sehen ist. Das Capuchon ist zurückgeschlagen, eine Menge durch die Hand des Friseurs künstlich um einen goldenen Kamm mit Amethystbehängen geordneter dunkelbrauner Locken quillt auf den Hals und den feinen Nacken. Domino und Robe sind schwarz und vom modernsten Geschmack, Fuß und Hand, wie sie bei den Bewegungen aus beiden hervorsehen, von untadelhafter Form und Kleinheit.

Die Dame lehnt sich leicht auf den Arm ihres Begleiters und blickt munter und kokett umher, während sie nur wenig auf die französisch geführte Unterhaltung ihres Cavaliers zu achten scheint, der sie mit großer Aufmerksamkeit führt.

Dies verhindert ihn auch, zu bemerken, daß im Augenblick, wo das Paar sich ihnen nähert und das Auge der Dame auf sie fällt, der größere der beiden Herren einen Moment lang die Maske lüftet. Es ist nur ein Moment, aber er scheint zum Erkennen genügt zu haben.

Die Dame zuckt leicht zusammen – dann hebt sie die Hand aus der Wolke der Spitzen und bleibt stehen.

»Himmel, mein Fächer – ich muß ihn an der Stelle verloren haben, wo wir eben standen. Bitte, Baron, gehen Sie zurück, sehen Sie nach – ob man ihn gefunden!«

»Lassen Sie mich erst Sie zur Loge führen, Alice!«

»Nein, gehen Sie sogleich, oder man zertritt ihn – ich werde hier warten, oder finden den Weg allein! Ich bestehe darauf, mein Herr!«

Sie hat ihm ungeduldig den Arm entzogen – die Unterhaltung, vielleicht gerade, weil sie französisch geführt wird, hat bereits einige Zuhörer.

»Gehen Sie, Baron, ich bitte darum!«

Der Cavalier drängt eilig zurück und verschwindet unter der Menge. Sie hat ihn so lange mit den Augen verfolgt, dann verläßt sie rasch durch die Seitenthür, wohin eine leichte Bewegung ihres schönen Kopfes gewiesen, den Königsaal.

Draußen auf der Treppe, die zu den Logen führt, bleibt sie einen Augenblick stehen, im Nu ist der hohe Mann, der die Maske gelüftet hatte, an ihrer Seite.

»Um Himmelswillen, Hypolit, Du hier?«

»Ich bin vor zwei Stunden von Dresden gekommen und hörte, daß Du hier warst. War dies der Baron?«

Sie machte ein Zeichen der Bejahung, während sie langsam emporstieg. »Ich muß Dich sprechen, Wanda – sofort! Es steht Alles auf dem Spiel!«

Sie dachte einen Moment nach. Dann wies sie leicht nach dem Eingang zum Corridor, der neben dem Rittersaal hinläuft.

»Dort sind die Privatzimmer. Suche den Oberkellner auf und nimm ein Zimmer – in einer Viertelstunde bin ich bei Dir! – Geh rasch vorwärts – dort kommt er!«

Ihr Cavalier kam hastig aus dem Saal und sprang die Treppe herauf, an deren oberen Biegung sie wie ihn erwartend stand.

»Ich habe Ihnen vergebene Mühe gemacht, lieber Freund,« sagte sie liebenswürdig, ihm die Hand reichend – »das alberne Ding hatte sich an meinem eigenen Kleide festgehakt.«

Er küßte galant ihre Hand. »Das belohnt mich hundert Mal, meine Süße! – O wenn Sie wüßten, Alice, wie toll mich Ihre Grausamkeit macht!«

»Still! ich will jetzt Nichts hören davon!« Der Fächer, den Sie niemals verloren, schlug ihn neckisch auf den Mund. »Kommen Sie zur Gesellschaft, oder ich erkälte mich in diesem Luftzug, und dann haben Sie gar Nichts!«

Der Kellner öffnete die Logenthür, aus der muntere Unterhaltung und das Klingen der Champagnergläser drang. –

Aus der Loge Nr. 9 konnte man das Innere von Nr. 7 bequem übersehen. Mancher neugierige Blick der lustigen munteren Gesellschaft flog da hinüber. »Da kommt sie wieder – es ist ein reizendes Geschöpf!«

»Wer?«

»Die Pariserin! – Das war' ein Bissen für Dich, Dicker!«

»Pah – Sie ist mir zu mager! Wenn ich einen Louisd'or daran wenden wollte.....«

Der Andere lachte ihm in's Gesicht. »Du bist ein Narr! – Unter einer Diamantbroche würde sie Dir nicht einmal Prosit Neujahr sagen! Wer ist der Herr, liebster Assessor, der mit ihr zurück kam?«

»Ein russischer Baron, der seit drei Wochen sich hier aufhält.«

»Von der Gesandtschaft?«

»Nein. Aber er verkehrt, wie Sie sehen, mit ihren Kavalieren.« Der Polizeiassessor beugte sich zu dem Fragenden. »Ich glaube, daß er in einer besonderen Mission hier ist,« sagte er leiser. »Jedenfalls muß er sehr reich sein, denn er giebt viel Geld aus.«

»Und er ist der begünstigte Anbeter der Pariserin?«

»So scheint es. Ich weiß nicht recht, was ich denken soll.«

»Wie so?«

»Das Mädchen ist offenbar eine Erzkokette und spielt mit ihren Courmachern, wie die Katze mit der Maus. Ich weiß nicht, was ich aus ihr machen soll – an Geld fehlt es ihr nicht, sie giebt vielmehr für ihre Toilette, wie mir Gerson's sagen, sehr Bedeutendes aus und bezahlt immer baar. Sie muß im Stillen einen reichen Liebhaber haben – aber ich bin noch nicht dahinter gekommen, wen?«

»Das will allerdings Viel sagen, Assessor, denn ich kenne keinen Menschen in Berlin, der in der hiesigen Damenwelt so Bescheid weiß, wie Sie!«

Der Beamte lächelte unter seinem blonden Toupet behaglich. »Es ist wahr,« sagte er, die Hände reibend, »ich schmeichle mir einer ziemlichen Bekanntschaft, auch beim Theater, und es entgeht mir selten etwas Neues. Aber diese da ist ein kleiner Satan. Sehen Sie die Zündholz-Marie, die Dame in Blau mit den aschblonden Locken – sie geht viel mit ihr, obschon sie nur wenig Deutsch radebrecht, und das Mädchen ist mir manche Verbindlichkeit schuldig. Sie veranstaltete es, daß wir in einer Prosceniums-Loge im Victoria-Theater zusammenkamen und dann miteinander soupirten. Die kleine pariser Hexe war die Liebenswürdigkeit selbst, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich auch nur einen Fingerbreit weiter kam, und die Zündholz-Marie behauptet steif und fest, keiner ihrer Liebhaber hätte bis jetzt mehr von ihr gehabt, obschon sie alle Abende in Gesellschaft und die Ausgelassenste unter den Tollen ist.«

»Warum nennen Sie das Mädchen Zündholz-Marie? sie sieht doch nicht aus, wie eine gemeine Grisette?«

»Sie verkaufte als Kind vor sieben Jahren Zündhölzer in allen Kneipen, bis ein alter Rentier an ihren knospenden Reizen Vergnügen fand und sie in eine Pension schickte. Das Mädchen ginge für ihre Freunde durchs Feuer. Es ist überhaupt etwas Sonderbares um diese Frauenzimmer. Sehen Sie, die. Brünette in dem gelben Domino, die dem Attaché der brasilianischen Gesandtschaft auf dem Schooß sitzt?«

»Cora?«

»Ja – die schwarze Cora, wie sie unter ihren Genossinen heißt, – eine Jüdin. Glauben Sie wohl, daß das Mädchen, bereits zweimal Heirathsanträge ausgeschlagen hat, obschon sie nur eine armen Choristin ist, das erste Mal von einem Baron, der drei bedeutende Güter in der Altmark hat, das zweite Mal von einem Banquier, der mindestens über zweimalhunderttausend Thaler kommandirt. Und wissen Sie, warum?«

»Nun?«

»Weil sie einen Friseurgesellen liebt und keinen Anderen heirathen will.«

»Und dennoch ist sie in dieser flotten Gesellschaft?«

»Sie hält die körperliche für keine Untreue. Wenn sie so viel zusammen gespart, daß ihr Geliebter ein eigenes Geschäft beginnen kann, wird sie ihn heirathen und sicher eine vorzügliche Frau sein, die ihn bald wohlhabend macht. Ich kenne ein solches Geschöpf, das 20 000 Thaler im Vermögen hat, die sogenannte schlanke Schröder, und die dennoch alle Bälle in der Musenhalle und im Orpheum besucht.«

»Sehen Sie – die Pariserin verläßt die Loge!«

Es war in der That so – die Dame in dem schwarzen Domino hatte einer ihrer Gefährtinnen, derselben, welche der Lauscher mit dem Namen der »Schwefelholz-Marie« bezeichnet hatte, Etwas zugeflüstert. Die beiden Damen erhoben sich, machten der Gesellschaft einen Knix und entflohen aus der Loge. –

Der hohe Fremde, der vorhin die Französin in so auffälliger Weise angesprochen, hatte den Oberkellner, Meister Schwarz, aufgesucht, der in der behaglichen Anschauung des Treibens mit seinem Wink die Kellner leitete. Es war freilich längst kein cabinet privé mehr zu haben, aber ein Louisdor war ein vortrefflicher Schlüssel für eine halbe Stunde.

Auf der Treppe hielt die Pariserin den blauen Domino fest.

»Wollen Sie mir thun eine große Freundschaft, Mademoiselle Marion?«

»Gewiß Alice, mit Vergnügen. Sie wissen, daß ich Sie gern habe!«

Die Französin löste ein schweres Armband von ihrem Gelenk. »Sie haben immer gefunden so großen Gefallen an diesem Bracelet,« sagte sie – »nehmen Sie es zum Andenken!«

»Aber Alice! das Armband ist wenigstens hundert Thaler werth!«

»Was kümmert das mich?« sagte die Andere hochfahrend. »Hören Sie, Marion – ich habe ein Rendezvous, ich muß sprechen eine Person, die mir ist lieb. Sorgen Sie dafür, daß ich ungestört bleibe zehn Minuten und warten Sie in der Garderobe auf mich!«

»Weiter Nichts, Alice – eine kleine Nase für den Russen? Wer zum Teufel würde nicht gern helfen, einem dieser vornehmen Liebhaber, die uns doch nur wie Waare behandeln, einen Streich zu spielen. Unbesorgt, Kleine, es soll Niemand da oben etwas merken!«

»Und kann ich mich verlassen auf Ihr Schweigen?«

»Ich wollte mir die Zunge eher abbeißen,« sagte die Schwefelholz-Marie lustig. »Ich bin nur froh, daß Sie auch solche Streiche machen. Aber jetzt rasch mein Engel, damit der liebe Baron nicht ungeduldig wird und herunter kommt!«

Sie zog die Pariserin die Treppe vollends hinab. »Wohin also?«

Der schwarze Domino wies nach der Thür des Corridors.

»Ah – dort! oh, wir haben schon lustige Abende da verlebt. Es war wirklich ganz vernünftig von dem Baumeister, die Zimmerchen da so versteckt hinein zu bauen zum Amüsement lustiger Paare! Aber nur geschwind und kommen Sie sobald als möglich wieder!«

Sie schob die Pariserin nach dem Corridor und verschwand in das Toilettzimmer.

Als die Dame in Schwarz den schmalen, nur matt erleuchteten Gang betrat, sah sie an der dritten Thür einen Herrn stehen – sie flog auf ihn zu, er zog sie in das Zimmer und verschloß die Thür.

»Hippolyt, was ist geschehn?«

Er hatte bereits die Maske abgelegt, führte sie zu dem Sopha und entfernte dann die ihre.

Ein weniger durch Regelmäßigkeit als seinen Ausdruck interessantes und schönes Gesicht zeigte sich. Der Teint hatte jene gewisse matte Färbung, die der Wangenröthe entbehren kann, ohne dadurch aufzuhören zart und frisch zu sein. Die junge Dame konnte auch höchstens 20 oder 22 Jahr, alt sein. Ihre sehr schön und weit geschnittenen Augen waren von einem leuchtenden Braun, das durch die langen Wimpern, wenn sie den Blick aufschlug, wie ein zündender Strahl brach. Dunkle, etwas über der Nasenwurzel emporstrebende Brauen, eine in eigenthümlich feiner Form leicht gebogene Nase und ein frischer hübscher Mund von kühnem Schnitt über dem kleinen, aber gewölbten Kinn bildeten eine ebenso eigenthümliche als fesselnde Schönheit.

Der Mann, der jetzt vor ihr saß, zeigte eine unverkennbare Aehnlichkeit mit ihr, obschon die Ausprägung der Züge in dem schmalen brünetten Antlitz noch kühner, entschlossener waren und die hohe Stirn von tiefen Gedanken, das kräftige Kinn von großer Festigkeit zeugten.

»Unheil, Wanda,« sagte er in polnischer Sprache, ihre Frage beantwortend. »Alles ist verloren, wenn Du nicht hilfst!«

»Ich?«

»Ja – Du allein bist es im Stande. Aufrichtig und ohne Ziererei – wie stehst Du mit diesem Russen?«

All' jener frivole, gelangweilte, launenvolle und kokette Ausdruck, der vorhin ihr Gesicht in der lustigen Gesellschaft der Loge Nr. 7 belebt hatte, war verschwunden und hatte einer aufmerksamen, fast finsteren Miene Platz gemacht.

»Ich denke, Du kennst mich und erwartest solche Thorheiten nicht von mir. Ich habe Dir geschrieben, daß er mir sehr eifrig den Hof macht – ich glaube, daß er wirklich verliebt ist.«

»Uebst Du eine gewisse Herrschaft über ihn?«

Ihre Lippe schwellte sich in verächtlichem Stolz.

»Er ist der Sclave meines Winks!« sagte sie. »Er würde sein Vermögen für meine Launen opfern!«

»Und für Deine Gunst seine Ehre?«

Eine dunkle Röthe überflog ihr Gesicht, ihre Augen blickten hochfahrend. »Wie meinst Du das, Bruder?«

»Höre mich an, Wanda – unsere Augenblicke sind gemessen. Wenn Baron Schippink seine Wohnung betritt, ehe wir ihm den schändlichen Raub abgenommen, sind wir verloren und Polens letzte Hoffnungen gescheitert!«

»Sprich!«

»Du kennst, wenigstens dem Namen nach, Lafare-Kolnitzki?«

»Den Schurken! – den Spion, den Verräther?!«

»Denselben – er verdient die Namen hundertfach. Aber seine Eigenschaften lassen sich nicht leugnen. Er ist eben so schlau als keck. Ich bin diesen Abend mit ihm von Dresden gekommen.«

»Mit dem Spion?«

»Ja – natürlich ohne sein Wissen. Dein Verlobter ist mit mir?!«

»Laroche?«

»Ja – Lafare kennt mich, aber nicht den Marquis. Das war ein Glück. – Seit vierzehn Tagen befindet sich Kolnitzki im Auftrag der russischen Regierung und Deines Barons in Dresden, die Spuren des Comités zu verfolgen. In vergangener Nacht ist es ihm gelungen, durch eine schlau angelegte Intrigue Correspondenzen und Listen in die Hände zu bekommen, die, wenn sie nach Warschau gelangen, das Verderben von hundert Patrioten sein und die Demonstration am 25sten verhindern würden!«

»Wo sind die Papiere?«

»Hier – in diesem Augenblick ohne Zweifel in Deiner Wohnung. Er hat sie hierher gebracht.«

»Und Ihr seid Männer und wußtet, was auf dem Spiel stand, und habt diesem Menschen gestattet, lebendig mit seinem Raube hierher zu kommen?«

»Du sprichst wie ein Weib!« sagte der Fremde unwillig. »Nur unter der Bedingung der Vermeidung jeder Gewaltthat wird die Propaganda stillschweigend in Dresden geduldet. Der sächsische Minister täuscht sich freilich in dem ehrgeizigen Plan, daß die Wiederherstellung Polens zu Gunsten der sächsischen Königsfamilie geschehen werde, aber wir brauchen ihn, und eine Vertreibung von Dresden würde alle unsere Pläne stören. Hier in Preußen sind gewaltthätige Schritte unmöglich – wir müssen sie vermeiden!«

»Und dafür können hundert Freunde des Vaterlands nach Sibirien wandern!« sagte sie empört.

»Nicht – wenn Du bereit bist, es zu verhindern.«

»So sprich!«

Laroche ist dem Schurken nachgegangen von dem Bahnhof, indeß ich nach Deiner Wohnung eilte. Er hat ihn nicht aus dem Auge gelassen. Er trägt ein grünes Portefeuille bei sich, das die uns gestohlenen Papiere enthält. Er hat sich direkt vom Bahnhof nach der Wohnung des Barons begeben. Nach zehn Minuten ist er wieder heraus gekommen, begleitet von dem Kammerdiener des Barons. Dieser hat ihn zu Deiner Wohnung geführt.«

»Baron Schippink hat mich abgeholt zum Ball; er hat seinem Diener wahrscheinlich, wie schon öfter, befohlen, wenn eine dringende Bestellung an ihn käme, sie zu mir zu schicken.«

»Das stimmt und ist unser Glück. Ich hatte kaum Zeit, in das Nebenzimmer zu treten, als Lafare mit dem Diener erschien. Martha sagte ihnen, daß der Baron mit Dir in Gesellschaft gegangen sei und erst in mehreren Stunden zurückkehren werde. Was für ihn bestimmt wäre, solle sie in Empfang nehmen. Sie hütete sich kluger Weise, zu sagen, wo er war – dieser Spürhund hätte ihn sicher bis hierher verfolgt. So bat er nur um die Erlaubniß, dort warten zu dürfen, weil er so rasch als möglich den Baron sprechen und mit dem Frühzug wieder abreisen müsse. Auf einen Wink von mir hat Martha ihm dies gestattet und seit einer Stunde sitzt der Schurke dort und versucht, sie auszuforschen.«

»Das Alles sagt mir nicht, wie ich helfen soll?«

Der Pole saß eine Weile stumm vor sich niederblickend. Dann, wie zu einem Entschluß gekommen, hob er die finstern Augen fest auf sie.

»Du mußt diesen Ball so bald als möglich verlassen, Wanda,« sagte er, »und mit dem Baron Schippink nach Deiner Wohnung zurückkehren.«

»Das wird nicht schwer halten, ein Unwohlsein oder eine Laune genügt. Aber ich sehe nicht ein, was das weiter helfen soll. Der Baron wird diesen Mann finden und ihn mit sich nehmen. Ihr habt dann mit Zweien zu thun und ich kann Dir sagen, daß der Baron ein nicht zu verachtender Gegner ist.«

»Er darf nicht mit Lafare Dein Haus verlassen!«

»Ich verstehe Dich nicht!«

»Lafare mag gehen, nachdem er ihm die Papiere übergeben. Der Baron muß bleiben.«

»Bruder ...« – sie war todtenbleich bei dem Worte geworden.

»Der Russe darf diese Nacht – vor morgen früh Deine Wohnung nicht verlassen – nicht eher, als jenes Portefeuille in meinem Besitz ist!«

»Bruder ...«

»Machen wir keine Umstände!« sagte er rauh. »Du hast der Sache des Vaterlandes geschworen: mit Leib und Leben! Wir brauchen nicht Dein Leben, sondern Deinen Leib, – Du wirst ihn geben!«

»Entsetzlich – Alles, nur meine Ehre nicht! Und dieser Vorschlag von Dir?«

»Deine Ehre? Wer glaubt denn hier an Deine Ehre, nachdem Du zwei Monate die Rolle der Courtisane gespielt hast – ich frage nicht, mit welchen Mitteln. Aber ich, Dein Bruder, ich, einer der Oberen des Bundes, dem Du geschworen, ich verlange jetzt für Stunden diesen Leib, der dem Vaterlande gehört, so gut wie Deine Seele! Es ist Deine Sache, wie Du ihn fesselst und mir das Portefeuille zurückverschaffst.«

»Habe Erbarmen mit mir – Alles, nur dies nicht!«

»Denke an Judith

Sie rang leidenschaftlich die Hände. »Bruder – ich bin rein, meine Ehre ist unbefleckt, wenn ich mich auch zu dieser schändlichen Rolle auf Euren Befehl hergegeben habe. Bedenke, daß ich verlobt mit einem Ehrenmann bin!«

»Er mag die Sache nachher mit dem Grafen arrangiren – wenn ich unterwegs bin, nach Warschau!« sagte der Andere spöttisch.

»Bruder – ich flehe Dich, suche ein anderes Mittel, bei dem Andenken an unsere Mutter!«

»Es geht nicht! – Judith opferte ihren Leib für das Vaterland und jeder nennt sie eine Heldin, nicht eine Metze!«

»Ja– aber sie tödtete ihn, ehe sein Mund sich ihrer Schande rühmen konnte!«

»Das wird Laroche übernehmen!«

»Was geht Laroche meine Ehre an!« rief sie leidenschaftlich. »Ich liebe ihn nicht – ich ...«

»Er ist Dein Verlobter!«

»Ich liebe einen Andern ...« sie war an ihm niedergesunken und hatte seine Knie umfaßt. »Du weißt nicht, was Du forderst, Hyppolit – beschwöre das Verderben nicht auf unsere reine Sache! – Ich kann Dir nicht gehorchen, weil ich liebe!«

»Wen?«

»Fordere den Namen nicht – rufe nicht die Geister der Hölle wach!« rief sie leidenschaftlich – »Sieh – wenn Ihr Männer den Muth nicht habt, ich selbst will mich auf jenen Schurken werfen und ihm meinen Dolch in's Herz stoßen, daß Du frei und ungehindert mit den Papieren von dannen gehst, während meiner das Schaffot wartet!«

»Thörin,« sagte er finster – »glaubst Du, daß es mir an dem Muth fehlt, mein Leben zu opfern? Aber die Zukunft braucht uns, Dich und mich! Mein Leben gehört so wenig mir, wie Dir Deine sogenannte Ehre. Dieser Russe wird heute Nacht in Deinen Armen schlafen und Morgen in seinem Leichentuch, so wahr ich ...«

»Halt,« unterbrach sie ihn, mit leidenschaftlicher Energie emporspringend. »Nicht weiter! – Wenn das Opfer gebracht werden muß, soll es wenigstens auf meine Bedingungen geschehen! Bruder – Du, der mit mir unter einem Herzen gelegen – im Namen der heiligen unbefleckten Jungfrau, auf Deine Ehre frage ich Dich, muß es sein?«

Er senkte den Kopf, ohne sie anzusehen. »Es muß!« sagte er leise. »Es handelt sich nicht allein um den Wiederbesitz der Papiere, sondern auch darum, daß wir nicht verfolgt werden, daß von der Kenntniß unserer Geheimnisse kein Gebrauch gemacht wird.«

»Aber der Spion wird es thun!«

»Er vermag es nicht. Es sind nur wenige und unbedeutendere Papiere in französischer und polnischer Sprache abgefaßt – die meisten in der früher von uns gebrauchten Chiffreschrift, wozu Baron Schippink durch den früheren Verrath in Paris wahrscheinlich den Schlüssel besitzt. Deshalb auch hat sich Lafare beeilt, seinen Raub hierher zu bringen und dem Baron zu übergeben, als dem Hauptagenten der russischen Regierung.«

Die Polin sah starr vor sich nieder, die Hände im Schoos gefalten.

Es klopfte an der Thür. »Fräulein Alice, sind Sie hier?«

»Ja, Marie – wenige Minuten noch!«

»Eilen Sie sich, der Baron ist schon einmal im Saal gewesen, um sich nach uns umzuschauen.«

»Ich komme sogleich, Kind – halten Sie nur noch einige Augenblicke Wache.«

Die Warnerin hatte sich wieder entfernt, der Pole faßte die Hand seiner Schwester.

»Ich weiß, was ich von Dir verlange – aber denke an die Unglücklichen, die man hinausschleppen wird nach Sibirien, wenn die Knute oder der Strick nicht vorher ihr Leben enden, im Fall es uns nicht gelingt, sie vorher zu warnen, denke an die Mütter, die um ihre Söhne jammern; an die Weiber, die Kinder, die den Gatten und Vater gemordet sehen – an Deine Schwestern, die Jungfrauen, deren Liebstes auf der Welt der Wind am Galgen dreht – denke an das Vaterland, das seine letzte heilige Flamme im ersten Aufzucken ersticken sieht, und dann frage Dich – was ist eines Mädchens Ehre gegen die Tausende von Thränen?«

Sie hatte mit den Händen ihr Gesicht bedeckt und schluchzte laut während seiner Worte, ihr Busen hob sich stürmisch, während er sie umfaßte und ihr Haupt an seine Schultern legte.

»Glaube mir, Wanda – gäbe es noch in diesem Augenblick ein anderes Mittel, ich würde es wählen und sollte ich meinen Kopf auf ein Schaffot dafür legen – aber sie sind auf ihrer Hut gegen jede Gewalt. Dieser Bursche ist ein Teufel in seiner Kraft und Vorsicht, – an wen es ihm gelingt, die Hand zu legen, der ist verloren. Wir können selbst nicht wissen, wie weit er bereits in die Geheimnisse jener unglücklichen Papiere eingedrungen ist, – nur der Befehl seines Oberen wird ihn bewegen zu schweigen. Dennoch – verweigere Deine Hilfe, und ich gehe hin und schieße ihm eine Kugel durch den Kopf – zur Vernichtung der Papiere werde ich wenigstens Zeit behalten, mag dann kommen, was da will.«

Das Mädchen hatte ihr bleiches, thränenbenetztes Gesicht erhoben, ihre dunklen Augen glühten in einem unheimlichen Feuer. »So möge es denn sein – erinnere Dich, Du selbst hast es gewollt! – Du sollst die Papiere haben und Baron Schippink wird nicht daran denken, davon zu sprechen. Aber nur unter einer Bedingung!«

»Sprich!«

»Niemand darf sich einmischen in das, was zwischen mir und ihm geschieht. Du schwörst mir, daß Niemand, die Hand gegen sein Leben zu erheben wagt – von dem Augenblick an gehört es mir! In einer halben Stunde werde ich diesen Ball verlassen – um 3 Uhr Morgens sei an der Thür meines Hauses – Martha wird Dir den Preis der Schande bringen, wenn es gelingt. Dann magst Du mit dem ersten Zug nach Warschau abreisen! Nimm den Marquis mit Dir – ich mag ihn nicht sehen – ich bin seine Verlobte nicht mehr!«

Er hob gelobend die Hand und wollte Etwas erwiedern, aber eine strenge Bewegung der Hand gebot ihm Schweigen – ihr Kopf verschwand unter der Maske und der Kapuze des Domino's – im nächsten Augenblick hatte sie das Zimmer verlassen.

Die Augen finster auf den Boden geheftet, die Zähne zusammengepreßt, die Hand geballt, blieb der Mann in der Mitte des Zimmers stehen, während ein feuchter Schweiß an den Wurzeln seiner Haare perlte. –

»Werdet Ihr Barmherzigkeit von diesem da verlangen, Ihr Söhne Ruriks, wenn Einer der Euren in seine Hand fällt?

Krieg auf's Messer!

 

Lustig klangen die Champagnergläser, es war 11 Uhr vorüber, bald Mitternacht.

In der Ecke des Divans lehnte die schöne Alice, den Kopf zurückgebogen, die dunklen Augen träumerisch zur Decke gerichtet, während Baron Schippink auf dem Stuhl zur Seite der Lehne saß, mit ihrer kleinen Hand spielte und ihr leidenschaftliche Artigkeiten in's Ohr flüsterte. Die tolle Gesellschaft um sie her kümmerte sich wenig um das Paar, nachdem die Französin für heute ihrem Scepter entsagt zu haben schien, oder warf nur hin und wieder eine muntere Neckerei in die Herzensergießungen des Russen.

»Sie sind so seltsam heute, so fatiguirt, Alice,« sagte der Baron. »Befinden Sie sich unwohl, mein Engel?«

»Vielleicht – ich weiß es selbst nicht, aber diese Hitze ist unerträglich! ich wollte, ich wäre zu Hause!«

»Ich freute mich so sehr ma Mignon, diesen Abend mit Ihnen zu verleben! Freilich wäre es noch schöner gewesen, allein an Ihrer Seite in Ihrem Boudoir das alte Jahr zu Grabe zu tragen. Aber Sie sind ja so unerhört streng, Sie versagen das geringste tête à tête, und werden mich noch wahnsinnig machen mit dieser Zurückweisung. Sie wissen, daß ich Ihnen mein halbes Vermögen zu Füßen lege!«

»Ich bin nicht gewohnt, meine Liebe für Geld zu verkaufen! – Aber wirklich – ich bekomme Kopfschmerzen in dieser Atmosphäre. Wollen Sie mich nach Hause begleiten, Alexander?! Martha ist sicher noch wach und wird uns den Samowar heizen für Ihr Lieblingsgetränk.«

Das Gesicht des Russen röthete sich vor Vergnügen, es war das erste Mal, daß sie ihn vertraulich bei seinem Vornamen nannte.

»Wie, Alice – Sie wollen wirklich fort und ich – ich darf noch bei Ihnen bleiben?«

»Wenn Sie mir Gesellschaft leisten wollen!«

»Aber ich habe unsern Wagen um 3 Uhr bestellt.«

»Lassen Sie ihn Marion. Ich denke, es wird doch Droschken geben. Lassen Sie uns ohne Aufsehen gehn – als wollten wir die Quadrille mittanzen. Wir entkommen dann leicht!«

Der Diplomat, von dem Champagner und der Aussicht auf das so lang ersehnte tête a tête berauscht, war bereits aufgestanden und bot der Dame seine Hand. »Allons Messieurs, hören Sie nicht den Contretanz? Pfui, wer wird so träge sein! Chevalier, wir sind Ihr vis-a-vi, wenn Sie nicht zu spät kommen!«

Die Loge war im Nu leer, die luftigen und lustigen jungen Schönen ließen die Blasirtheit ihrer Cavaliere wenig gelten und drängten zum Ballsaal.

Die Polin zögerte geschickt, bis sie als das letzte Paar die Treppe hinunter stiegen. Aber statt in das Gedränge des Königsaals stiegen sie zum Tunnel-Corridor hinunter und eilten nach der Garderobe.

Zehn Minuten darauf rollte die Droschke mit dem Paar durch den Thiergarten dem Brandenburger Thor und den Linden zu, wo bereits der wilde Trubel der Neujahrsnacht sein wüstes Spiel zu treiben begann.

Zum Glück war es noch nicht Mitternacht, – so gelangten sie wenigstens ohne ernstlichere Gefährdung durch die sich drängende, heulende und lachende Menge nach der Wohnung der Dame. Sie hatte während der Fahrt stumm in die Ecke zurückgelehnt gesessen, nur ihre Hand dem Begleiter überlassend, der sie mit Küssen bedeckte.

»Ihre Hand ist wie Eis – Sie sind krank, Alice! Ich werde auf das Vergnügen verzichten müssen, noch ein Stündchen mit Ihnen zu plaudern!«

»Nein,« sagte sie – »es ist nur ein leichter Schauder – Ihr Karavanenthee, den Sie von Moskau kommen ließen, wird mich erwärmen und ich will, daß Sie bleiben. Und sehen Sie, da ist Licht in meinem Zimmer, Martha ist wirklich noch auf.«

Der Baron hob sie aus dem Wagen und öffnete mit dem ihm gereichten Schlüssel die Thür. Während er den Kutscher bezahlte, schlüpfte sie die Treppe hinauf und klopfte.

Ihre bejahrte Dienerin öffnete mit dem Licht in der Hand. »Wie, Comtesse – Sie sind es schon? – Wissen Sie, daß der Graf ...«

»Still!« ihr Finger legte sich auf die Lippen.

»Aber da drinnen ist Jemand ...«

»Kein Wort – ich weiß Alles! – Leuchte dem Herrn Baron, Martha! – Es ist gut, daß wir nach Hause gekommen sind, lieber Freund – Martha sagt mir eben, daß Sie ein Herr seit zwei Stunden erwartet, den Ihr Kammerdiener hierher gewiesen hat.«

»Eine unverantwortliche Freiheit, meine Theure, die nur Ihre Güte entschuldigen kann. Aber wer zum Henker kann das sein, der mich so aufdringlich sucht!« Er öffnete die Thür und trat in das Zimmer, wo ein Mann sich bereits vom Stuhle erhoben hatte und ihn mit einem achtungsvollen Gruß empfing.

»Wie Lafare – Sie hier?« rief erstaunt der Diplomat, als er in dem hellen Schein der Astrallampe den Fremden erkannte. »Wo kommen Sie her? was wollen Sie hier?«

»Herr Baron,« sagte der Fremde in russischer Sprache, »ich bitte um Entschuldigung, daß ich Sie hier aufgesucht und erwartet habe, aber die Sache war zu wichtig und dringend, und ich muß mit dem Frühzug nach Dresden zurück. Ich muß Sie allein sprechen – ich bringe die wichtigsten Entdeckungen mit!«

Der Diplomat sah sich zaudernd nach seiner Dame um, die unterdeß von der alten Dienerin des Pelzes und Dominos entledigt worden war, aber noch immer ihre Maske vorbehielt.

Sie schien kein Wort der kurzen Unterredung verstanden zu haben und wandte sich jetzt zu der Dienerin.

»Geschwind Martha, Feuer unter den Samowar. Der Baron soll eine Tasse seines Lieblingstrankes haben!«

»Hat das Geschäft nicht Zeit bis morgen?« frug der Russe.

»Wie Sie befehlen, Herr – aber ich bin von Dresden gekommen, um wichtige Papiere in Ihre Hände zu legen. Ich kann mich nicht näher aussprechen in Gegenwart anderer Personen.«

Der Spion – wie ihn vorhin der Pole bezeichnet – war ein Mann von etwa 40 Jahren. Seine Gestalt war von mittlerer Größe, fest und gedrungen, und allem Anschein nach von bedeutender Muskelkraft. Er hatte auf dieser Figur einen eigenthümlich kleinen Kopf mit einer stark zurückfallenden Stirn und eingedrückten Schläfen. Der Unterkiefer war groß entwickelt und sprach von Muth und Energie. Die kleinen grauen Augen blickten überaus beweglich und scharf.

Er trug unter dem kurzen Paletot, den er nicht abgelegt, um die Hüfte die Tasche eines Revolvers geschnallt, dessen Griff handgerecht an seiner linken Seite hervorsah. Der Baron trat zu der Herrin der Wohnung. »Theure Alice,« sagte er – »dieser Herr bringt mir wichtige Nachrichten – ich muß ihn einige Augenblicke ungestört sprechen. Wollen Sie mir gestatten, dies in einem Ihrer Zimmer zu thun, damit ich nicht gezwungen bin, Sie schon zu verlassen?«

»Wie, mich verlassen, Alexander, nachdem ich Ihnen erlaubt, mir Gesellschaft zu leisten?« schmollte die Dame kokett. »Eh bien, Baron, ich werde meinen Thee allein trinken, aber lassen Sie sich sobald nicht wieder blicken. Graf Villeneuve ist jedenfalls galanter!«

Aber ich denke nicht daran Alice, das seltene Glück zu verscherzen! ich bat Sie nur ...«

»Ach der abscheuliche Mensch – welch' fatales Gesicht!« flüsterte sie. »Er braucht das meine gar nicht zu sehen. Schicken Sie ihn fort, während ich meine Toilette mache. Wir wollen Ihnen das Zimmer räumen für Ihre vielen Geschäfte, Sie vielgeplagter Diplomat!«

Sie winkte der Dienerin und glitt hinaus in ihr anstoßendes Boudoir; noch nie war sie so liebenswürdig gewesen – der Baron war ganz berauscht von ihrem Wesen.

»Nun, Monsieur Lafare,« sagte der Baron, »was hat Sie hierher geführt? So gern ich Sie sonst sehe, diesmal stören Sie mir wirklich eine angenehme Stunde!«

Der Fremde hatte die kleine Scene, ohne sie anscheinend zu beachten, doch mit einem leichten Zuge des Hohns um den Mund beobachtet. »Ich bedauere aufrichtig, Herr Baron,« bemerkte er, »aber die Sache erschien mir zu wichtig. »Ich bin dem revolutionairen Comité auf der Spur – ja es ist mir gelungen, mich gestern Nacht wichtiger Papiere und Listen zu bemächtigen.«

»Wahrhaftig?«

»Ueberzeugen Sie sich selbst! ich bringe sie Ihnen und das ist der Grund meines Kommens – ich wollte sie nicht aus den Händen lassen, bis ich sie in die Ihren übergeben konnte.«

Der Baron hatte auf einem Sessel Platz genommen, und dem Anderen gewinkt, sich niederzulassen.

»Und wie sind Sie in Besitz der Papiere gekommen?«

»Ich habe Ihnen bereits in voriger Woche gemeldet, daß mehre neue Agenten des Central-Comités aus Paris eingetroffen waren und an verschiedenen Stellen der Stadt Wohnung genommen hatten. Die dresdener Polizei ist eine vortreffliche – sie mußte also darum wissen. Ueberdies sind wir ja längst überzeugt, daß die polnische Agitation unter dem Schutz der sächsischen Regierung oder vielmehr des Herrn von Beust steht. Fürst Gortschakoff will unserer Gesandtschaft ihre freie Stellung bewahren, deshalb ist die Gegenintrigue uns anvertraut und ich darf nur in unvermeidlichen Fällen ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Mit den hundert Imperials, die ich in voriger Woche erhielt, habe ich die neu angekommenen Mitglieder, unter denen ein Herr Langiewicz der gefährlichste ist, beobachten lassen und einen der gewandtesten Agenten der sächsischen Polizei gewonnen. Wie Sie wissen, ist ein Kaufmann Heindorf das thätigste Mitglied des Comités – und ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich in ihm den Grafen Ogilski wieder erkannt habe!«

Ein leichtes Geräusch an der Seite des Boudoirs machte den Agenten aufschauen. Der Baron beruhigte ihn mit einer Bewegung der Hand. »Es ist Nichts – Madame macht wahrscheinlich ihre Toilette. Ueberdies sprechen wir ja Russisch.«

Die Bemerkung schien jedoch den Agenten nicht vollständig zu beruhigen, denn er sprach jetzt leiser wie früher.

»Ich erfuhr durch meine Spione, daß im Laufe des gestrigen Tages ein Bote von Paris gekommen war und am Abend eine Versammlung des Comités bei Graf Ogilski statthaben werde. Genug – in derselben Nacht wurde in der Wohnung des Grafen eingebrochen und unter den gestohlenen Gegenständen hat sich dies Portefeuille befunden, das ich den Dieben für zweihundert Thaler abkaufte.«

Er legte ein ziemlich großes Portefeuille von grünem Maroquin, das er unter dem Rock auf der Brust eingeknöpft getragen hatte, auf den Tisch.

»Sind die Papiere von Wichtigkeit?«

»Von der höchsten!« der Agent hatte die Mappe geöffnet. »Hier sind Briefe von zwölf Gutsbesitzern in Litthauen und Wolhynien, die erhebliche Summen für die Zwecke des Comités zeichnen und Waffensendungen verlangen. Dieser Brief ist angeblich im Auftrag des Erzbischofs geschrieben und erbietet drei Klöster zu Depôts. Hier sind Briefe aus Posen – Graf Dzialinski legt den Plan einer gemeinschaftlichen Action vor. So viel aus diesen Briefen aus Paris entnehmen kann, die zum Theil in einer Chiffreschrift geschrieben sind, deren Schlüssel Sie wahrscheinlich haben, so soll in Warschau in nächster Zeit an einem bestimmten Tage eine Demonstration des Volkes auf den Straßen und in den Kirchen stattfinden; und dies Papier, das wichtigste von allen, scheint die Namen der Verschworenen in Warschau, oder wenigstens der Führer zu enthalten. Wie Sie sehen, ist es ebenfalls in Chiffern.«

»Das ist allerdings ein bedeutender Fang und von der höchsten Wichtigkeit,« sagte der Baron. »Lassen Sie das Verzeichniß sehen! Das Gouvernement in Warschau muß sofort benachrichtigt werden. Aber Sie haben Recht, es ist nothwendig, daß Sie sofort auf Ihren Posten zurückkehren. Die Bewegungen dieser Leute müssen auf das Strengste überwacht werden. Ich hoffe, es findet sich noch eine Gelegenheit, wo wir dem Kabinet von Dresden seine Intriguen vergelten können. Ich bin keinen Augenblick in Zweifel, daß die Fäden auch nach Wien, Lemberg und Krakau laufen.«

»Die Verhaftung und Auslieferung des Grafen Teleki ist ein bedeutsames Zeichen von dem Einverständniß der beiden Kabinete,« sagte der Agent. »Ich habe jetzt die Papiere in Ihre Hände gegeben, Herr Baron, das Weitere ist Ihre Sache!«

»Jedenfalls! – Brauchen Sie Geld?«

»Ich hatte bereits die Ehre, Ihnen zu sagen, in welcher Weise die hundert Imperials verwendet worden sind.«

»Gut, Sie werden morgen neue Wechsel erhalten. Lassen Sie uns – ehe Sie gehen, – die Liste dieser Rebellen durchsehen. Ich führe die Schlüssel der Chiffern bei mir.«

Er nahm aus seiner Schreibtafel zwei Papierstreifen und legte sie vor sich hin. In dem Augenblick aber, als er das Dokument ergriff, das der Andere ihm bot, öffnete sich die Thür des Boudoirs und die schöne Herrin der Wohnung in einem ebenso verführerischen als geschmackvollen Negligée trat ein.

»Ei, mon cher baron,« sagte sie in leichtem Ton, »Ihre Geschäfte müssen in der That sehr wichtiger Natur sein, daß Sie mich so ganz vergessen. Seit zehn Minuten siedet das Wasser und Ihre ergebenste Dienerin ist bereit, Ihnen den Thee zu serviren.«

Der Baron erhob sich mit einiger Verlegenheit, während der Agent ruhig die Papiere wieder zusammen schob und in das Portefeuille verschloß.

»In der That, beste Alice,« lispelte der Diplomat, »ich fürchte, ich werde von Ihrer Güte keinen Gebrauch machen können. Geschäfte der dringendsten Art zwingen mich, Sie zu verlassen und die ganze Nacht mit Depeschen zuzubringen!«

Ihre schönen dunklen Augen legten sich feucht und schmachtend auf das Opfer. »Wie Alexander,« sagte sie leise, ihm näher tretend – »es ist in wenig Minuten Mitternacht, und Sie wollen nicht einmal mit mir das neue Jahr begrüßen? Der mächtige Kaiser von Rußland wird durch eine Stunde, die Sie meiner kleinen Person schenken, gewiß nicht zu kurz kommen. – Ich hatte mich so darauf gefreut!« Die letzten Worte entschieden. Der Baron trat zu dem Agenten.

»Sie wollen also morgen früh zurück?«

»Mit dem ersten Zug?«

»Und haben Sie schon ein Unterkommen für die Nacht?«

»Es giebt Hôtels genug in der Nähe, die noch offen sind.«

»Geben Sie mir also das Portefeuille – ich werde es mit mir nehmen.«

»Aber Herr Baron ...«

»Geben Sie her,« sagte der Diplomat ungeduldig.

»Sie haben das Ihre gethan und sind der Verantwortlichkeit dafür entledigt. Ueberdies – hören Sie den Lärmen da draußen – es wäre in der That nicht ungefährlich, jetzt mit wichtigen Papieren über die Straße zu gehen!«

»Ein glückliches Neujahr, Baron! – Rathen Sie, wer es wünscht!« rief, – während in der That draußen auf der Straße ein wildes Jauchzen und Schreien, untermischt mit einzelnen Schüssen und Kanonenschlägen losbrach, – eine lachende Stimme, indem sich zwei zarte weiche Hände von hinten über seine Augen legten.

»Wer anders als die schöne Herrin dieser Wohnung,« sagte er munter – »Sie haben mir in der That das Neujahr abgewonnen, Alice, aber bedenken Sie, daß das unsere erst in zehn Tagen fällt!«

»Wir leben in Deutschland, mein Herr, und es geht uns Nichts an, daß die Russen immer gegen andere Nationen zurück sind. Aber jetzt kommen Sie – fort mit den Geschäften. Geben Sie her – ich werde es unterdeß weglegen!«

Sie griff nach dem Portefeuille, aber der Baron zog es unwillkürlich zurück – er schämte sich seiner Schwäche vor dem Agenten und wünschte ihn ungeduldig fort. Dieser hatte bereits seinen Hut genommen, war aber an der Thür stehen geblieben, und sein rastloses scharfes Auge betrachtete aufmerksam das jetzt von der Maske nicht mehr verhüllte Gesicht der Dame. Der Ausdruck desselben schien übrigens sehr verändert durch das Negligée. Die halb entfesselten dunklen Flechten lagen unter dem kleinen koketten Häubchen, das kaum den Scheitel deckte, weit hinein in die sonst so freie und offene Stirn, das breite Band des Häubchens rahmte mit großer Schleife das Kinn ein und verbarg es fast.

Der schönen Herrin der Wohnung entging die Beobachtung nicht. Sie machte dem Agenten eine zierliche Verbeugung. »Verzeihen Sie, mein Herr,« sagte sie mit der freundlichsten naivsten Miene, »daß ich Ihnen nicht bereits auch ein glückliches Neujahr gewünscht habe, aber es galt die Wette, den Herrn Baron zu überraschen. Nehmen Sie meine aufrichtigen Wünsche, und amüsiren Sie sich noch gut zum Sylvester.«

Der Schatten, in dem ihr Gesicht lag, da sie den Rücken der Astrallampe zugekehrt hielt, verhinderte den Agenten den Blitz von Hohn und Haß zu sehen, der bei den Worten aus ihren Augen funkelte. Dennoch schien es, als wolle er noch einmal vortreten und seinem Vorgesetzten Etwas sagen – aber der Ruf der Dame: »Martha, leuchte dem Herrn!« und die dreiste, fast frivole Weise, wie sie den Arm des Barons ergriff und ihn fortzog, verhinderte und beruhigte ihn zugleich. Er zuckte die Achseln, erwiederte den vertraulich vornehmen Gruß des Diplomaten mit einem bezeichnenden Blick auf das Portefeuille und empfahl sich.

Dennoch war er keineswegs ruhig, als ihm die alte Dienerin die Hausthür geöffnet hatte und er nun draußen auf der durch die vielen erleuchteten Fenster und die ausnahmsweise in der reinen kalten Winterluft einmal genügend brennenden Gaslaternen ziemlich hellen Straße stand. Von den nahen Linden her tönte der übermüthige Jubel der Neujahrsgänger, ganze Schaaren von Lärm- und Scandallustigen zogen durch die Straßen und begannen, die aufgestellten Schutzleute zu verhöhnen und das ruhigere Publikum zu belästigen. Der Ruf: »Runter mit dem Hut!« »Haut ihm!« klang bereits an verschiedenen Stellen und viele Personen flüchteten in die Nebenstraßen, um der socialen Reform des »Hutauftreibens« zu entgehen.

Dem Agenten war dieses Wesen des lustigen Scandals, welches das Berliner Bummlerthum charakterisirt, unbekannt. Er kannte die Fêtes de St. Cloud, die Faschingsnächte an den Barrieren von Paris, aber er hatte keinen Begriff davon, daß man in einer gesitteten Stadt zum bloßen Vergnügen harmlose Menschen mit der jovialsten Gemächlichkeit mißhandeln und die Rohheit als guten Scherz betrachten kann.

Der Lärmen machte ihn noch unruhiger – er beschloß, trotz der scharfen Kälte auf der Straße zu bleiben und das Fortgehen des Barons mit den wichtigen Papieren, deren Erlangung ihn so viele Mühe gekostet hatte, abzuwarten und ihm dann bis zu seiner Wohnung zu folgen. Auf und niedergehend, um sich gegen die Kälte zu erwärmen, warf er von Zeit zu Zeit einen Blick hinauf nach den Fenstern der Wohnung, die er so eben verlassen hatte.

Die Rouleaux waren herunter gelassen, aber der durchschimmernde Lichtglanz bewies ihm, daß das Paar jetzt im zweiten Zimmer – in dem Boudoir der Lorette, für die er die Dame doch halten mußte – wahrscheinlich im zärtlichen Kosen am Theetisch saß. Neben diesem Zimmer befand sich noch ein matt erleuchtetes Fenster mit schweren dunklen Gardinen wie es schien – er ahnte wohl dessen Bestimmung und murmelte einen Fluch über den Leichtsinn des vornehmen Herrn in den Bart, dem er so wichtige Beweisstücke hatte anvertrauen müssen.

Zwei Mal schon waren zwei in weite Mäntel gehüllte Männer bei ihm vorbeigestrichen, ohne daß er darauf geachtet hätte, – seine Aufmerksamkeit war hauptsächlich dem Hause und der Thür desselben zu gerichtet, durch die er jeden Augenblick endlich den Baron herauskommen zu sehen hoffte.

Fast eine Stunde mochte er so auf und nieder gegangen sein und war eben wieder stehn geblieben – plötzlich stieß er einen polnischen Fluch aus und ballte die Hand. »Der Unsinnige – über einer Phryne Alles zu vergessen – er wird die Nacht bei ihr zubringen, wenn er jetzt nicht kommt!«

Das Licht in dem Boudoir war erloschen – das zweite Fenster dunkel – –

In dem Augenblick hörte man vom Eingang der Straße her einen lärmenden Volkshaufen, den die Polizei in die Seitenstraße vertrieben hatte, grölend und pfeifend daher laufen.

Der Agent hätte ihm leicht entgehen können, aber er dachte in diesem Augenblick nur daran, die Thür zu bewachen, aus der er noch jeden Augenblick den Baron heraustreten zu sehen hoffte.

Als er sich endlich von dem Lärmen erschreckt umwandte, sah er sich bereits mitten in der schreienden tobenden Menge.

»Prost Neujahr! Prost Neujahr!« Es pfiff, es heulte, es schrie – unter den Füßen platzte ihm ein Feuerfrosch und versengte seine Kleider.

»Verdammte Kanaille!« Er wollte sich durch die Menge drängen.

»Hut runter! Haut ihm! haut ihm!« Ein großer Kerl langte über die Köpfe der Vorstehenden und mit einem Schlage seiner breiten Hand trieb er dem Agenten den Hut auf, daß dieser bis auf die Nase ihm über's Gesicht fuhr.

Der Fremde sprudelte und schimpfte, während er mit beiden Händen versuchte sich von dem Hut zu befreien, aber die französischen und polnischen Flüche, die er unter die deutschen Verwünschungen mischte, reizten die Menge noch weit mehr und von allen Seiten fielen Schläge auf seinen Hut und seine Arme.

»Schurken – wenn Ihr's nicht anders wollt! – Zurück, oder ich schieße!«

Er hatte den Revolver aus der Tasche gerissen, und hob die Hand. Aber ein schwerer Stockschlag traf dieselbe und machte sie die Waffe fallen lassen. Ein anderer Schlag an den Kopf warf ihn zu Boden – er fiel mit der Stirn auf die Kante eines Thürsteins und fühlte, wie das warme Blut ihm über das Gesicht rieselte.

Zugleich erscholl der Ruf: »Die Schutzleute! die Konstabler! haut sie! haut sie!« und die Menge stob im Nu auseinander, denn die Straße herauf kam eine Abtheilung reitender Schutzleute geprescht.

Der Agent fühlte noch, wie Personen ihn zur Seite zogen – sein Blick erkannte wie im Traum zwei Männer in Mäntel gehüllt, – er fühlte, wie der Eine unter seinem Rock, in seinen Taschen suchte – in dem Schein der nahen Straßenlaterne sah er in das über ihn gebeugte Gesicht – Höll und Teufel! – das kannte er – war es die Lorette, bei der er vor einer Stunde den Baron zurückgelassen? – dieselben Augen – – aber nein, das war ein Mann – das war – –

Er versuchte mit Gewalt sich emporzuraffen – er faßte nach dem Fremden –: »Verrath! – hierher – zu Hilfe– –!«

Die Sinne vergingen ihm, er fiel bewußtlos zurück! –

 

Bis an den Morgen hatte der Sylvesterball bei Kroll getobt – müde, matt, mit schwerem Kopf und trüben Augen kehrten die Paare und die Gesellschaften zur Stadt – viele in dem Schneedunst, der jetzt auf den nackten Bäumen und in den Straßen lag, zu Fuß, denn die Gefährte waren lange nicht in genügender Zahl vorhanden. Gewöhnlich ist es überdies ein Glück, wenn man das berliner Fuhrwerk nicht nöthig hat!

Auch die Gesellschaft aus der Loge Nr. 9 zog jetzt – nur nicht gleich den Schwalben, denn sehr ungern! – heimwärts, müd und matt und stark angelaufen, aber noch lange nicht genug trüben Auges, um durch den Winternebel nicht noch das rothe Licht der Laterne am Pariser Keller zu sehen und dort einzufallen – zu einer Stehflasche Jacqueson, dem Lieblingswein der Ewest'schen Kellerei bei Kroll!

»Wahrhaftig – soll mir der Deufel holen – da drüben Vater Wrangel hat auch noch Licht in seinem Arbeitszimmer! Der alte Junge muß famos Sylvester gefeiert haben! Mädchens – Ihr solltet ihm ein Prost Neujahr rufen!«

Die saubere Gesellschaft war stehn geblieben mitten auf dem Platz und schaute hinüber nach dem Hotel, wo die beiden Schildwachen zähneklappernd im Frost doch jetzt standen wie die Mauern.

»Still mit dem Unsinn, Präsident!« sagte der Journalist, »seht Ihr nicht, daß drei Pferde vor der Thür stehen – in der That, es ist der Schimmel des Feldmarschalls! – Wo will er hinreiten so früh, oder so spät?« –

»Ich bedauere nur den hübschen Grafen, seinen Adjutanten,« klagte eine der Damen. »Er soll sie schändlich maltraitiren mit seinem Reiten. Als ob jeder Offizier seine Glieder nur dazu hätte!«

»Eine andere Verwendung wäre Dir schon lieber, Alwine!« meinte boshaft der Präsident. »Wahrhaftig, da kommt er.«

Die Gesellschaft war unwillkürlich etwas hinüber nach der Seite des Hôtels getreten, wo in der Gruppe vor der Thür jetzt rasche Bewegung entstand. Waffen klirrten, die Pferde stampften.

Man hörte durch den Nebel die wohlbekannte Stimme, diesmal nicht in dem freundlichen wohlwollenden Ton, den halb Berlin, namentlich die schönere Hälfte kennt, sondern scharf, kurz.

»Es ist jetzt 5 Uhr – in zwei Stunden müssen wir an dem Dings, dem Obelisken sein. Verstehen Sie mir?«

»Zu Befehl, Excellenz!«

»Aufgesessen!«

Die Bügel und Pallasche klirrten. Im nächsten Augenblick kamen im Trab die Reiter über das Pflaster nach dem Thor zu.

Voran kam der alte Held von Heilsberg, Etoges und Schleswig, der Mann von Erz – in dem einfachen Reiterpaletot als einzigen Schutz gegen die strenge Winterkälte – aber merkwürdiger Weise diesmal nicht in der straffen, aufrechten Haltung, die man an ihm so gewohnt ist, sondern in einander gesunken, das liebe alte martialische Gesicht niedergesenkt zum Hals des treuen Schimmels.

»Guten Morgen, Excellenz! Glückliches Neujahr, Excellenz!« die Tücher der Damen wehten dem alten Reiter. – Er achtete es nicht, kein Gruß – kein Dank – keine Bewegung der Hand – so trabte er weiter; eine halbe Pferdelänge zurück in seinen Pelzmantel gehüllt der junge Adjutant – hinter beiden die Ordonnanz.

An den mächtigen Hallen des majestätischen Thors, von dessen Höhe die Victoria ihren Einzug in die preußische Königsstadt hält, verweilte der Reiter einen Augenblick vor dem mittlern Portal – dem Königsweg. Er bewegte leise das graue Haupt, dann wandte er sich links; – vor dem Thor bog er hinüber nach der Potsdamer Straße zu und der Hufschlag verhallte in der Nacht.

Die kleine Gesellschaft hatte sich, das Intermezzo und das eigenthümliche Benehmen des alten Generals besprechend wieder zur andern Seite gewendet – nur der Journalist war auffallend still und nachdenkend geworden. So waren sie in den Salon des Kellers getreten und der geschäftige Kellner brachte den Champagner.

»Wo ist der Assessor?«

»Er kommt sogleich. Er traf draußen auf Stückradt, der über den Platz herüber kam und spricht nur einen Augenblick mit ihm.« Der Nachgefragte kam auch schon die Treppe herunter und trat herein. Eine schöne Hand streckte ihm das Glas entgegen.

Der Journalist sah ihn – unbeachtet von der lachenden Witze reißenden Gesellschaft – fragend an. Der Polizeimann nickte. »Heute Morgen um 1 Uhr,« sagte er leise, »es sind schon zwei Extrazüge hinüber.« Dann fuhr er laut fort: »Frisch, Ihr Damen und Herren, Schönste und Klügste Eures Geschlechtes – dies letzte Glas in der Sylvesternacht dem alten preußischen Toast: Es lebe der König!«

Die Gläser klangen – in das des Journalisten fiel eine schwere Männerthräne – er wandte sich zur Seite. Als sie die Treppe wieder hinaufstiegen, drückte der Beamte seine Hand. »Es soll um vierundzwanzig Stunden verheimlicht werden,« flüsterte er – »des Neujahrs wegen.«

»Er war ein guter Herr,« sagte ernst und trübe der Andere – »Seine Hilfe mir nah in einer schweren Zeit! Sein Herz war voll Freundlichkeit und Wohlwollen. Als ich damals wegen der einfältigen Duellforderung an Nasenmüller und Intelligenz-Hayn, den unschuldigen Verantwortlichen der Officiösen Manteuffel's, zur Festung sollte, schickte Er mich zum schönen Bosporus!«

»Gott sei Dank, daß seine Leiden zu Ende sind. Le Roi est mort! – Vive le Roi

 

Bleichende Sterne – neue Sonnen!

Sie waren Alle, Alle gekommen, die ihn geliebt, Luisen's Sohn, – und es waren ihrer Viele!

Am Sonnabend waren die Züge und Extrazüge der Bahn dicht gefüllt – vor Sanssouci hatte sich das Volk, Vornehm und Gering, Männer und Frauen in dichten Reihen gedrängt, um noch einmal das milde freundliche Gesicht zu sehen, das bald der Sarg decken sollte für immer.

Es ist etwas Gewaltiges um die Majestät des Todes, und noch mächtiger, ergreifender, wenn er selbst an die Majestäten des Lebens tritt und die Gewaltigen, Bevorzugten der Erde bricht, wie Halme auf dem Felde.

Längst schon hatte man dieses Sterben gewußt, ja gewünscht, um sein Leiden geendet zu sehen; man hatte Zeit gehabt, sich von dem stillen Mann in Sanssouci zu entwöhnen, – und dennoch traf es Alle so tief und ernst, als es hieß: Der König ist todt!

Der König ist todt! – Das ist vom Zauber, der im Preußenland noch um das geheiligte Wort: »Der König!« schwebt, – es weht ein anderer Geist um die Gruft der Friedenskirche, als um die Gräber im Friedrichshain! –

Es ist der Tag der Bestattung. Die Wintersonne glänzt hell bei 10 Grad Kälte über die schnee- und eisbedeckte Landschaft, die im Sommer so herrlich und duftig ist. Das Gitter zwischen den Colonaden von Sanssouci, das herab zur Chaussee nach der neuen Orangerie, der prächtigen Schöpfung des Verstorbenen, führt, ist zum ersten Mal geöffnet seit des großen Friedrich Leichenzug – ist es doch der erste Preußen-König, der seit dem großen Heros der Schlachten und des Geistes in diesem Tusculum gestorben ist. In langen Reihen stehen im Sonnenglanz die Garden zu Pferd und zu Fuß in der scharfen Kälte, und drunten unter der Mauer an der Neptungrotte stampfen im tiefen Schnee die Kanoniere an ihren Geschützen.

Wo irgend ein Raum zwischen den Gliedern, eine Terrasse, eine Mauer, ein Vorsprung einen Platz zum Schauen bietet, steht das Publikum dicht gedrängt. Stundenlang schon harren die Gruppen und wanken und weichen nicht. Auf dem Wege, den die Chainen des Militairs frei halten, bewegen sich höhere Offiziere und bevorrechtete Personen der Gesellschaft.

Eine Gruppe steht plaudernd bei einem Offizier der Garde du Corps, der auf seinem Braunen etwas vor der Linie der Escadron hält.

»Verflucht kalt, auf Ehre!« sagte ein Mann von etwa dreißig Jahren trotz des feinen Zobel, in den er gehüllt ist. »Ihr Bayard, Graf, dampft wie ein Schornstein. Ich dächte, der Harnisch müßte eine verdammt kühle Tracht heute sein!«

»Ich trage einen seidengesteppten Rock unter der Uniform, Baron – wir Soldaten müssen das gewöhnt sein, es ist nicht, wie bei Euch Civilisten. Aber einen meiner Kerle hab' ich wahrhaftig austreten lassen müssen – er konnte die Glieder nicht mehr regen. Apropos – wie ist Ihnen der Sylvester bekommen? wir haben uns seitdem nicht gesehen. Der Dienst war seitdem unausstehlich!«

»Oh – gut! es war eine famose Nacht, die letzte wahrscheinlich für lange Zeit. Der Carneval wird kläglich sein in Berlin. Ich werde Urlaub nehmen und nach Paris gehen.«

»Dann machen Sie es wie Schippink, der ist auch der Trauer aus dem Wege gegangen und fort.«

»Nach Paris?«

»Nein!« – Der Attaché lehnte sich auf den Sattelknopf. »Haben Sie nicht gehört, daß er in Ungnade?«

»Auf Ehre, der Dienst hat mich ganz in Anspruch genommen.«

»Man weiß nicht recht, was geschehen – aber es heißt, er sei nach dem Kaukasus beordert, oder nach dem Kosackenland, oder sonst wohin, und müsse wieder in Dienst treten. Sie wissen ja, daß jeder Russe seinen Militairrang hat.«

»Dann werde ich bei der kleinen Alice morgen Visite machen!«

»Ciel! wissen Sie denn nicht, daß die Pariserin verschwunden ist, am Neujahrstage abgereist mit Sack und Pack, kein Mensch weiß, wohin? Aber ich hoffe, ihr in Paris zu begegnen. Haben Sie Nachricht von Kalkstein?«

»Gestern einen Brief über Rom. Er ist seit acht Tagen in Gaëta. Warten Sie, ich habe ihn in der Tasche! Verdammt – da kommt das Kommando.

»Stillgestanden! – Richt't Euch! Gewehr auf!«

Die Adjutanten flogen den Weg daher, die Kommandeure preschten an ihren Fronten hin – Waffenklang rasselte durch die langen Linien und verlor sich in der Ferne am Obelisk, Alles, was nicht in die Reihen gehörte, eilte zur Seite. Majestätisch rollte der Donner der Geschütze durch die Winterluft, verkündend, daß sie den Sarg aufgehoben droben auf Sanssouci – herüber von der Stadt klagten die ehernen Zungen der Glocken – die melancholischen Klänge der Posaunen kamen daher von der Höhe, wie Geisterschatten.

Eine tiefe Stille, trotz der Tausende und Abertausende, lag auf dem weißen Leichentuch, das der Winter dem scheidenden Herrn gespannt über die so geliebten Fluren.

Und lang und lang kam es heran und zog vorüber, Schritt um Schritt den letzten traurigen Weg, und hoch über die Reihen hebt sich der schwarze Katafalk und der Reichshelm schwankt mit den schwarzweißen Federn auf dem Sarge und blitzt im Sonnenschein!

O Könige – was ist Eure mächtige Stimme im Schweigen des Todes, Eure Herrlichkeit im Staub des Grabes! –

Auf der Mauer der Kaskade steht eine Gruppe, Mitglieder der Loge Nr. 9 aus der Sylvesternacht.

»Sehen Sie, Doktor, dort kommt Wrangel mit dem Reichspanier – und Auerswald trägt die Krone, aus der er so manchen Stern gebrochen!«

»Der da hinter dem Sarg ist der Mann, der Königskrone von Preußen neue Edelsteine einzusetzen! Glaubt mir, Freunde, wir können noch Manches erleben!«

»Wer ist dort zwischen den beiden Prinzen?«

»Der König von Hannover – und dort geht der andere Welfe, der Herzog! Schade oder gut Glück, daß es der Letzte ist! – das da ist der Großherzog von Mecklenburg, – dort der Großfürst Nicolaus; der so träumerisch schreitet, als suchte sein Auge eine Krone in andern Welttheilen, ist der österreichische Erzherzog Max! – dort kommt der Coburger, der Schützen- und Turnerprotektor, bis es zum Schlagen kommt, dann zeigt sich sicher sein gutes Blut wie damals vor Eckernförde! – Dort sind die Großherzöge von Baden und Weimar, konstitutionelle Charaktere! – Da kommt Prinz Luitpold von Bayern, der dessauer Erbprinz und der Herzog von Altenburg. Und die Masse Generäle – ich bin nur begierig, ob einst, wenn's gilt, auch ein Gneisenau und York darunter sein wird? – Sagten Sie nicht, Doktor, daß General von Gerlach krank wäre, das heißt im Ernst, nicht blos an der neuen Aera?!«

»Gewiß – ich hörte es vorgestern in Sanssouci!«

»Und dort ist er und giebt dem königlichen Freunde und Herrn das letzte Geleit. Vielleicht folgt er ihm selbst bald! Seine Zeit ist auch vorbei.«

Und weiter und weiter geht der Zug, Reih auf Reih, Kolonne auf Kolonne, welche irdische Pracht auf dem stillen Wege des Todes!

Jetzt schwankt der Katafalk vorüber an dem schönen Bau des Siegesthors und unwillkürlich hebt der königliche Leidtragende das Auge zu dem Monument, das der Verstorbene ihm gebaut zu Ehren der Tage von Baden und der Pfalz, als er mit kühner Hand die Rebellion dort zu Boden warf, die auf's Neue sich regt jetzt im eigenen Land, nur im andern Gewand, nicht mit Büchse und Kalabreser, sondern mit dem Talar des Professors und dem Schreibärmel des Richters bekleidet, eine schlimmere Revolution als jene, gegen welche Soldaten halfen!

Vielleicht denkt er auch an jenen Abend auf dem Bahnhof, als die Rebellion zu Boden lag und die Brüder sich trafen: »Gott grüß Dich, Bruder Wilhelm!«

Und weiter und weiter schwankt der Zug – noch geringe Zeit – da donnern die Kanonen und verkünden, daß auch sein Leib auf Erden den Frieden gefunden, den seine Seele bereits im Himmel fand! –

Seine Zeit war zu Ende – eine neue beginnt für Preußen! Willst Du, Leser, mit mir begleiten durch ihr Kämpfen und Ringen auch Luisens zweiten Sohn? – Wohlan!

(Schluß!)


 << zurück