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Im Berliner Panoptikum.

Wenn man dem Urteile derer, welche die Welt von Island bis Australien und von der Nordwestspitze Afrikas bis zum östlichsten Punkte Südamerikas bereist haben – und ihrer sind heutzutage nicht wenige – trauen darf, so ist Spreeathen oder Berlin, die jetzige Hauptstadt des Deutschen Reiches, wenn auch nicht der größte, so doch der modernste und in dieser seiner Neuheit schönste Millionenplatz des alten Kontinents.

Ja, sogar von keinem bedeutenden Orte der neuen Welt läßt sich vielleicht mit gleichem Recht behaupten, daß seine Entwicklung mit der Geschichte seines Landes und Volkes immer gleichen Schritt gehalten habe, wie von jenem ehemaligen elenden Fischerdorfe bei Kölln an der Spree, das sich innerhalb nur weniger hundert Jahre zu einer Weltstadt ersten Ranges empor arbeitete.

Von diesem stolzen Bewußtsein fast überfüllt, wandert auch der richtige Spreeathener täglich durch die herrlichen Straßen seiner Vaterstadt und wird ihres Ruhmes und Lobes nie satt. Selbst die erwählten Vertreter oder sogenannten »Väter« Berlins, das heißt Magistrat und Stadtverordnete, lenken in jenem berechtigten Selbstgefühle ihre Schritte zum neuen, mächtigen Rathause, das sich heute an Stelle der ursprünglichen kleinen Gerichtslaube – die Kaiser Wilhelm in seinem Park zu Babelsberg der Originalität halber restaurieren ließ – als ein stattliches »rotes Bürgerschloß« im Stadtviertel Alt-Berlin, an der Königstraße, zwischen Jüden- und Spandauerstraße erhebt.

Wir gebrauchten absichtlich den Ausdruck »überfüllt«, denn leider vergessen nicht wenige Vertreter und Bürger Berlins, daß sich ihr Anteil an dem gewaltigen Aufschwunge Spreeathens, genauer besehen, doch nur auf jenes Maß beschränkt, welches etwa ein Tapezierer und Dekorateur dem Baumeister eines Palastes gegenüber in Anspruch zu nehmen berechtigt ist.

Dies Goethewort gilt nicht nur von den zahlreichen Museen, Gemäldegalerien, Theatern, Zirkusvergnügungen und andern öffentlichen Belustigungen, von der königlichen Oper bis herab zum Tingeltangel, nein, dasselbe kann man auch, wovon sein Ursprung stammt, auf die herrlich gewachsenen Frauen und Mädchen Berlins anwenden.

An keinem Platze der Welt, wagen wir zu behaupten, begegnet man auf Schritt und Tritt einer solchen Fülle von prachtvollen Gestalten mit leichtschreitenden Gazellenfüßchen, wie gerade in Spreeathen. Dort strömt heutzutage alles, was von Mutter Natur mit dem besten Empfehlungsbriefe, den sie ihren Töchtern geben kann, einem hübschen Gesicht und faszinierenden Körperformen ausgestattet ist, zusammen, und die kräftigen und vollbusigen Märkerinnen stellen zu diesem Weiberkontingent sogar die Primogenitur.

Doch wandern wir im Geiste von dem neuen Viehhofe im Nordosten Berlins, allwo nicht die wenigsten Unschuldmörder, ohne gerade Tauben zu schlachten, sich in der rohen Kunst des Verblutenmachens üben, nach dem Zoologischen Garten im Südwesten, als nach demjenigen Teile Spreeathens, wo insonderheit für die vierfüßigen Kreaturen dieser Welt zum Ergötzen ihrer zweibeinigen Konkurrenten, der Menschen, ein nicht unbedeutender Schutzzoll in Gestalt von Entree erhoben wird.

Kein Reisender wird Berlin wieder verlassen, ohne zuvor den Zoologischen Garten besucht zu haben, und zwar nicht etwa deshalb, weil ihn dort, nach Voigt und anderen, Schimpanse und Orang-Utan als Urväter in absteigender Linie verwandtschaftlich angrinsen oder Nilpferd und Rhinozeros an manche Großmäuligkeit und Borniertheit, deren er sich schuldig weiß, huldvollst erinnern, sondern weil ihm in jenem Kunstnaturbilde ein Stück von jenem Eden vor Auge und Seele tritt, das nach der frommen Bibelsage als Paradies des Menschendaseins schöne Wiege war.

Aus selbigem Grunde und vielleicht auch, um die immerhin fragliche Lücke zwischen Mensch und Tier, zumal die zwischen Demimonde und Vieh, nach Möglichkeit auszufüllen, finden zur Sommerzeit im Berliner Zoologischen Garten, und zwar schon seit einer Reihe von Jahren fast regelmäßig gegen den Herbst hin große Aus- und Schaustellungen fremder, noch halb wilder Menschenstämme in ausgesuchten Exemplaren statt.

Mag man nun der Darwinschen Entwicklungstheorie des Universums huldigen oder nicht; mag man den Menschen bloß als natürliches Schlußglied der mächtigen Kette animalischen Lebens, das wir im bunten Tierreich bewundern, ansehen oder, im biblischen Sinne, als die freilich nur aus Ton geknetete, aber für sich bestehende Krone der Schöpfung betrachten: immer gleichen solche Ausstellungen Kristallspiegeln für die gesittete Menschheit im ganzen, wie für den Kulturmenschen im einzelnen, Reflexspiegeln mit der mehr als Reklame geltenden delphischen Orakelschrift: »Erkenne dich selbst!«

»Zur Welt suchen wir den Entwurf, und dieser Entwurf sind wir selbst,« schrieb der Dichter Novalis. »Der Mensch sei das Selbstmaß des Universums,« behauptete Pythagoras, und: »Unser ganzes Wissen von der Welt ist nur eine Wiedererweckung der eigenen Persönlichkeit,« lehrte schon Sokrates.

Doch kehren wir zum Zoologischen Garten und seine anthropologischen Schaustellungen zurück, oder suchen wir vielmehr ihr Winterpendant »Unter den Linden« auf. Spekulative Spreeathener wissen immer Rat und schaffen selbst Raum für wilde Menschen und deren groteske National- und Kriegstänze, wenn die Jahreszeit derartige Produktionen im Freien verbietet.

In einer Millionenstadt lautet die Parole für alle diejenigen, welche auf den Wissensdurst und die Vergnügungslust des großen Haufens, behufs rascher Füllung ihrer Börsen spekulieren: Bietet etwas Neues und Pikantes. Würzt das Alte, das man sich satt gesehen und doch nicht entbehren kann und mag, durch sinnprickelnde Zugaben wie mit spanischem Pfeffer.

Dieser Großstadtforderung, identisch mit Blasiertheitkitzel, Rechnung tragend, griff sogar der berühmte Pferdebändiger und Zirkusnestor Renz noch in seinen alten Tagen, und nachdem selbst die vielseitige Virtuosität seiner Clowns nicht mehr imstande war, den Genuß der großen Kunstpausen, die Rosse und Reiter übrig lassen, zugkräftig zu gestalten, nach pantomimischen Massendarstellungen und phantastischen Komödien im Stile grandioser Feerien.

Schneller aber noch als Renz, wußte der geniale Wachsfigurenkünstler Castan in seinem so rasch beliebt gewordenen Passage-Panoptikum nach neuen Reiz- und Lockmitteln ähnlichen Genres auszuschauen. Was für einen Weltruf erlangte in kürzester Zeit sein unmittelbar an die Straße »Unter den Linden« grenzender »Kongreß-« und »Zollernsaal«, und leider auch seine »Verbrecherkammer«.

Aber was sieht man sich leichter über als tote Wachsfiguren, deren frappante Ähnlichkeit mit den Originalen auf manchen Besucher sogar unheimlich und daher mehr abschreckend als anziehend wirkt? Wer wollte es jenem Wachsbildhauer, der Bienenfleiß zu Menschenmacherei en gros verwendet, also verdenken, daß auch er, und zwar dem Zoologischen Garten Konkurrenz bietend, zu neuen, magnetisch wirkenden Reizmitteln seine Zuflucht nahm.

Gott schuf den ersten Menschen bekanntlich aus einem Erdenkloß und blies ihm seinen Odem in die Nase; also ward der Mensch eine lebendige Seele. Warum sollte dieser angeblichen Tatsache gegenüber nicht auch ein Castan sein Wachsfigurenkabinett durch Zutat wirklichen Menschenkinderatems beleben dürfen?

Ohne Zweifel stehen Wachsmasken von zivilisierten und hyperkultivierten zweibeinigen Erdenbürgern, das heißt berühmten oder berüchtigten Leuten, den unter und neben ihnen zur Schau gestellten halbwilden Menschen ebenso nahe, wie letztere den Bestien des Zoologischen Gartens.

Unter jenen Rassevertretern fremder Zonen gibt es aber heute kaum noch einen Menschenstamm, der nicht seine Visitenkarte persönlich in Berlin abgegeben hätte.

Die Sudanneger, die Kaffer-, Kongo- und Bantuvölker Afrikas inkl. Hottentotten und Obongos; die Mongolen und Tungusen, die Kulis und Singghalesen Asiens; die Malayen und Marri Oceaniens und Australiens; die hamitischen Berber und äthiopischen Bedschas des schwarzen Kontinents und die verschiedenen Rothäute der Neuen Welt bis herunter zu den südamerikanischen Feuerländern oder Pescheräs: Alle, alle waren sie bereits in Spreeathen zu Gaste.

Alle genossen sie von seiten der Berliner Schönen eine Verehrung und Liebe, die zu den ernstesten Besorgnissen Veranlassung gibt.

Diese sogenannten »Wilden«, die übrigens sämtlich Geld kennen, Zigarren rauchen und Kußhände zu werfen verstehen, sperrt man nämlich nicht wie Tiere in Käfige und Verschläge, sondern läßt sie sich möglichst frei bewegen, ja fährt sie spazieren und besucht mit ihnen Konzerte, Theater und Bälle.

Und gerade in dieser warmen Betätigung spreeathenlicher Humanität, will uns bedünken, liegt eine Gefahr, die um so größer ist, je augenscheinlicher, ja handgreiflicher sich die Schwärmerei des weiblichen Berlin für jene exotischen Männer gestaltet.

Dem massenhaft in Berlin vertretenen zweierlei Tuch in den Klöstern der Gegenwart, den Kasernen, haben wir schon einen ziemlich starken, illegitimen Nachwuchs seiner Bevölkerung zu danken; was soll nun aber werden, wenn das so fortgeht, und alle Jahre an hundert fremde Stämme Andenken hinterlassen, die entweder zu den Schecken oder Falben zählen und schließlich ein pêle mêle in die Berliner Bevölkerung bringen, wie es die künstliche Kreuzung des Zoologischen Gartens nicht besser ins Werk zu setzen vermag.

Und wo bleibt vollends der einheitliche innere Mensch bei dieser kaleidoskopischen Vermehrungsart: Geistige Giraffen, Zebras und Quaggas – das, Berlin, sind die Früchte deiner Humanität.

Unter den im Zoologischen Garten und im Panoptikum, neuerdings sogar in der Charlottenburger Flora von Zeit zu Zeit ausgestellten Halbwilden sind aber keine beliebter und namentlich den Berliner Schönen sympathischer, als jene, unter dem Sammelnamen Dakota-Indianer bekannten nordamerikanischen Jägerstämme, welche nomadenhaft in den weiten Prärien zwischen dem Felsengebirge und Missouri- resp. Arkansasstrome hausen. Gerade diese, oft unter der Bezeichnung »die sieben Rotfeuer«, mehr aber noch unter dem Spottnamen »Sioux« vorgeführten Rothäute, welche die Stämme der Assiniboin, Winipeg, Iowa, Osagen, Kansas, Arkansas, Menitärri, Mandaner und Upsaroka oder Krähen umfassen, genießen bei den menschenfleischlüsternen Spreeathenerinnen, wie gesagt, eine höchst gefährliche Volkstümlichkeit und Rassenbevorzugung.

Ob diese Indianerschwärmerei ihren Grund mit in den kühnen Adlernasen hat, welche, nach altamerikanischem, aztekischen Typus, besonders das Volk der Sioux charakterisieren, oder aber lediglich auf die kräftigen und tadellos männlichen Gestalten der in Rede stehenden Dakotarothäute zurück zu führen ist, vermögen wir nicht zu beurteilen.

So ein roter Adler, der Inhaber von den Dakotas oder Sioux dagegen, ja, Berlinerin, das ist ganz etwas anderes; das ist kein blasierter und entnervter Neuhebräer aus der Bellevue- oder Tiergartenstraße, sondern ein Feuer und Verve strotzender Naturmensch, welcher zu flammender Gegenliebe nicht erst der künstlichen Berieselung durch Börsenjobberei bedarf.

Darum verzage nicht, du jugendfeindliche und den schnöden Mammon als Liebeshebel verachtende, aber doch auch von Europens übertünchter Höflichkeit fast bis zur Bleichsucht angekränkelte Großstädterin am Strande der Spree! Verzweifle nicht, solange es Sioux-Indianer gibt, kann dir geholfen werden. Wir begreifen und würdigen deinen Schmerz, du kannst, du willst nur arme Teufel lieben und wären sie auch rot, wie Kupferpfannen, Zinnober und Dachziegel.

Zu Castan magst du die Oriflamme deiner Liebe tragen! Dort, im Panoptikum, mitten unter noch viel bleicheren, wachsfarbigen Gesichtern als dein eigenes hysterisches Antlitz, schlägt dir der Puls der Leidenschaft wie Mosis Felsenquell aus Indianerherzen entgegen.

Und sie sind gar nicht so krebsartig rot, diese Sioux vom Arkansas. Fürchtest du dich nicht vor Blücher- und Zietenhusaren, so kann dich auch die Farbe deiner nordamerikanischen Lieblinge nicht erschrecken, zumal du gewiß sein darfst, daß kein verkappter Sozialdemokrat dahinter steckt.

Wir müssen uns nach dieser Einleitung, welche den Leser gleichsam auf die Schweißspur des nachfolgenden Kapitelinhalts leiten soll, zunächst einmal wieder nach dem zuletzt in Rom und zwar beim Lord Duncombe daselbst gesehenen Dr. medicus Malder bekümmern.

Dieser deutsche Arzt hatte, wie sich der Leser jetzt entsinnen wird, bald nach des genannten reichen Engländers jähem Tode, dessen Pflegetochter, die uns aus ihren abenteuerlichen Erlebnissen in den nordamerikanischen Prärien wohl bekannte, ebenso junge, als liebreizende Witwe Eva Robert (Robertson) aus reiner Neigung, und allen Gegenbewerbungen des französischen Marquis de Santillier zum Trotz, geheiratet.

Jenes schmucke Pärchen lebte, wenn auch kinderlos, in der mitererbten stattlichen Besitzung Lord Duncombes und würde seine Tage wohl auch auf Italiens Boden beschlossen haben, wenn nicht ähnliche Beweggründe, wie jene, welche die Fürstin von Bentivoglio aus der Halbinsel der Apenninen verscheuchten, auch schließlich für seinen Aufbruch nach Deutschland maßgebend geworden wären.

Der geneigte Leser kennt Dr. Malder, den Todfeind Pater Marianos und Mitretter der Frau Kapitän Montal, auch noch von Turin her, wo derselbe mit zu denjenigen Personen gehörte, die als verschworene Mazzinisten eine Zeitlang in dem Keller des Bäckers Asti verkehrten.

Fast dieselben Erfahrungen und Enttäuschungen nun, wie die Präsidentin jenes Geheimbundes, die Fürstin Camilla, machte genannter Doktor. Italiens Mazzinismus hatte sich, wie gesagt, der veränderten politischen Konstellation gegenüber, ausgelebt, und das wenige, was ihm noch zu tun übrig blieb, besorgte der begnadigte und in sein Vaterland zurückgekehrte General en chef, Mazzini, selbst.

Außerdem aber hatte Victor Emanuels entschiedene Abwendung von Napoleon während der letzten Jahre viele gemäßigtere Mazzinisten, und darunter auch Malder, zu halben, wenn nicht ganzen Neuroyalisten und Monarchisten bekehrt. Die meisten jener politischen Geheimbündler hatten allmählich einsehen müssen, daß Italiens Heil, das heißt seine endliche Einigung und Befreiung vom Jesuitismus, weniger von doktrinärem Radikalismus und Republikanismus, als vielmehr von dem monarchistischen Banner Piemonts, dem roten Kreuz von Savoyen, zu erhoffen sei.

Den Ausschlag unter jenen Motiven, welche Dr. Malders Übersiedelung oder, besser, Rückkehr nach Deutschland bestimmten, gab schließlich ein seit Lord Duncombes Tode in Eva Robert fast unwiderstehlich gewordenes Heimweh nach den Bergen und den Tälern ihrer Jugendtage. Die letzteingegangene zweite eheliche Verbindung mit einem gleichfalls ursprünglich Deutschen, mit Malder, hatte jene unauslöschliche Flamme vollends angefacht, und so kam es, daß die ehemalige deutsche Schulmeisterstochter und nachherige amerikanische Hinterwäldlerin mit ihrem neuen Gemahl schon wenige Jahre nach der Flucht der Fürstin von Bentivoglio ebenfalls aus Italien aufbrach.

Aber die Reise jenes glücklichen Ehepaares ging nicht direkt nach Deutschland, über die Alpen, sondern man unternahm zunächst einen für so weitgereiste Leute fast klein zu nennenden Abstecher nach Nordamerika. Frau Dr. Eva Malder, wie unsere liebenswürdige Deutsch-Amerikanerin nunmehr hieß, trug neben ihrem Heimweh nach dem Lande ihrer Geburt und Kindheit das ihrer Pietät entsprechende und ihre Denkungsart im höchsten Grade ehrende, ebenso tiefe Verlangen, von ihrer Übersiedlung nach Deutschland und mit ihrem neuen Beschützer zusammen noch einmal das stille Urwaldgrab ihres, der wilden Eifersucht so jäh zum Opfer gefallenen Robert zu besuchen.

Geld spielte bei der Universalerbin Lord Duncombes fortan keine Rolle, und was die Strapazen eines solchen Abstechers betraf, so hatte die inzwischen gerade in den südwestlichen Grenzgebieten der Vereinigten Staaten mächtig fortgeschrittene Kultur bestens dafür gesorgt, daß man Hunderte von Meilen, die bis vor wenigen Jahren nur von einsamen Trapperkarawanen in öder Wildnis zurückgelegt werden konnten, jetzt auf den Flügelsohlen des Dampfrosses durcheilte.

Trotz alledem aber und zur großen Freude Evas war jene Scholle des Osagegebietes, wo ihres seligen Robert irdische Überreste gebettet lagen, vom Zahn der Zivilisation noch unbenagt geblieben. Noch rauschte ein Stück des nordamerikanischen Urwaldes dort dem ersten Geliebten ihres Herzens von der Einsamkeit geweihte Grab- und Schlummerlieder; noch breitete eine gewaltige Korkeiche ihre schattigen Riesenzweige über den nur von dürrem Laub bedeckten Hügel des teuren Toten.

Aber eines war ziemlich neu an dieser heiligen Stätte des Schmerzes vergangener Tage; etwas ganz Auffälliges an Roberts Grabe machte Evas Seele gleich beim ersten Wiedererblicken jenes traurigen Ortes in ihren Tiefen erbeben. Ein Steinhaufen zu Häupten des Totenhügels, nach Art der indianischen Opferaltäre errichtet, und neben diesem primitiven Gedächtnismale eine verrostete Waldläuferbüchse und ein zerbrochenes Kanoe.

Wer anders als Kehe-Paha, jener edle Indianer vom Stamme der Pottawatamies, welcher, wie dem Leser nun wieder gegenwärtig sein dürfte, Robert und Eva einst treu wie ein Hund durch alle Fährnisse dieser Wildnis geleitet und Roberts Mörder, den heimtückischen Gerhard, seiner gerechten Strafe überliefert, konnte jenen Altar dort erbaut und Waffe und Boot, dem Jenseitsglauben seines Volkes entsprechend, ebendaselbst und zwar vor nicht allzu langer Zeit pietätvoll niedergelegt haben?

Tränen tiefster Rührung stürzten aus Evas Augen bei jenem unerwarteten Anblick. Unwillkürlich mußte sie des einstigen Abschieds von ihrem treu ergebenen Kehe-Paha gedenken; jener ergreifenden Szene, da genannter Natursohn wieder, nicht als »hüpfender Hirsch«, was sein Name bedeutete, sondern eher wie ein schwer verwundetes Reh, der urwäldlichen Heimat seines Stammes entgegen zog; jenes seltsamen Auftritts in der Prärie, da der biedere Kentuckier Jenkins die verwaiste Eva Robert von der großen Trapperkarawane und auch von Kehe-Paha trennte, um sie und ihr Kind in den schützenden Kreis der Seinen nach Neuorleans zu bringen. – Ja, verwundet, tief verwundet schied damals der treue Sohn der Wildnis von Eva, die er seit ihres Gatten Tode heimlich ernstlich liebte; die er wie eine Göttin anbetete und dennoch – weil er nur eine elende Rothaut war – für immer, immer lassen mußte.

All diese wundersamen Erlebnisse stiegen hier, im Osagestromgebiete, wieder lebendig vor Evas Geiste auf, und sie ward, infolgedessen, nicht müde, ihrem neuen Gemahle die Einzelheiten ihres ehemaligen Trapperlebens, ihr Glück wie ihr Leid, umständlich zu erzählen.

Von Roberts Grabe ging die Reise des Paares dann weiter nach dem Süden, nach Neuorleans, wohin Jenkins, der brave Kentuckier, sie gastlich geleitet. Dort, in der freundlichen Halbmondstadt der neuen Welt, warteten ihrer ja neue, große Erinnerungen. Dort, in der Familie Jenkins, hatte sie die beiden Pfänder ihrer ersten Liebe, zwei holdselige Kinderchen, in zartem Alter verloren und eben daselbst auch schließlich Lord Duncombe und seine Tochter Maud als Amerika reisende Engländer zuerst kennen gelernt.

Aber wozu den Leser mit Dingen, die sich seine Phantasie von selbst ausmalt, ermüden. Es genügt, jene Reise der Malderschen Eheleute nach Nordamerika betreffend, die kurze Andeutung, daß der früheren Eva Robert in erster Linie darum zu tun war, dem neuen Gatten ein möglichst getreues Bild von ihrem ehemaligen Leben und Kämpfen zu verschaffen; ihm ehrlich und ad oculos zu demonstrieren: »Auf diesen Pfaden ward ich, was ich bin!«

Daß sich bei diesen Blicken in die Vergangenheit auch dann und wann das Bild des treuen Kehe-Paha in den Vordergrund drängte, ja daß die jetzige Eva Malder, namentlich so lange sie jenseits des Mississippi weilte, den Wunsch nicht unterdrücken konnte, auch ihrem einstigen roten Liebhaber noch einmal begegnen und Auge in Auge schauen zu dürfen, wer wollte das einem echten Weibe, selbst wenn es am Arme eines zweiten Gemahles daher schreitet, verargen.

Und jener Wunsch sollte erfüllt werden, wenn auch anders, als Eva es sich jemals hätte träumen lassen. Seine wirkliche Erfüllung aber führt uns zurück nach Deutschland, dem Reisehauptziel der, Italien den Rücken kehrenden Malderschen Eheleute, und zwar speziell nach der inzwischen zur Kapitale des gesamten Deutschen Reiches empor gehobenen Metropole des siegreichen Preußenstaates, nach Berlin.

Großartige Ereignisse hatten sich seit Dr. Malders mehrjährigem Aufenthalt in Amerika abgespielt; kriegerische Ereignisse, wie die Welt noch keine gesehen. Das prahlerische Frankreich, auf die alte Uneinigkeit des deutschen Volkes bauend, hatte Preußen wegen einer Thronfrage, so klein wie eine spanische Fliege, keck den Fehdehandschuh hingeworfen, und darauf war, wie über Nacht und gegen alles Erwarten, die endliche Verbrüderung von Nord- und Süddeutschland, die Überbrückung des Main erfolgt. Im Herzen Frankreichs, in Versailles, hatten die vereinigten deutschen Fürsten und Völker schließlich, nach einer Siegeskette ohnegleichen, König Wilhelm I. von Preußen zum ersten deutschen Kaiser ausgerufen, und Spreeathen war auf diese Weise die Hauptstadt des Deutschen Reiches geworden.

Frankreichs Kriegsstrafgelder hatten sich bereits als Milliardengoldregen über das Reich seines Besiegers und besonders über Berlin ergossen, als Dr. Malder, in dem stolzen Bewußtsein, ebenfalls ein Deutscher zu heißen, wenn auch mit einem gewissen Schamgefühle, sich so lange in fremden Ländern wie heimatlos umhergetrieben zu haben, in Begleitung seiner Gemahlin Eva, über Hamburg kommend, der neuen Reichskapitale seines alten, siegreichen Vaterlandes entgegendampfte.

Mit anderen Worten, die sogenannte Gründerzeit stand in schönster Blüte, als die Malderschen Eheleute auf ihrer Reise nach Süddeutschland zunächst in Berlin einkehrten, wo jene Ära des Geldüberflusses und der Spekulationswut unter anderen neuen Sehenswürdigkeiten auch eben die Kaiserpassage und Castans Panoptikum daselbst geschaffen hatte.

Wer Berlin seit 1870 resp. 71, das will sagen seit den Großtaten der deutschen Heere auf französischem Boden nicht gesehen hat, der erkennt diese Schöpfung der Hohenzollern, diese Ruhmeskapitale des Großen Kurfürsten und König Friedrich des Einzigen, schwerlich wieder.

Schon lange zwar schmücken marmorne und bronzene Monumente jener Helden, die im ersten deutschen Freiheitskriege 1813-15 bei Leipzig und bei Waterloo vornehmlich der französischen Großmachtssucht ein Loch in die Pauke schlugen, Spreeathens Kreuzberg und Opernplatz und Zeughaus, und noch länger zieren die Waffenmeister des siebenjährigen Krieges den sogenannten Zietenplatz zwischen Mohren- und Wilhelmsstraße, aber erst seit 1866 erinnern zahlreiche Straßenbenennungen an den zweiten großen Einheitsschritt jenes Heilsjahres, und die Riesenkampagne von 1870/71 hat der jetzigen geistigen Metropole Deutschlands dann vollends ihr Ruhmes- und Schönheitssiegel aufgedrückt.

Es brauchte erst solcher Aktionen wie Weißenburg, Wörth, Mars la Tour, Gravelotte, Sedan, daß Berlins alte Tore und Befestigungsmauern endlich fielen, Pferde- und Stadtbahnen seinen Binnenverkehr beschleunigten und vermehrten und Kunstdenkmäler und Luxusbauten jeder Art, bis auf das heutige Gros altdeutscher Bier- und Weinstuben, neben den herrlichsten Baum-, Park- und Fontänenanlagen, wie Pilze aus und an dem neuen Asphaltstraßenpflaster empor schossen. Es mußten erst Straßburg, Metz und Paris sich in echt Kotzebuescher Verzweiflung den deutschen Siegeswaffen übergeben haben, bevor das ehemalige wendische Fischerdorf Altkölln-Berlin, die nachfolgende bescheidene Hauptstadt der Streusandbüchse des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, das werden konnte und sollte, was sie durch Gottes Gnade und Bismarcks und Moltkes geniales Walten heute ist: – Ein neues Rom, ein überholtes Paris – das Steuerrad des modernen Weltgetriebes.

Als Eva Malder im Frühjahr 1873 mit ihrem zweiten Gemahle die neue deutsche Kaiserstadt betrat, war auch für sie des Schauens und Staunens kein Ende. Neu-York, woher sie kam, die Hauptempore des atlantischen Seeverkehrs, hatte ihr ja auch mächtig imponiert, aber wie konnte sich jene Riesenstadt der Vereinigten Staaten mit der angehenden Millionärin an der Spree in bezug auf Kunstschätze, historische Denkmale und andere Sehenswürdigkeiten messen?

Wo gab es ein Weltmuseum, wie das neue, durch König Friedrich Wilhelm IV. geschaffene, auf dem Berliner Lustplatz? Wo eine Universität, wie die unter König Friedrich Wilhelm III. durch die Gebrüder Humboldt errichtete, am Ende der Straße unter den Linden? Wo ein so schlichtes Kaiserpalais mit einem so imposanten Monument davor, wie das Denkmal des alten Fritz, vis-à-vis dem historischen Eckfenster Kaiser Wilhelms, des Siegreichen?

Alles das waren für die intelligente Deutsch-Amerikanerin ebenso neue als bewunderswerte Dinge, die sie nicht müde wurde zu betrachten, und dennoch zog ihr Herz sie schon am ersten Tage nach ihrer Ankunft in Berlin zu einem wesentlich anderen Gegenstande der Neu- und Wißbegierde oder, besser, ihrer innersten Neigung und Sehnsucht.

An den als öffentliche Vergnügungsanzeiger figurierenden runden und buntbeklebten sogenannten Litfaßsäulen las sie auf gelben, mächtigen Plakaten mit Riesenlettern: »In Castans Panoptikum, Kaiserpassage, tägliches Auftreten hier noch nie gesehener echter Siouxindianer vom Stamme der Pottawatamies in ihrem grotesken Kriegerschmuck und nationalen Tänzen.«

Das lesen und ihren Gemahl bitten, sie unverzüglich dorthin zu begleiten, war begreiflicherweise Sache ein und desselben Moments, und Dr. Malder, seinerseits, fand nach alledem, was seine Gattin in Amerika erlebt und was ihre Erinnerungen im besonderen an die Siouxrothäute knüpfte, in jenem Drängen, besagte Indianer in echten Repräsentanten auf deutschem Boden einmal wieder zu sehen, durchaus nichts Befremdendes.

Item, man war schon nächsten Morgen in Castans Panoptikum, dem Hohenzollern- und Kongreßsaal wenig Beachtung schenkend, ja sogar an der berühmten Verbrecherkammer in anderer, sehnsüchtigerer Erwartung kühl vorüberschreitend.

Es war zum Glück noch ziemlich leer in jener frühen Morgenstunde, denn die erste Produktion der echten Siouxindianer vom Stamm der Pottawatamies stand noch bevor.

»Bedauernswerte freie Söhne der Prärien und des Urwalds, daß ihr euch hier für Geld, für schnöden Mammon, wie im Kerker halten laßt,« seufzte Eva, »daß euch die Überredungskünste eines Hagenbeck aus euren luftigen Wigwams in diese trockene, wachsparfümierte, miserable Saalluft zu locken vermögen!« – Da tönte auch schon die bekannte Theaterklingel, als Zeichen des Beginns der Vorstellung.

Sechs rötlich angehauchte, stark adlernasige, stattliche Männer verschiedenen Alters stürzten auf jenes Glockenzeichen in jenem Saale, welchen die Malderschen Eheleute zuletzt betreten hatten und der die Türüberschrift: »Zu den Indianern« trug, hinter grünen, ein rotdrapiertes Podium umsäumenden sogenannten Waldkulissen fast gleicher Zeit hervor, um zunächst in ihrem ältesten Nationalkostüm, das heißt mit dürftigem Lendenschurz und buntem Federkopfputz das übliche Begrüßungskompliment zu machen.

Arm in Arm stand Eva mit ihrem Gatten vor jenem Podium und war eben im Begriff, dem Gemahle hochklopfenden Herzens zuzuflüstern: »Es sind wirkliche Sioux und keine angestrichene Voigtländer, wie ein neben mir sitzender Berliner apodiktisch behauptete,« da ertönte vom Podium her ein unnachahmlicher jäher Schmerzensschrei, und einer der sechs Indianer, der stattlichste von allen, stürzte, wie von einem Blitz getroffen, leblos zu Boden.

» O thou my one beloved lady! – Queen of my heart!« lispelten seine Lippen im Sterben, während Eva, jenen vom Schlage gerührten unglücklichen Fremdling ebenfalls erkennend, mit dem Überraschungsrufe: »Kehe-Paha!« ihrem Gatten ohnmächtig an die Brust sank.

Sehnsucht, die Geliebte seines Herzens noch einmal zu schauen, hatte den Indianer erst nach New-Orleans und dann nach Europa getrieben. Allein um ihretwillen hatte er sich zu einem Ausstellungsobjekt erniedrigt, und nun fand er den » star of bis life« am Arme eines zweiten Bleichgesichtes wieder.

»Wir Wilden sind doch bessere Menschen,« so etwas strahlte von der schmerzverklärten Stirn des roten Toten.


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