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Aus Mantua.

Der Krieg zwischen dem Testament Peter des Großen und dem Erbe des ersten Napoleon war im blutigen Gang, drei blutige Schlachten hatten die französischen Adler als Sieger gesehen, fast dreimalhunderttausend Menschenleben waren bereits dem großen Kampf von Oltenizza bis Sebastopol zum Opfer gefallen!

Der Neffe jenes Kaisers, der dreiundzwanzig Jahre früher sein Glück und seinen Ruhm in den Flammen von Moskau, in dem Eise der Beresina gelassen, hatte die Schmach getilgt: Rußland stand am Rande der Niederlage, das stolze prahlerische England war gedemütigt, mehr als durch verlorene Schlachten durch das offenbare Schauspiel seiner Schwäche in diesem Kampf, Österreich sah trotz seines Verrats am Horizont der Zukunft mit banger Erwartung jene schwarze Wolke sich erheben, deren Blitze in Magenta und Solferino sich entladen sollten, und Preußen warf seine Zukunft in die Wagschale, indem es an der Tradition seiner Fürsten und der Treue ihres Wortes festhielt.

Zum zweitenmal sah das erzitternde Europa das junge Kaisertum, aus der Revolution geboren, die Jahrhunderte alten Legitimitäten erschüttern und den alten Thronen Europas neue Gesetze vorschreiben. Aber durch die Erfahrung klüger als der Oheim begnügte der Neffe sich, zu drohen und zu erschüttern, nicht zu stürzen.

Wie damals hatte der Napoleonide die Revolution nur zum Schemel der eigenen Erhebung gebraucht, und Treubruch um Treubruch zahlend hatte er den Fuß der ewig sich erneuenden Schlange kräftiger und lastender auf den Nacken gesetzt, als je ein Fürst auf seinem Throne von Gottes Gnaden.

Der Vermählung des Kaisers Napoleon mit der schönen Marquesa de Montijo war bald nachher der offene Ausbruch der diplomatischen Zwistigkeiten in der orientalischen Frage, das Bündnis mit England, die Versammlung der Flotten im Mittelmeer, dann in der Troja-Bucht (Besika-Bai) und die Kriegserklärung an Rußland gefolgt.

Vergebens hatte sich das griechische Volk erhoben, während zur Unterstützung seines Aufstandes die Russen die Donaufürstentümer besetzten, statt mit der Flotte von Sebastopol sich mit einem Schlage Konstantinopels und der Dardanellen zu bemächtigen und hier sicher dem Sturm zu trotzen. Die mächtige Hand der Engländer und Franzosen lastete auf dem an Hilfsquellen armen Griechenland und diktierte seinem König die Unterdrückung der Bewegung. Saint Arnaud und Lord Raglan hatten ihren Zug nach Varna gemacht, die Dobrudscha ihre Opfer gekostet und seit sechs Monaten lagerten die verbündeten Heere der neuen Argonauten vor dem Zwing-Pontus der Krim.

Was der Degen des jähzornigen Canrobert nicht gethan, hatten die Sumpffieber Rumelieus vollendet – das blutige Werkzeug des 2. Dezember, Saint Arnaud, war rasch den Opfern der Almaschlacht gefolgt, auch der englische Anführer ein Opfer des Krieges geworden.

Aber schwerer als jene wog der Mann, dessen eherne Hand wir im vorigen Kapitel noch von dem Sterbelager sich ausstrecken sahen!

Kaiser Nicolaus war am 2. März verschieden. Wenige nur werden noch daran zweifeln, daß das Ende des gewaltigen Selbstherrschers ein Opfertod für Rußland und für die starren, unbeugsamen Prinzipien seines Lebens war. Der mächtige Kaiser fühlte, daß er zu früh das gewaltige Werk begonnen, daß Rußland noch nicht reif für den Kampf, und die Erbärmlichkeit seiner Diener ihn um den Sieg betrogen hatte. Der Kaiser war gestorben, um mit dem Fall oder dem Siege Sebastopols den Frieden zu ermöglichen. Der Korb von Dresden und Claremont war gerächt!

Die revolutionäre Agitation hatte auf den orientalischen Krieg bedeutende Hoffnungen gesetzt und im Beginn große Thätigkeit zur Unterstützung seiner Zwecke entwickelt. Ihre Pläne und Entwürfe richteten sich zunächst auf die Wiederherstellung Polens und den neuen Versuch der Gründung eines magyarischen bis zu den Ufern des schwarzen Meeres gehenden Reichs und auf die Schwächung Rußlands und Österreichs, ohne deshalb die Ziele in Italien aus den Augen zu verlieren.

Zu diesem Zwecke hatte sich Sardinien beeilt, in das Bündnis der Westmächte einzutreten und die klägliche dritte Rolle in dem großen Kampf für die Vegetierung des »kranken Mannes« zu spielen. Die Politik Cavour ging Arm in Arm mit Mazzini, und nur die Endfragen wichen von einander, ob das seinen rechtmäßigen Fürsten entrissene vereinigte Italien eine neue Großmacht des ehrgeizigen Hauses Savoyen sein, oder den demokratischen Traum einer sozialen Republik verwirklichen sollte.

Zu Gunsten des Schwertes ruhte der Dolch. Aber sehr bald begannen die Führer der Agitation zu merken, daß sie von dem großen Revolutionär auf dem französischen Throne betrogen waren.

Der Kaiser dachte nicht daran, den Fuß, den er durch die Occupation Roms auf Italien gesetzt, zurückzuziehen und so den Plänen des Turiner Kabinetts und des Mazzinismus freies Spiel zu öffnen, unter dem Vorwand, daß Österreich oder Neapel sich alsbald sonst in die römischen Angelegenheiten mischen würden. Schon damals war der Einfluß der neuen Kaiserin zu Gunsten der römischen Hierarchie unverkennbar. Ebenso wenig geschah zur Unterstützung einer Erhebung in Polen oder Ungarn. Der napoleonische Adler war im Steigen – die Revolution gefesselt.

Aber der Groll, der Haß, die Rache waren nur eingeschüchtert und rasteten nur.

Im Verborgenen glühte die Flamme fort und die Sicherheit des großen Bezwingers seiner eigenen Mutter, der Revolution, war nur eine scheinbare.

Der Fanatismus schliff seine Klinge!


Zwei Männer hatten in der Sitzung des Revolutionskomitees in der Capella Borgerini in der Kirchs San Pietro in Montorio nach dem Sturm auf die Villa Corsini die Anklage gegen Karl Ludwig Bonaparte, den Präsidenten der französischen Republik, erhoben.

Die Anklage lautete auf Verrat und Mord an den Bundesbrüdern.

Der Antrag lautete auf Tod! Die Ankläger waren Felicio Orsini und Guiseppe Andrea Pierri.

Der Totenbund der Brüder des Dolches, diese Namen mögen romanhaft klingen, aber ihre Identität ist jetzt längst erwiesen, hatte die Entscheidung vertagt, bis der Präsident der Republik sich zum Kaiser der Franzosen gemacht haben würde.

Felicio Orsini, geboren 1819 in der Romagna, ein Nachkomme jenes alten und berühmten Geschlechts, das einst mit den Colonnas und Borgias in Rom um die Herrschaft stritt, war einer jener Verschwörer, wie sie eben nur Italien erzeugt.

In seinem 22. Jahre ließ er sich in die geheimen Gesellschaften aufnehmen. Drei Jahre später, 1844, wurde er in das Gefängnis geworfen und zu lebenslänglicher Galeerenstrafe verurteilt. Durch die mit der Revolution kokettierende Amnestie Pius IX. 1846 unverhofft der Freiheit wiedergegeben, benutzte er diese einzig dazu, sein früheres Treiben fortzusetzen, indem er mit Mazzini in Verbindung trat und bei der Befreiung Louis Napoleons aus Ham thätig war.

Wieder in sein Vaterland zurückgekehrt, wurde er aus Florenz verwiesen, trotzte dem Verbot und wurde in Ketten an die Grenze des Kirchenstaats geschafft. Hier war er einer der thätigsten Teilnehmer an den Aufständen in den Abruzzen und bei der Verteidigung Roms. Nach dem Sturz der römischen Republik trieb er sich in Genua, in Nizza und im Herzogtum Modena umher, ward bald von den Gendarmen, bald von den Karabinieren ergriffen und wieder ergriffen und entwischte ihnen immer aufs neue. Sein damaliges Leben ist nur eine Kette von Abenteuern und Gefahren. Endlich entledigten die piemontesischen Behörden sich seiner, indem sie ihn nach England sich einschiffen ließen. Hier verlebte er fünf Monate im vertrautesten Umgang mit Mazzini und wurde sein bestes Werkzeug. Der Kopf brauchte die Hand!

Der Winter 1853 zu 54 war in den Kämpfen an der Donau zwischen den Russen und Türken vergangen, die blutigen Schlachten von Oltenitza und Cetate hatten keinerlei Entscheidung herbeigeführt und halb Europa rüstete sich, in dem neuen Jahr mit gewaltigeren Massen auf den Kampfplatz zu treten.

Dies war die Zeit, der März 1854, in der, offenbar nicht ohne Zusammenhang mit der Politik Palmerston, Mazzini aufs neue von London seine Agenten aussandte. Die Annahme, daß Frankreich und Österreich, mit den Verhältnissen im Osten zu sehr beschäftigt seien, um ihr Augenmerk und ihre Macht der Lombardei zuzuwenden, rief den Versuch hervor, vom Tessin aus das nördliche Italien zu revolutionieren. Mit Instruktionen in dieser Richtung versehen war Orsini im März 1854 von London abgereist und hatte sich unter dem Namen Tito Celsi nach der Schweiz begeben. Aber die Schweiz, so bereitwillig mit der Beschützung von Revolutionären der Nachbarstaaten, wollte auf eigenem Gebiet nichts davon wissen. Seine Wühler-Versuche scheiterten, im Gebirge versteckt hörte er oft die Kugeln der auf ihn fahndenden Gendarmen um seine Ohren sausen und mußte sich glücklich schätzen, über die französische Grenze flüchten zu können. Sein hartnäckiger rastloser Charakter erneuerte bald das Unternehmen, er wurde verhaftet und nach Chur gebracht. Auch diesmal gelang es ihm, den Gendarmen trotz ihrer Wachsamkeit zu entwischen, und er hielt sich unter dem Namen Georg Hernagh bei seinen Freunden in Zürich verborgen.

Mit neuen Instruktionen von Mazzini versehen, welche die gleichzeitige Erregung eines Aufstandes in Italien, Polen und Ungarn zum Zweck hatten, reiste er am 1. Oktober 1854 von Zürich aus nach Mailand und von hier nach Venedig, Triest, Wien und endlich nach Hermannstadt in Siebenbürgen.

Aber man hatte die Wachsamkeit der österreichischen Polizei zu gering angeschlagen; denn kaum hatte er den Fuß in die Stadt gesetzt, als er verhaftet wurde. Ohne noch zu wissen, wer er war, hatte die Wiener Polizei den Verschwörer in ihm gewittert, und der Verhaftsbefehl war zwölf Stunden vor ihm in Hermannstadt angelangt. Obgleich man unter seinen Sachen nichts Verdächtiges fand, wurde er nach Wien und von dort nach Mantua abgeführt.


Der orientalische Krieg war so gut wie beendet, die Erde der Krim deckte viele tausend tapfere Soldaten, oder deckte sie vielmehr kaum, denn das Elend und die entsetzlichen Mühseligkeiten in den Lagern der drei Verbündeten vor Sebastopol war zu einer so entnervenden Höhe gewachsen, daß man sich kaum noch die Mühe gab, die Leichen der gefallenen Menschen und Pferde notdürftig zu verscharren, und daß die Regengüsse oft, namentlich auf den türkischen Lagerstätten, die verwesenden Körper wieder hervorwuschen. Ansteckende Krankheiten, das Elend und die Kugeln der Russen hatten die drei vereinigten Armeen dezimiert und selbst sardinische Hilfstruppen waren in die Lücken getreten, damit der mit so gewaltigem Triumph angekündigte und begonnene moderne Argonautenzug nicht in Schimpf und Rückzug endete.

Es war am Abend des Donnerstag des 29. März 1856. Über die weiten Niederungen des Ticino und des Po, in deren Sümpfen das Bollwerk der österreichischen Herrschaft im nordöstlichen Italien, das fast unzugängliche Mantua liegt, wehten bereits die milden Lüfte des Frühlings und das üppige Sumpfgrün mit seiner wuchernden Schilfvegetation verlieh den sonst so traurigen Umgebungen der Festung einen freundlichen Anblick.

Das fast unaufhörliche Geläut der Glocken und der zahlreichen Kirchen der alten Stadt der Gonzagas mit ihren mancherlei Kunstschätzen aus der glänzenden Zeit Giulio Romanos und des hochbegabten Mantegna, jetzt den Abendsegen verkündend, schien die Luft in einer vibrierenden Bewegung zu erhalten. Aus den Kirchen strömte mit der Beweglichkeit des italienischen Charakters, die Menge und das Leben des Abends, jene Hauptzeit des Tages für alle südlicheren Völker, erfüllte die Straßen und öffentlichen Plätze.

Auf der Piazza di Virgilio um die Statue des berühmten Dichters, drängte sich die promenierende Menge oder lungerte vor dem Eingang des Teatro Diurno und den zahlreichen Kaffeehäusern; denn der Platz gehört am Abend dem Volk, während er am Tage der zahlreichen Garnison zum Excerzierplatz dient und deshalb von den italienischen Stadtbewohnern mehr gemieden wird.

Auch jetzt war die schroffe Trennung und Spaltung der beiden Nationalitäten oder Parteien sehr wohl bemerklich. Die weißen und braunen Röcke der Soldaten sah man stets unter den Spaziergängern zusammen, und die Offiziere saßen abgesondert vor bestimmten Kaffeehäusern und machten ihre Bemerkungen über die vorüber promenierenden Damen.

Über den Platz kamen in vertraulichem Gespräch langsam zwei Männer und wandten sich nach der Seite des östlichen Sees und der Ponte de Georgio. Der eine war ein Mann nahe den Sechzigern von großem starkem Wuchs mit tief gebräuntem Gesicht und scharf gebogener Nase. Er trug modenesische Generalsuniform und sein Auge lief zuweilen finster über die Gruppen der Begegnenden, aus denen mancher Blick ihn verächtlich und feindlich maß. Er hatte auf seiner Brust außer mehreren österreichischen und russischen Orden das Kreuz des heiligen Grabes und den Stern des spanischen Ordens Carl III.

Sein Begleiter war nur wenig über die Mitte der Vierziger, in Civil und von feinem, sicherem und elegantem Wesen.

Der einfache, aber moderne Reiseanzug verriet nichts von der gesellschaftlichen Stellung, aber das feine geistreiche Gesicht und das ganze Wesen und Gebahren verrieten den Mann von Welt und Erfahrung.

»Ich versichere Sie, lieber Graf,« sagte der Civilist, »ich habe Oberst Fleury ganz bestimmt erkannt trotz seiner Verkleidung. Die Nachrichten, die wir in Triest hatten, waren zuverlässig, und nur die Krankheit und der Tod Sr. Majestät Don Carlos haben uns verhindert, die Spur weiter zu verfolgen. Die neueste Einladung, die uns zuging, bestimmt, daß heute Abend die Zusammenkunft und die Vorlegung der Papiere hier erfolgen soll.«

»Aber warum wählt man Mantua, da der Besitzer in Treviso ansässig ist?«

»Ich habe Ihnen gesagt, daß er möglichst sicher gehen will und deshalb sich hütet, die wichtigen Dokumente bei sich aufzubewahren. Glauben Sie, daß es den Agenten des Kaisers auf einen Handstreich ankommen würde? Mantua ist der einzige Ort, wo man des Schutzes unbedingt sicher ist. Unter den Kanonen der Fortezza entführt man keine Personen, aber man kauft sie.«

»Und Sie halten diese Dokumente für so wichtig, lieber Neuillat

»Nicht für den Augenblick, Graf, wo Louis Napoleon die Macht in Händen hat und tausend Mittel, sie als gefälscht oder unecht auszugeben. Aber wenn ihm ein Unglück passiert, wenn ein Zufall sein Leben endet, dann sind sie in den Händen der Bourbons von ungeheurem Wert. Was ich Ihnen darüber sagen kann, will ich Ihnen mitteilen.«

»Ich bin begierig,« meinte der General.

»Sie werden sich erinnern, obschon diese Zeit vor der unseren liegt, daß der von der Prinzessin Hortense geschiedene Exkönig von Holland im Jahre 1815 bei den Pariser Gerichten einen Prozeß gegen seine Gemahlin einleitete, in welcher er nur seinen älteren Sohn reklamierte, den Prinzen Napoleon, der in den Carbonari-Unruhen bei Rimini fiel. Der Prozeß wurde vom 31. Dezember 1814 bis zum 20. November 1815 in Paris öffentlich verhandelt. Obschon man seitdem die Akten und die Exemplare der öffentlichen Blätter aus jener Zeit vernichtet hat, sind dergleichen doch aufbewahrt geblieben. Tripier, der Advokat des Exkönigs Ludwig, hatte den Antrag auf die Auslieferung dieses Sohnes an den Vater gestellt, Bouet verteidigte die Königin. Courtin, der Prokurator des Königs, beantragte, den Vater abzuweisen, der Gerichtshof vertagte seinen Spruch, und er wurde nie gefällt, da die Rückkehr des Kaisers von Elba dazwischen kam. Später schienen sich die Gatten verglichen zu haben, wenigstens verlautete nicht, daß der Prozeß wieder aufgenommen worden wäre und Hortense überließ ihren älteren Sohn ihrem Gemahl. Louis Napoleon aber bekümmerte sich herzlich wenig um seinen Vater, nur einmal, als er in Ham saß, nahm er die Krankheit desselben zum Vorwand, um Louis Philipp anzugehen, ihn auf sein Ehrenwort frei zu lassen, um diesen Vater zu besuchen. Louis Philipp schien nicht sehr an die Zärtlichkeit des Sohnes zu glauben und ging auf den Vorschlag nicht ein.«

»Aber das erklärt doch nicht den Inhalt der Dokumente!«

»O doch! Sie wissen, daß die schöne Hortense eine sehr galante Dame war, und der Graf Flahault sicher nicht der einzige, der sich ihrer Gunst erfreute. Die Chronique scandaleuse jener Zeit erzählt verschiedene Aventuren, ja von einer solchen mit dem Kaiser selbst, und Talleyrand wenigstens behauptet ihre Wahrheit. Nun befand sich damals – ich spreche vom Jahre 1808 – ein Italiener als Kammerdiener bei dem König von Holland, der in die Familienverhältnisse seines Gebieters vollkommen eingeweiht war und sich in den Besitz von Dokumenten und Schriftstücken zu setzen gewußt hat, welche auf das Eheleben der beiden Gatten ein besonderes Licht werfen sollen. Thatsache ist, daß während des Jahres 1807 die Königin von Holland getrennt von ihrem Gatten in Paris lebte. Es soll sich unter den Papieren ein eigenhändiger wichtiger Brief der Königin vorfinden und eine von dem König selbst niedergeschriebene Erklärung sowie ein Zeugnis seines Leibarztes. Man wußte wohl von dem damaligen Vorhandensein dieser Papiere, aber sie waren spurlos verschwunden. Auffallend war nur, daß der Kaiser sofort nach seiner Thronbesteigung an den Archivar des Haag die drohende Aufforderung richtete, ihm den im dortigen Archiv liegenden Taufschein herauszugeben. Der Archivar wies das Verlangen entschieden zurück, und dies brachte die Sache aufs neue in Erinnerung.«

»Aber wo kommen jetzt plötzlich die Papiere her?«

»Herr Lorrini, der Sohn jenes Kammerdieners des Königs von Holland, lebt als Gutsbesitzer in der Nähe von Treviso, also als österreichischer Unterthan. Er hatte aus der Erbschaft seines Vaters eine eiserne, wohl verschlossene Kassette erhalten mit der testamentarischen Anweisung, daß dieselbe erst zwanzig Jahre nach seinem Tode geöffnet werden dürfe. Dies ist vor vier Wochen geschehen, und Herr Lorrini, der ein Spekulant ist, hat die Papiere dem Kaiser Louis Napoleon zum Kauf angeboten.«

»Und Oberst Fleury?«

»Signor Lorrini hat es weislich abgelehnt, mit seinen Dokumenten nach Paris zu kommen. Die gegenwärtigen Friedensverhandlungen in Paris haben den Adjutanten des Kaisers nach Turin geführt, und er hat wahrscheinlich den Auftrag, bei dieser Gelegenheit sich von der Echtheit der Dokumente zu überzeugen und um sie zu handeln.«

»Aber woher wissen Sie davon?«

» Parbleu! Signor Lorrini, lieber Mortara, ist ein viel zu gescheiter Mann, um seinen Preis nicht durch Konkurrenz zu erhöhen. In dem Augenblick, in dem er Louis Napoleon den Verkauf angeboten, hat er sich mit dem gleichen Vorschlage auch an die ältere Linie der Bourbons gewandt, und wer weiß an wen sonst noch! Kurz, die Frau Herzogin von Berry hat mich beauftragt, mich von der Sache zu überzeugen.«

»Und auf heute ist Ihnen das Rendezvous bestimmt?«

»Auf heute Abend 10 Uhr, in der Nähe des Galetta-Platzes. Da ich früher nicht in Mantua war, ist es mir lieb, durch einen alten Freund die nötigen Auskünfte erhalten zu können.«

»Wir sind zur Stelle.«

Die Sonne sank soeben hinter den fernen Bergreihen der Toskanischen Apenninen, und die beiden Freunde befanden sich auf dem Platz am Eingang der 2700 Fuß langen, die Verbindung zur Mincio-Insel bildenden Borgo di San Giorgio und dem Fort gleichen Namens verbindet.

Der Anblick der riesigen Befestigungen, der sich von hier bot, denn man übersieht über die Wendung des Sees nach Westen hin auch die Borgo di Fortezza, den 1380 Fuß langen, die Verbindung zur Mincio-Insel bildenden Damm, die Pont di Molini und die mächtige Citadelle di Porto auf deren Wällen Andreas Hofer den Heldentod für sein Vaterland unter den Kugeln der französischen Schergen starb, verfehlte seinen Eindruck auf den Diplomaten nicht.

Herr von Neuillat ließ sein Auge über die mächtigen Wälle und Steinmassen und die Fläche des Sees schweifen, der sich nach Süden hin in jene Sümpfe verliert, die der unbesiegbare Schutz Mantuas sind, während der Bogen nach Norden und Osten den Hafen der Stadt bildet, in den die Schiffe aus dem Po und selbst aus der Adria gelangen können.

»So lange die Österreicher Mantua besitzen,« sagte er nachdenkend, »werden sie dem Sturm, der über kurz oder lang droht, Trotz bieten können. Das Festungsviereck von Peschiera, Verona, Mantua und Leguano deckt Österreich und Deutschland auf dieser Seite gegen jeden französischen und sardinischen Einfall, und an der Mincio-Linie werden sich die Gelüste des kleinen Welteroberers brechen.«

Der General sah ihn erstaunt an. »Aber Sie sprechen, als ständen wir vor dem Ausbruch eines neuen Krieges, während wir im Frieden leben, und die Lombardei unser ist.«

Kennen Sie Herrn Cavour?«

»Den sardinischen Minister? dem Namen nach, ich habe ihn persönlich nie gesehen.«

»Nun, ich kenne ihn, wie ich alle Welt kenne, denn das ist mein Geschäft. Es lebt ein Feuergeist unter diesem ruhigen Äußern, er ist seit Macchiavelli der klügste Minister, den Italien je besessen, und Garibaldi und Mazzini können nicht eifriger den Plan der Einheit Italiens verfolgen, als Graf Cavour, nur mit dem Unterschied, daß er eine Monarchie unter Viktor Emanuel daraus machen will, und jene die italienische Republik.«

Der General lächelte verächtlich. »Ich denke, die Tage von Custozza und Novara haben Sardinien die Macht Österreichs kennen gelehrt!«

»Radetzki ist ein 89jähriger Greis, und die Natur fordert ihr Recht. Ich will damit nicht sagen, daß es Österreich an tüchtigen Feldherren fehlt, aber Sie selbst werden nicht leugnen, daß Österreich mit seinem italienischen Besitz auf einem Vulkan steht und jeden Augenblick auf dessen Eruption gefaßt sein muß.«

»Ich bin Offizier Sr. K. Hoheit des Herzogs von Modena,« sagte der General finster.

»Eines österreichischen Erzherzogs, lieber Graf, und das genügt vollkommen. Aber es fällt mir auch nicht ein, daran zu zweifeln, daß Österreich stark genug ist, jeder Intrigue von seiten Sardiniens und der Mazzinisten die Spitze zu bieten. Nur …«

»Was meinen Sie?«

»Man hat bis jetzt die Rechnung ohne den neuen Napoleon gemacht.«

»Frankreich ist mit Österreich in vollem Einverständnis. Die Stellung, die Österreich in dem orientalischen Kriege eingenommen, legt Frankreich Verpflichtungen auf.«

Der Diplomat lachte. »Ein Soldat bleibt Soldat, lieber Graf. Das Wort des Fürsten Schwarzenberg, daß die Welt über Österreichs Dankbarkeit staunen werde, wird ein lauteres Echo an der Seine finden. Überdies weiß man dort sehr wohl, daß man in Wien nur die eigenen Interessen an der Donau verfolgt hat und halb Österreich eine russische Provinz wäre, wenn Rußland an der Sulina Herr bliebe. Österreich ist es, das sich hat verleiten lassen, die sogenannte heilige Allianz zu sprengen und damit seinen besten Rückhalt aufzugeben. Frankreich wird die drei Pfeiler des europäischen Friedens seit fast dreißig Jahren jetzt einzeln brechen. Die Tradition Frankreichs setzt ihren Fuß auf Italien und die Ebenen der Lombardei haben schon mehr als einmal französische Armeen gesehen. Oder glauben Sie, daß diese plötzliche Freundschaft Frankreichs und Sardiniens keine Bedeutung hat? Welche Veranlassung hatte das Kabinett von Turin, ein Hilfskorps gegen Rußland nach der Krim zu schicken? das war ein Handel auf Kosten Österreichs, oder ich müßte mich sehr täuschen! die Revolution wird sich zur rechten Zeit regen, glauben Sie mir!«

Der General wies finster nach den Steinmassen des Forts San Giorgio. »Sehen Sie jenes Fenster im südlichen Turm, im dritten Stock, das vierte von links?«

»Ja wohl, der letzte Strahl der Sonne beleuchtet es.«

»Nun wohl, dergleichen sind die besten Bürgschaften für eine Revolution.«

»Es ist eine Kerkerzelle!«

»Einer der thätigsten und gefährlichsten Agenten Mazzinis sitzt darin. Das Fort ist zur Aufnahme der politischen Gefangenen bestimmt, und ich denke es ist ein Aufenthalt, der sicher genug.«

»Wer ist der Gefangene?«

»Ein gewisser Felix Orsini, ein Rebell von Profession. Ich kenne zufällig Herrn Sanchez, der in der Untersuchungs-Kommission über ihn und den Oberst Calvi präsidierte. Orsini war an dem römischen Aufstand beteiligt und hat vielfach in Toscana und Modena Aufruhr zu stiften versucht. Er wurde bei gleichem Versuch in Ungarn ergriffen und Sie wissen, daß die österreichischen Behörden in diesem Punkt nicht mit sich spielen lassen, das ist ihr bestes Verdienst! Orsini ist einer der kühnsten Akoluthen Mazzinis und durch die Beschlagnahme seiner Instruktionen bei der Verhaftung der Mailänder Verschwörer vollkommen überführt. Man glaubt sogar, daß er zu dem berüchtigten Bunde der Dolchbrüder gehört.«

Der Diplomat lachte. »Zum Henker! dann könnte man den Bourbons keinen besseren Dienst erweisen, als ihn loszulassen! Ist er verurteilt?«

»Das Urteil ist gefällt, aber die Bestätigung von Wien wohl noch nicht eingetroffen.«

»Und wie lautet es?«

»Tod durch den Strang!«

Herr von Neuillat konnte eine kleine Bewegung des Schauers nicht unterdrücken. »Ich bin der Ansicht, daß die Strenge gegen politische Verbrechen nicht gut thut.«

Der General strich sich finster den Schnurrbart. » Cospetto, ich glaube, Neuillat, Sie werden empfindsam auf Ihre alten Tage. Ich bin für die äußerste Strenge. Jede Milde, jede Amnestie ist gerade hierbei der größte Fehler. Die Schlange der Empörung, die jetzt überall im Dunkel schleicht, kann nur mit eiserner Gewalt unterdrückt werden. In dieser Beziehung achte ich den Kaiser der Franzosen. Sie kennen Italien nicht genug, sonst würden Sie nicht so urteilen!«

Herr von Neuillat war stehen geblieben und wandte sich zu seinem Begleiter: »Denken Sie an unsere jüngeren Jahre, Graf, was waren wir anders damals in Spanien, als ebenfalls politische Parteikämpfer?«

»Wir kämpften für den legitimen Fürsten! Und ist man etwa mit uns glimpflicher umgegangen? Wurde nicht jeder Karlist, der in die Hände des Schlächters Espartero fiel, oder gar unter jene Banditen, die Argelinos, mit ärgster Grausamkeit getötet? Im politischen Parteienkampf giebt es keine Schonung, oder man opfert sich selbst!«

Der ehemalige Agent des spanischen Thronprätendenten wiegte nachdenklich den Kopf: »Wir waren schon damals nicht einig in unseren Ansichten, lieber Graf,« sagte er milde. »Sie hielten sich stets mehr zu den Entschlüssen Sr. Majestät des verstorbenen Königs, der leider durch den finstern fanatischen Einfluß jenes Corpas geleitet wurde, ich hielt es mehr mit den milderen Prinzipieen des Infanten Don Sebastian. Indes mögen Sie leider in gewissem Maß Recht haben. Aber das erinnert mich an einen seltsamen Brief, den ich kürzlich erhalten. Erinnern Sie sich noch an unser Abenteuer im Thal von Azcoitia und an den Fürsten Felicio?«

»Einen Deutschen? Er verließ später das Heer und war in Barcelona, glaube ich, in Gefahr, vom Volk ermordet zu werden!«

»Ganz recht! das traurige Schicksal ist ihm anderwärts nicht erspart worden. Aber erinnern Sie sich unseres damaligen Spazierrittes und der Erschießung der Argelinos an dem Turm, die Don Corpas betrieb?«

Die Erinnerung schien eine andere unangenehme in dem Grafen zu erregen, wenigstens verriet dies seine finstere Miene, als er sagte: »Ich erinnere mich oberflächlich.«

»Es wurden damals durch den Beistand des Fürsten Felicio und ein wenig auch durch den meinen, ein junges Mädchen und ihr Bruder, wenn mir recht ist, auch noch ein Paar andere Bursche vom Tode gerettet. Sie hatten damals mit den Folgen des Abenteurers nichts mehr zu thun, erfuhren wohl auch kaum davon; ich selbst habe jahrelang nicht mehr daran gedacht, bis ich kürzlich durch einen Brief daran erinnert wurde.«

»Von wem?«

»Von dem Bruder des unglücklichen Mädchens. Es scheint, er stammt aus einer Familie, die sich der Abkunft von den maurischen Königen Granadas rühmt. Gegenwärtig aber ist er, er war damals Christino und Offizier der Argelinos, Arzt in einem französischen Zuavenregiment, das noch in der Krim steht. Sie müssen wissen, daß Fürst Felicio sich damals sterblich in das Mädchen verliebt hatte und sie sogar, um sie gegen die Familienfeindschaft des Don Corpas zu schützen, heiraten wollte, als sie plötzlich und unter Umständen, die auf ein Verbrechen schließen ließen, in der Nacht vor unserm Abmarsch aus Azcoitia verschwand. Der Fürst war lange untröstlich und dies eine der Ursachen, daß er später das Heer verließ. Nun schreibt mir jener Mann, daß er durch einen Zufall die Überzeugung erhalten habe, daß aus jener flüchtigen Verbindung des unglücklichen Mädchens mit dem deutschen Kavalier ein Kind existiere, aber er wisse nicht, welches und wo? und fordert mich auf, es ihm ermitteln und als den rechtmäßigen Erben des Fürsten legitimieren zu helfen, da der Fürst selbst ihm vor seiner Abreise aus Spanien mitgeteilt habe, daß er mit Donna Ximena wirklich getraut, und ich einer der beiden Zeugen gewesen sei!«

»Ist dies wahr?«

»Der Arme! Selbst wenn das Kind – er weiß nicht einmal, ob es ein Knabe oder Mädchen ist – gefunden werden könnte, kann ich ihm wenig Trost bieten. Die Heirat war eine bloße Täuschung!«

»Wie so?«

»Eine Scheinheirat, von mir auf des Fürsten dringendes Bitten und als das einzige Mittel veranstaltet, das Mädchen der Gewalt des Don Corpas und einem Verhaftsbefehl des Königs zu entziehen. Ein Mönch wurde gewonnen und bezahlt, ausdrücklich um nur eine Scheintrauung zu vollziehen. Dennoch interessiere ich mich aus alter Freundschaft für das Kind, und wenn es aufzufinden wäre, würde ich mich seiner gern annehmen. Vielleicht können Sie dazu behilflich sein!«

»Ich?«

»Ja wohl, Graf! Sie haben Verbindungen in Rom und Bologna. Kennen Sie den Rektor des Jesuiten-Kollegiums in Bologna?«

»Monsignore Corpasini?«

»Ganz recht! so ist der Name. Der Zuavenarzt, unser Spanier, schreibt mir, daß dieser Monsignore Corpasini der Sohn jenes Don Corpas, schon damals ein zelotischer Mensch war und über das Kind Auskunft geben könne, aber sie hartnäckig verweigere. Vielleicht haben Sie einigen Einfluß auf ihn und könnten ihn zu einer Mitteilung bewegen.«

»Verschonen Sie mich mit der Angelegenheit,« sagte der Graf frostig. »Der Prälat ist ein Mann von großem Einfluß, der überdies nie von einem gefaßten Beschluß abgeht; es würde gefährlich sein, sich ihn zum Feinde zu machen.«

»Bah! Sie wissen von Alters her, daß ich mich nicht vor den Schwarzröcken fürchte. Aber was bedeutet das Gerüst dort auf der Bastion, es sieht wahrhaftig aus wie ein Galgen!«

»Es ist ein solcher, den Bewohnern von Mantua zur Warnung. Oberst Calvi wurde dort gehenkt.«

»Ich habe davon gehört, er war einer der Verteidiger von Venedig. Der Prozeß hat etwas lange gedauert.«

»Es sind zwei Jahre, daß er in die Hände der Polizei fiel. Er glaubte sich bereits sicher, aber er täuschte sich und fand am 4. Juli den verdienten Lohn.«

»Man sagt, er sei wie ein Mann gestorben!«

»Das ist wahr; man muß auch dem Feinde diese Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich war damals gerade in Mantua anwesend und wohnte der Hinrichtung bei. Er hatte es sich ausgebeten, daß man ihn mit dem Binden verschonen solle und erschien in der Mitte seiner beiden Wächter, im schwarzen Anzug mit schwarzen Handschuhen, so gleichgültig seine Cigarre rauchend, als mache er einen Spaziergang. Ich glaube, man hätte ihn sicher begnadigt, wenn er um sein Leben gebeten hätte.«

»Und er that es nicht?«

»Nein, er starb mit einem Trotz, der einer bessern Sache würdig gewesen wäre. Möge er im Fegefeuer dafür büßen!«

Sein Begleiter zuckte leicht die Achseln und brach das Thema ab. »Um wie viel Uhr wird die Brücke gesperrt?«

»Jeden Abend um 8 Uhr bis des Morgens fünf. Indes werden Sie unter meiner Begleitung auch später Übergang finden.«

»Der Zug nach Verona geht um 5 Uhr 50 Minuten ab.«

»Und Ihr Rendezvous?«

»Diesen Abend 10 Uhr. Aber Sie wissen, daß ich morgen in Venedig sein muß, wie Sie in Modena. Ich habe darum vorgezogen, einen Gasthof in San Giorgio zu wählen. Sie würden mich in der That verbinden, wenn Sie nur zur Passierung der Brücke die Erlaubniskarte verschaffen wollen.«

»Das ist leicht, denn ich kenne den Major vom Platz, und wir können im Vorübergehen die Sache besorgen. Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich selbst ein Geschäft in Mantua habe, und es läßt sich am besten des Abends abthun. Ich begleite Sie in Ihr Hotel, um die Briefe Seiner Majestät in Empfang zu nehmen, und wir kehren dann zusammen zurück. Darf man den Ort Ihres Rendezvous wissen, denn ich wiederhole Ihnen, Vorsicht ist nötig.«

Herr von Neuillat schlug seinen Paletot zurück und zeigte dem Freunde den Griff eines Revolvers. »Die Personen, mit denen ich zu thun habe, sind Spekulanten, aber keine Politiker. Auf alle Fälle bin ich vorbereitet. Hier ist die Adresse. In der zweiten Querstraße des Platzes, den wir eben verlassen haben, in der Nähe der Kirche San Barbara.«

Der General war plötzlich wieder stehen geblieben, während Herr von Neuillat darauf nicht achtend, mit scharfem Blick ein ländliches Paar, Mann und Frau, musterte. Die Landleute hatten bei einer der Hökerinnen verweilt, die auf der Brücke in ihrem fliegenden Laden Südfrüchte und Eiswasser verkaufen, und kamen ihnen jetzt entgegen.

»Die zweite Straße? Das ist merkwürdig, und können Sie mir den Namen des Mannes sagen, zu dem Sie bestellt sind.«

»Er trägt auffallender Weise Ihren eigenen Namen, lieber Graf, ich dachte bisher nicht daran. – Seltsam! dies Gesicht muß ich bereits gesehen haben!«

Die letzten Worte galten dem entgegen Kommenden; Herr von Neuillat betrachtete forschend die Bäuerin, deren Gesicht zum Teil unter dem Kopfputz der Frauen aus der Gegend von Brescia versteckt war. Auch der Mann trug die Kleidung der Landleute am Garda-See und beide gehörten, nach den Rosenkränzen in ihren Händen, dem Agnus Dei auf dem Hut, dem Quersack auf der Schulter des Mannes und dem Korbe der Frau zu den zahlreichen Wallfahrern, die aus allen Gegenden der Lombardei und der Herzogtümer, ja oft von weiter her zusammenkommen, um zu der berühmten Wallfahrtskirche San Maria delle Grazie, 5 Miglien von Mantua entfernt, zu pilgern.

Die Frau errötete, als sie sich so scharf ins Auge gefaßt sah und wandte sich ab, der Mann, ein kühnes, schönes Gesicht, erwiderte keck den Blick.

»Mortara?«

Neuillat sah noch immer hinter den Landleuten drein, die ihren Weg nach der Stadt fortsetzten. »Es ist ein in der Romagna nicht selten vorkommender Name. Der jüdische Juwelier, dem er gehört, stammt aus Bologna.«

»Ganz recht! es giebt eine jüdische Familie dieses Namens,« sagte der Graf nicht ohne Zögern. »Aber wissen Sie, daß ich gerade mit demselben Mann zu thun habe? Das ist seltsam.«

Herr von Neuillat wollte nicht weiter nachfragen, um seinen Gefährten nicht zu verletzen; denn er erinnerte sich des dunklen Gerüchts, daß der General selbst aus einer jüdischen Familie stamme, obschon dieser jede Hindeutung darauf mit Unwillen aufnahm.

Sie traten in das Thor des Forts.


Es war eine traurige düstere Zelle, sechs Schritte lang, vier breit. Das Fenster sieben Fuß hoch vom Boden entfernt ging durch die riesige Dicke der Mauern in schiefer Richtung nach oben, so daß die Öffnung nur ein Stück des blauen Himmels seines geliebten Italiens zeigte!

Dieser Strahl des Lichts war aber gebrochen und vermindert durch jene schreckliche Vorsicht der Gewalt, welche die eilenden Wolken, die freien Segler der Lüfte nur zeigt, um die Verzweiflung des Gefangenen zu erhören.

Der Haß und die Vorsicht hatte sich nicht mit dem gewöhnlichen Gitter begnügt. Die Höhlung des Fensters zeigte anderthalb Fuß von einander, zwei Reihen von ungeheuren einander kreuzenden Eisenstäben in die Mauer eingebleit, und das Luftende des Fensters war überdies noch mit einem Drahtgitter verschlossen.

Die kleine Zelle war sehr einfach möbliert, eine an die Wand geschmiedete Bettstelle mit Strohsack, Bett und Kissen, aber gut und reinlich mit genügendem Leinenzeug, ein Tisch und hölzerner Stuhl und ein Koffer in der Ecke, dessen Schloß abgeschlagen war, und der Wäsche und Kleidungsstücke des Gefangenen enthielt.

Aber auf dem Tisch befanden sich Schreibmaterialien und mehrere Bücher, darunter Shakespeare und Rousseaus Heloise, eine große Weinflasche und zwei Gläser.

Mit Ausnahme jeder Beschränkung der Freiheit war demnach die Behandlung keine schlechte.

Der Wächter hatte eben dem Gefangenen sein Abendbrod gebracht, aus Weißbrot, Salami, dem Wein und einem Teller mit schönen großen Orangen bestehend. Der Gefangene saß an dem Tisch, mit dem Verzehren des Brotes beschäftigt, der Gefangenenwärter auf dem Bett, mit ihm plaudernd.

Der Gefangene war ein Mann von etwa 36 Jahren, mittlerer Gestalt und festem, kühnen, aber dennoch etwas träumerischen Gesichtsausdruck.

Der Bewohner der Zelle war Felix Orsini. In diesem Augenblick hätte wohl niemand, der ihn nicht näher kannte, bei dem muntern sorglosen Ausdruck des Gesichts, bei dem Eifer, den er auf seine Mahlzeit verwandte, den kühnen Verschwörer, den Mann, der jeden Morgen die Verkündigung seines Todesurteils zu erwarten hatte, geahnt.

»Warum trinken Sie nicht, Signor Tirelli?« sagte der Gefangene.

» Corpo di bacco! was würde dieses deutsche Vieh von Oberaufseher sagen, den man uns von Wien geschickt an Stelle des braven Casatti, wenn er glaubte, ich hätte zu viel getrunken. Und der Wein ist stark, Signor Orsini, bester Este, wie Sie ihn lieben, ich habe ihn selbst geholt.«

»Er sollte noch besser sein für meine wackern Freunde, die mir so menschenfreundliche Teilnahme erweisen, ohne einen Buchstaben von ihrer Pflicht zu weichen, wenn jene Leute, die sich meine Verwandten und Freunde da draußen nannten, besser ihre Pflicht gethan.«

» Si, si, Signore, es ist schändlich, daß man Ihnen die 6000 Lire nicht geschickt hat, die Sie schon vor dem Weihnachtsfest verlangten. Einen so braven Mann wie Sie, der dem Tod ein Schnippchen schlägt und allein seine Wächter und seine Richter liebt – es ist eine Schande und Sünde!«

»Sie hätten dann Montesfiascone mit mir trinken sollen, statt des Landweins,« meinte der Gefangene, indem er sich selbst einschenkte. »Aber Sie trinken nicht, Signor Tirelli!«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, Signor Orsini, daß dieser Deutsche den Teufel im Nacken hat. Wenn uns das passierte, was damals geschah – erinnern Sie sich, als Sie noch in der Stube der Aufseher mit uns verkehren durften, und wir manchmal ein unschuldiges Gelag hatten. Ich weiß noch heut' nicht, wie es kam, daß uns der Wein so zu Kopfe stieg, wir waren wie die Bleiklumpen, nur der Österreicher hielt sich tapfer. Wie leicht hätten Sie uns damals entlaufen können, aber Sie sind ein gentiluomo, Sie machen sich nichts aus dem bißchen Sterben und bringen Ihre Freunde nicht in Verlegenheit!«

»Ei zum Teufel, ich werde Ihnen doch noch einmal unter den Händen entwischen!«

Der Aufseher lachte aus vollem Halse und trank ein großes Glas Wein. »Sie spaßen, Signor, Sie spaßen? Sie sind nicht, wie dieser alberne Redaelli, Ein Gefangener, der einige Monate vorher einen verunglückten Fluchtversuch gemacht hatte. der den thörichten Fluchtversuch machte und dafür in die Gefängnisse unter dem Turm kam. Bei San Onofrio, er hat uns der Schererei genug gemacht, denn seinetwegen verloren wir unsern braven Casatti und bekamen diesen Deutschen, der uns zwingt, die Zellen bei jedem Besuch zu visitieren und stets zwei Mann auf dem Korridor anwesend zu sein.«

»Aber Sie untersuchen ja nie mein Gitter, Signor Tirelli,« sagte der Gefangene, »und doch thaten Sie es, als ich noch in Nr. 3 war.«

»Damals kannten wir uns noch nicht so gut. Solche Vorsichtsmaßregeln gebrauchen wir nur bei Leuten, wie Barraba; bei einem Mann wie Sie, wäre es schlecht, sehr schlecht! Überdies, betrachten Sie einmal diese Stäbe, Sie müßten mehr Kräfte haben als der Riese Goliath, wenn Sie auch nur einen zum Wackeln bringen wollten! Außerdem fürchten Sie den Tod nicht!«

Er war aufgestanden und stellte sich zufrieden lachend vor das Fenster, um die starken Gitter zu betrachten.

Ein nervöses Zittern durchflog den Körper des Gefangenen, sein Gesicht wurde einen Augenblick totenbleich. Im nächsten aber hatte er sich gefaßt, und die Gelegenheit benutzend, daß der Aufseher ihm den Rücken zukehrte, hielt er die Hand über das Glas desselben und drückte sie leicht zusammen.

Ein scharfes Auge hätte einige Tropfen in den Wein fallen sehen können.

Eben so schnell war die Hand zurückgezogen. Der Gefangene war so gleichgültig, wie vorher, als jener sich zu ihm kehrte, er preßte mit Gewalt den tiefen Atemzug zurück, der seine Brust erleichtern wollte.

»Durch diese Gitter mag es freilich nicht möglich sein,« sagte er, »überdies müßte man ja ertrinken, denn wenn ich mich recht erinnere, sagten Sie mir einmal, Signor Tirelli, daß die Mauer des Turms auf das Wasser des Grabens stößt!«

»O, das hätte keine Gefahr, das Märzwasser des Grabens ist bereits wieder getrocknet!«

»Nun dann steht zur Sicherung wahrscheinlich eine Schildwach' jetzt dort!«

» Corpo di bacco, Signor Orsini, was denken Sie, Feldmarschallleutnant Celoz verschwendet seine Soldaten nicht. Bedenken Sie doch, Ihr Fenster ist volle 104 Fuß über dem Boden, ein Vogel könnte den Hals brechen!«

»Dann bleibt also nichts übrig,« sagte lachend der Gefangene, indem er mit dem Aufseher anstieß, »als daß ich durch den Korridor entfliehe, oder mich hängen lasse!«

»Lassen Sie sich hängen, Signor, lassen Sie sich hängen. Es soll eine ganz angenehme Empfindung sein, bei Männern und Weibern. Komisch das, aber es ist so! Sie wissen am besten, daß Sie nicht aus dem Korridor kommen könnten, denn die Thüren zum Turm sind verschlossen und acht Soldaten haben die Posten. Aber warum kosten Sie diese Orangen nicht, Signore, sie sind vortrefflich und Sie lieben die Frucht so sehr!«

»Ich habe keinen Appetit und werde sie nachher essen. Sind sie von Ihrer alten Lieferantin?«

»Von der Mutter Anna auf der Brücke? Gewiß! Sie wissen, daß ich keine andern kaufe, sie hat stets die frischesten und besten und dazu einen trefflichen Schluck echten Rosoglio. O die Mutter Anna ist eine große Verehrerin von Ihnen, gerade wie ich, ich muß ihr jedesmal von Ihnen erzählen und habe ihr ausdrücklich versprechen müssen, wenn Sie gehenkt werden sollten, ihr einen guten Platz zu verschaffen!«

»Die alte Hexe!«

»Oh caro mio! wie falsch Sie da gleich wieder denken! Die buona vecchiavella ist gar nicht so alt, vor acht Jahren diente sie noch, wie sie mir erzählt hat, als Amme bei einem Juden in Bologna, und hat einem verdammten Judenkinde ihre Brust gegeben. Heilige Jungfrau der Gnaden! daß so etwas erlaubt ist! die Mutter Anna macht sich auch Millionen Vorwürfe darüber, denn sie ist eine sehr fromme Frau, und wandert alle Woche hinaus zur heiligen Madonna della grazie um Vergebung der Sünden! Aber machen Sie es, wie Sie wollen, Signor, wenn Ihnen die Orangen nur schmecken!«

»Ich danke Ihnen, Signor Tirelli. Ich werde mich zeitig niederlegen, denn ich will morgen bei guter Zeit wach sein, um nach Zürich zu schreiben. Man muß mir noch einmal Geld schicken!«

»Ah, ich verstehe! An die Signora Emma? Ich wette hundert Lire gegen Ihre Apfelsine dort, daß Ihre kleine inamorata Sie nicht im Stich lassen wird.«

»Das glaube ich auch! aber ich versichere Sie nochmals, die Signora Herwegh ist nicht meine Geliebte, sondern eine Freundin, eine verheiratete Frau.«

»Bah! als ob das was schadete! Dann lieben die Weiber erst recht! Und corpo di bacco, man schreibt an eine Freundin nicht so lange Briefe wie die Ihren. Aber was geht's mich an, die hohe Justiz und Se. Excellenz haben Ihnen das Vergnügen erlaubt! Gute Nacht, Signor Orsini! Ich freue mich, daß ich heute nicht nötig habe, die Nacht wieder im Korridor zu wachen, es ist meines Kameraden Volturni Sache, denn Ihr Weinchen hat mich etwas müde gemacht. Auf Wiedersehen, morgen früh um 6 Uhr.«

»Auf Wiedersehen, Signor Tirelli!«

Der Aufseher hatte den Tisch abgeräumt und alles in seinen Korb gelegt, nur die Orangen blieben stehen. Er schloß die Thür auf, nickte dem Gefangenen zu und entfernte sich. Man hörte, wie von außen sich die schweren Riegel vor die massive Pforte legten.

Die Thür war kaum in das Schloß gefallen, als das ganze Wesen des Gefangenen sich wie mit einem Zauberschlage änderte. Die gleichgültige Miene, das sorglose unbekümmerte Wesen war verschwunden, seine dunklen Augen schleuderten einen Blitz des energischen Hasses hinter dem Manne drein und mit dem Sprung eines Tigers war er an der Thür und legte sein Ohr lauschend daran.

Das Ergebnis schien befriedigend, denn er richtete sich mit einer Miene des bewußte Triumphes empor und ging dann zum Tisch. Er nahm die Orangen auf und betrachtete sie sorgfältig.

»Ha! diese ist es! ich habe mich nicht getäuscht, Anna Morisi, meine brave Milchschwester und die Freunde vergessen mich nicht!« Er brach hastig die Orange auf. Zwei feine, zusammengerollte Uhrfedern zu einer scharfen Säge gezahnt, sprangen elastisch in ihre Form zurück, als er sie aus der Schale löste. Ein zwischen Gummiblättern sorgfältig vor der Feuchtigkeit des Saftes geschütztes Blättchen Papier kam weiter zum Vorschein.

Er befreite es sofort von der Hülle und drückte es an die Lippen. Als er es öffnete, fiel eine Banknote von hundert Gulden heraus. Der Gefangene achtete ihrer kaum, sondern eilte, bei dem Licht des Fensters die feinen Schriftzüge zu lesen.

Das Billet war in einer Art von stenographischer Zifferschrift, die aber dem Verschwörer sehr geläufig schien, denn er überflog hastig die Zeilen. Sie lauteten:

 

»Teurer Freund! Ich sende Ihnen diese Worte aus Ihrer unmittelbaren Nähe, denn ich bin seit heute in Mantua und werde einige Tage hier verweilen. Ich konnte es nicht länger aushalten, und mußte mich überzeugen, ob Ihnen denn keine wirksamere Hilfe zu bringen ist, als die wenige, die wir Ihnen bisher leisten konnten. So benutzte ich die Gelegenheit, daß Nicolas Nicolas Fabricci, der Agent Mazzinis in Malta. in Zürich war, um mit M. sich zu besprechen, um ihn auf seine Rückkehr zu begleiten und C. selbst zu sprechen. Er erklärt es für unmöglich, etwas für Sie zu thun, bevor es Ihnen nicht gelungen, sich selbst zu befreien. Die Aufsicht und die Kontrolle sind zu streng und wir müssen froh sein, Ihnen durch die Treue Ihrer Milchschwester die wenigen Mittel in dieser Form zukommen zu lassen. Der Umweg mit den Nachrichten, die Sie uns mittels der chemischen Dinte in Ihren Briefen nach Zürich geben, ist allerdings ein großer Zeitverlust, aber es läßt sich nicht ändern und wir müssen froh sein, daß die Tyrannen so blind gewesen, Ihnen diese Korrespondenz zu erlauben. Dies ist alles, was ich Ihnen schicken kann. Ihr Verstand und Ihre Energie werden das andere schaffen. Vergessen Sie nicht den Juwelier Mortara, wenn es Ihnen gelingt. Er ist zuverlässig und verschwiegen, obschon er nicht zu den unsern gehört. M. läßt Ihnen sagen, es genüge ihm, daß Sie Ihres Eides eingedenk seien und ihn halten würden. P… Pierri. ist bei ihm. Es sei Zeit, er bedürfe Ihrer. Denn man verhandelt in diesem Augenblick über Italiens Freiheit in Paris. B. hat eine neue Erfindung gemacht, aber man sagt mir nicht, welche und wozu. Die Vorsehung Italiens nehme Sie in Ihren Schutz.

Come un colpe di canone.« Aus Rossinis »Colunnia«. Melodie und Worte waren ein Erkennungszeichen aus der Zeit, in der Orsini in Zürich bei Herwegh verkehrte.

 

Der Gefangene las zweimal mit der größten Aufmerksamkeit das Billet, während sich seine Stirn furchte.

»Ich bin bereit, mein Leben zu opfern,« murmelte er, »und sie hatten nicht einmal diese sechstausend Gulden für mich. Sie hätten damals genügt, um die Wächter zu bestechen und mich zu befreien. Aber es ist gleich, ich bin auf meine eigene Kraft verwiesen, und es muß geschehen, noch heute, noch diese Nacht, damit ich sie noch in Mantua treffe. Sie ist klug und gewandt und wird Mittel finden, mich zu verbergen und meine Flucht zu sichern, wenn ich erst heraus bin. O dieser abscheuliche Schmerz!«

Er fuhr mit der Hand an den Fuß, dessen Knöchel dick geschwollen war. Aber in der nächster Minute schon hatte er mit der schrecklichen Energie, die ihm eigen war, den Schmerz unterdrückt und trug seinen Stuhl unter das Fenster, nachdem er mit Vergnügen die beiden Federsägen betrachtet hatte.

Dann horchte er nochmals nach der Thür und stieg auf die Lehne des Stuhls.

In dieser unbequemen Stellung, das eine Ohr fortwährend nach der Thür gewandt, während draußen die Luft von dem Glockengeläut der zahlreichen Türme der Stadt zum Abendsegen erfüllt war, begann er seine geheimnisvolle Arbeit.

Signor Tirelli würde sicher gewaltig erstaunt gewesen sein, wenn er gesehen hätte, daß die kolossalen Eisenstäbe, welchen er so sehr vertraut, nichts weniger als fest waren.

Der Gefangene entfernte mit leichter Mühe vier der innern Eisenstangen und mehrere Ziegelsteine, die ihn hinderten, bis zu dem zweiten Gitter zu gelangen. Er legte sie sorgfältig auf den Fensterbogen, um sie, wenn es Not that, rasch wieder mit dem Kitt aus kohlengeschwärztem Wachs an ihre Stelle befestigen zu können.

Hierauf begann er, von dem Läuten der Glocken geschützt, deren Hall der starke, sich zum Sturm gestaltende, Märzwind herübertrug, mit der neuen Säge eine der äußeren Gitterstangen zu durchschneiden.

Schon gleich nach seiner Ankunft in den Gefängnissen Das folgende nach Orsinis eigenen Mitteilungen. von San Giorgio, als er die Zelle Nr. 2 bewohnte, hatte er sich mit seinen Nachbarn durch die in den Kerkern übliche Signalsprache des Klopfens in Verbindung gesetzt. Oberst Calvi, sein Freund und Schicksalsgenosse, war sein Nachbar in Nr. 2 (das Stockwerk des Turms mit einem abgeschlossenen Korridor enthält nur die Zellen Nr. 2, 3 und 4), und er erfuhr erst im August dessen tragisches Ende.

Seine Verhöre hatten sofort begonnen, und er hatte während seiner Haft deren wohl 30 zu bestehen. Die Richter, der Präsident Sanchez an ihrer Spitze, behandelten ihn nicht unfreundlich, aber die Indizien gegen ihn waren zu seinem Schrecken so überführend, daß über den Ausgang seines Prozesses kein Zweifel sein konnte, obschon er bei starrem Leugnen blieb, und behauptete, er sei bei seiner Verhaftung auf dem Wege zur Krim begriffen gewesen, um sich dem Belagerungsheer anzuschließen. Man hatte in der That durch Bideschinis Verräterei bei dem Revolutionskomitee in Mailand die von ihm bei seiner Durchreise im Oktober 1854 niedergeschriebenen Instruktionen Mazzinis in Beschlag genommen und viele andere überführende Beweise erhalten. Er fühlte, daß er wie Calvi enden würde, wenn er nicht fliehen könne, und er beschloß, zu fliehen.

Das erste, was er that, war, sich von der Lage seiner Zelle zu überzeugen. Er drehte seine Betttücher und das Handtuch zusammen, machte ein Seil daraus, band eine Trinkschale an das Ende, erstieg die Fensterbrüstung und ließ das Seil hinab, um die Höhe zu messen. Als er seine Sonde zurückzog, fand er Wasser in der Schale, was auf das Dasein eines Wassergrabens am Fuß der Mauer schließen ließ.

So niederschlagend diese Erfahrung war, da er nicht schwimmen konnte, so wenig schreckte sie ihn ab.

Man hatte ihn zuerst mit großer Milde behandelt, man erlaubte ihm zu singen, zu pfeifen, zu lesen und zu schreiben und gestattete ihm Bücher aus der Bibliothek des Ober-Aufsehers. Im August 1855 erhielt er auf seine Bitten die Erlaubnis, an eine Freundin zu schreiben und zwar an die Gattin des bekannten Dichters Herwegh, dessen Heroismus bei der schmählichen Flucht nach dem Arbeiter-Einfall in Baden unter ihrem Unterrock und dem Kutschleder Schutz vor den württembergschen Truppen suchte.

Diese Korrespondenz wurde bis zu seiner Flucht fortgeführt und besorgte trotz der strengen Kontrolle der Behörden, die Vermittelung seiner Flucht.

Der Gefangene ging planmäßig und methodisch zu Werke. Von der Gefängnisdiät geschwächt, mußte es seine erste Sorge sein, zu Kräften zu kommen. Dazu verhalfen ihm fleißige gymnastische Übungen und ein vortrefflicher Wein. Das Geld, das er offen und geheim von Zürich und seinen Freunden erhielt, gewährte ihm wenigstens die Mittel dazu, obschon sein geheimes Verlangen nach einer größeren Summe, 6000 Franken, mit der er die Aufseher damals zu bestechen hoffte, zu seinem Verdruß nicht erfüllt wurde. Dabei benahm er sich, um seinen Plan zu verbergen, nach wie vor gefügig und ergeben. »Ich trinke,« sagte er zu seinen Wächtern, »um die letzten Tage, die mir noch vergönnt sind, zu erheitern. Leisten Sie mir Gesellschaft, und helfen Sie mir, mein nahes Ende zu vergessen.«

Die Wärter ließen sich natürlich nicht zweimal bitten, eine so selten gebotene Spende anzunehmen, denn gewöhnlich trinken die Gefangenen, die mit ihrem Gelde sparsam sind, ihren Wein allein. So verging ein Viertelstündchen, oft mehr; und das war für Orsini keine verlorene Zeit. »Wie viel Schildwachen stehen wohl hier?« fragte der freigebige Wirt nachlässig. War es möglich, einem so braven Manne nicht zu antworten? Schwieg der eine Wärter, der weniger angetrunken und überlegter war, als die anderen: Orsini hatte sichere Mittel, ihm die Zunge zu lösen. »Bevor ich zum Richtplatz gehe,« sagte er, »werde ich meinen letzten Willen erklären und Ihnen meine Kleider vermachen!« Damit war der Eigennutz des Wärters gewonnen. »Welch' ein Mann! nie eine Klage über sein Schicksal! keine Anwandlung von Trauer oder übler Laune!« und dem Verschwörer war es ein Leichtes, beim Becher seinem Bewunderer alles zu entlocken, was er zu wissen wünschte: die Lage des Sees und der Sümpfe, die Mantua umgeben, der Brücken und Thore; die Stunde, um welche die einen aufgezogen, die andern geschlossen werden, von 8 Uhr abends bis 5 Uhr morgens; die Stellung der Posten u. s. w. Orsini hätte, wie er anfangs beabsichtigte, einen Bestechungsversuch machen können, seine Wärter würden es nicht für Ernst gehalten haben. Er verlangte zu diesem Zweck auch in der geheimen Korrespondenz, die zwischen den Zeilen mit unsichtbarer Dinte von ihm geführt wurde, jene 6000 Franken von dem Revolutionskomitee und seinen Freunden, aber es war damals die Zeit, in welche diese durch das Bündnis Frankreichs mit Piemont billiger zur Erreichung ihrer Zwecke zu kommen hofften, und wo sie als den geheimen Preis des sardinischen Hilfskorps in der Krim die Preisgebung Roms und die Unterstützung einer Revolution in der Lombardei nicht als Unrecht ansahen. Man begnügte sich daher, ihm kleinere Geldunterstützungen und das verlangte Opium und Morphin zukommen zu lassen. Die geschah in kleinen Gummisäckchen, die in verschiedenen unbedeutenden und der Aufsicht sich entziehenden Formen, namentlich in Gegenständen für den Unterhalt des Gefangenen diesem zugeschmuggelt wurden. Auf diese Weise kam er auch in Besitz zweier seiner Sägen vom feinsten Stahl.

In ihren Berichten an den Präsidenten des Gerichtshofes flossen die Aufseher von seinem Lobe über. Aber der überschwenglich gute Geruch, wozu namentlich der damalige Oberaufseher Casatti viel beigetragen, hätte Nr. 3 – er bewohnte damals diese Zelle – bald um die Früchte seiner bisherigen Mühen und Anstrengungen gebracht. Wahrscheinlich, um sich ihm angenehm zu erweisen, ließ man ihn mit anderen Gefangenen eine gemeinsame Zelle beziehen. Er mußte sich fügen und einstweilen seinen Fluchtträumen Adieu sagen. Vier Monate lang lag er den Behörden in den Ohren, ihm eine Zelle allein zu gewähren, und um dem ungewöhnlichen Verlangen das Verdächtigende zu benehmen, begründete er es mit dem Vorgeben, er arbeite an der Vollendung eines angefangenen historischen Werkes, was ihm Ruhe und Einsamkeit wünschenswert mache.

Man gewährte endlich sein Gesuch, aber er hatte sich in seinen Berechnungen getäuscht, denn man wies ihm aus übermäßiger Vorsicht eine der furchtbarsten und sichersten Zellen im obern Korridor eines der Türme an. Die Thür des Korridors, auf welchen nur drei Zellen hinausliefen und an dessen anderer Seite sich das Zimmer der Aufseher befand, war stets verschlossen. An der Thür stand ein Militärposten, acht Soldaten hatten die Wachen im Turm und wurden alle 24 Stunden abgelöst. Ebenso die drei Aufseher, welche in diesem Teil des Gefängnisses den Dienst hatten, und von denen stets zwei sich in dem Korridor oder ihrem Zimmer befanden. Die Schlüssel des Turmes wurden alle Abend dem Oberaufseher überbracht. Um 6, 8, 10, 12, 2, 4 und 6 Uhr während des Tages, um ½10 und um ½2 Uhr bei der Nacht betraten die Aufseher die Zelle, um sie zu untersuchen. Aber das Benehmen des Gefangenen hatte bereits seine Wirkung gethan. Statt eine genaue Untersuchung zu halten, begnügten sie sich, mit dem Gefangenen zu plaudern. Um sich dessen zu vergewissern, richtete er wiederholt die Frage an seine Wächter: »Warum untersuchen Sie niemals die Gitter in meiner Zelle? Und doch haben Sie es nie unterlassen, als ich noch in Nr. 3 war?« – » Cospetto! damals kannten wir uns noch nicht so gut, Signor Orsini!«

»Sehr schön; allein Sie wissen, daß mein Los entschieden ist, wäre es also nicht klug, mich strenger zu überwachen, um eine mögliche Flucht zu verhindern?« »Pah, Signor Orsini ist ein Mann, der den Tod nicht fürchtet!« und sie tranken mit ihm seinen Wein und ließen die Gitter Gitter sein, selbst als infolge des ungeschickten Fluchtversuchs Redaellis ein neuer Obergefangenwärter von Wien eintraf und die Gefängnisordnung und Aufsicht noch verschärft wurde. Der Gefangene hatte damals bereits begonnen, die Eisenstäbe zu durchsägen und zitterte vor jeder Untersuchung. Die Wärter versicherten ihn aber, sie könnten ihm eine solche Kränkung nicht anthun und lachten ihm ins Gesicht, als er ihnen sagte, er werde ihnen unter den Händen entwischen.

Kurze Zeit vorher, am 20. Januar, hatte er wirklich einen Fluchtversuch gemacht, indem er seinen ersten Plan ausführte. Er nahm die Gelegenheit wahr, als sie ihn in ihr eigenes Zimmer geholt, um mit ihnen zu trinken, und goß eine starke Dosis Opium in den Wein.

Auf zwei der Wächter übte das Narkotikum seine volle Wirkung, sie wurden zuerst bis zur Raserei aufgeregt und dann so betäubt, daß sie sich nicht zu regen vermochten. Orsini selbst gesteht, daß er dann beabsichtigt habe, sich der Schlüssel zu bemächtigen, die Kerker der andern Gefangenen zu öffnen und mit diesen gewaltsam sich den Weg zur Flucht zu bahnen.

Aber der dritte Aufseher, ein Deutscher, von großer Körperstärke, schien, obschon er vollkommen sein Teil getrunken hatte, nicht die geringsten Folgen zu verspüren und schloß den Gefangenen, als er seine Kameraden sinnlos betäubt sah, in seinen Kerker ein.

Die Pflichtvergessenen selbst schoben den Zustand auf die Wirkung des Weines, und Orsini hatte durch sein vorsichtiges Benehmen nur neues Vertrauen gewonnen.

Jetzt faßte er den Entschluß, seinen Ausbruch allein zu versuchen. Ehe er mit den beiden Sägen, die er sich verschafft, ans Werk ging, befragte er den Präsidenten des Untersuchungsgerichts über den Ausgang seines Prozesses. Dieser sagte ihm offen, daß er ihm keine trügerische Hoffnung machen wolle, die Entscheidung hinge von Wien ab; in keinem Fall aber werde sie vor drei Monaten erfolgen.

Dies war es, was der Gefangene wissen wollte, und mit einer Seelenstärke und Ausdauer, die in Wahrheit Bewunderung erregen muß, begann er sein Riesenwerk.

In 24 Tagen hatte er sieben der kolossalen Eisenstangen des innern Gitters durchsägt, und acht Ziegelsteine, die sie hielten, aus der Mauer gelöst. Bei dem Durchsägen der Eisenstange des äußeren Gitters, deren Lösung unbedingt nötig war, um durchschlüpfen zu können, war auch die zweite Säge gebrochen!

Er mußte warten!

Die Arbeit war eine furchtbare gewesen. Bei der Höhe des Fensters über dem Boden seiner Zelle konnte sie nur ausgeführt werden, indem er sich auf die Lehne seines Stuhles stellte. Mit den Ellenbogen stützte er sich abwechselnd gegen die Mauern der Blendung, um sich halten zu können, die Muskeln erschlafften, die Glieder versagten schmerzend den Dienst, aber nur wenig Momente der Ruhe, und er arbeitete mit übermenschlicher Energie weiter.

Anfangs arbeitete er nur bei Tage, weil jedes Geräusch in der Nacht ihn sogleich verraten hätte. Während des Tages verdeckte das fortwährende Geläut der Glocken dieses Geräusch, aber derselbe Umstand brachte auch die Gefahr, daß er die Tritte der nahenden Wärter nicht hören und, da das Fenster der Thür gegenüber gelegen war, bevor er vom Stuhle gesprungen wäre, überrascht werden konnte.

Um dieser Gefahr zu begegnen, hatte er die Geduld gehabt, Tage lang, das Ohr an die Thür gedrückt, zu lauschen, um sich an das leiseste Geräusch, das aus dem Gange kam, zu gewöhnen. Als dies geschehen, hielt er sich wieder eine Reihe von Tagen in aufmerksamer Stellung am Fenster, das rechte Ohr gegen das Gitter, das linke gegen die Thür gerichtet, um Glockengeläut und Geräusch im Innern zugleich zu beobachten, und durch diese Übungen schärfte er sein Gehör bis zu dem Grade, daß er am Fenster trotz des Glockengetöses jeden Schritt, fast jeden Atemzug eines Nahenden im Korridor vernahm.

Erst dann machte er sich an jene Arbeit.

Die stürmischen Nächte des Februar und März hatten ihm zwar vergönnt, auch während der Dunkelheit an dem Fenster zu arbeiten, ohne Gefahr, von den Schildwachen gehört zu werden, aber sie brachten andere gewichtige Hindernisse für die Ausführung der Flucht. Sie hatten den Graben, in welchen der Fuß des Turmes tauchte, mit Wasser gefüllt, und das geringste Geräusch, das er darin beim Falle verursacht hätte, würde ihn verraten haben, selbst wenn er hätte schwimmen können. Schon der Umstand, daß er in durchnäßten Kleidern auf der Brücke erschienen wäre, hätte den Verdacht der aufgestellten Wache erweckt.

Er mußte also die Austrocknung des Grabens abwarten und zugleich, daß das schöne Wetter mit dem Mondviertel zusammen falle, damit der Abstich der weiten Strickleiter von der schwarzen Gefängnismauer in der dunklen Nacht nicht bemerkt würde. Das Schwierigste blieb natürlich, sich die Mittel zu einem solchen Seil oder einer Strickleiter zu verschaffen, denn hierin konnten ihm die Freunde nicht beistehen.

Aber seine Schlauheit und das Glück halfen ihm auch hier.

Die Bettlaken und Handtücher, die man den Gefangenen überläßt, reichten natürlich nicht aus, um ein Seil von 104 Fuß Länge zu drehen, – so hoch lag die Zelle Nr. 4 über der Grabenfläche – und es hätte mindestens das doppelte Material dazu gehört. Aber wie sich mehr verschaffen, ohne Verdacht zu erregen?

Die Bettwäsche der Gefangenen wurde alle Monate gewechselt. Am ersten Februar, als dies geschah, machte der Gefangene einen Versuch. Als der Schließer eintritt mit der reinen Wäsche und bittet um die schmutzige, findet er Orsini eifrig mit Schreiben beschäftigt. »Lassen Sie mich gefälligst diese Seite herunterschreiben, und legen Sie Ihr Paket indes ab, ich werde sie nachher wechseln!«

Das blinde Vertrauen des Wärters erlaubt ihm keinen Einspruch, er legt die Wäsche auf das Lager und entfernt sich, der Gefangene hat nicht eiligeres zu thun, als die Wäsche zu wechseln und die schmutzige zu verbergen. Bei der nächsten Runde erscheint der zweite Schließer, der den ersten unterdes abgelöst hat, und erkundigt sich, ob die Wäsche gewechselt sei. »Sie sehen es ja!« antwortet Orsini, und von der Herausgabe der unreinen zwei Bettlaken ist keine Rede.

In ähnlicher Weise gewinnt er am 1. März das Handtuch.

Aber ein unvorhergesehener Unfall hätte beinahe alle diese schlauen und kühnen Vorbereitungen unnütz gemacht.

Eines Morgens mußte er bei der Annäherung eines Aufsehers so rasch vom Stuhle springen, daß er sich den Fuß schwer verrenkte. Der Schmerz war oft gräßlich, aber das wäre das wenigste gewesen, schlimmer war die Verzögerung, welche die Heilung herbeiführen mußte.

Und er hatte keine Zeit zu verlieren, er mußte fort! der Versuch mußte gemacht werden, so befahl ihm die Botschaft, die er erhalten.


Sebastopol war am 8. September 1855 gefallen, mehr durch die Künste des schändlichen Verrats, der über Berlin seinen Weg genommen, als durch die zwölfmonatliche Belagerung, an demselben Tage, an dem 24 Jahre vorher Warschau von Paskewitsch wieder genommen wurde.

Zwar war es nicht Sebastopol, sondern nur die so heldenmütig und so geschickt verteidigte Südseite mit dem Bollwerk des Malakoff, und was die Alliierten eroberten, war nichts, als ein Trümmerhaufen, aber England fühlte zu sehr seine Ohnmacht, der französischen Glorie und Revanche war genug geschehen – Kaiser Nicolaus lebte ja nicht mehr! – und die »Börsen«, diese neue Großmacht der civilisierten Welt brauchten eine Hausse.

In Indien grollten bereits die ersten Anzeichen des heranziehenden blutigen Sturms; die Mächte fühlten sehr wohl, daß ihre decimierten Armeen, die unbezwungenen Forts der Nordseite im Rücken, nicht über die Landenge von Perescop den Krieg in das wirkliche Rußland zu tragen und noch einen Winter zu überdauern vermöchten, und die prahlerischen allmächtigen Flotten in der Ostsee hatten sich vor den Riesenwerken von Kronstadt blamiert, und nichts vermocht, als das kleine Bomarsund zum besten der Zeitungsberichte zu zerstören und Weiber zum nächtlichen Bedarf der Matrosen von den Inseln des botnischen und finnischen Meerbusens zu stehlen.

Sardinien hatte das größte Interesse am Frieden, um den Preis seines hessischen Truppenverkaufs an Frankreich und England in Italien mit Hilfe der Revolution einkassieren zu können, ehe dieses verschacherte Korps aufgerieben war. Amerika rüstete sich überdies, Rußland beizustehen und Österreich hatte seinen Zweck, den Dank für die Wiedereroberung Ungarns durch die Befestigung seiner Macht an der Donau zu paralysieren, vollkommen erreicht. Die Wunden von Achtundvierzig und Neunundvierzig begannen zu vernarben, und es galt jetzt, seine Südgrenzen zu sichern, denn es hätte blind sein müssen, um nicht das Spiel des Kabinetts von Turin zu sehen.

Was den »kranken Mann« betrifft, so ließ man den Kadaver, mit dem man experimentiert, in demselben Zustand zurück, wie man ihn gefunden, man hatte ihm nur einiges Opium eingegeben, um sein Leben und sein Leiden zu verlängern.

Kurz, die Friedenskonferenzen in Paris hatten begonnen, man beriet das Schicksal Europas am grünen Tisch der Tuilerieen unter dem Diktat des französischen Kaisers, Paris jubelte der Taufe des kaiserlichen Prinzen entgegen, dessen Geburt den alten König Jerome aufs Krankenlager geworfen und Prinz Plonpon wieder einmal in die Arme der Mazzinisten getrieben hatte, und der Waffenstillstand bis zum 31. März war geschlossen worden. Sollte man bis dahin mit dem Frieden Europas nicht fertig werden, so war man bereit, ihn bis zum 15. April zu verlängern.

Aber einen Faktor hatten die Kabinette allzusehr außer Augen gelassen: die Revolution! Selbst ihr Sohn, der jetzt allmächtige und kluge Kaiser von Frankreich wiegte sich in dem Wahn, daß seine Politik sie jetzt beherrschen und sie nur für seine Zwecke brauchen und anrufen könne, wann und wo er es an der Zeit hielte.

Aber die Revolution war nicht zufrieden mit dieser Rolle, sie hatte nur gewartet, nicht geschlafen, und bereitete unterdes der Politik Cavours ihre Bahn.

Als diese ihre Erwartungen von den Konferenzen in Paris getäuscht und die »Italienische Frage« so gänzlich zurückgeschoben sah, daß ihr Leiter nicht einmal wagte, die Zurückziehung der französischen Truppen aus Rom und der österreichischen Besatzungen aus den Herzogtümern und der Romagna zur Sprache zu bringen, oder die mit dem Mord des Herzogs Carl III. am 26. März 1854 vorbereitete Bereinigung Parmas mit Sardinien zu verlangen, wurde die blutige Losung gegeben und der Dolch aufs neue entfesselt.

Der Augenblick war da, wo man Männer wie Orsini zu furchtbaren Thaten bedurfte!

Die entsetzliche Politik Mazzini-Cavour war zunächst dahin gegangen, die herzogliche Regierung in Parma unmöglich zu machen und zwischen Österreich und Piemont über die Occupation des Herzogtums unauflösliche Konflikte herbeizuführen; denn mit dem Erlöschen der Bourbonen in Parma sollten die Lande mit Piacenza und Guastalla an das Haus Savoyen fallen. Die Meuchelmörder erklärten frech, daß alle, die das Todesurteil gegen die Urheber des Aufstandes vom 22. Juli 1854 gefällt, der Rache der Brüder des Dolches verfallen wären, ja, man hatte trotz der österreichischen Besatzung die Kühnheit gehabt, den Opfern ihren Tod zwei Tage vorher schriftlich anzukündigen.

Dem Herzog folgte als nächstes Opfer der Mönch Girolamino, diesem der Militär-Kommandant Lanazi, beide gleichfalls erdolcht. Der Oberst Antriti entging dem Meuchelmörder nur, weil der Schuß fehl ging; der Instruktionsrichter Gabbi verdankte seine Heilung und Rettung von dem Dolchstoß nur seiner außerordentlichen Wohlbeleibtheit. Diesen Thaten war am 5. März die Ermordung des Direktors des Central-Detentions-Hauses Grafen Magawly und am 18. die Erdolchung des Kriegs-Auditeurs Borci gefolgt. Auch dem Minister Lompardi war gleiches Schicksal angekündigt.

Aber in einem Punkt hatte sich die von London und Turin dirigierte Mörderrotte getäuscht: in dem Mut einer schwachen Frau.

Die Herzogin-Regentin, die mit drei jungen Kindern bei ihrer Mutter, der Herzogin von Berry und ihrem Bruder, dem Grafen Chambord in Venedig verweilte, eilte sofort, ohne die Dolche der Mörder zu fürchten, nach Parma zurück und dekretierte unterm 17. den Belagerungszustand, während der Kommandierende der österreichischen Besatzung General Graf Crenneville die strengsten Maßregeln ergriff.

Dies war um so nötiger, als die politischen Maßregeln der englischen Regierung in diesem Augenblick ein Heer für die künftige Revolution schufen.

Gezwungen, die gelichteten Reihen ihrer Truppen im Orient zu ersetzen, und sich gegen die Gefahren in Indien bei Zeiten zu kräftigen, wo der neueste Akt der schändlichen Willkür, die Einverleibung des Königreichs Audh, die grollenden Gemüter der Eingeborenen zur Empörung drängte, hatte die englische Regierung an verschiedenen Punkten Italiens, in der Schweiz und in Helgoland Werbebureaus eröffnet, um mit ihrem Gelde besondere Fremdenlegionen zu bilden, die sie je nach dem Bedürfnis nach Malta, der Krim oder Indien werfen könne. Alle Abenteurer und Vagabonden Europas strömten den Werbebureaus zu.

Die Leiter der revolutionären Propaganda sahen mit Befriedigung diese Organisation einer künftigen Armee der Revolution. Sie wußten, daß diese Kohorten über kurz oder lang ihnen in die Hände fallen würden, und leisteten deshalb offen besonders den Werbungen in Italien und der Schweiz Beistand, während sie im stillen die Desertion der Geworbenen in jeder Weise beförderten. Ganz Italien war auf diese Weise mit fremden und einheimischen Elementen der Emeute überschwemmt.

Aber wie wir bereits oben angeführt, die Politik Louis Napoleons setzte plötzlich den revolutionären Erwartungen eine unerwartete Schranke. Der Mohr hatte seinen Dienst in der Krim gethan, der Kaiser von Frankreich war ein schlauer Kaufmann gegenüber der Revolution und wollte erst seinen Handel machen.

Der Groll der getäuschten Erwartung bei den Revolutionären mit dem Portefeuille und den Revolutionären mit dem Dolch wuchs in gefährlicher Weise und die Erinnerung an Rom, die man einstweilen begraben, schürte aufs neue das Feuer.

Dies war in der Zeit, in welcher der Gefangene von San Georgio auf dem geheimen Wege eine Botschaft erhielt mit den Worten:

 

»Die Sache der Freiheit ist in Gefahr, aufs neue betrogen und unterdrückt zu werden. Die Tyrannen sind verurteilt, ihr Los ist geworfen. Die Brüder brauchen den Rächer von Rom und Parma und mahnen ihn an seinen Eid. Ein kühner Geist hilft sich selbst und läßt sich nicht durch Fesseln und Mauern halten. Es ist Zeit; wir erwarten Dich!«

 

Der Gefangene hatte verstanden; trotz seines Zustandes beschloß er den Versuch der Flucht, sein nächster Brief forderte die Erneuerung der Sägen; den 27. März begann er aus der beiseite geschafften Wäsche den Strick zu flechten; der ihm das Mittel geben sollte, seinen Kerker zu verlassen.

Am 29. erhielt er, wie erzählt, die zum Durchsägen des letzten Eisenstabes notwendigen Werkzeuge mit einer Erneuerung jener Mahnung und begann sofort die Arbeit. Als er sie vollendet und die Gitter wieder an ihrer Stelle mit von Kohlenstaub und Dinte geschwärztem Wachs befestigt hatte, machte er sich daran, seine Leiter mit dem Bettzeug, soweit es entbehrlich war, ohne die Aufmerksamkeit des Wärters bei der nächsten Runde zu erwecken, zu verlängern und verbarg das Seil in seinem Koffer. Dann goß er einige Tropfen Opium in den Rest des Weines und warf sich auf sein Bett.

Um ½10 Uhr kam die erste Runde, der zweite Wärter. Er hieß ihn den Wein mit sich nehmen und blieb auf seinem Lager liegen.

In der That schlief er, von den Anstrengungen und Aufregungen des Tages erschöpft, ein. Es muß ein starker Geist sein, der bei einem solchen Vorhaben schlafen kann.


Es hatte sich gegen Abend ein starker Wind erhoben, der das Schilf der Sümpfe peitschte und über den See her in den winkligen Gassen der alten Stadt heulte. Schwere Regenwolken bedeckten den Himmel und sandten zuweilen ein kurzes Schauer nieder, ohne daß der Wind das Wetter zum rechten Ausbruch kommen ließ.

An der Kirche von San Barbara, fast an ihre Mauern sich lehnend, liegt ein altertümliches Haus, den schmalen, mit Balken und Steinarbeiten geschmückten Giebel weit hinaus in die Straße streckend, so daß die Pfeiler, auf denen er ruht, eine sogenannte steinerne Laube bilden, wie man sie so häufig in den italienischen Städten findet. Das Gebäude stammte offenbar noch aus der Zeit der Gonzaga.

Mantua hat kein Ghetto mehr, die österreichische Herrschaft hat es längst abgeschafft, während es in Rom erst die Revolution von 48 that. Der vierte Teil der Bevölkerung von Mantua besteht ohnehin aus Juden.

In dem Hause wohnte ganz allein mit einer Dienerin und einem verwachsenen Gehilfen der Juwelier und Wechsler Samuel Mortara. Die Juweliere versehen in den italienischen Städten vielfach noch immer wie im Mittelalter zugleich die Geschäfte des Bankiers und Geldverleihers.

Das letztere geschieht natürlich nur gegen sichere Pfänder und auf hohe Zinsen, es ist ganz einfach der Wucher! Außerdem sind sie mit zahlreichen andern geheimen Geschäften betraut, denn ihre Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit für alle Parteien ist anerkannt und ihre Geschäftsstube gleichsam ein neutrales Feld. Sie haben die ersten und besten Nachrichten von allem, was geschieht; die Regierung schützt sie, weil sie ihrer häufig zu geheimen Diensten und Vermittelungen bedarf, und der Verschwörer vertraut ihnen, weil er bei ihnen Schutz in der Gefahr und Mittel zur Flucht findet.

Der vordere Raum des Parterre dieses Hauses wurde nach der gewöhnlichen Bauart zu zwei Drittteil von dem Flur oder der Küche eingenommen. Es brannte bei dem rauhen Wetter ein leichtes Feuer im Kamin an dessen Seite zwei Frauen saßen. Die eine war ein junges Mädchen von 16 bis 17 Jahren, in der einfachen, aber nicht unzierlichen Hausdienertracht, die andere zwanzig Jahre älter, sie trug noch den breiten Hut, der die Verkäuferinnen von Früchten u. s. w. auszeichnet, auch standen mehrere Körbe in einem Winkel der Küche.

Neben dem Herd oder Kamin führte auf der einen Seite ein Gang in die Werkstätte oder die Arbeitsstube des Juden, rechts ein solcher in den Hof. Die Treppe zu dem obern Stockwerk befand sich an dem letzteren. An der linken Seite des Flurs streckte sich ein langes Zimmer, das als Laden des Juweliers und als Komptoir des Wechslers diente und einen Ausgang nach der Straße hatte, der aber jetzt sorgfältig verschlossen war.

Außer der spärlichen Flamme im Kamin erhellte dies Vorhaus keine Beleuchtung.

»Die heilige Jungfrau della Grazie möge es richtig in seine Hände kommen lassen,« sagte die ältere der beiden Frauen. »Ich will morgen hinaus und hundert Aves und ebenso viele Paternoster vor dem gebenedeiten Bilde sprechen. Es drückt mir das Herz ab.«

»Mutter, wenn die Tedeschi die Früchte einmal untersuchen.

»Still, Thörin! Hat nicht der Tirelli ein Auge auf Dich, und giebt er mir nicht seine Kundschaft, weil ich Deine Mutter bin? Diese Gottverfluchten haben alles schlau genug eingerichtet! heilige Madonna, wenn das die einzige Sorge wäre, die mich drückt!«

»Aber so sagt endlich, Mutter, was Euch so unruhig macht, wenn es nicht die Sorge um Signor Orsini ist!«

»Still, Kind! nenne den Namen nicht, auch hier nicht. Ich werde doch dem Milchbruder beistehen können in seiner Not? Weshalb hat mich der bucklige Abraham sonst aus Bologna geholt? Aber ich will Dir im Vertrauen etwas sagen!«

»Sprecht, Mutter!«

»Ich hielt es nicht länger dort aus – es drückte mir das Herz ab. Heiliger Antonio erbarme Dich meiner und seiner Seele!«

»Des Gefangenen?«

»Närrin! Signor Felicio ist ein Mann von Stahl und Eisen, er weiß allein mit seinem Seelenheil fertig zu werden wie mit diesem ketzerischen Tedeschi.«

»Aber wessen Seele denn?«

»Des Knaben!« sagte die Frau schluchzend, mit den Händen sich das Gesicht verhüllend. »Des armen Kindes, das zuletzt an meiner Brust gelegen. Wir dürfen nicht länger in diesem Hause bleiben, Theresitta, mein Kind, ich will ihr Brot keine Minute länger essen, und sie würden Dich töten, wenn sie es erfahren!«

»Was meint Ihr, Mutter?«

»Sie haben mir Gutes gethan, Dir und mir, es ist wahr, aber warum zwingen sie die christliche Magd in ihre von Gott und dem heiligen Vater verfluchten Dienste zu treten. Soll die Milch einer Christin ein Judenkind nähren, und meinen sie, eine Frau, weil sie arm ist und ihr Geld nimmt, hätte kein Gewissen und keine Pflicht für das Wesen, das an ihrer Brust liegt?«

»Was redet Ihr für Dinge, Mutter? Die Signori Mortara sind zwar Juden, aber sie sind stets gut gegen uns gewesen. Als vor acht Jahren der Vater in den Kampf des Volkes gegen den Legaten fiel und mein neugeborenes Brüderchen starb, hat sich kein Christenmensch unserer angenommen in unserer Not, da ich noch zu klein war, um zu verdienen, bis Signor Mortara Euch zur Amme für seinen Knaben nahm und mich hierher schickte zu seinem Bruder? Waret Ihr nicht acht Jahre in jenem Hause und werdet dahin wieder zurückkehren, wenn es Eurem Milchbruder gelungen ist, aus seinem Kerker zu entfliehen!«

»Niemals, niemals, Kind! Bei den Gebeinen der heiligen Märtyrer! Es duldet mich nicht länger dort, obschon ich ihnen das wahre Heil gebracht! Aber sie sind blind wie die Heiden und werden die Gnade der Heiligen von sich stoßen, als hätte ich ihnen das Schlimmste gethan! Mein Kind, wenn man mich nicht hierher geholt hätte, weil sie wußten, daß meine Mutter den Knaben Felicio einst mit mir gesäugt, ich wäre selber gekommen, Dich fortzuholen um des Heils Deiner armen Seele willen; denn es thut nimmer gut, daß die Christen im Hause des verfluchten Geschlechts wohnen und ihm dienen!«

»Aber, Mutter, hundert arme Leute sind hier im Dienst der jüdischen Familien. Das Gesetz verbietet es nicht, und selbst unsere Geistlichen haben nichts dagegen, wenn sie uns nur nicht von unserer Kirchenpflicht zurückhalten, und wir regelmäßig zur heiligen Beichte gehen!«

»Zur Beichte, Kind – das ist es eben!« sie hatte krampfhaft den Arm ihrer Tochter gefaßt und schüttelte ihn. »Der alte Pater Anselmo, der mein krankes Gemüt beruhigt, ist gestorben, und der heilige Mann will mir die Absolution nicht geben, bis ich alles bekannt und der Hölle eine Seele entrissen habe. Aber sie werden mir fluchen, Kind, sie, deren Brot ich gegessen habe, und vielleicht auch er, den ich liebe wie mein eigen Kind. Habe ich nicht geweint und gebetet in jener Nacht, als seine eigene Mutter krank lag und der Doktor sagte, er könne keine Stunde mehr leben! Ich, ich allein habe ihn gerettet mit der Erleuchtung der Heiligen, und dennoch …«

»Ihr führt seltsame Reden, Mutter,« sagte das Mädchen, den Kessel, der über dem Feuer hing, absetzend. »Ich glaube wirklich, Ihr seid manchmal nicht recht bei Verstande, und es wäre besser, Ihr hütet Eure Zunge; denn Abraham hat mich bereits nach Eurem Geschwätz gefragt und meint, es wäre gut für Euch, daß Ihr von Bologna weg wäret, Ihr wäret allzu fromm geworden, und die Pfaffen verdrehten Euch den Kopf!«

Die Mutter sah sie starr an. »Heilige Madonna, sprichst Du so? Ist der böse Geist, der jetzt die heilige Kirche schmäht, auch schon über Dich gekommen? Es ist Zeit, daß Du das Haus des Unglaubens verläßt; nicht einen Tag mehr will ich Dich in dieser Höhle der Verdammnis lassen! die Heiligen mögen mir's vergeben, ich kann nichts mehr thun für den Armen da drüben in San Georgio, und ich habe vielleicht schon mein Leben gefährdet. Aber morgen mit dem frühesten will ich den Staub von meinen Füßen schütteln, und Du sollst mich begleiten!«

Theresitta schüttelte trotzig den hübschen Kopf. »Es giebt Gesetze in Mantua,« sagte sie, »und man läuft hier nicht so mir nichts dir nichts aus dem Dienst. Wollt Ihr wieder zurückkehren nach Bologna, Mutter, so mögt Ihr es thun. Eure unverständlichen Reden machen mir Angst und ich sage Euch offen, auch Euer Geschäft auf der Brücke gefällt mir nicht, obschon es mit meines Herrn Wissen geschieht. Antonio Tirelli ist mir gut, und es könnte ihn seinen Posten kosten, wenn er auch so unschuldig daran ist, wie ein neugeborenes Kind. Signor Mortara hat versprochen, mich auszustatten, wenn ich heirate, und ich habe nicht Lust, Eurer Grillen wegen einen Herrn zu verlassen, der so gut ist, bloß weil er ein Jude ist, während ich doch mit Eurem Willen in seinen Dienst gekommen bin und Ihr selbst acht Jahre lang bei seinem Bruder gedient habt!«

»Gottlose Dirne …«

Ein starkes Klopfen an der Hausthür unterbrach in diesem Augenblick den Streit zwischen Mutter und Tochter. Zugleich erklang der Ton einer silbernen Schelle aus dem hinteren Zimmer.

»Signor Mortara ruft mich,« sagte aufspringend das Mädchen. »Öffnet dem Fremden nicht, bis ich wiederkomme, Mutter, und gießt unterdes die Suppe in die Schüssel, wir werden nachher weiter reden.«

Das Mädchen war in das Hinterzimmer geeilt, während an der äußern Hausthür das Klopfen wiederholt wurde.


Während des Gesprächs der beiden Dienerinnen hatte ein anderes in dem Arbeitszimmer des Juweliers stattgefunden, wohin Theresitta durch die Klingel gerufen worden.

Auch hier hatten sich zwei Personen befunden, der Hausherr und sein Gehilfe und Faktotum, der bucklige Abraham, wie ihn die Dienerin genannt.

Der Hausherr war eine einst stattliche und schöne Gestalt, wie man sie bei den italienischen Juden häufig findet, deren Frauen oft sehr schön sind und im Orient den Fremden häufig als Tscherkessinnen zu ihren Liebesstunden gelten müssen.

Er mochte über sechzig Jahre sein, das Haar war ergraut, und er trug einen langen grauen Bart, der dem ernsten, klugen und tiefgefurchten Gesicht gut stand. Seine Augen waren dunkel und scharf, aber nicht ohne Wohlwollen und ruhiges Sinnen in dem Blick. Er trug ein einfaches braunes Hauskleid und auf dem halbkahlen Schädel ein Käppchen von grünem Sammet, Kniehosen von Manchester und Schuhe mit Schnallen. Der Juwelier saß an dem Tisch und hatte vor sich in einem schwarzen Sammetbehälter eine Anzahl kostbar funkelnder geschliffener Diamanten, die er mit einer Lupe im scharfen Schein der silbernen Argantlampe betrachtete und auf einer feinen Wage sorgfältig abwog, wobei er das Gewicht auf einem Blatt Papier notierte.

Von Zeit zu Zeit ließ er das Licht eines oder des andern der Steine in dem Schein der Lampe spielen und der Diamant warf lange farbige Strahlen in das Zimmer hinein.

Ihm gegenüber an einem Schreibpult, auf dem mehrere mit Messing beschlagene Kassenbücher standen und Papiere unter seltsamen, und zum Teil durch ihr Metall oder ihre mittelalterliche Arbeit sehr wertvollen Dingen, als Briefbeschwerer dienend, lagen, hockte eine unangenehme affenartige Figur, eifrig mit Schreiben und Notieren beschäftigt. Es war ein kleiner, schwer verwachsener Jude, von gleichem Alter wie sein Herr, aber, der Sauberkeit und Würde desselben entgegengesetzt, höchst schmutzig gekleidet. Sein abgetragener Rock, offenbar von der stattlichen Gestalt seines Gebieters an ihn gekommen, ohne daß er es der Mühe wert gehalten, ihn sonderlich zu verändern, hing ihm bis auf die Fersen nieder und schien niemals mit einer Bürste oder einem sonstigen Instrument der Reinigung Bekanntschaft gemacht zu haben. Der stachliche spärliche Bart war grau wie der seines Herrn, aber kurz geschoren, und gab dem Gesicht, dessen verwitterte Züge etwas Mürrisches, Bitteres und Höhnisches hatten, ein noch unangenehmeres Aussehen. Dagegen leuchtete in dem Auge große Intelligenz, ein scharfer, durch tausend Schlauheiten geübter Geist, der von der Thätigkeit der innern Seele sprach.

»Neunzig Karath vor dem Schliff,« sagte der Juwelier, einen der größeren Steine betrachtend. »Er hat zwar die Hälfte verloren und ist nicht so schön als der Sancy, Der berühmte Diamant aus Indien, zuerst im Besitz Karl des Kühnen, jetzt in dem des Kaisers von Rußland. aber doch seine hunderttausend Livres wert, und dafür ward der Sancy vom König Don Antonio an die Franzosen verkauft; wenn ihn der russische Fürst zu diesem Preise für seinen Monarchen ersteht, wird er in der Heimat immer noch ein gutes Geschäft machen, wie damals der Oberjägermeister mit dem Sancy gethan hat.«

»Seine Hoheit der Fürst Trubetzkoi,« sagte der Kleine grinsend, »steht, denke ich, mit dem Hofe von Petersburg nicht im besten Einvernehmen! Ihr wisset, daß er seit fünf Jahren im Auslande verweilt mit seiner schönen Gemahlin, der reichen ungarischen Magnatin.«

»Das ist wahr, Abraham, ich dachte nicht daran. Indes ist es ein besonderes Ding mit diesen großen Herren aus Rußland. Wenn sie ihr Geld im Ausland verzehren müssen, hat ihr Monarch gar oft seine Absichten dabei. Der Fürst Trubetzkoi hat nicht umsonst in Neapel gelebt, während des Krieges in seinem Vaterland. Der König von Neapel ist geblieben ihr treuer Freund, er hat nicht geschickt seine Schiffe und sein Geld gegen die Russen. Der Fürst wird auch kaufen Diamanten für die Fürstin, seine Gemahlin; er ist ein reicher Herr!«

Der Kleine schien daran gewöhnt, seinem Gebieter zu widersprechen. Er schüttelte den Kopf bedeutsam hin und her. »Der reiche Gojim fragt mehr nach der Signora Pocchini, der Tänzerin, als nach seiner Frau. Der Abraham hat offen die Ohren und gar manches gehört, als er gestern hat gebracht den Schmuck in die Albergo di Croce verde, den ausgesucht hat die Fürstin für das Weibsbild, die mit ihr im Magazin war, und die so braun ist, wie eine Zigeunerin aus der Romagna.«

»Behalte für Dich, was Du gehört hast,« sagte mißbilligend der Juwelier. »Es ist nicht gut, wenn unsereins sich drängt in die Geheimnisse der Mächtigen. Wir müssen deren ohnehin schon zu viele tragen, wo sie uns brauchen. Aber hast Du an Jacob Simoni geschrieben nach Toscolano wegen der Villa, so der Fürst will kaufen oder mieten am See, für seine Villeggiatura, wenn er nicht lebt in Paris?«

»Der Brief ist gegangen gestern fort. Die Antwort wird sein in zwei Tagen hier. Ich glaube, daß wird sein die Villa mehr für den Aufenthalt von der Fürstin und ihrem Kind und dem Hofmeister von dem Kind, als für den Fürsten selbst.«

»Was kümmert's uns, für was er kauft die Villa oder die Diamanten. Schau die Krone und die Culasse, Abraham, unsere Schleifer verstehen zu schleifen so schön die Steine wie die Schleifer in Amsterdam. Gott Jacobs, welches Feuer! Wenn mein Bruder in Florenz nicht wär' gestorben, ich hätt' ihm geschickt die Hälfte der Steine, der Markt auf dem Ponte vecchio ist so gut wie am San Marcus von Venedig.«

»Und der Eigentümer von dem ganzen Schatz sollte wirklich nichts sein, als der Kapitän von einem Kauffahrer-Schiff?«

»Der Signor Garibaldi ist kein gewöhnlicher Kapitän, er ist gewesen schon ein General, der geschlagen hat gewaltige Schlachten in Rom, als der große Rabbi der Christenheit geflohen war vor der Rebellion, und in Amerika weit überm Meer, wo die Diamanten wachsen im Lehm und Gestein. Hast Du die Wechsel geschickt heute Mittag an den großen Isaac Pereire nach Paris?«

»Dreimalhunderttausend Franken auf die Bank von Frankreich!«

»Ich sage Dir, Abraham, er ist auch ein General, ein Held an der Börse, so gut wie der Herr dieser Diamanten oder der große österreichische Graf Radetzki im Feld. Dreimalhunderttausend Livre nach Paris, achtmalhunderttausend an den großen Bankier, Gebrüder Buono in Neapel, und was hier übrig ist von den Steinen, viermalhunderttausend unter Brüdern wert. Der Gott Jacobs hat eine große Macht gegeben in die Hand dieses Mannes, denn ich weiß von unserm Geschäftsfreund in London, daß geblieben ist eben so viel an Wert dort.«

»Und das alles gehört dem Signor Garibaldi?«

»So hat der Lord Heresford, mein großer Gönner gesagt, als er mich empfohlen zu dem Geschäft, weil er weiß, daß ich bin ein ehrlicher Mann.«

»Aber Meister, wenn einer hat so viel Geld, vier Millionen Livre, warum fährt er zu Schiff um geringen Sold für die Kaufleute in Genua, statt, daß er lebt als ein großer Herr?«

Der Juwelier hatte seine vom Alter gebeugte Gestalt aufgerichtet, sein dunkles Auge ruhte fest auf dem treuen, Gefährten.

»Was liebst Du, Abraham, so recht vom Grund Deiner Seele? – Dein Vaterland?«

Der Kleine zuckte verächtlich die Achseln. »Was heißt? Hat der Jude ein Vaterland? Er ist ein Jude, sei's in Frankreich, in Italien oder in der Berberei. Kein Mensch sagt, er sei ein Italiener, aber alle Welt sagt, er ist ein Jude!«

»Das eben ist der Fluch unsers Volks! Du hast es mit wenig Worten ausgesprochen. Wenn wir uns erst gelöst haben werden von dem Bann, der das Geld zu unserm Vaterland macht, dann Abraham werden wir nicht mehr die Fremden, die Gehaßten sein, sondern Brüder zu Brüdern, mit gleichem Recht, ja mit mehr Recht als sie, denn die Macht und der Geist sind unser, nicht bloß die Herrschaft des Geldes!«

Der kleine Jude murmelte etwas von sicherem Besitz, aber er wagte nicht, dem Meister zu widersprechen.

»Sieh diesen Schatz, Abraham,« fuhr der Juwelier fort. »Er wird eine Macht sein, das Eisen und das Feuer durch die Welt zu tragen. Diese Diamanten sind bestimmt, Ströme von Blut zu kaufen, und diese Wechsel werden sein eine Fackel, die Italien von einem Ende zum andern entflammt. Was sind diese vier Millionen, wenn wir sie vergleichen mit dem Besitz, der ist in den Händen von unserm Volk?! Ein elender Tropfen Wasser gegen die Adria. Wir, das geknechtete, getreue Volk, könnten Europa, ja die bekannte Welt aus den Angeln heben, wenn uns der schmutzige Gewinn, der Dich zum habsüchtigen Wucherer macht, nicht mehr gelte, als unsere Seele und das Land, in dem wir geboren. Das Geld ist Schmutz, wenn es der Habsucht dient, aber es ist die Macht Gottes, wenn es zu Pulver und Stahl gewandelt wird, um ein großes Ziel zu erreichen. Warum spart und arbeitet der Jude? Um zu haben die Truhen voll des roten Goldes und zu sagen: es ist mein! Dieser Christ verachtet das Gold, weil es nicht ist die Aufgabe seines Lebens. Es ist ihm das Mittel für seinen Zweck, und deshalb hat er geschworen, nicht anzurühren, was das Glück ihm gegeben, bis der Augenblick ist gekommen. Dann wird er es ausstreuen, als wäre es bloßer Sand am Meer!«

Der Bucklige zuckte die Achseln. »Die Gojim sind Narren, sie zerfleischen sich unter sich selbst! Was kümmert es den klugen Mann, ob der doppelte Adler herrscht in Italien oder die dreifarbige Fahne? Gott der Gerechte, ob es heißt Franz Joseph oder Victor Emanuel, oder Mazzini, wenn wir können machen unsere Geschäfte für alle drei, bin ich zufrieden!«

Der Juwelier hatte sich mit einem verächtlichen Blick auf sein Faktotum wieder niedergesetzt, der Löwe Juda mit dem großen Gedanken der Emanzipation und damit der Weltherrschaft seines Volkes neben jener Gemeinheit, die als ewiger Fluch an ihm haftet, dem Wucher und Schacher der Habsucht.

»Was thut Ihr mit der italienischen Freiheit?« fuhr hämisch der Bucklige fort. »Zum freien Italiener, der gewesen ist ein Narr und hat gegeben sein gutes schönes Geld für die Freiheit, und ist geworden zum Bettler, werden nicht kommen die Fürsten und Grafen aus allen Ländern und werden ihm schmeicheln, wie sie thun dem verachteten Juden, und werden ihm vertrauen ihr Hab und Gut und ihre Ehre und ihre Not. Mit Geld kann der Jude alles kaufen, aber er will's nicht haben, sondern behält sein Geld und macht seinen Profit von der Narrheit der Gojim.«

Samuel hatte den Kopf in die Hand gestützt. »Erbärmlicher Thor, der Du sagst, mit seinem Gelde könne der Jude alles kaufen! Kann ich mit all meinen Schätzen, mit der Frucht von fünfzig arbeit- und sorgenvollen Jahren, einem Leben voll Redlichkeit und Mühe die Schmach verwischen, daß ein Glied meiner Familie den Gott ihrer Väter verleugnet hat und Schande geworfen auf den Namen, den wir tragen? Geh, Deine Macht des Geldes ist groß, sie kann Nationen frei und groß machen, aber sie kann den Flecken nicht tilgen auf der Stirn des Einzelnen!«

Eine traurige, lassende Erinnerung schien über seine Seele zu ziehen, aber mit einer kräftigen Anstrengung ermannte er sich. »Laß uns von Geschäften sprechen, Abraham,« sagte er ruhig, »sie verscheuchen am besten die Erinnerung. Hast Du die Kopieen bereit gelegt von Signor Lorini, wenn sie kommen, um die Ehre ihrer Mächtigen zu feilschen?«

»In diesem Paket sind sie alle zusammen!«

»Der Franzose, der heute wieder abreiste, hat die Abschrift von der Abschrift. Diese Christen sind schlechter als die niedersten Männer aus dem Ghetto,« sagte der Juwelier. »Wenn sie haben einen großen Mann, zerren sie an der Ehre seiner Mutter! Es kommt ihnen an alles auf den Skandal!«

Der Kleine nickte. »Wenn er ist klug, wird er sie lassen reden und schreiben in den Zeitungen, ohne sich zu kümmern darum. Was thut ein Pergament oder ein geschriebener Brief gegen die Kanonen! Wo die Macht ist, da ist das Recht! Dennoch werden sie bieten viel Geld, denn der Meister hat wahr gesprochen, die Gojims lieben den Skandal!«

Der Wechsler lächelte bitter. »Sie nennen es Wucher!« sagte er finster, »wenn wir nehmen in Schuld und Verschreibung von ihren Verschwendern unsern Gewinn oder verkaufen in Handel und Wandel unsere Ware mit hohem Preis! Aber wann verkauft ein Jude die Ehre dessen, der ihn hat gezeugt? Dieser Signori Lorini ist ein Schurke und ich habe den Auftrag nur übernommen, weil ich halte den Handel damit in der Hand! – Schreibe nach Neapel, Abraham, daß der Prinz Mürat viel verkehrt mit seinen Schwägern in Bologna und Ravenna. Ich liebe nicht die Bourbonen, und unser Volk ist unterdrückt in Neapel von den Priestern der Christen, aber die Herrschaft der Fremden wird sein noch schlimmer für sie, als die Hands des Königs Franz!«

Der Bucklige machte eine Notiz.

»Hast Du gewarnt die Frau aus Zürich, daß die Polizei ist auf ihrer Spur?«

»Sie will Euch selber sprechen, Samuel!«

»Was hab' ich zu thun mit einer Abtrünnigen, die der Geist der Thorheit und Eitelkeit treibt, sich in das Thun der Männer zu drängen? Das Weib gehört ins Haus, daß sie sei die Freude des Mannes und die Mutter der Kinder, nicht auf dem Markt der Politik. Ich will nicht zu schaffen haben mit der Apostatin aus Berlin!«

»Sie will wegen der Flucht des Gefangenen noch mit Euch reden!«

»Hat die Amme ihm die Sägen gesandt?«

»Diesen Abend muß er sie erhalten haben!«

»So mag der Gott seiner Väter dem Gojim weiter helfen, ich will nichts mehr zu schaffen haben mit der Sache, ich weiß ohnehin nicht, ob ich gut gethan, zu helfen dazu, und nur weil sein Bruder, der Advokat, verteidigt hat das Recht unserer Familie vor den Gerichtshöfen der Christen gegen die Pläne des verfluchten Geschlechts habe ich geboten die Hand. Morgen soll die Amme zurück nach Bologna!«

»Ich warne Euch vor dem Weib, Samuel, sie spricht verdächtige Worte, und ihr Kopf ist verwirrt von den Reden der Priester!«

»Desto eher muß sie fort, aber ich habe nichts zu fürchten in diesem Stück. Der Gefangene im Turm von San Georgio hat an der Brust ihrer Mutter gelegen, und in diesem Punkte wenigstens halten die Christen zusammen wie unser Volk. Darum liebt sie auch den Erben unseres Blutes mehr als ihr Leben!«

»Der Fluch Gottes wird nicht ausbleiben, daß Ihr habt trinken lassen den Knaben die Milch der Christin!«

»Sollte seine Mutter ihn sterben lassen, weil vertrocknet war die Quelle ihres Busens? Er wird darum nicht minder sein ein treuer Sohn des Glaubens seiner Väter. Das Wort des Talmud ist die wahre Milch der Gläubigen, nicht die, welche vom Weib kommt oder der Kuh. Gott hat mir genommen die eigenen Kinder, darum soll er sein mein Erbe, und ich werde ihn kommen lassen, wenn er geworden ist zehn Jahr und machen aus ihm einen treuen Bekenner des Gesetzes und einen ehrlichen Mann, der erheben kann das Haupt unter seinem Volk und liebt seine Brüder. Aber still, Abraham, es zieht jemand die geheime Schelle an der Pforte im Gäßchen. Frag' nach dem Wort und laß ihn ein.«

Zugleich hörte man ein scharfes Klopfen an der äußeren Thür nach dem Platz. Der Juwelier bewegte eine Klingel, die Theresitta, die Dienerin, herbeirief, während der kleine Bucklige hinausging, seinen Auftrag zu erfüllen.

»Sieh zu, wer klopft, Kind,« sagte freundlich der Hausherr, »und frage durch das Schiebloch nach seinem Begehr. Wenn er Dir sagt, daß er komme aus Venedig, so laß ihn eintreten einstweilen in den Laden und zünde an die Kerzen. Noch eins, Theresitta. Du kannst sagen Deiner Mutter, daß sie mag sich machen bereit, um morgen zurückzukehren nach Bologna.«

Das Mädchen sah ihn erschrocken an, sie glaubte, er habe ihr Gespräch belauscht; aber der alte Mann nickte ihr freundlich zu und sie verließ ohne Gegenrede das Zimmer.

Der Juwelier nahm das Etui mit den Diamanten und legte es in seine Schublade. Während er dies that, kratzte es drei mal an der Wand.

»Tretet ein,« sagte der Hausherr laut.

Eine Tapetenthür an der Seitenwand, die nach dem Hausgang führte, öffnete sich, und ein Landmann mit einem Weibe, beide in der Tracht der Bauern aus der Umgegend von Brescia, traten ein.

Es waren dieselben, die gegen Abend auf der großen Brücke von San Georgio mit der Fruchtverkäuferin gesprochen hatten, und denen der modenesische General mit seinem Freunde begegnet war.

»Guten Abend, Signor Mortara!«

Der Juwelier erwiderte den Gruß und deutete auf zwei Sessel, die jenseits des Wägetisches standen, der gleichsam als Barriere das Zimmer in zwei Hälften schied. »Warum sind Sie noch nicht fort aus Mantua, Madame?« sagte er rauh. »Ich hab' Sie doch lassen warnen durch meinen Diener, daß die Lust ist gefährlich für Sie. Die österreichische Polizei hat eine feine Nase, und Sie sprechen unsere Sprache zu schlecht, um zu gelten für das, was Sie scheinen wollen.«

»Sie sind wenig galant, Herr Mortara!«

»Galanterie hin, Galanterie her! ich rede die Wahrheit. Glauben Sie, wenn Madame Herwegh in Zürich führt viele Monat eine Korrespondenz mit einem guten Freund, der sitzt in den Kerkern von San Georgio, die Polizei werde nicht wissen, daß dieselbe Madame Herwegh seit fünf Tagen verschwunden ist aus Zürich? oder glauben Sie, daß die Leute in der Schweiz nicht lieben das Geld?«

Das ehemalige Fräulein Siegmund aus Berlin, das vor Jahren in der preußischen Residenz den emanzipierten Schöngeist gespielt und den unterm Schutz Schönleins debütierenden und von den Nachäffern der Rahelschen Gesellschaft vergötterten Poeten glücklich weniger durch Schönheit als durch klingenden Besitz gekapert hatte, schien durch das Mißtrauen sehr beleidigt.

»Ich weiß sehr wohl,« sagte sie spitz, »daß man in Wien und Berlin mich fürchtet und beobachten läßt, aber ich scheue diese österreichische Polizei nicht! Sie sind viel zu ängstlich, Herr Mortara!«

Der Juwelier suchte ohne zu antworten einen Zettel unter mehreren Papieren hervor, die unter einer prächtig ziselierten Eidechse lagen.

»Ich habe bekommen heute Mittag durch einen guten Freund die Abschrift von einen kleinen Cirkular der Polizei-Direktion in Mailand,« sprach er lächelnd. »Es ist eingegangen heute Morgen in Mantua. Ich darf die Handschrift niemand zeigen, deshalb muß ich die Notiz Ihnen lesen vor.«

Der Juwelier las mit ziemlich unverhohlenem Sarkasmus im Ton nachstehende Zeilen:

 

»Frau Herwegh, geborene Siegmund in Zürich, welche die schlechteste Gesellschaft um sich versammelt und die lächerliche Eitelkeit besitzt, zu glauben, daß sie die geheimen Verschwörungen leite, während sie von den Führern nur zum Deckmantel und zur Hergabe von Geldmitteln benutzt wird, ist am 25. von Zürich abgereist. Sie hat sich nach der Lombardei begeben, in der Richtung von Venetien. Der Zweck ihrer Reise steht offenbar mit dem Treiben der revolutionären Propaganda in Verbindung. Sie wird wahrscheinlich in Verkleidung reisen, ist aber leicht zu kennen, da ihr Aussehen die jüdische Abstammung nicht verleugnet. Ihr Alter …«

 

»Ich schenke Ihnen das Signalement, Herr Mortara,« sagte die sehr rot gewordene Dame. »Es ist unglaublich, welchen Beobachtungen man ausgesetzt ist!«

»Sie müssen noch hören den Schlußsatz,« meinte der Wechsler hartnäckig.

 

»Sollte das Frauenzimmer in Mantua ergriffen werden, wohin sie sich vielleicht begiebt, da sie mit dem Gefangenen Orsini seither korrespondiert hat, so ist sie als Vagabundin aufzugreifen, demgemäß zu behandeln und per Schub an die Grenze zu bringen unter der Verwarnung des Staubbesens, wenn sie sich wieder in kaiserlich-königlichen Staaten blicken läßt!«

 

Der Begleiter der angeblichen Bäuerin von Brescia konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, die Dame selbst aber schien trotz des Eifers, in den sie über die schmachvolle Drohung geriet, doch sehr herabgestimmt.

»Das ist unwürdig, das ist schändlich und ganz der österreichischen Tyrannei würdig!« rief sie. »Aber ich werde nur teilen das Los der edlen Patriotinnen von Brescia, die vor sechs Jahren die Hyäne Haynau hat behandelt eben so gemein! das ganze gebildete Europa würde sich erheben zu einem Protest. Ich werde verlassen morgen früh Mantua mit dem ersten Zug.«

»Ich glaube, Madame, es wird das beste sein,« sagte der Juwelier kalt, »die österreichische Polizei nimmt wirklich keine Rücksicht, selbst nicht auf Damen. Was Signor Orsini betrifft, so ist geschehen, was möglich war, ohne uns zu kompromittiere. Der Ausgang ist Sache des Glücks und seiner Geschicklichkeit. Aber ich zweifle an der Möglichkeit, und auf das Ungewisse will ich nicht kompromittieren den Namen Mortara.«

»Sie gehören auch zu den Lauen!« schmollte die Dame mit verächtlichem Naserümpfen.

Der Wechsler sah sie fest und nicht ohne Stolz an. »Madame,« sagte er ernst, »der jüdische Wechsler und Juwelier Mortara ist nicht berühmt unter den Herren Patrioten als ein großer Mann, der die Welt will umstürzen aus ihren Angeln mit Schwert und Feuer oder vielem Geschrei, aber er ist gekannt bei Freund und Feind, bei den Fremden und den Italienern als ein Mann, der noch nie gemißbraucht das Vertrauen, das man ihm geschenkt, so wenig, wie er verkauft für Geld oder Eitelkeit den Glauben seiner Väter. Ich dränge mich nicht in den Kampf der Parteien, aber ich bin bereit, allen zu dienen, wenn sie meine Hilfe brauchen, so weit es ein redlicher Mann nach den Gesetzen Gottes thun kann, mit meinem Beistand und meinem Gold. Ich diene der regierenden Gewalt, ohne zu verraten den einen oder den andern; ich bin ein Mann des Geschäfts und kein Mann der Politik. Wenn ich hab' geholfen Beistand zu leisten dem Signor Orsini, so ist es geschehen, weil mich dauert, daß er soll enden am Strang. Aber ich hab' nicht Lust, dafür zu stecken meinen Hals selbst in die Schlinge, so wenig, wie andere sich stäupen zu lassen dafür.«

Der Begleiter der Dame reichte ihm die Hand. »Man hat Sie uns als einen verläßlichen und geschickten Mann bezeichnet, Signor Samuelo, und das genügt. Haben Sie etwas näheres über das Schicksal unseres Freundes gehört?«

»Das Urteil ist heute eingetroffen von Wien!«

»Und sein Inhalt?«

»Er wird in drei Tagen werden gehenkt!«

Die Dame kreischte laut auf. »Der Unglückliche! dann ist jede Hoffnung vergeblich. Kennt er bereits sein Schicksal?« frug ernst ihr Begleiter.

»Es soll ihm morgen werden publiziert.«

Es trat eine Pause ein, die nur durch das Schluchzen der Dame unterbrochen wurde.

»Jeder von uns muß gefaßt sein, den Tod zu erleiden für die Sache, die er vertritt, ob auf dem Schlachtfeld, ob unter dem Galgen, es bleibt der Tod für das Vaterland! Es hilft nichts, um das Unmögliche zu klagen. Lassen Sie uns unsere Geschäfte abmachen, damit wir morgen bei Zeiten Mantua verlassen können.«

Der Wechsler nahm ein Buch und schlug ein Konto darin auf. »Am 5. März sind geworden deponiert bei mir zehntausend Lire von unbekannter Hand aus Venedig, und dreitausendvierhundert aus Ferrara.«

Der fremde Landmann nahm aus einer Brieftasche ein Papier. »Hier sind die Chiffern, gegen deren Vorzeigung das Geld in Empfang zu nehmen ist.«

Samuel prüfte sorgfältig die Zeichen. »Es ist in Ordnung, Signor, und Sie können das Geld bar oder in Wechseln auf Genua erhalten.«

»Es gehört Madame, die es dem Bunde vorgestreckt. Es wird am besten sein, es ihr in Wechseln zu geben.«

Der Juwelier schrieb eine Anweisung auf eins der ersten Häuser in Genua und reichte sie ihr. Trotz ihrer Träume und ihrer Verzweiflung prüfte die Dame erst sehr sorgfältig und sachverständig das Papier, bevor sie es zu sich steckte und Quittung gab.

»Ist unter den obigen Zeichen nichts anderes bei Ihnen eingetroffen, Signor Samuelo?«

»Doch, Signore. Hier ist ein Paket mit Briefen, das man mir übergeben.«

»Können oder wollen Sie mir sagen, durch wen es in Ihre Hände gekommen?«

»Ich hab' zu machen daraus kein Geheimnis. Eine vornehme Dame, die seit einigen Tagen hier verweilt, weil sie hat einen jungen Vetter unter der Garnison, hat mir gegeben diesen Morgen das Paket.«

»Ihr Name?«

»Die Fürstin Trubetzkoi!«

Der Name schien einen besonderen Eindruck auf den Fragenden hervorzubringen. »Kennen Sie den Familiennamen der Dame, Signor Samuelo, denn die Familie Trubetzkoi ist ziemlich zahlreich?«

»Es ist eine ungarische Gräfin, Cäcilie Pálffy, wenn mir recht ist.«

Der andere sann einige Augenblicke nach, dann wandte er sich zu seiner Gefährtin. »Verzeihung, Madame, aber ich habe eine private Pflicht zu erfüllen, das Ehrenwort, das ich einem Freunde gegeben, und es wird besser sein, wenn ich dies allein und auf meine Gefahr thue. Signor Samuelo, haben Sie eine sichere Person, die Madame nach der Osteria begleiten kann, in der wir Wohnung genommen haben?«

Der Wechsler pfiff und sogleich erschien durch die Tapetenthür der bucklige Abraham.

Er erhielt den Auftrag, die verkleidete Dame nach der kleinen Herberge zu geleiten und für ihre Sicherheit zu sorgen. Sie schien zwar sehr wenig davon erbaut, daß ihre Mitwirkung nicht weiter gebraucht, oder ihre Neugier befriedigt würde, aber eine ernste Erinnerung an ihre Sicherheit und den ominösen Steckbrief der österreichischen Polizei genügte, sie gefügig zu machen. Der Bucklige führte sie auf demselben Wege fort, auf dem sie gekommen.

Die beiden Männer waren allein; der Wechsler betrachtete aufmerksam den Fremden.

Es war eine hochgewachsene schöne Gestalt von stattlichem soldatischen Ansehen, selbst unter der Verkleidung. Das Gesicht war männlich und kühn und ließ auf ein Alter von etwa drei- bis vierundzwanzig Jahren schließen.

»Signor Samuelo,« sagte er endlich, »Sie haben von London durch den Viscount von Heresford eine Anzahl Diamanten erhalten, um dieselben schleifen zu lassen und zu verkaufen?«

»Wenn Sie die Thatsache kennen, Signore, habe ich keine Ursache, sie zu verschweigen.«

»Diese Diamanten sind das Eigenthum des Generals Garibaldi.«

Der Juwelier nickte.

»Lord Heresford hat Sie in Kenntnis gesetzt, daß auf Grund Ihres Empfangsscheins der General über den Erlös disponieren wird. Er wünscht durch Ihre Vermittelung die Summe an verschiedenen Orten in Italien sicher unterzubringen.«

»Ich habe gesorgt für das Geschäft!«

»Sind die Diamanten taxiert und verkauft?«

Der Juwelier nahm das Etui mit den Steinen, das er vorhin fortgesteckt, hervor und öffnete es. »Die Steine sind nach rechtlicher Schätzung, jetzt nach erfolgtem Schliff, vier Millionen und dreimalhunderttausend Lire wert. Ich bin bereit, sie zu dem Preise zu kaufen, wenn man mir läßt Zeit, sie unterzubringen.«

»Die sollen Sie haben, ich besitze die Vollmacht des Generals zu jeder Disposition. Das Kapital soll in Italien angelegt bleiben, bis die Zeit zu seiner Verwendung gekommen. Doch darf niemand darum wissen.«

»Signor Garibaldi kann sich verlassen auf einen ehrlichen Mann.«

»Als solcher sind Sie bekannt, und deshalb hat der General Sie gewählt. Doch bedarf er vorläufig fünfzigtausend Lire. Von diesem Geld soll ich dreißigtausend bar in Empfang nehmen und für zwanzigtausend sind Waffen und Munition anzukaufen. Hier ist das Verzeichnis des Benötigten. Wir wissen, daß Sie nicht bloß in Gold und Edelsteinen handeln, sondern Geschäfte mancherlei Art machen. Sind Sie imstande, das hier Verzeichnete zu liefern?«

Der Wechsler hatte die Liste geprüft. »Wann und wo, Signor?«

»So bald als möglich. Die Ablieferung erfolgt nach Konstantinopel an das Haus Agathon Kaskaris und Kompagnie.«

»Dann ist die Sache leicht; ich habe gefürchtet, es thäte sein für die Herren von der Revolution im Lande selbst.«

Der andere lächelte. »Vorläufig, Signor Samuelo, sind die Sachen für das Komitee des Kaukasus bestimmt. Sie können also unbesorgt sein, die österreichische Polizei wird einer Waffensendung gegen Rußland nichts in den Weg legen. Was das bare Geld betrifft …«

»Sie werden begreifen, Signor,« sagte der Juwelier, »daß ich nicht vorbereitet bin, eine so große Summe zu zahlen noch diesen Abend. Aber ich habe im Haus die dreizehntausend Lire, in gutem Gold, die ich hab' angeboten vorhin bar der Madame. Und ich werde empfangen noch diesen Abend bei dem Herrn Fürsten Trubetzkoi die Summe von vierzigtausend Lire.«

»Sie gehen zu dem Fürsten Trubetzkoi?«

»Der Fürst und die Fürstin werden reisen morgen oder übermorgen ab mit der Familie und mit der Dienerschaft nach Verona und dann an den Gardasee, um zu beziehen ein Landhaus. Die Herrschaften haben bestellt verschiedene Juwelen bei mir, und der Fürst, der ist ein Kenner und Freund von edlen Steinen, wird kaufen diesen Diamant von denen, die der General mir hat anvertraut zum Kauf. Sie werden das Geld erhalten vor morgen früh.«

»Ihr Wort genügt. Aber ich habe einen andern Wunsch. Kann ich durch Ihre Vermittelung noch diesen Abend eine Unterredung mit der Fürstin haben?«

»Mit der durchlauchtigsten Fürstin Trubetzkoi?«

»Es muß sein; ich darf den Zufall nicht unbenutzt lassen, der mich mit ihr zusammenführt. Morgen bin ich auf dem Weg nach Ancona, sie nach dem Norden, und ich habe ein Wort zu lösen, was besser mündlich als durch einen Brief geschieht, der vielleicht in unrechte Hände fällt.«

Der Juwelier dachte nach. »Sie setzen sich einer großen Gefahr aus, Signor, denn in Croce verde verkehren viele österreichische Offiziere.«

Diese Verkleidung ist sicher. Für den Notfall schützt mich ein englischer Paß!«

»Den Signor Fabrici vielleicht, aber …«

»Was?«

»Aber nicht zum zweitenmal den Obersten Türr

Der Landmann trat erstaunt einen Schritt zurück, »Was? Sie kennen mich?«

»Ich erinnere mich sehr gut vor acht Jahren, daß hier gestanden das Regiment ›Franz Karl‹ und eines gewissen Unterleutnants, der desertiert ist an der Brücke von Buffalora.«

Der andere schwieg; brennende Röte überzog sein kühnes Gesicht. Der Vorwurf, vor dem Feind desertiert zu sein, berührte seine soldatische Natur trotz der Ursachen, die ihn dazu bewogen hatten, immer empfindlich.

»Ich habe gelesen,« fuhr der Wechsler fort, »daß der tapfere Oberst Türr ist in Bukarest verhaftet worden vor anderthalb Jahren, obschon er trug englische Uniform und dort war im Auftrag des englischen Feldherrn. Man hat ihm gemacht den Prozeß, und er wäre erschossen worden, wenn die Königin Victoria nicht gebeten hätte den Kaiser Franz Joseph.«

»Es ist alles richtig, was Sie sagen, Samuelo,« sagte der Erkannte, »und es wäre Thorheit, mich weiter verbergen zu wollen. Ich war in Zürich, als Signor Fabrici sich dort befand. Da ihn noch Geschäfte rasch nach Turin und Genua riefen und mich ein griechisches Fahrzeug in Ancona erwartet, um mich nach Konstantinopel zurückzubringen, übernahm ich es, die Signora nach Mantua zu geleiten, um den Auftrag des Generals an Sie zugleich auszuführen. Ich wiederhole Ihnen, daß Sie mir einen großen Dienst leisten werden, wenn Sie mir Gelegenheit verschaffen können, die Fürstin zu sprechen.«

»In dieser Verkleidung, Signor Colonello, ist es unmöglich, die Gefahr wäre zu groß. Aber ich kann mit mir nehmen einen Gehilfen, der bringt den bestellten Schmuck an die Fürstin, während ich vorlege die Diamanten ihrem Gemahl. Wenn Sie sich nicht schämen, Signor, der Tracht eines aus unserm Volk, wird die Sache sein nicht schwer. Sie wissen, daß die vornehmen Leute machen Tag aus der Nacht.«

»Ich bin mit Vergnügen bereit,« erklärte der Oberst, »und ich glaube meine Rolle spielen zu können, da ich das Italienische so gut wie Sie selbst spreche. Aber wo nehmen wir die Verkleidung her?«

»Ich werde sorgen dafür. Indes Sie sich kleiden an, werde ich das Geschäft machen mit der Person, die mich erwartet im Magazin.« Er schlug einen Vorhang zur Seite, der den Aufgang einer engen Stiege verdeckte, die auf der andern Seite des Comptoirs in das obere Stockwerk führte und geleitete ihn diese hinauf in ein Gemach, an dessen Wänden eine Menge Kleidungsstücke hingen.

»Signor Colonello,« sagte der Wechsler, »obschon ich nicht habe gern zu thun mit der Politik und gehe meinem Geschäfte nach als ein friedlicher Mann, ist doch die Zeit gar schlimm, und auch der ehrlichste Mann muß greifen zuweilen zu einem unschuldigen Betrug, wenn er will erreichen sein Ziel. Hier sind Kleider, wie sie tragen die Handelsleute von meinem Glauben in der Levante, und wenn Sie ankleben den Bart hierzu, können Sie gehen dreist vorbei Mittag bei der Parad' an dem gestrengen Obersten vom Regiment Franz Karl,«

Der Oberst hatte den Schnurr- und langen Knebelbart, den er sonst zu tragen pflegte, schon zu seiner Verkleidung als Landmann abgeschnitten, und der Wechsler wies ihn daher jetzt nur an, wie er den falschen Bart zu befestigen habe; dann verließ er ihn und kehrte von dort nach seinem Comptoir und der Küche zurück, um zu seinem anderen Besuch in den Laden zu gehen, den er schon so lange hatte warten lassen.

Als der Juwelier in das Vordergemach trat, das als Laden und Empfangszimmer der Fremden diente, die er nicht in das Allerheiligste seines Comptoirs einlassen wollte, fand er Herrn von Neuillat mit seinem Begleiter. Herr von Neuillat saß auf dem Sofa, der andere entfernt auf einem Sessel, so daß der Schatten der Lampe verbunden mit dem hoch aufgeschlagenen Militärmantel ihn jeder näheren Prüfung entzog.

»Entschuldigen Sie, Signori, daß ich Sie habe warten lassen,« sagte höflich der Wechsler, »aber ein armer Handelsmann, der geplagt ist mit vielen Geschäften, ist nicht immer Herr seiner Zeit. Womit kann ich dienen dem gnädigen Herrn?«

Der Vertraute der entthronten Königsfamilie öffnete sein Portefeuille und nahm einen Brief heraus.

»Dies Schreiben, Signor Mortara, wird Ihnen nicht unbekannt sein, es giebt dem Adressaten oder einem von ihm Bevollmächtigten ein Rendezvous auf heut Abend bei Ihnen?«

Der Wechsler verbeugte sich. »Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen, Excellenza?«

»Ich bin der Baron von Neuillat, Reisestallmeister Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Herzogin von Berry. Ich glaube, daß der Besitz des Briefes mich genügend in Ihren Augen behufs unserer Verhandlung legitimieren wird.

»Verzeihen Euer Excellenz, wenn ich bin mehr vorsichtig als vielleicht nötig, da es sich handelt nicht um mein Gut, sondern um das Vertrauen, was mir geschenkt hat ein Dritter. Darf ich fragen, wer der Signor ist, der gekommen ohne Zweifel mit Ihnen, und ob er darf hören unser Gespräch?«

»Der Herr ist mein Freund, obschon er wünscht, vorläufig unbeachtet zu bleiben. Sie können ohne Gène in seiner Gegenwart sprechen.«

Der Juwelier verbeugte sich.

»Dieser Brief,« fuhr Herr von Neuillat fort, »knüpft eine schon früher begonnene Unterhandlung über den Verkauf gewisser Dokumente wieder an und verweist uns an Sie, als die Person, bei der jene Papiere deponiert sind.«

»Signor Lorini hat mir geschenkt sein Vertrauen.«

»Wenn die Papiere das enthalten, was man uns angedeutet,« fuhr der Baron fort, »so sind sie allerdings nicht ohne Wichtigkeit, obschon ihr Wert bei den gegenwärtigen Verhältnissen von dem Besitzer wahrscheinlich sehr überschätzt wird, und ich überhaupt bezweifle, daß sie gültige Beweise enthalten.«

»Euer Excellenz mögen sich selbst überzeugen!« Der Juwelier nahm aus der Brieftasche seines Rockes ein Paket Papiere. »Es sind die Abschriften, und ich kann bürgen Euer Excellenz für die Richtigkeit. Hier ist der Auszug aus den Protokollen des Gerichts, zwei Briefe Ihrer Majestäten und die Erklärung des Leibarztes und zweier Zeugen.«

Herr von Neuillat las langsam die Papiere, während der Juwelier nicht ohne Unruhe das Inkognito des zweiten Fremden zu durchdringen suchte.

»Das sind Abschriften, aber die Originale?«

»Sie befinden sich an einem sichern Ort.«

»Also in Ihren Händen! Wissen Sie, Signor Mortara, daß dies eine ziemlich gefährliche Sache ist?«

Der Juwelier zuckte die Achseln. »Ich bin nur der Unterhändler für einen Dritten!«

»Das weiß ich, und zugleich, daß Sie ein rechtlicher und kluger Mann sind. Was fordert Herr Lorini für diese Papiere?«

»Eine Million Lire!«

Der Baron lächelte. »Und wie viel hat Ihnen heute morgen der Oberst Fleury geboten?«

Der Wechsler fuhr erstaunt zurück. »Wie kommen Euer Excellenz auf die Frage?«

»Sie sehen, daß ich gut unterrichtet bin. Aber ich will Ihnen etwas sagen, denn es thut mir leid, daß ein Mann, von dem ich gehört, daß er bereits Sr. Majestät König Heinrich V. einige nicht unwesentliche Dienste geleistet hat, hier vielleicht zu Schaden kommen soll. Dieser Herr Lorini, der von einem ganz gemeinen Verrat seines Vaters einen ebenso niedern Gebrauch machen will, hat Sie getäuscht, oder täuscht sich selbst.«

»Wie meinen Euer Excellenz das?«

»Diese Papiere haben keinen Wert, so lange das verbindende Hauptdokument fehlt. Sie sind nichts, als Autographen, geeignet einigen Zeitungsskandal hervorzurufen, aber ohne Wichtigkeit, ohne jenes.«

»Und das ist?«

»Das Taufzeugnis. Ich will Ihnen nicht verbergen, daß sie in Verbindung mit jenem eine Million wert sein können, wenn sie sich in geeigneter Hand befinden und der richtige Augenblick gekommen ist. Ohne diese Vereinigung sind sie bloße Drohungen.«

»Aber ich glaube gefunden zu haben die richtige Hand,« sagte aufmerksam der Juwelier, »indem ich sie habe angeboten der rechten Person in Venedig?«

»Wenn Sie Se. Majestät den König Heinrich V. und seine Familie meinen, so haben Sie und Ihr Auftraggeber sich geirrt. Se. Majestät bieten Ihnen zwanzigtausend Franken für die Vernichtung dieser Papiere, aber nicht einen Sous für ihren Erwerb.«

Der Juwelier sah ihn erstaunt an.

»Das von Gottes Gnaden überkommene Recht der legitimen Fürsten auf den Thron Frankreichs,« fuhr der Baron ernst, fast feierlich fort, »soll nicht durch Schmutz und Skandal zum Siege gelangen. Das königliche Blut, das auf dem Schafott des place de la concorde geflossen ist, darf nicht entweiht werden durch einen Akt der Niedrigkeit. Wen die französische Nation in ihrer Verirrung auch zu ihrem Oberhaupt gewählt haben mag, ein Sohn Frankreichs hat nicht das Recht, die Wahl seiner Nation zu beschimpfen. Ich bin beauftragt, Ihnen ein für allemal zu erklären, daß Se. Majestät und seine Familie diesen schimpflichen Handel zurückweisen.«

Der Juwelier hatte unter den ernsten und strengen Worten des Abgesandten seinen Kopf gebeugt. Als er ihn wieder erhob, trug sein Gesicht einen unverkennbaren Ausdruck von Rührung und zwischen seinen grauen Wimpern spiegelte sich eine den Menschen in ihm ehrende tiefe Bewegung.

»Signor,« sagte er ernst, »ein Jude von Mantua kann nicht sprechen von seinem großen und mächtigen Vaterland, aber er kann fühlen, was es heißt, zu sein der Gesalbte des Herrn und verbannt ohne Schuld aus dem geliebten Land. Wenn Seine Majestät der Herr Graf von Chambord brauchen können bei einer Gelegenheit den Beistand von einem geringen Mann, wie der Löwe brauchen kann zuweilen die Maus, mag er befehlen über den Samuel Mortara zu Mantua; denn er hat mich heute gelehrt, daß auch die großen Herren haben etwas Besseres, als den Durst nach Macht und daß man kann sein auch in der Verbannung der wahre König.«

Der Baron war aufgestanden und reichte ihm die Hand. »Darf ich Ihnen einen Rat geben, Signor Mortara?«

»Ein weiser Rat, Excellenza, ist oft besser als Gold.«

»Dann geben Sie bei erster Gelegenheit Herrn Lorini diese Papiere zurück; denn, wie wertlos sie im Grunde auch sind, ihr Besitz ist nicht ohne Gefahr, selbst unterm Schutz der Kanonen von Mantua. Und nun leben Sie wohl; ich hoffe, ein ander Mal die Gelegenheit zu haben, Ihre schöne Sammlung von Kleinodien zu sehen, wegen deren Ihr Laden berühmt ist.«

Der Herr des Hauses war im Augenblick wieder ganz der Kaufmann. »Ich kann Euer Excellenz zeigen etwas Ausgezeichnetes von Diamanten, wie kein König auf dem Thron sich braucht ihrer zu schämen. Ich will sie noch tragen diesen Abend zu dem russischen Fürsten, der logiert im goldenen Kreuz. Wenn Seine Majestät der Herr Graf von Chambord kaufen wollen Diamanten, kann ihn keiner besser bedienen, wie der Samuel Mortara zu Mantua.«

Der Baron lachte. »Ein ander Mal, Herr Mortara, hoffe ich, schließen wir einen bessern Handel als heute. Meine Geschäfte rufen mich dringend morgen früh nach Venedig. Gute Nacht!«

Der Wechsler ergriff den silbernen Armleuchter, seinem Besucher höflich zu leuchten. Trotz seiner geschickten Wendung gelang es ihm aber auch jetzt nicht, das Gesicht des Begleiters des Barons zu sehen. Während er durch den Flur voran ging nach der Hausthür, und Theresitta diese öffnete, blieb der Mann im Mantel einen Augenblick bei der älteren Frau stehen, die den Kopf gebeugt, teilnahmlos am Herde saß.

»Anna Morisi?« flüsterte er leise.

Die Frau fuhr aus ihren Gedanken auf und starrte zu der finsteren Gestalt empor.

»Im Namen der heiligen Kirche! nehmt und gehorcht!« Ein Agnus-Dei von Lapis-Lazuli, um das ein Papierstreifen gewickelt war, fiel in ihren Schooß. Im nächsten Augenblick schon stand der Fremde an der Thür, wo der Hausherr sich demütig dem vornehmen Herrn empfahl.

In diesem Moment, gerade, als er die Thür schließen wollte, riß der Wind den Mantel des Fremden von einander, und das Licht der nächsten Laterne fiel auf sein Gesicht.

Der Juwelier fuhr zurück, als hätte er auf eine Natter getreten.

Der Ausdruck bittern unversöhnlichen Hasses flog über sein Gesicht.

»Der Graf,« murmelte er. »Was will der Sohn des Abtrünnigen in meinem Haus? Möge der Fuß verdorren, den er gesetzt auf meine Schwelle, sein Tritt bedeutet Unheil!«

In tiefen Gedanken ging er durch den Flur nach seinem Comptoir zurück. Diese Gedanken ließen ihn auch die Aufregung der älteren Frau nicht bemerken, der das in so eigentümlicher Weise enthaltene Zeichen nicht unbekannt schien; denn sie preßte mit frommer Extase das Agnus-Dei wiederholt an Stirn und Lippen, ehe sie es sorgfältig in ihrem Busen verbarg.

Den Rücken gegen ihre Tochter gekehrt, machte sie sich am Licht zu schaffen, um das Papier zu lesen, das um das heilige Symbol geschlungen gewesen war.

Es enthielt nur wenige Worte:

 

»Bei Deinem Seelenheil! Im Namen Gottes und der Heiligen Jungfrau: man erwartet Dich nach Mitternacht an der linken Pforte der Kirche von San Barbara.

Im Auftrage des Rektors Antonio,
Deines Beichtvaters.«

 

Als der Baron und sein Begleiter über den Platz schritten, fragte der erstere: »Ich glaubte, Sie hätten gleichfalls ein Geschäft mit dem Juden Mortara, liebster Graf?«

»Nicht mit ihm, doch in seinem Hause!«

»Aber ich habe nichts bemerkt …«

»Was ich suchte, habe ich gefunden. Die Sache ist zu unbedeutend, um Sie zu interessieren, aber ich danke Ihnen, daß Sie mich der Verhandlung beiwohnen ließen. Diese Gesinnung macht Seiner Majestät alle Ehre, obschon es nicht gerade in unserem Interesse gehandelt ist.«

Sie gingen, von den angebotenen Papieren sprechend, weiter. – – – – – – – – – – –

Die ehemalige Amme hatte eben Zeit gehabt, das Papier zu verbergen, als der Hausherr aus seinem Gemach zurückkam, zum Ausgehen gerüstet und von einem Fremden in langen Kaftan begleitet, wie ihn die armenischen Händler und die jüdischen Kaufleute des Orients tragen. Ein dunkler dichter Bart umkrauste das Gesicht des Mannes, und der Fez war tief über die Stirn gezogen. In der Hand trug er die Kassette, in die der Juwelier seine Kostbarkeiten bei einem Besuch außer dem Hause zu verschließen pflegte.

Die Geschäfte des Hausherrn und die Besuche, die er erhielt, waren viel zu mannigfaltig und häufig geheimnisvoller Natur, als daß das Erscheinen des fremden Mannes den beiden Weibern weiter aufgefallen wäre, und sie beachteten daher nur die Empfehlung des Wechslers, die Thür sorgfältig bis zu seiner Rückkehr verschlossen zu halten und niemand zu öffnen, da Abraham seinen besonderen Schlüssel zum hintern Eingang hatte.

Der Wind tobte heftig und pfiff in den Winkeln und Ecken der alten Häuser und der mächtigen grauen Mauern der Kirche von San Barabara, als der Juwelier mit seinem Begleiter an dieser vorbei über den engen Platz schritt, demselben leise noch allerlei Regeln und Weisungen für sein Verhalten erteilend.

Sie waren an dem Portal der Kirche kaum vorüber, als aus dem dunklen Gang sich drei Gestalten lösten und einige Schritte hervortraten.

»Das ist er, dort zur Linken! das ist der Mann! aber ich will verschwarzen, wenn ich weiß, wer ihm trägt die Kassette, wenn es nicht ist der Mensch, der geblieben ist bei ihm!«

Der Sprecher war eine kleine verwachsene Gestalt; von seinen beiden Gefährten trug, so viel die Dunkelheit zu sehen erlaubte, der eine, eine große, kräftige Figur, den Mantel eines österreichischen Soldaten, der andere war ein alter, ziemlich reduziert gekleideter Kerl.

» Bassa manelka,« fluchte der im Mantel, »wenn is sich verfluchtiger Jude fort und das Nest leer, können wir gleich gehen ans Werk.«

»Bscht, Kamerad,« meinte der Alte in breitem schwäbischem Dialekt – denn die Unterhaltung wurde in deutscher Sprache gepflogen, – »nit so hastig – 'sischt zu zeitig, und wenn er kommt zurück und findet uns an der Arbeit, macht er an groß Geschrei, und die Straßen sind noch voll Leit!«

»Er hat Recht,« sagte der Kleine. »Es muß bleiben bei unserer ersten Bestimmung. Die Weiber sind wach im Haus und würden machen ein großes Gelärm. Eine Viertelstunde nach Mitternacht werd' ich Euch öffnen die Hinterthür. Ihr kennt den Vertrag!«

»Das Geld und der Laden ist unser! Bassa terem tete! Is sich der Jude reich!«

Der alte Schwabe kicherte vergnügt. »Ihr werdet uns die Papiere zeige, zehntausend Franke sind kein Pappestiel! I hab' halt kein so schönes G'schäft gemacht seit damals in Paris, als die hübsche Gräfin entführt ward!«

Der Kleine sah sie mit einem verachtungsvollen Blick an, den sie in dem Dunkel nicht bemerkten. »Falsche Gojim,« murmelte er, »Ihr werdet sein das Wachs in meiner Hand. Mögt Ihr nehmen die Papiere und das Geld, wenn mein sind die Diamanten des Christen!« Er wandte sich zu den Verbündeten. »Aber was ist zu thun, wenn erwachen sollte der Meister oder eins von den Weibern?«

Der Soldat faßte ihn mit einem gewaltigen Griff an der Kehle. » Kutya lanczos, kennt Ihr das? Der Szabó ist nicht gewesen umsonst so lang der Profoß vom Regiment, daß er eine lumpige Judenseele nicht könnte bringen zum Schweigen.«

Der alte Schwabe kicherte vergnügt. »Fideldidum! sind wir Kinder im Handwerk, oder hab i durchgemacht alle Schulen von Paris? Kümmert Euch nit darum, desch is unsre Sorg!«

Der Kleine nickte. »Wohlan! Ihr wißt Ort und Zeit! Auf Wiedersehen! ich muß hinein, denn er muß mich finden auf meinem Platz, wenn er kehrt zurück.« Heimlich für sich murmelte er noch: »Ich muß sehen, wo er verschließt die Diamanten!«

Das würdige Kleeblatt trennte sich. – – – –


In einem Salon des Croce verde, einem der bekanntesten Hotels von Mantua, hatten auf dem Sofa zwei Frauen Platz genommen, die eine groß und schlank, von edlem Gesicht, aber bleichem leidenden Aussehen, schmucklos in eine schwarze Seidenrobe gekleidet; die andere ein koboldartiges, quecksilbernes Wesen, braun, mit funkelnden Augen. Zwischen beiden Frauen lag auf dem Sofa ein Knabe von vier bis fünf Jahren, mit dem die Braune neckend spielte, während er sich schlaftrunken an ihre Brust lehnte.

Die Dame in Schwarz, offenbar die Herrin, hatte sich in die Ecke des Sofas zurückgelehnt, die blasse von dunklen Locken umrahmte Stirn in die schlanke weiße Hand gestützt. Ihr Auge ruhte nicht, wie das Auge einer zärtlichen Mutter auf dem Kinde, das doch ihre Züge trug, sondern starrte träumerisch hinein ins Leere, und es war kaum zu entscheiden, ob sie die Worte und den Sinn dessen verstand, was der Vorleser an der andern Seite des Tisches vortrug.

Dieser war ein Mann von etwa dreißig Jahren, obschon der tiefe Ernst und die Falten mancher Erfahrung und Täuschung auf seiner Stirn ihn vielleicht einige Jahre älter erscheinen ließen. Er hatte trotz dieser Zeichen ein offenes männliches Gesicht, das eine Lebenskraft zeigte, die dem verborgenen Kummer Trotz bot. Er war einfach, aber gut gekleidet und die ruhige Ehrerbietung, mit der er, zuweilen das Buch weglegend, eine Bemerkung über das Gelesene oder über das Kind machte, sowie die freundliche, aber gemessene Weise, in der er zu einem zuweilen eintretenden Diener sprach, bewiesen, daß er die in den meisten vornehmen Familien für die Selbständigkeit des Trägers so schwierige Stellung eines Hofmeisters des Knaben und Sekretärs der Dame vom Hause mit Takt und Sicherheit auszufüllen wußte.

»Lassen Sie es genug, sein, Herr Meißner,« sagte die Dame mit einem vornehmen, aber freundlichen Wink ihrer Hand, »wenn auch die klassische Sprache dieses Landes dank der Erziehung meiner Heimat mir noch genügend in der Erinnerung ist, langweilt sie doch unsere kleine Freundin. Ich bat Sie im Grunde mehr um die Verse, um mich hier an der Stelle, wo der große Dichter geboren wurde, an unsere schönen Tage an seinem Grabe zu erinnern.«

Der Hofmeister schloß das Buch Virgils Georgica. »Die kleine Vorbereitung auf das Landleben,« sagte er lächelnd, »das Ihro Durchlaucht an den Ufern des Gardasees zu führen gedenken, kann einstweilen Feodora an die Langeweile gewöhnen, die sie dort gewiß empfinden wird!«

» Ebbadta, was wissen Sie davon? ich liebe auch das Land, die Heiden, die weiten Strecken, auf denen man sich tummeln kann! Geben Sie mir die Pußta zurück, und ich will nichts mehr haben von Ihren Theatern und Palästen! ich werde den Fürsten bitten, mir ein Roß mit den langen Mähnen und den kleinen roten Augen zu schenken, wie er sie hat zu Hunderten in seinen Gestüten am Don, das ist etwas anderes, als Ihre trägen Maultiere und Esel an dem heißen Golf von Neapel! und dann wollen wir sehen, ob Sie mir's gleich thun im lustigen Jagen!«

Die Dame, die der Hofmeister als Fürstin angeredet, sah mit einem Ausdruck schmerzlicher Trauer auf die Sprechende. »Du hast Recht, Feodora, wer die Tage der Jugend wieder zurückrufen könnte! In den meisten Menschenleben sind sie das Beste, ja, das einzige Glück! Aber Du irrst Dich, Feodora, wenn Du glaubst, wir werden die weiten Flächen und Ebenen unseres Ungarns um uns haben! eine gewaltige, erhabenere Natur wird uns umgeben, die mächtigen riesigen Alpen, ihre Ferner und Gletscher spiegelnd in den blauen Wellen des italienischen Sees!«

»Ich verstehe nichts davon, mir ist die weite Ebene willkommener, wenn's einmal das Land sein soll; die Berge hindern die Freiheit, die ich liebe, und die Mumeli Swa hat mich als Kind schon gewarnt und prophezeit, daß sie mir einst Unglück bringen würden. Aber wenn's Ihnen nur gefällt, Durchlaucht, und Sie die wilde Tunsa nicht von sich schicken, dann ist sie mit allem zufrieden und für den kleinen Dimitri und sie findet sich immer ein Plätzchen, wo sie mit einander laufen und spielen können.«

Sie haschte nach der Hand der Gebieterin, die sie mit Küssen bedeckte. Der Knabe schrie und wehrte sich, wie sie sich so über ihn beugte: »Garstige Tunsa, ich will nicht mit Dir laufen! Warum versprichst Du mir immer ein Pferd und hältst nie Wort?«

»Wenn Du artig bist und Deine Aufgaben lernst, Dimitri,« sagte der Hofmeister ruhig, »wirst Du auch ein Pferd erhalten, und ich selbst werde Dich reiten lehren.«

Der Gedanke hatte den Schlaf aus den Augen des Kindes verscheucht, und es klatschte vergnügt in die Hände. »Wenn Sie mir's versprechen, Herr Meißner, dann weiß ich, daß es wahr ist! Der kleine Dimitri wird gewiß auch recht artig sein. Aber ich kann schon reiten, und fürchte mich nicht ein bißchen, wenn der Petrowitsch mich vor sich auf dem Sattel hat und mir die Zügel giebt!«

Die Fürstin und ihre Gesellschafterin, das Kind der Pußta, wechselten einen Blick, die Fürstin hatte der anderen die Hand gelassen. »Wie kannst Du davon reden,« sagte sie in ungarischer Sprache, die der deutsche Hofmeister nicht verstand, »daß ich Dich von mir schicken könnte! Was sollte aus diesem Kinde werden und aus mir, wenn Du uns fehltest, unsere beste Stütze gegen seinen bösen Sinn und seine Gewalt!«

» Ebbadta! wie Sie so engelgut sind gegen die wilde Zigeunerdirne, daß Sie ihr alles Herzeleid vergeben, was sie Ihnen gebracht! Und wenn ich tausendmal mein Blut verspritzte für Sie, es wäre noch lange nicht genug, die Schuld zu tilgen!«

»Was Du auch gethan, Du hast es mehr als gesühnt seit jenem schrecklichen Tage! Aber steh' auf, Tunsa, was muß der Knabe und sein Lehrer denken!«

Die Zigeunerin, die mit der ihr eigenen leidenschaftlichen Aufregung, sich vor der Gebieterin niedergeworfen und ihre Kniee umfaßt hatte, erhob ihr Auge.

»Er ist treu, Herrin und liebt Sie wie ich,« sagte sie bestimmt. »Er hat keine Furcht vor dem Fürsten und würde Sie verteidigen, wenn die Tunsa Sie verlassen müßte, um zurückzukehren in das Nichts. Denn es wird geschehen, der Fluch der Ältermutter, die ich frevelnd zurückgestoßen, ruht auf dem abtrünnigen Kind ihres Stammes, und die Huzla des Vaters, wie sie die Tochter vergeblich zur Hilfe rief am Turm von Enyád, klingt in Tunsas Ohren, daß sie rasend wird, und der bittere Haß gegen ihn, den Teufel, der uns alle quält, ihre Adern durchtobt!«

»Mädchen komme zu Dir! bedenke, wo wir sind!«

»Er versteht nicht unsere Sprache, und verstände er sie, was kümmert's mich? Er ist brav und treu, er würde uns helfen, uns rächen und uns schützen! Du bist ein Engel des Lichts, Herrin, und ich der Teufel, der Dich verderben half! Erst in jenen Stunden, als Du krank lagst in wilden Phantasieen nach jener schrecklichen Nacht und die boshafte Zigeunerin kam, die Grafentochter, die Fürstin zu verhöhnen, da wandte sich endlich das Herz mir in der Brust, und Tunsa warf sich weinend zu Deinen Füßen, und gelobte Deine Magd zu sein, und Dich zu schützen, gegen seine Bosheit. Ich sah, mit welcher Sanftmut und Geduld Du die Leiden trugst, die Dir Dein Gott auferlegt, und wie die verachtete Hündin bewachte ich Deine Schritte, so oft Du mich auch von Dir stießest, bis dies Kind die starre Rinde Deines Herzens schmolz, und Du mir erlaubtest, den einzigen Zweck meines Lebens noch zu erfüllen, Dein Kind zu warten und zu schützen, daß es der Trost der Mutter werde im Leben!«

Die blasse Mutter starrte mit traurigem Blick auf den Knaben, ganz die Gegenwart des Hofmeisters vergessend, der gewöhnt an das leidenschaftliche Wesen und die eigentümliche Stellung der Wärterin, sich leise erhoben hatte und ans Fenster getreten war, in die dunkle stürmische Nacht hinausschauend. Er ehrte die heiligen Schmerzen des Herzens. Lagen doch auch auf seinem so viele: das zerstörte Leben, das ihn nach dem mannigfachen Umhertreiben in den politischen Stürmen durch seine Sprachkenntnisse und die Empfehlung eines Offiziers von vornehmer Familie, dem er bei dem Überfall von Friederica das Leben gerettet hatte, als Hofmeister und Sekretär vor einem Jahre in das Haus des Fürsten Trubetzkoi geführt hatte, die unglückliche Liebe zu dem stillen Edelfräulein der Mark, seiner Jugendgefährtin, der Tod des Vaters, der voll Gram über den verlorenen Sohn vor zwei Jahren gestorben war!

»Armes Geschöpf,« flüsterte die blasse Frau, »bist Du nicht selbst ein Kind des Fluchs und der Sünde, das mich stündlich mahnt an das, was ich bin! – Steh auf, Feodora, Du hast viel verschuldet, aber Gott und die Heiligen haben Dein Herz gewandt und ohne Deinen Beistand wäre dies gebrochene Leben längst dem Haß erlegen, der auf ihm ruht, und mir wäre wohl, wie der armen Mutter in ihrem Grab, die auch die Schmach nicht vergessen konnte, für deren Verhinderung ihre Tochter sich nutzlos geopfert!«

Die Zigeunerin hatte sich erhoben. »Mut, Herrin, wie vieles bleibt Ihnen, während das Kind der Pußta nichts hat, als ihr glänzendes Elend! Blieb Ihnen nicht das Vaterland und die Rache?«

»Das Vaterland? seine Kraft ist gebrochen, seine Helden sind tot und zerstreut! was vermag ein schwaches Weib zu thun. Geh'! schon der geringe Dienst, den ich ihnen leistete mit den Briefen an den Juwelier, widerte mich an! Die Unglückliche, die Entehrte hat kein Vaterland mehr!«

»Die Rache, Herrin, die Rache ist süß, für die stolze Fürstin, wie für das zertretene Zigeunerkind!«

Die Dame schüttelte traurig das blasse Haupt. »Er ist mein Gemahl und Herr, ich habe freiwillig an Gottes Altar das Ja gegeben, nur der Tod entbindet mich meiner Pflicht! Die Vergeltung ist die Sache Gottes!«

»Dann wird er vergelten!« sagte die Wärterin leidenschaftlich. »Wenn der Gott der Christen so mächtig und gewaltig ist, daß selbst die starken Herzen sich ihm beugen und alles auf ihn laden, dann, Herrin, muß Dein Gott Dir vergelten, und die Zigeunerin sagt Dir: hoffe!«

Die Fürstin wandte den Blick von dem eingeschlafenen Knaben nach oben. »Dort!« sprach sie leise und legte die Hand auf das Herz. »Bis dahin, Tunsa, und die Heiligen mögen die Stunde bald herbeiführen, laß uns den schwer errungenen Frieden der Seele nicht stören!« Sie wandte sich in deutscher Sprache zu dem Hofmeister. »Haben Sie Nachricht von Signor Mortara, Herr Meißner, wegen der Villa am Garda-See?«

»Sie soll uns übermorgen in Verona treffen, Durchlaucht! Signor Mortara hat sofort geschrieben und zweifelt nicht an günstiger Antwort. Er wollte diesen Abend noch ins Hotel kommen!«

»Es ist wahr, ich vergaß, daß er mir etwas für Dich zu bringen hat, Feodora. Was willst Du, Petrowitsch?«

Die Thür hatte sich nach leisem Klopfen geöffnet, der riesige Kosak, der mit seinem zur Strafe nach dem Kaukasus gesandten Kameraden den Fürsten im Donau-Feldzug begleitet hatte, war eingetreten und harrte mit auf der Brust gekreuzten Armen der Anrede der Fürstin.

»Der Jud ist da, Gospodina, der mit Gold handelt und Steinen,« sagte er ehrerbietig.

»So führ' ihn herein!«

Der Kosak zögerte. »Halte zu Gnaden, Herrin, ist sich nicht der Mann bei dem Du warst heute morgen. Ist sich der zum Herrn gegangen, der ihn sprechen will, und hat sich gebeten, Du solltest den Gehilfen empfangen, den er mitgebracht, Dir zu zeigen Dinge viele schönen!«

»Wollen Sie die Güte haben, nachzusehen, Herr Meißner,« bat die Fürstin, »und wenn es so ist, den Mann zu uns zu führen. Er wird uns die Stunde bis zum Schlafengehen wenigstens kürzen!«

Der Sekretär war hinausgegangen, und bald darauf kehrte er mit einem hochgewachsenen Manne in den Gewändern der orientalischen Juden zurück, der ehrerbietig das Zeichen des Salem an Stirn und Brust machte und an der Thür stehen blieb.

»Signor Mortara,« sagte der Fremde, »läßt legen seine ehrerbietige Entschuldigung der Altezza zu Füßen, er wird kommen, zu hören Ihre Befehle, wenn der gnädigste Herr Fürst ihn hat entlassen. Er hat mir befohlen zu bringen der gnädigsten Frau den bestellten Schmuck und sie zu bitten, anzusehen einige schöne Arbeiten in Gold und Juwelen, die nicht unwert sind, beschaut zu werden von Augen, die strahlender glänzen, als der Diamant und leuchtender als die Sterne am Himmel, den Gott ausgespannt hat über dies Land.«

Die Fürstin gab der Dienerin einen Wink, die, schnell von ihrer vorhergegangenen Erregung beruhigt, mit der allen Naturkindern eigenen Leidenschaft und Neugier für Schmuck und glänzendes Spielwerk den Stellvertreter des Juweliers zu dem Tisch führte und ihn seine Waren auskramen ließ.

Der falsche Gehilfe pries mit großer Zungenfertigkeit die Kostbarkeiten von Florenz, Mailand und Venedig, die er vor den lüsternen Augen der Zigeunerin und dem gleichgültigen Blick der Gebieterin ausbreitete, während er dazwischen oft mit dem trüben Schatten, der über sein halb von dem mächtigen Bart verstecktes Antlitz flog, sie beobachtete. Auch der Hofmeister war auf die Einladung der Fürstin näher getreten und prüfte bewundernd die schönen Arbeiten.

»Haben Sie die Ohrringe mitgebracht, die ich Ihrem Herrn bestellt?«

Der Gehilfe beeilte sich, ein Etui zu überreichen. »Was die gnädige Fürstin haben in Händen sind die schönsten Türkisen, die ich selber mitgebracht von Smyrna. Sie sind so blau wie der Himmel im schönen Ungarnland.«

Die Dame sah ihn stutzend an, aber der Mann kramte unbefangen in seinen Schmuckkasten weiter. Die Ohrringe waren in der That schön und für einen etwas grellen Geschmack passend, große birnenförmige Türkisen in langem Gehäng mit kleinen Diamanten eingefaßt.

»Sie sind für Dich, Feodora, ich habe sie Dir zum Andenken bestimmt.«

Die Zigeunerin betrachtete mit strahlenden Augen den hübschen Schmuck, dann, wie ein Kind sich freuend, sprang und tanzte sie in der Stube umher, probierte vor den Spiegeln die Gehänge und küßte die Hände und Kleider der Gebieterin.

Diese hatte eine feine goldene Kette von jener herrlichen venetianischen Arbeit gewählt, die sie schon im Mittelalter beliebt und berühmt machte.

»Werden Sie mir erlauben, Herr Meißner, Ihnen diese Kleinigkeit als ein Zeichen meines Dankes für die Teilnahme aufzudringen, die Sie mir so taktvoll auch außerhalb der Sphäre Ihres Amtes stets bewiesen haben?«

Die Art zu geben, der Ausdruck der Worte und des Blicks, die das Geschenk begleiteten, waren so zart und freundlich, daß der Mentor des fürstlichen Sprößlings sie unmöglich zurückweisen konnte. Er sagte in höflichen Worten seinen Dank, und Feodora ließ es sich nicht nehmen, die Kette ihm alsbald um den Hals zu schlingen und an der Uhr zu befestigen.

Während der kleinen Scene hatte der falsche Orientale der Fürstin mehrere andere Schmucksachen vorgelegt. »Altezza sind so gnädig gegen Ihre Freunde und Diener,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »und machen Glückliche, wohin der Sonnenstrahl Ihres Auges trifft. Sollte unter all den Kostbarkeiten des Signor Mortara nicht eine sein, die verdiente, von der Herrin für sich begehrt zu werden?«

»Ich bewundere die Schönheit der Arbeit und den Glanz der Steine,« bemerkte die Fürstin, »aber ich liebe nur die Perlen und trage überhaupt nur selten Schmuck.«

»Perlen bedeuten Thränen,« fuhr der Orientale beharrlich fort, »aber die Opale der Berge Ungarns haben denselben Glanz, und ihr Geheimnis ist den Augen der Menge unergründlich und nur den Geweihten Verständnis.«

Er hatte einen Ring von altertümlicher Form, in dessen Mitte ein Opal sein geheimnisvolles Licht warf, aus einem Stückchen Leder gewickelt und schob ihn vor die Fürstin.

Diese nahm das einfache Kleinod anfangs achtlos in die Hand, als aber ihr Auge näher darauf fiel, zuckte es wie ein elektrischer Schlag durch ihren ganzen Körper, und Totenblässe überflog ihr Gesicht.

Sie mußte sich festhalten an dem Tisch, um nicht zusammenzusinken, ihre dunklen Augen wandten sich mit geisterhaftem Ausdruck auf den Verkäufer, ihre Lippen öffneten sich, gleich wie um einen Schrei der höchsten Pein, des Entsetzens Raum zu geben, unter dem ihre keuchende Brust rang.

Der Fremde legte rasch die Finger auf den Mund, indes er den andern den Rücken kehrte.

» A Hon!« Das Vaterland. flüsterte er leise.

Sie war halb ohnmächtig in das Sofa zurückgesunken, mit Anstrengung aller Kraft rang sie nach Fassung, denn schon wurden der deutsche Hofmeister und die Zigeunerin aufmerksam und traten näher.

»Befinden sich Ihro Durchlaucht unwohl?« frug der Sekretär.

»O nicht doch, Herr Meißner! ich danke Ihnen! Aber nimm den Knaben, Feodora, und bring' ihn zur Ruhe. Es ist Zeit. Und Sie, Herr Meißner, warten Sie auf den Juwelier, und fragen Sie ihn um das Nähere wegen der Villa. Ich habe dann nicht nötig, ihn selbst zu empfangen.«

Der Hofmeister verbeugte sich; er sah, daß die Fürstin allein sein wollte, aber er maß mit Unruhe die Gestalt des orientalischen Juden.

»Ohne Besorgnis, Herr Meißner! Ich habe dem Mann noch einige Änderungen an diesem Armband aufzutragen.«

Man sah, wie jede der gleichgültigen Silben ihr schwer wurde und nur langsam über ihre Lippen kam. Aber er fühlte, daß er nicht bleiben durfte, wenn er auch beschloß, in der Nähe zu bleiben, um für alle Fälle bereit zu sein, da er aufrichtige Verehrung und Teilnahme für die Fürstin hegte und durch Tunsas und der Diener Reden wie aus den eigenen Beobachtungen genug erfahren hatte, um zu wissen, daß die Marmorblässe des Leidens nicht ohne Ursache auf diesen edlen Zügen lag.

Der Fremde sah mit ernstem, trübem Ausdruck dem Knaben nach, den seine freiwillige Wärterin eben unter seinem Sträuben hinaustrug, denn er hatte den unter einem Shawl Schlummernden bisher nicht beachtet; dann kehrte sein Blick zu der jungen Mutter zurück.

Ihr Auge haftete mit einem gewissen Ausdruck des Schreckens auf ihm, sie hatte sich aufgesetzt im Sofa, die Linke preßte den verhängnisvollen Ring an ihr Herz.

»Um des Himmels willen, Signor! wie kommen Sie zu diesem Ring?«

»Ich bin auf ehrliche Weise zu ihm gekommen, Altezza, wie ein Handelsmann kommt zu solchen Dingen,« sagte der Fremde, mehr um den Sturm ihrer Gefühle zu mäßigen.

»Sie zerreißen mir das Herz, wenn Sie nicht antworten! Sie wissen nicht, was dieser Ring mir ist, an welche glücklichen und schrecklichen Stunden meines Lebens er mich erinnert! – Sie sind nicht was Sie scheinen, Ihr heimatliches Wort hat Sie verraten: bei der heiligen Jungfrau, reden Sie, wer sind Sie?«

Der verkleidete Händler warf einen raschen Blick rings um sich her, dann nahm er den Fez von seinem Kopf.

»Ich kann den Bart nicht entfernen, da ich ihn nicht so leicht wieder befestigen könnte,« sagte er in ungarischer Sprache. »Es wäre zu gefährlich für mich, in diesem Hotel, das von österreichischen Offizieren besucht ist. Aber vielleicht erinnert sich die edle Gräfin Cäcilie Pálffy auch in dieser Entstellung eines Mannes, der freilich nur einmal das Glück hatte, in der Heimat sich in Ihrer Nähe zu befinden.«

Sie sah ihn nachdenkend an. »Wo das, Herr?«

»In Pest auf dem Ball der Magnatentafel. Ein Freund und Kamerad stellte mich Ihnen vor.«

Plötzlich zuckte es wie ein Funke der Erinnerung in ihren Augen.

»Leutnant Türr?«

Er verbeugte sich. »Man hat mich in Deutschland seitdem zum Obersten gemacht, aber mein Herz ist gut ungarisch geblieben.«

»Und, sagen Sie es mir, wie kommen Sie zu diesem Ring?«

»Es ist eine ziemlich lange Geschichte; ich erhielt ihn von einem Krieger am Kaukasus!«

Sie hatte die Arme verschränkt und sah starr, thränenlos vor sich nieder.

»Er hätte ihn lebend nie von seiner Hand gelassen. Die Habsucht seiner Henker hat ihn nicht einmal gegönnt, ihn in sein dunkles einsames Grab auf dem Anger zu nehmen!«

»Haben Sie je den Namen Sefer Bey gehört, Durchlaucht?« fragte nach einer Pause der Ungar.

»Sefer Bey? Das ist der tapfere Tscherkessen-Fürst, dessen siegreicher Säbel den Verzweiflungskampf eines hochherzigen Volkes gegen die russische Tyrannei schlägt!«

»So ist es! Ich schlief in seinem Zelt, als ich vor drei Monaten mit General Garibaldis Brigg ›Aniella‹ in Batum ankerte und mit seinem Adjutanten und ersten Schiffsleutnant, Kapitän Laforgne, einen Streifzug der Tscherkessen gegen die Russen mitmachte.«

»Was hat der tapfere Moslem mit diesen Erinnerungen zu thun?«

»Viel, Durchlaucht, ich erhielt den Ring aus seiner Hand am Morgen, an dem wir ihn verließen.«

»Den Ring?«

»Denselben! Er gab ihn mir mit dem Auftrag, wenn ich in Italien oder wo es sei, der Fürstin Cäcilie Trubetzkoi begegnen sollte, ihn in ihre Hände zu legen.«

Sie starrte ihn verwirrt an, ihre weiße, hagere Hand strich über die Stirn, als wolle sie ihre Gedanken sammeln.

»Der Tscherkesse – wie kommt er zu dem Ring?«

»Durchlaucht kennen das Schicksal unseres tapferen Führers Behm, und Michael Czaikowskis und vieler anderer.«

Sie sah ihn an, als verstünde sie keines seiner Worte.

»Der eine starb als Amurat Pascha, der andere ist als Sadik Pascha noch eine Furcht Rußlands. Auch der tapfere Tscherkesse kämpfte einst an der Theiß und Donau den Heldenkampf für sein Vaterland.«

»So ist es ein unglücklicher Landsmann, der mir dies traurige Erinnerungszeichen sendet? O, daß ich ihm Dank sagen könnte für die Mahnung an einen Toten. Dieser Ring, Herr, gehörte einst meinem Verlobten, er empfing ihn aus meiner Hand, Nicolaus Zriny trug ihn beim Fall von Sigeth, und er ist ein teures Familienkleinod, nochmals geheiligt durch einen Tod fürs Vaterland!«

Das Auge des Obersten haftete mit ernstem sinnenden Ausdruck auf dem bleichen Gesicht, das den lindernden Tau der Thränen längst verlernt.

»Es sind fünf Jahre her,« erzählte er langsam, »als ein armer russischer Soldat, einer der gefangenen Ungarn, die die Tyrannei der Sieger als Futter für die Tscherkessen-Flinten nach dem Kaukasus geschleppt, in einer Gruppe Offiziere den Namen der Frau aussprechen hörte, die er in der Heimat geliebt. Sie war die Gattin seines Todfeindes, des Feindes seines Vaterlandes geworden. Er schlug den, der es erzählte, als einen Lügner zu Boden und ward verurteilt, zu Tode geknutet zu werden!«

Die Fürstin hörte ihm halb gedankenvoll zu; ihre Finger spielten krampfhaft mit dem Ring.

»Der russische Soldat,« fuhr der Oberst fort, »war in dem Kampf seines Vaterlandes ein tapferer Offizier, ein vornehmer Magnat gewesen, aber niemand wußte hier seinen Namen; denn die Bosheit seines Feindes und Nebenbuhlers hatte ihm den bürgerlichen Tod gegeben, und er war nichts als eine Maschine unter dem Druck seiner Tyrannen. Dennoch hatte sein Wesen ihm selbst unter seinen rohen Kameraden Freunde gemacht, und in der Nacht vor der Exekution zerschnitt eines solchen Hand die Stricke, reichte ihm eine Waffe und führte ihn sicher über die Posten. Der Verurteilte ist seitdem der kühne Führer des Stammes freier Männer, die ihn aufgenommen in seine Reihen, und der gefürchtete Todfeind seiner Henker, an denen er sein Unglück und die Untreue der Geliebten rächt. Der Mann, dessen Schicksal ich erzählt, heißt jetzt Sefer Bey!«

»Aber den Ring? um Gotteswillen den Ring?« ihre Augen schienen aus den Höhlen dringen zu wollen, ein krampfhaftes Zucken schüttelte ihren Körper wie ein Fieberfrost, ihr Atem keuchte.

»Den Ring sendet Sefer Bey seiner Eigentümerin; denn er hat erfahren, daß die russischen Offiziere die Wahrheit gesprochen, und am Tage darauf nahm er den Turban und stürmte eine Militär-Station der Russen. Dreihundert Leben verbluteten und verbrannten in jener Nacht!«

»Den Namen, Barmherzigkeit!«

»Als ich ihn in Ungarn kannte, Madame, hieß er Stephan Bathiányi!«

Ein fast tonloser Seufzer entschlüpfte der gemarterten Brust, dann fiel die Unglückliche leblos mit dem Gesicht auf den Teppich des Tisches.

Der Oberst glaubte sie anfangs nur von der unerwarteten Nachricht tief erschüttert, als er sie aber vergeblich angesprochen und leise berührt, erkannte er das Unheil, das er angerichtet, und war in der größten Verlegenheit, wie er der unglücklichen Frau Beistand leisten und zugleich im eigenen Interesse einen Eklat vermeiden könne. Endlich entschloß er sich, an die Thür des Zimmers zu pochen, in welches die Wärterin oder Gesellschafterin den Knaben getragen, da er mit Recht aus dem Beobachteten auf die Anhänglichkeit und Liebe derselben zu der Fürstin schloß.

Er öffnete die Thür und fand Tunsa an dem Bett des jungen Prinzen sitzend; ein Wink von ihm rief sie ins Zimmer und bedeutete sie zugleich, zu schweigen, und der Herrin ohne Aufsehen den nötigen Beistand zu leisten.

Mit der Hilfe von flüchtigen Salzen kam die Fürstin bald zum Bewußtsein zurück. Ihre Blicke starrten anfänglich ausdruckslos umher, als sie aber auf den Ungar fielen, kam ihr plötzlich das Bewußtsein dessen, was sie gehört; mit einem leisen Schrei faßte sie an die Schläfe, im nächsten Augenblick sprang sie empor, ihre dunklen Augen flammten, ihre durchsichtige Hand strich das gelöste schwarze Haar von der Stirn zurück.

Die andere mit dem Ringe streckte sie gebieterisch gegen den Fremden aus.

»Bei Ihrer Ehre, bei Ihrer ewigen Seligkeit, Herr, diesen Ring hat Ihnen Graf Stephan Bathiányi lebend gegeben?«

»Im Lande der Adighe, am Kuban; es sind kaum drei Monate her, ich schwöre es Ihnen, Fürstin!«

»Sie lügen, Herr! ich, Cäcilie Pálffy, habe seine Leiche als Brautgeschenk am Morgen nach meiner Hochzeitsnacht vor meinem Fenster in der Fabrikstadt von Temesvar am Galgen hängen sehen!«

»Sie haben sich getäuscht, Fürstin, oder es wurde ein Betrug gespielt. Am Abend nach der Exekution seiner Gefährten wurde Graf Stephan todkrank, fast bewußtlos aus dem Lazarett von Temesvar geholt und mit einem Transport anderer Gefangener nach dem Kaukasus geschleppt. Gott wollte nicht, daß er der Krankheit erliegen sollte, und hat sein Leben zu größerem Leid bewahrt!«

Die starren Augen der Fürstin fielen auf die Zigeunerin, die von dem, was sie hörte, zum Tode erschrocken, in die Knie gesunken war und mit erhobenen Händen bald auf den einen, bald auf den andern starrte.

»Tunsa, bei dem Gericht des allmächtigen Gottes, an den Du nicht glaubst, aber den Du fürchtest – Du weißt darum!«

»Gnade, Herrin! Ich will bekennen, was ich weiß, zu Deinen Füßen, nur stoße mich nicht von Dir!«

»Rede!«

»Ich weiß nicht, was geschehen ist, und ob der blanke Graf lebt oder nicht. Nur das weiß ich, daß ich nicht zulassen wollte, daß sie ihn an den Galgen henkten; denn das Bild des alten Zigeuners, meines Vaters, wie er hing am Turm von Enyád, stand vor meinen Augen, und er versprach mir, ihn zu retten!«

»Wer?«

»Sein Todfeind, schlimmer als der Fürst! Er erkaufte die Lazarettwächter, um ihn einem schlimmeren Schicksal zu sparen, als der rasche Tod gewesen wäre und ich – ich – zahlte den Preis für sein Leben!«

»Du?«

»Mit meinem Leibe! Gnade, Herrin! Ich sterbe zu Deinen Füßen, wenn er es erfährt, den ich liebe, zu dem ich aufschaue, wie der Sohn der Heide zum glänzenden Aldebaran, der hoch über seinem Elend strahlt!«

»Den Fürsten?«

Die Zigeunerin antwortete mit einer energischen Gebärde des Abscheus, während sie ihr von Thränen überströmtes Gesicht in dem Kleid und auf den Füßen der Herrin barg. »Frage nicht,« schluchzte sie, »nur mit dem Vergehen in das Nichts kann seine Name über Tunsas Lippen dringen!«

Die Fürstin sah ernst und kalt auf sie. »Steh' auf. Unselige! antworte auf eine Frage! bei der Erinnerung an Deinen Vater, den Dein Leichtsinn sterben ließ! antworte die Wahrheit!«

Die Zigeunerin erhob sich mühsam; die einst so wilde, übermütige und boshafte Dirne schien gebrochen in ihrem innersten Wesen und schwankte hin und her.

»Hat der Fürst um den Betrug gewußt?«

»Nein, Herrin, er wollte ihn töten, er haßte ihn zu sehr und wollte sich rächen an Dir für die Verschmähung und …«

»Genug! die Hölle selbst würde schaudern …«

Die Zigeunerin beugte das Haupt. »Erst später, Herrin, ich weiß es nicht, aber ich glaube, daß jener Mann, der dem blanken Grafen das Leben rettete, um es ihm zur drückenden Bürde zu machen, dem Fürsten das Geheimnis verraten hat!«

Die schlanke Gestalt der Fürstin erbebte, ihre Stimme klang wie ein Laut aus dem Grabe.

»Wann geschah dies? Bei Deiner Seele, Unglückliche!«

»Kurz vorher, Herrin, Du weißt es; es sind mehr als fünf Jahre – dort in Berlin –«

Die Fürstin drückte die Hände vor das Gesicht, lautlos hob sich ihr Busen, nur die Tunsa schluchzte laut auf!

Der Oberst, der begriff, daß der Vorwurf der Untreue, den ihr der ferne Geliebte gemacht, unbegründet war – trat tiefbewegt einen Schritt näher.

»Nur der Tod scheidet ewig, Durchlaucht,« sagte er, teilnehmend. »Vielleicht sprießt Glück noch Ihnen beiden, die die Bosheit der Menschen getrennt, aus der schwarzen Nacht! Mit den Ketten der politischen und geistigen Tyrannei der Völker werden auch die fallen, die die einzelnen bedrücken!«

Ihre Hände sanken langsam nieder, das schmale marmorweiße Antlitz mit den dunklen Augen starrte ihn gespensterhaft an.

Ihr Finger wies nach der Thür des Schlafzimmers.

»Haben Sie den Knaben gesehen?«

Er beugte den Kopf.

»Es ist mein Kind, Herr, das Kind Cäcilie Pálffys, sein Dasein ist ein Fluch für seine Mutter, den nur der Tod abwäscht. Sagen Sie ihm das, wenn Sie ihn wiedersehen auf den Felsen von Daghestan, und daß – nicht Cäcilie Pálffy, sondern die Fürstin Trubetzkoi ihm sagt: unsere Hoffnung ist der Tod, aber der blaue Himmel, der sich über Ungarn wölbt, dehnt sich auch über die Felsen des Kaukasus, wie über die Alpenabhänge des Gardasees. Rufe den Sekretär, Tunsa, und laß Petrowitsch kommen!«

»Erbarmen, Herrin! Gnade!«

»Gnade dafür, daß Du einem Bösewicht Deinen Leib gabst, um meines Geliebten Leben zu retten? Geh', Thörin!« Ihre Hand wies gebieterisch nach der Thür, die Zigeunerin schwankte hinaus.

Die Fürstin blieb in der Mitte des Zimmers stehen, kalt und unbeweglich gleich einer lebenden Statue, den Eintritt der Gerufenen erwartend.

Schweigend, nur durch ein Zeichen, bedeutete sie dem Ungarn, seine Gold- und Schmucksachen zusammen zu packen. Er wollte zu ihr sprechen, Worte des Trostes, der Beruhigung, aber eine energische Gebärde gebot ihm Schweigen.

Der Hofmeister trat ein; er sah erschrocken auf die Fürstin, denn ihre Marmorblässe und Unbeweglichkeit beunruhigte ihn und gab seinem ersten Argwohn neue Nahrung.

»Herr Meißner,« sagte sie ruhig, »darf ich auf Ihre Ergebenheit zählen?«

»Ihro Durchlaucht wissen, daß Sie in jeder Weise über mich gebieten können, und sollte man es gewagt haben …«

»Still! Ich habe zwei Dienste von Ihnen zu verlangen. Dieser Herr wird sofort das Hotel verlassen, und ich wünsche, daß er dabei möglichst wenig bemerkt wird. Sie werden ihn mit in Ihr Zimmer nehmen und die günstigste Gelegenheit abwarten; Sie begleiten ihn, wohin er zu gehen wünscht und bürgen mir für seine Sicherheit!«

»Es wird geschehen, Durchlaucht!«

»Morgen mit Tagesanbruch werden Sie die Güte haben, sich nach San Georgio in die Wohnung meines Vetters, des Kapitän Grafen Zriny zu begeben und ihn bitten, sich sogleich zu mir zu bemühen. Sie werden zugleich auf dem Bahnhof einen Waggon für uns nach Verona bestellen. Lassen Sie die Diener unser Gepäck in Ordnung bringen; wir verlassen mit dem ersten Zuge Mantua.«

»Aber Ihro Durchlaucht wissen, daß der Fürst nicht gewohnt ist, so zeitig aufzustehen.«

»Der Fürst wird uns nicht begleiten, er geht direkt nach Paris. Lassen Sie sich zugleich von dem Wechsler Mortara die Adresse der Villa am Gardasee mitteilen, und sagen Sie ihm, daß wir uns ohne Aufenthalt dahin begeben werden!«

Der Sekretär verbeugte sich und sah nach dem Fremden, der seiner Sorge übergeben war.

Die Fürstin streckte die Hand nach diesem aus.

»Leben Sie wohl, Herr,« sagte sie in ungarischer Sprache, »und nehmen Sie meinen Dank für den Dienst, den Sie Cäcilie Pálffy geleistet haben. Mögen die Heiligen Sie geleiten!«

Der verkleidete Ungar drückte einen Kuß auf ihre Hand, dann folgte er dem Sekretär. Zugleich trat der Kosak Petrowitsch mit Tunsa ein und blieb in der gewohnten demütigen Haltung an der Thür stehen, während die Zigeunerin angstvoll und besorgt den beiden nachsah.

»Was befiehlst Du, Gospodina?«

»Geh' voran und melde Deinem Herrn, daß ich ihn zu sprechen habe!«

»Es sind Freunde vieligte beim Herrn,« sagte der Kosak verlegen. »Wird sich nicht angehn gut, daß ich ihn störe!«

»Was kümmern mich seine Zechgenossen und neuen Maitressen,« sagte sie verächtlich. »Geh' voran!«

»Heiliger Dionysius! Du kennst den Herrn und wirst den Petrowitsch nicht unglücklich machen, Matuschka!«

Ihre Brauen zogen sich zusammen. »Ohne Widerrede! Zeige den Weg, führe mich,« gebot sie.

Sie kannte nicht einmal die Zimmer, die der Fürst auf der andern Seite des Hotels bewohnte.

Der Kosak öffnete demütig die Thür und schlich voran. Tunsa wollte der Gebieterin folgen, aber ein strenger Wink wies sie zurück.

Die Fürstin ging mit festem Schritt hinter dem Kosaken her, über den teppichbelegten Korridor. Als sie sich der andern Seite näherten, tönte ihr der Lärm der Orgie entgegen, die der Fürst in seinem Salon beging.

Trotz der Furcht vor dem Zorn seines Herrn wagte der Kosak es nicht, voranzulaufen, um diesen von dem unerwarteten Besuch in Kenntnis zu setzen. Als sie durch das Vorzimmer geschritten, wo mehrere Diener mit dem Auftragen des Soupers sich beschäftigten, hob er nochmals in demütiger Bitte die Hände, aber ein strenger Blick der Fürstin heischte Gehorsam, er öffnete zögernd die Thür und steckte den Kopf in den Salon, aus dem eine Nebelwolke von Rauch und Punschgeruch und lärmendes Lachen und Geschrei hervordrang.

»Gospodin! die Gospodina kommt und will Dich sprechen!«

Die Worte der Meldung verklangen in dem Lärm der lustigen Gesellschaft; der Fürst, welcher das breite, krankhaft aufgedunsene Gesicht von den im Übermaß genossenen Getränken gerötet, mit wollüstiger Hand in dem reichen, dunklen Haar der üppig geformten Mailänder Tänzerin wühlte, die neben ihm saß, oder vielmehr halb auf seinem Schoße lag, hatte sie nicht einmal gehört. Die tollende Gesellschaft, außer dem Paar am obern Ende der Tafel, zwei Frauenzimmer von dem zweifelhaftesten oder vielmehr durchaus nicht zweifelhaften Ruf aus der Truppe, die in Mantua zur Unterhaltung der Garnison während der Saison gespielt hatte, der dicke Maestro der Truppe, der mehr auf die österreichischen Zwanziger gesehen hatte, als auf die Sympathieen seiner Landsleute, und einige Offiziere, kümmerten sich ebensowenig darum und waren allein mit den Champagnerflaschen, der dampfenden Punschbowle und der leichtfertigen lärmenden Unterhaltung beschäftigt. Alles umher, die Überreste des Soupers, die derangierte Toilette der Damen, die geröteten Gesichter, die Würfel und zerbrochenen Gläser auf dem Tisch zeigten, daß die Orgie bereits einige Zeit gedauert hatte. Die seltsamste Figur aber am Tisch die offenbar nur von der tyrannischen Laune des Fürsten in diese Gesellschaft gezwungen war, bildete die ernste Gestalt des Juweliers von dem Platz an der San Barbara-Kirche, der dem Fürsten gegenüber auf einem Sessel von zwei lustigen Offizieren offenbar zu seinem großen Verdruß festgehalten wurde und mit Gewalt sich nicht zu entfernen wagte, da das Etui mit den kostbaren Steinen sich in den Händen der übermütigen Gesellschaft befand, und die Ehrenhaftigkeit der lüsternen Theaternymphen ihm kein besonderes Vertrauen einflößte. Mit peinlicher und um so komischer wirkender Angst hafteten seine Augen an dem Etui, das vor dem Fürsten auf der Tafel stand und bald von dem einen, bald von dem andern der Gäste in die Hand genommen wurde.

» Schorte wos mi! Du sollst Hofjuwelier des Kaisers werden, alter Samuel,« rief der Fürst. »Lustig Szukin szin! Sohn einer Hündin, ich will Dir zwanzig Seelen schenken, darunter wenigstens drei dralle Bauerndirnen, wenn Du zu mir nach Moskau kommst! Schenkt ihm ein, Mädels, auf seine Ernennung! Er soll uns eins singen oder mit Carolina eine Tarantella tanzen!«

»Samuel soll tanzen! Samuel soll tanzen!« schrie die tolle Gesellschaft durcheinander.

Der unglückliche Wechsler sträubte sich mit Gewalt gegen die zerrenden Hände. »Gott der Gerechte, in welches Sodom bin ich geraten! Geben Sie mir die Diamanten zurück, Durchlaucht, ich bin ein geschlagener Mann, wenn ein Unglück passiert.«

Die runde Primadonna des Mailänder Ballets hielt eine Broche mit blitzenden Steinen in der Hand, und probierte sie kokett an der nur wenig verhüllten Brust, während ihr Kopf sich aufwärts bog zu dem Fürsten. »Küsse mich dafür, Fürst Iwan, die Signori Russiani sind generöse Kavaliere!«

Der Fürst drückte seine breiten aufgeworfenen Lippen nicht auf den schwellenden Mund, sondern vergrub sie in das weiche warme Fleisch des Busens. »Sie ist Dein, Kind, wenn Du dem Samuel Deine beste Pirouette vormachst!«

»Durchlaucht, es kostet dreißigtausend Lire, ich will Ihnen andere zeigen, die nicht so teuer sind und machen eben so viel Staat!«

» Glupéz! glaubst Du, daß ich Dir's nicht bezahlen kann? Deinen ganzen Bettel von Steinen kauf' ich mit einem meiner Dörfer an der Wolga!« Er schleuderte ihm das Etui zu, daß die kostbaren Juwelen über den Tisch rollten. Der Wechsler fiel unter dem Gelächter der Trunkenen mit Jammergeschrei darüber her, um sie zu schützen und zusammenzunehmen.

Die Ballerina hatte sich mit einem raschen Schwung emporgeworfen, sie hob sich, die Hand mit dem wertvollen Schmuck in die Höhe streckend auf ihre Fußspitzen, drehte sich zweimal um sich selbst und hob dann in horizontaler Linie den linken Fuß, bis er auf der Schulter des Fürsten lag.

Alles klatschte Beifall.

» Cospetto!« sagte hochmütig die Tänzerin, »bemühen Sie sich nicht, Signori! Das ist für unfern Krösus aus Rußland, nicht für die poverini Tedeschi!«

Der Fürst jauchzte vor Entzücken. »Alter Samuel Hundesohn, so etwas ist mehr wert, als alle Deine Diamanten.«

Die Tänzerin drehte mit einer üppigen Windung den Operkörper zur Seite, während ihr Bein in der obigen schwierigen Attitüde liegen blieb, aber plötzlich stockte ihre Bewegung, die Hand sank nieder, und ihre Augen starrten nach der Thür.

Durch den Jubel der Gesellschaft drang die Stimme des von seiner ersten Verblüffung sich rasch fassenden französischen Kammerdieners des Fürsten, der die Bedienung im Salon versah.

» Madame la Princesse!«

Die Offiziere der Gesellschaft, so sehr auch der Rausch bei ihnen bereits gewirkt, fuhren bestürzt empor, die beiden Damen vom Corps de Ballet verbargen sich hinter den nächsten, der Fürst hob den Kopf und starrte nach der Thür, durch welche Bewegung der Fuß der Ballerina von selbst langsam aus der verteufelt wenig decenten Stellung herabsank.

In der geöffneten Thür stand die dunkle Gestalt der Fürstin mit dem marmorbleichen Gesicht. Hinter ihr sah man das furchterfüllte, demütige Gesicht des Kosaken.

Die fahle Farbe des Fürsten wich einem dunklen Rot, seine kleinen Augen starrten erst die Erscheinung an, als halte er sie unmöglich, die Adern seiner Stirn schwollen auf.

Endlich überzeugte ihn das allgemeine Schweigen, daß er nicht träumte, daß er recht gesehen.

Er stieß einen greulichen, russischen Fluch aus und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Punschglas vor ihm schwankte und seinen Inhalt übergoß.

»Wie kommen Sie hierher, Madame? wie können Sie es wagen, hier einzudringen?«

Die Fürstin trat mit ruhigem festen Schritt ein und ging auf ihn zu. Drei Schritte vor ihm blieb sie stehen; die Ballerina war, wie die Fürstin vorschritt, von dem Hausherrn zurückgewichen.

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen, mein Herr,« sagte die Fürstin kalt. »Auf der Stelle; dann werde ich Sie nicht weiter stören!«

Der Ton war so fest und bestimmt, so ungewohnt und befehlend, daß der Fürst trotz aller gewohnten Brutalität sich dem Eindruck nicht entziehen konnte. Obschon sie anscheinend vor der Welt zusammen lebten und er äußerlich die Dehors, die ihrer Stellung gebührten, nicht versäumte, war er doch nur in Gesellschaft der gemarterten Frau, wenn es sein mußte, oder er eine seiner boshaften und finstern Launen an ihr auslassen wollte, die sie mit stummer Ergebung trug. Meistenteils war er ohnehin abgeschlossen und kränkelnd und lebte mit der höchsten Vorsicht, bis wieder einmal der Teufel in ihm lebendig wurde und er sich in tolle Ausschweifungen stürzte, die regelmäßig nur eine desto schlimmere Reaktion zur Folge hatten.

Dann mußte ihn die Zigeunerin pflegen und warten, und obschon sie mit ihm umsprang wie mit einem gefesselten Wolf, ließ er sich alles von ihr gefallen, und sie war ihm in solchen Stunden unentbehrlich.

Dies war auch das Geheimnis, daß er sie ungeachtet ihres Trotzes, ihre offenen Parteinahme für die Fürstin und des Widerstandes, den sie ihm oft leistete, nicht längst entfernt hatte, ja, daß er zu niemand ein solches Vertrauen zeigte, als zu ihr.

Er hatte sich schwankend erhoben und versuchte nochmals seine Autorität geltend zu machen.

»Entfernen Sie sich, Madame! ich befehle es Ihnen! Sie sind närrisch, hierher zu kommen! Morgen früh werd' ich Sie hören!«

»Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben, mein Herr,« wiederholte die Fürstin ruhig und fest, »ich habe mit Ihnen zu sprechen, und auf der Stelle!«

Die Augen des Fürsten begannen mit Blut zu unterlaufen. »Sie wagen es, mir zu trotzen? Hinaus … Petrowitsch, Hundesohn, hierher!«

Der Kosak schlich langsam, fast kriechend näher.

»Gnade, Batuschka! aber war sich's unmöglich …«

»Bring' sie hinaus! schlepp' sie fort! …«

»Die Gospodina?« stammelte erschrocken der Kosak. »Aber, Herr …«

»Ja, in tausend Teufels Namen! hörst Du nicht? Soll ich sie und Dich zu Boden schlagen?«

Die Offiziere waren im Begriff, zwischen den Wütenden und sein Opfer zu treten, aber die Dame winkte sie kurz und gebieterisch zurück.

»Ich habe kein Geheimnis vor dieser Gesellschaft,« sagte sie kalt, »es handelt sich weder um eine Korrespondenz mit Herrn Herzen in London, noch um den Inhalt Petersburger Noten oder die Pläne von Festungen, sondern einfach um eine häusliche Angelegenheit.«

Einer der Offiziere war vorgetreten. »Erlauben Sie, gnädigste Frau, daß wir uns entfernen!«

Das dunkle Rot auf dem Gesicht des Fürsten hatte bei den Worten seiner Gemahlin, einen Augenblick lang einer fahlen Blässe Platz gemacht, kehrte aber jetzt wieder zurück.

»Nicht von der Stelle, meine Herren! Sie würden mich beleidigen um der kindischen Laune einer Frau willen. Dort hinein, Madame; ich werde Sie hören!«

Ohne auch nur einen Blick weiter auf die höchst betroffene und sich sehr unbehaglich fühlende Gesellschaft zu werfen, schritt die Fürstin nach der bezeichneten Thür und trat in das Schlafgemach des Fürsten. Dieser folgte ihr, ein Wink an den Kosaken hieß diesen sich vor die Thür stellen.

In dem Salon herrschte tiefe Stille, nur leise flüsterten einige Personen, der Rausch war bei den meisten verflogen. Dennoch hielt Neugier und vielleicht auch Teilnahme die Anwesenden ab, sich zu entfernen. Nur der Wechsler huschte leise im Zimmer umher und suchte mit kaltem Schweiß auf der Stirn die wertvollen Steine, die ihm in der Garnitur fehlten, indem er mißtrauische Blicke auf die Tänzerinnen und den dicken Maestro warf.

Die Fürstin war nach ihrem Eintritt in das Schlafzimmer ruhig stehen geblieben, keine Miene hatte sich bei der Scene in dem marmorbleichen Gesicht verändert. Der Fürst trat auf sie zu, die Adern lagen wie blaue Stränge auf seiner Stirn, seine Fäuste waren geballt, eine leichte Feuchtigkeit begann auf seine fahlen Lippen zu treten.

»Was wollen Sie? was sollen die Reden, deren Sie sich da drinnen erdreisten? ich warne Sie, bei Ihrem Leben!«

Zum erstenmal überzog ein flüchtiges verächtliches Lächeln die blassen Züge der Dame. »Mein Leben? Sie wissen es am besten, wie wenig es mir gilt. Ich komme, Ihnen anzuzeigen, daß ich morgen früh abreisen werde nach Verona und meiner künftigen Wohnung am Garda-See.«

» K tschortu! Sie wissen, daß ich Sie begleiten werde, ehe ich nach Paris gehe! Zum Teufel, ich will wissen, wie mein Stammhalter logiert ist!«

»Ich werde dafür sorgen, mein Herr, daß die Villa am Garda-See, da ich nicht nach meiner Heimat zurückzukehren wünsche, aus meinem Vermögen und für mich angekauft wird. Sie werden diesen Ort ohne meine Erlaubnis nicht betreten!«

»Was soll das heißen? Sind Sie toll geworden?«

»Das soll heißen, mein Herr, daß unsere Wege sich von diesem Augenblick trennen, trennen für dieses Leben! – Daß sie jenseits sich nicht zusammenfinden werden, dafür haben Sie selbst gesorgt!«

»Sie sind die Fürstin Trubetzkoi, meine Frau, Madame! vergessen Sie das nicht! Sie werden nicht ohne mich abreisen!«

Sie sah ihn mit einem Blick tiefer Verachtung an.

»Wer wird mich hindern?«

»Ich!«

»Ich habe Sorge getragen, daß morgen früh der Rittmeister Graf Zriny, mein Vetter, sich im Hotel einfinden wird. Er wird mich nach der Eisenbahn begleiten.«

»Was kümmere ich mich um alle Vettern der Welt! Reisen Sie zum Teufel, Sie genieren mich ohnehin hier; aber ich werde mein Weib und mein Kind aufsuchen, sobald es mir beliebt!«

»Ihr Kind?« Ein entsetzlicher Hohn zitterte durch das kleine Wort.

Er schlug wie rasend mit der Faust auf den Tisch, an dem er stand, weißlicher Schaum trat auf die wulstigen Lippen.

»Bei der Hölle! ja wohl, mein Kind! oder wagen Sie, es anders zu nennen?«

Sie war dicht zu ihm heran getreten, ihr leiser Ton, mit dem sie sprach, hatte etwas Zischendes, Durchdringendes; ihr seit Jahren so mattes Auge funkelte mit einer solchen Glut, daß er unwillkürlich zurückwich.

»Hören Sie mich an, mein Herr,« sagte sie, »denn es ist hoffentlich das letzte Mal im Leben, daß ich zu Ihnen spreche. Es ist wahr, ich habe mich Ihnen verkauft, diesen armselige Leib, diese Spanne Zeit, die ich noch mein Leben nennen könnte! Sie wissen am besten, wie Sie den Preis, die Bedingung meines Opfers gehalten haben. Aber es war gethan und mir gleichgültig, was mit diesem Leib und diesem Leben geschehen mochte. Solange Sie mir die Hoffnung auf das Jenseits noch gelassen, das Jenseits, wo die Unglücklichen ihre einzigste Vergeltung zu suchen berechtigt sind, gehörte ich Ihnen durch die Fessel des Sakraments, durch das Urteil der Menschen! Jetzt, Ungeheuer, wo ich weiß, daß Du meinen Leib und meine Seele verkauftest, um Deinem Namen einen Erben zu geben, indem Du mich mit dem Kinde meines Elends und Deiner Schmach auch des Rechts auf dieses Jenseits beraubtest, jetzt, Bösewicht, zerreiße ich jenes letzte Band und sage Dir: Iwan, Fürst Trubetzkoi, wir sind getrennt – Du hast von diesem Augenblick an weder Weib noch Kind!«

Die Andeutungen der unglücklichen Frau machten, obschon er ihren Sinn mehr ahnte, als klar begriff, einen unheimlichen Eindruck auf ihn. Er antwortete weniger barsch: »Ich habe nichts dawider, wenn Sie allein leben wollen, obschon ich nicht weiß, was Ihre Worte bedeuten sollen, Madame. Aber Ihr fatales blasses Gesicht verdirbt mir ohnehin jeden Genuß. Meine Rechte aber auf meine Frau und mein Kind werde ich zu wahren wissen!«

»Es existiert kein Erbe des Hauses Trubetzkoi mehr,« sagte sie fest, »sondern nur ein unglückliches Wesen, das seiner noch unglücklicheren Mutter nicht mehr ein Trost, sondern nur ein Gegenstand des Schreckens und des Vorwurfs ist!«

»Zum Henker mit all der Empfindelei! Der Knabe ist auf meinen Namen geboren und getauft, er wird der Erbe meines Namens und meines Vermögens sein, bedenken Sie das wohl!«

»Er wird verschwinden in der Dunkelheit, aus der er gekommen, er wird die Sünde seiner Mutter büßen!«

»Unsinnige, geh Du meinetwegen, wohin Du willst – meine Rache ist gesättigt an Dir und dem Frechen, den Du mir vorzuziehen wagtest und der am österreichischen Galgen endete! Aber der Knabe bleibt mein! das Gesetz macht ihn zu meinem Sohn, und keinen Augenblick soll er mich von jetzt ab verlassen!«

Es war in der That eine merkwürdige Erscheinung, daß der rohe und brutale Wüterich eine eigentümliche Liebe, ja Zärtlichkeit zu dem Knaben hegte, in dem er den Erben seines Namens und seiner Reichtümer sah. Der Gedanke, dies Kind verlieren zu sollen, der bisher noch niemals vor seine Seele getreten, war ihm unerträglich. Er schritt hastig nach der Thür, die Fürstin blieb ruhig an ihrem Platz.

»Einen Augenblick!« sagte sie kalt. »Wollen Sie, daß Cäcilie Pálffy jedem, der es hören will, laut verkündet, daß der Knabe der Sohn eines Knechtes, des niedersten Stammes ist, den der Fuß des ungarischen Bauern mit Verachtung von sich stößt? Einen Schritt noch, und jene Menschen sollen aus meinem eigenen Munde hören, daß kein Tropfen von dem verhaßten Blut der Trubetzkoi, verhaßter, verächtlicher als das des wandernden Slowaken, in den Adern ihres Erben fließt!«

Er drehte sich um und stürzte mit erhobener Faust auf sie los. »Wahnsinnige, Du würdest es wagen, Dich und mich zu entehren?«

»Bei dem Schatten meiner Mutter! Ich schwöre es! Seit Ihr Galgen sein Opfer zurückgegeben, seit die Toten auferstanden, ist Cäcilie Pálffy nicht Ihre Gattin, sondern nur die Rächerin ihrer eigenen Sünde, und das Haus Trubetzkoi hat keinen Erben mehr!«

»Weib – Teufel – ich brauche Gewalt …«

»Wage es, Elender, und ich werde einen Rächer aufrufen, dessen Stimme wie Donnerton in Deinen Ohren klingen soll! Ein Wort von mir, und jener Sefer Bey, dessen Namen schon Deine russischen Brüder in den Schluchten des Kaukasus erzittern macht, wird seinen Rächer-Arm nach den Thälern der Alpen, ja selbst bis in die goldenen Säle von Paris ausstrecken – und dann Wehe den Schuldigen!«

»Sefer Bey? was hat der ungläubige Tscherkessen-Hund mit der Gemahlin des Fürsten Trubetzkoi zu schaffen?«

» Sefer Bey, oder wenn sein anderer Name Dir besser ins Ohr klingt: Stephan Graf Battiányi! Dein Galgen hat Dich betrogen, Fürst, wie Du mich betrogen hast! das Grab am Elbrus hat seine Beute herausgegeben; ich kenne Deine Lüge gegen die Toten und meine Sünde gegen den Lebenden!«

Der Fürst stieß einen unartikulierten Wutschrei aus; dichter Schaum kam auf seine Lippen, seine Arme schlugen um sich, und er stürzte schwer zu Boden.

Die Fürstin öffnete die Thür, vor der, von dem Geräusch erschreckt, bleich die Mitglieder der Gesellschaft sich gesammelt hatten.

»Meine Damen und Herren,« sagte sie mit kaltem Hohn, »Sie müssen Ihren galanten Wirt für diesmal entschuldigen. Der Fürst leidet seit Jahren an der Epilepsie und hat eben eine starken Anfall. Aber er hat eine vortreffliche Pflegerin in diesem Zustand. Petrowitsch, rufe Feodora! Signor Mortara, ich reise morgen. Sie werden mir den Kontrakt über den Kauf der Villa auf meinen Familien-Namen nach Verona bringen!«

Ein vornehmer kalter Gruß, und durch die Zurückweichenden schritt sie starr und ruhig mit dem bleichen Marmorgesicht und verließ den Salon.

Der Kosak kniete neben seinem in wilden Krämpfen zuckenden Herrn.


Es war etwa zwei Stunden später, gegen ein Uhr nach Mitternacht.

Der Juwelier Samuel Mortara saß in seinem Hinterstübchen allein und ordnete beim Schein einer Lampe mehrere Papiere.

Neben ihm stand das Etui mit den Diamanten und die leere Kassette, in welcher der verkleidete Ungar die Schmucksachen nach dem Croce verde gebracht hatte. Sonst herrschte tiefe Stille in dem dunklen Hause, die Frauen waren längst in ihren Kammern zur Ruhe gegangen, auch der Wechsler war im Begriff, sie zu suchen.

»Wo nur der Abraham bleibt?« murmelte er vor sich hin. »Das abtrünnige Weib, das sich so unnütz in die Gefahr begeben, wird ihn aus Furcht zurückbehalten haben, bis der Mann vom Schwert wieder gekommen ist in die Herberge. Aber er muß gleich kehren zurück, denn sie sind fort seit länger als einer halben Stunde. Horch! ich glaube, da wird er kommen. Mr war, als hörte ich öffnen die Thür!«

Er legte die Juwelen wieder in den eisernen Schrank. »Der Stein, den sicher die Weiber gestohlen,« murmelte er weiter, »ist wert seine fünftausend Franken. Der Fürst wird ihn müssen ersetzen. Gott, der Gerechte, wie hat mir leid gethan die arme Frau! Es muß vorgekommen sein Wichtiges, aber der ungarische Oberst wollte mir nicht stehen Rede, obgleich ich ihm gegeben habe die Mittel, zu gelangen zur Fürstin. Was thu' ich mit allem Glanz, wenn das Herz ist unglücklich und das Gewissen beladen so schwer? diese Gojim vornehm und gering achten wenig auf das heilige Gesetz der Ehe.«

Wiederum war es ihm, als hörte er eine Thür gehen, diesmal hatte er sich wenigstens nicht getäuscht; denn gleich darauf kamen leise Schritte näher, und er glaubte zu seinem Schrecken die mehrerer Personen und das Gemurmel von Stimmen vor der Seitenthür nach dem Gang zu hören.

Der Juwelier warf die Thür des eisernen Spindes ins Schloß und griff nach einem Fach seines Arbeitstisches. Als er die Hand wieder hervorzog, war sie bewehrt mit einem Terzerol.

Aber im nächsten Augenblick ließ er die Waffe beruhigt sinken; denn die Thür öffnete sich, und sein alter treuer Diener und Gehilfe, der bucklige Abraham trat ein.

»Was hast du mich erschreckt, alberner Mensch,« sagte der Wechsler, »daß Du kommst geschlichen wie der Dieb in der Nacht und redest mit Dir selber. Warum kommst Du so spät, wo Du weg bist volle drei Stunden?«

»Ich habe bleiben müssen bei dem abtrünnigen Weib, die hat gehabt Angst und Furcht. Warum gebt Ihr mir solche Kommissionen, und warum geht ihr nicht schlafen unbesorgt, da Ihr doch wißt, daß ich hab' den Schlüssel zur Hinterthür!«

Die Augen des kleinen Juden fuhren dabei unruhig hin und her im Zimmer, sein Gesicht war auffallend blaß, und er suchte den Blick seines Herrn zu vermeiden.

»Das Auge des Hausherrn,« sagte der Wechsler, »soll zuletzt wach sein im Haus und löschen das Licht. Ich weiß, daß Du treu bist in meinem Dienst seit länger als fünfundzwanzig Jahren, und daß ich Dir vertrauen kann alle geheimen Sachen. Wir sind beide geworden zusammen alt, und es ist nicht wie bei den Christen, wo Mann und Weib, die doch sollen sein nach Gottes Gebot eine Seele und ein Leib, oft sich hassen wie die ärgsten Feinde und sinnen einer auf des andern Verderben! Hast Du sorgfältig verschlossen und verriegelt die Thür?«

»Es ist geschehen, Meister!«

»So geh schlafen in Deine Kammer! Ich werde nachsehen, ob alles in Ordnung im Haus und dann mich legen zur Ruh'!«

»Was wollt Ihr erst wandern noch wie der Ahasverus durch das Haus?« fragte der Bucklige, indem er sich mit dem Anstecken einer kleiner Lampe zu thun machte, »kann ich doch besorgen alles, was nötig ist. Habt Ihr gemacht ein Geschäft mit den Diamanten?«

»Der Fürst hat genommen eine kostbare Broche und will behalten den schönen Stein, aber ich habe bekommen noch kein bares Geld, weil ihm passiert ist ein schlimmer Zufall. Ich hab' müssen herausklopfen den Aron Zacchetti, weil ich gebrauchte noch eine Summe.«

»Und die Papiere? was haben die von Venedig geboten für die Papiere?«

»Was kümmert's Dich? ich habe gesehen ein Wunder, wovon ich nicht hab' geglaubt, daß ich's noch würd' erleben in dieser schlimmen Zeit. Ich hab' gesehen, daß ein großer und vornehmer Herr hat ein Herz, und daß ein Fürst, der vertrieben ist aus seinem Land, die Ehre seines Feindes schont und will leiden lieber bitteres Unrecht, als daß er Schmach und Zwietracht säet in das Land seiner Väter. Geh' schlafen, Abraham, damit wir beginnen können am Morgen mit neuen Kräften unser Werk.«

»So habt Ihr also die Papiere noch, Samuel?« fragte der Kleine, tief aufatmend.

»Ich hab' Dir schon gesagt, was kümmert's Dich? Warum bist Du so seltsam heute Abend, als wär' Dir was passiert? Geh' zu Bette, Abraham!«

Er ging nach der Thür, um sie zu verriegeln, der Bucklige sprang ihm zuvor. »Ich will Euch abnehmen die Müh!«

Indem er that, als verriegelte er sie, machte er sie auf. »Es ist Zeit,« flüsterte er so leise, daß der Wechsler es nicht hörte.

Mit einem Ruck wurde die Thür aufgerissen, und ein verwegen aussehender Kerl von riesigem Wuchs mit geschwärztem, von einem wilden Bart halb bedecktem Gesicht, in einen Militärmantel gekleidet, stürzte herein.

Er hatte in der Hand einen keulenartigen Knittel, in dem um den Leib gebundenen Strick steckte ein bloßes Bayonett.

Hinter dem Kerl folgte ein zweiter Mann, ziemlich anständig gekleidet, ein eisernes Stemmeisen in der Hand. Die andere war durch den Verlust zweier Finger verkrüppelt.

» Baszom teremtete! verfluchtiger Jud'! wo ist Dein Geld!?« – Der Kerl mit dem wilden geschwärzten Gesicht sprang auf den Wechsler zu, der sich hinter den Zahl- und Arbeitstisch geflüchtet hatte und »Mörder! Diebe!« schrie. »Willst Du Dein Maul halten, Jud' verdammter, oder ich zerschmettere Schädel Deinigten!« Er holte zu einem Hieb aus.

Der zweite Räuber stieß ihn zur Seite, legte die verstümmelte Hand auf den Tisch und sprang mit einem Satz über denselben. »Kein Blut, Kamerad,« sagte er rasch, »'s ischt nit nötig, geb' nur her Deinen Strick!«

Er hatte mit einer schnellen Bewegung das von dem Juwelier wieder ergriffene Terzerol aus der zitternden unsichern Hand geschlagen, drückte ihm die seine auf den zeternden Mund und warf ihn zu Boden.

»Den Strick her und macht keine unnütze Lärm!« Er hielt den sträubenden Juwelier am Boden fest, drehte ihm ein Taschentuch in den Mund und schnürte ihm die Arme am Leibe mit dem Strick fest, den ihm der andere reichte.

» Teremtete! was machst Du Umstände vieligte mit dem Hund von Jud'? Wird sich sein am besten, ich hänge ihn auf!«

»I will kei Blut mehr habe an meine Hand,« beharrte der frühere Argelino. »So, Kamerad, nu isch der fest oder i müßt mei Lebtag keine Menschenseele geknebelt haben. Laß uns g'schwind gehn an die Arbeit! Wo is der Buckelinski?«

Abraham war bei dem Hereinstürmen der Räuber auf die Knie gefallen und wimmerte noch immer, aber sehr vorsichtig und leise: »Gnade, Signori! ich will Ihnen geben alles, was Sie wollen, nur schonen Sie unser Leben!«

Der Ungar versetzte ihm einen Tritt, daß er zu Boden stürzte. »Hundeseele von einem Jud', is sich jetzt keine Zeit zu Komödie! Wo is sich das Gold?«

Der Schwabe hob den Kleinen beim Kragen auf. »Zeige Sie uns geschwind die Papiere, Monschieur Abraham. Der Jud hat gekreischt, eh' i's konnt verhindern, 's könnt halt haben jemand gehört!«

Der verräterische Gehilfe sah ein, daß es keine Zeit mehr war, die angenommene Rolle weiter zu spielen, und ein Blick auf seinen geknebelten Herrn zeigte ihm, daß dessen Auge mit Staunen und Schmerz auf ihn gerichtet war, und es in seinen Gesichtszügen arbeitete, als wolle der geschlossene Mund ihm entgegenschreien: Schurke! treuloser Knecht! Du selbst gehörst zu den Räubern!

Im Nu ward er der Flinkste von allen dreien. »Die Schlüssel,« sagte er hastig, »sie liegen nicht auf dem Platz, er muß sie haben in der Tasche.«

»Wo ist das Gold, Hundejude?«

»Die Papiere! die Papiere?«

»Es ist alles im Schrank, er muß herausgeben die Schlüssel!«

» Baszom a lelkedet! was brauch' ich die Schlüssel, wenn ich hab' Eisen in der Hand!« Der Kerl hatte das Brecheisen ergriffen und versuchte die Thür des Schrankes zu sprengen, während sein klügerer Gefährte den Juwelier aufhob und mit ungemeiner Fertigkeit, trotz seiner verstümmelten Hand ihm die Taschen durchsuchte.

Aber die Schlüssel waren nirgends zu finden.

»Mach kei Lärm, Kamerad,« befahl der Schwabe, »Du kannst nit öffnen den Schrank mit Gewalt. Er muß uns beichte, wo er die Schlüssel hat!« Er hatte den Juwelier auf das kleine schmutzige Sofa geworfen, das an der Seite des Schrankes stand, und nahm ihm den Knebel aus dem Mund.

»Keinen Mux, Jud, oder bischt en Kind desch Tods! Wo hascht Du die Schlüssel zum Spind?«

Der Juwelier holte krampfhaft und tief Atem, er war von dem Knebel halb erstickt. »Gott Jakobs, was wollen Sie von mir? ich bin ein ruinierter Mann! Ich weiß nicht, wo sind die Schlüssel!«

Der Räuber mit dem geschwärzten Gesicht war heran getreten, er schwang das Brecheisen mit wilder Gebärde. »Willst Du gestehn, Jud verfluchtiger, oder ich schlag Dir den Schädel ein!«

»Erbarmen, Signori, Erbarmen! Sie sollen nehmen all mein Gut, aber Sie sollen nehmen eher mein Leben, als ich verraten will fremdes Eigentum!«

Der alte Dieb hielt den Arm seines Genossen zurück, der im Begriff war, zuzuschlagen. »I hab gesagt, kein Blut! faß ihn am Hals und würg ihn, bis er herausgiebt die Schlüssel!«

Der Kerl im Soldatenmantel faßte den unglücklichen Greis an der Kehle und preßte sie zusammen, daß das Gesicht blau wurde und die Adern aus den Höhlen traten. »Die Schlüssels Jud! die Schlüssel!«

»Hier sind sie, ich thu sie haben!« rief der Bucklige, der schlauer als die beiden Räuber überlegt hatte, daß die Schlüssel nicht verschwunden sein könnten, sondern von dem Juwelier wahrscheinlich irgendwo versteckt oder in einen Winkel geschleudert sein mußten. Indem er während der gewaltthätigen Scene auf dem Boden umherkroch, hatte er das Bund richtig unter dem Pult gefunden.

Der Argelino riß sie ihm aus der Hand, der andere ließ die Faust von der Kehle des Juweliers, der röchelnd, halbtot zurückfiel; beide stürzten nach dem Schrank.

Der kleine Bucklige ließ sie gewähren, er wußte, daß sein Löwenanteil ihm sicher war, da Samuel die kostbarsten Gegenstände, also auch die Juwelen, die ihn zu dem niederträchtigen Verrat verführt hatten und die Originaldokumente in einem besondern geheimen Fach des Schrankes zu bewahren pflegte, der nicht durch einen Schlüssel und keine äußere Gewalt, sondern nur durch eine geheime Feder zu öffnen war. Obschon der Juwelier selbst ihm, seinem vertrauten und so lange bewährten Gehilfen in allen Geschäften nicht aus Mißtrauen, sondern aus alter Gewohnheit nie den Schlüssel des Schrankes überließ, kannte er doch sehr wohl das Geheimnis der Öffnung dieses Allerheiligsten seines Herrn.

Der gewandte Dieb, der in Deutschland, Algerien, Spanien und Frankreich so manche Schlösser schon geöffnet, hatte bald den richtigen Schlüssel herausgefunden und öffnete die Thür des Schrankes.

Die Beute an barem Gelde war, da der Wechsler noch kurz vorher die bedeutende Zahlung an den Agenten Garibaldis geleistet, nur gering, aber einige Kostbarkeiten waren hier aufbewahrt, die von den Räubern mit gierigen Händen herausgerissen und auf den Zahltisch geworfen wurden, um sie dort dann bequemer einstecken zu können.

Der Schwabe wühlte unter den Papieren, riß hastig ganze Stöße von Wechseln und Wertdokumenten heraus und streute sie umher, ohne zu finden, was er suchte. Der Räuber im Soldatenrock aber forschte nach Geld und Geldeswert und stieß greuliche Flüche aus als er nichts davon mehr fand.

Der bucklige Abrahm hatte bisher bei seinem gebundenen halberstickten Herrn Wache gehalten und nur mit scharfem gierigen Auge das Thun seiner Genossen beobachtet. Jetzt aber hielt er es an der Zeit, sich einzumischen.

»Gamels, die Ihr seid! seht Ihr nicht, daß hier nichts zu holen für Euch! Das Silber und Gold ist in dem Magazin!«

Der Große mit dem geschwärzten Gesicht ergriff die Lampe, die Abraham sich bereits zum Schlafengehen angezündet, und die ihm zunächst stand. »Is sich wahr, das blanke Silber und Gold hab' ich gesehn oft genug durch das Fenster im Laden!« Er stürzte durch die schmale Thür, die ihm der Bucklige wies, und die neben dem Ausgang zum Flur in das öffentliche Magazin des Juweliers führte.

Der Schwabe zögerte noch einen Augenblick. »Wo sind die Papiere, Buckliger? Du weischt, i muß haben vor allen Dingen die Papiere!«

Abraham reichte ihm ein zusammengefaltetes Schrift-Paket, das er aus den umhergestreuten Papieren aufhob. Sein scharfer Blick hatte ihm bereits gezeigt, daß es die Kopieen waren, deren sich Samuel Mortara am Abend bedient hatte.

»Soll mir Gott! da sind sie! Sorgt, daß ich bekomm da drinnen meinen Teil, indes ich Wache halte bei dem Mann!«

Der Argelino drehte sie in der Hand umher. »I bin kei G'lehrter nit. Du mußt's halt besser wissen, als i. Pack die Sache zusamm'n, wir sind halt gleich wieder da!« –

Er eilte dem Gefährten nach, man hörte das rasche Zerbrechen einiger Glasscheiben aus dem Laden her.

Der Bucklige warf einen triumphierenden Blick ihnen nach, dann stürzte er sich auf den Schrank.

Ein kurzes Suchen, ein Druck der Hand und das geheime Schubfach sprang auf; das Kästchen mit den Diamanten und ein Portefeuille mit alten Briefen und Papieren lag vor ihm.

»Fünfzigtausend Lire und die Steine,« murmelte er, »es ist mein! ich bin reich!«

Er reckte die Hand darnach aus, aber er zog sie mit einem leichten Aufschrei zurück, Blut strömte darüber her, zwischen ihm und seiner Millionen werten Beute richtete sich wie ein drohendes Gespenst die Gestalt seines Herrn empor, der jeder andern Waffe beraubt, mit den Zähnen das seiner Ehre und Rechtlichkeit anvertraute Gut verteidigte.

»Möge Dein Arm verdorren, Schurke,« zischte der Greis, »sollst Du verschwarzen und Deine Seele brennen ewiglich in der Jehennah, so Du es wagst! Nur mit meinem Leben sollst Du haben, was ist nicht mein!«

Das Gesicht des Buckligen hatte sich zu einer dämonischen Larve verzerrt. Alle bösen und schlechten Leidenschaften, die so lange in ihm geschlummert und nun plötzlich durch die Gelegenheit, reich zu werden, zum Ausbruch gekommen waren, spiegelten sich darin wieder.

»Aus dem Wege, Baas, oder Du wirst sein ein toter Mann!«

Statt aller Antwort warf sich der alte Wechsler auf den Diener und Vertrauten, mit dem er fast dreißig Jahre lang zusammen gelebt hatte. Er biß mit den wenigen Zähnen, die ihm noch übrig waren, wie ein wildes Tier nach ihm, er drängte und stieß ihn mit unerwarteter Kraft von dem Schranke hinweg, den er mit seinem Leben verteidigte, während der Bucklige ihn mit seinen langen Armen umschlang oder ihm Schläge mit der Faust auf den Kopf versetzte.

Der erbitterte Kampf war bis jetzt fast schweigend nur von einzelnen wilden Verwünschungen unterbrochen, geführt worden, denn beide Teile fürchteten die Räuber aus dem Laden herbeizurufen, jetzt aber stürzten beide Kämpfer auf den Boden und wälzten sich dort über einander und der Wechsler, dem bereits das Blut über das Gesicht rann, brüllte aus Leibeskräften: »Mörder! Mörder! zu Hilfe!«

Einen Augenblick darauf, während vergeblich der Bucklige sein Rufen mit vermehrten Schlägen zu unterdrücken suchte, hörte man das Zetergeschrei in der Küche von einer weiblichen Stimme wiederholen. »Mutter! Mütter! zu Hilfe, sie bestehlen meinen Herrn!«

Aus der Thür des Ladens stürzten die beiden Räuber, in das Arbeitszimmer, der Schwarze voran, jeder mit einem schweren Sack beladen. »Was ist geschehen? Mach sich ihn kalt den Hund!«

»Fort geschwind! Halt di nit auf, Kam'rad, mit dem elenden Jud!« Der Schwabe raffte gewandt noch zusammen, was auf dem Zahltisch lag, während der Schwarze bereits mit einem Satz sich darüber geschwungen hatte und nach der Gangthür stürzte.

Aber es war zu spät.

Wütend über den Widerstand, den er gefunden, hatte der Bucklige nach einer Waffe umhergesucht, als er dicht neben sich das Terzerol auf dem Boden erblickte, das vorhin der Argelino mit leichter Mühe der zitternden Hand des Juweliers entwunden hatte. Er spannte den Hahn und setzte es dem Juwelier an die Stirn.

»Gott Abrahams, nimm auf meinen Geist!«

Aber bevor er noch loszudrücken vermochte, knallte ein Schuß von der Thür des Hausflurs her, der Räuber im Soldatenrock taumelte, ließ seinen Sack fallen und wandte sich um, das Brecheisen mit beiden Händen zum vernichtenden Schlage fassend.

Er fand ein furchtloses Gesicht, ein mutig blitzendes Auge sich gegenüber, eine drohend erhobene, mit einem Revolver bewaffnete Hand gegen sich ausgestreckt.

Ein Schlag mit derselben Waffe gleich nach dem Schuß hatte den Buckligen an dem beabsichtigten Verbrechen gehindert und den Juwelier befreit. Mit einer Kraft und Behendigkeit, die ihm nach den erlittenen Mißhandlungen kaum zuzutrauen waren, hatte dieser sich aufs Neue erhoben und sich vor den so tapfer verteidigten Schrank geworfen. Sein Geschrei: »Diebe, Mörder!« gellte durch das Haus und verstärkte das Zetergeschrei der Dienerin im Flur, das den so zu rechter Zeit erschienenen Beistand herbeigerufen hatte.

Dieser stand in Gestalt eines kräftigen Mannes zwischen dem Juwelier und dem Räuber, es war Herr Meißner, der Erzieher und Sekretär im Haushalt der russischen Fürstin.

Ein abscheulicher Fluch sprudelte aus dem Munde des Räubers, und in schwerem Schlage fiel das gewichtige Eisen nieder. Aber mit einer raschen Wendung war der ehemalige Student und gewandte Turner dem Hieb entgangen, und ohne den ersten Schuß zu wiederholen, der bereits seinen Gegner schwer in der Seite verwundet hatte, unterlief er diesen und warf ihn nach kurzem Ringen zu Boden.

Durch den Anstoß war die Lampe des Wechslers, die bisher von ihrem sichern Standpunkt auf dem Pult die Scene beleuchtet hatte, umgefallen, und völlige Dunkelheit hüllte die Handelnden ein. Zugleich hörte man Stimmen von außen und das Einklappen der Thür des eisernen Schrankes, die der Wechsler mit Geistesgegenwart zum zweitenmal zur Sicherung seines Schatzes glücklich ins Schloß geworfen.

Der unverkennbare Ton rief eine zeternde giftige Verwünschung hervor zwischen dem Lärm des Ringens.

Der Räuber wehrte sich trotz seines Blutverlustes noch verzweifelter, als bereits Gewehrkolben auf dem Flur rasselten, und eine tiefe Kommandostimme befahl, die Eingänge sorgfältig zu besetzen und niemand hinauszulassen. Zugleich flammte Licht in der Küche auf und in seinem Schein sah man die Soldaten einer österreichischen Patrouille, von einem Korporal geführt, der mit zweien seiner Leute, die Gewehre schußfertig, von der nur halb bekleideten jungen Christenmagd des jüdischen Wechslers gezogen, rasch in das Zimmer drang, das der Schauplatz des Raubversuches gewesen war.

Im Schein des Lichts erblickte man den zitternden, blutenden Juwelier mit dem Rücken an die Thür seines Schrankes gelehnt; der Räuber mit dem geschwärzten Gesicht lag am Boden, das Knie des Deutschen auf seiner Brust, neben ihm der Sack mit dem gestohlenen Gut, von dem ehemaligen Argelino und dem Buckligen war keine Spur zu sehen, die Thür zu dem Gang war halb geöffnet.

Das erste, was der Korporal, ein geborener Wiener, that, war, dem überwundenen Räuber das Bajonett an die Kehle zu setzen und ihn binden zu lassen.

»Reibt dem Kerl mal das G'sicht ab, damit wir schaun, wer er ist,« befahl der Korporal. »Der Halunk hat sicher des Kaisers Rock g'stibitzt, um uns a Schand zu machen! Nu hör auf, Madel, zu greinen, 's kann Dir nix mehr g'schehn und wasch Deinem Herrn lieber das Blut vom G'sicht!«

Der Wechsler schaute verstört umher, während er noch immer schützend vor seinem Schrank stand. Seine Hand wies nach dem Zugang zu dem Magazin. »Da – dort hinein ist er!« stöhnte er mühsam.

»Was? Ist noch Aner hier? Warum sagen's holter das nit gleich!« Der wackre Soldat trat mit gespanntem Gewehr furchtlos in die Thür. »Ergieb Di, Spitzbub, oder i brenn Dir Aans zwischen die Rippen!«

Aber er hatte die gefährliche Drohung nicht nötig, obschon sich wirklich jemand im Magazin befand. Die Lampe, die der Schwarze mit sich genommen, um dort zu plündern, brannte noch auf dem Tisch, und an diesem saß ganz ruhig, die Hände in den Taschen, der ehemalige Argelino mit so unbefangenem Gesicht, als ginge ihn die Geschichte gar nichts an.

Da es ihm nicht gelungen war, so rasch wie der Bucklige im Dunkel die Seitenthür zu gewinnen und wie dieser durch den hintern Ausgang des Hauses zu entfliehen, hatte er es vorgezogen, wieder in das Magazin zurückzukehren und sich dort möglichst jeder Spur der Teilnahme an dem Raube zu entledigen, da er sich alsbald überzeugte, daß weder das Schaufenster noch die Thür nach dem Flur ihm mehr einen Fluchtweg gewährten.

Vor ihm auf dem Tisch glomm noch ein Rest von verbranntem Papier und die leichte Asche stob bei dem Luftzug umher. Er hatte wenigstens versucht, seinen Auftrag zu erfüllen, und die Papiere, die er für Originale hielt, vernichtet.

» Bon soir, Messieurs,« sagte er kaltblütig. »I hoffe, daß Sie sich allerseits wohlbefinde!«

»Spitzbube!« Der Korporal hatte ihn bereits am Kragen und versetzte ihm einige derbe Püffe. »Wie kommst Du hierher?«

»I verbitt mir jede Beleidigung, Herr,« protestierte der Schwabe. »I bin französischer Bürger und unbescholtener Reisender und hab' Monsieur Mortara bloß einen Besuch g'macht, um ihn einiges abzukaufe.«

»Den Deixerl hast Du, Coujon!« Ein tüchtiger Kolbenstoß belohnte die Frechheit. »Bring Deine Lügen morgen früh vor der Polizei vor, nit bei uns. Bindet mir den Kerl recht fest, denn er ist a arger Dalk!«

Ohne auf sein Protestieren und seine Prahlereien zu hören, wurde der alte durchtriebene Spitzbube gebunden und in die Küche gebracht.

Ein Ausruf des Staunens und Schreckens seiner zurückgebliebenen Leute hatte den Korporal nach dem Zimmer des Wechslers zurückgeführt.

»I will mei Lebtag kein' Schoppen mehr trinken, Korporal Weichlinger,« schrie ihm einer der Soldaten entgegen, »wenn der Bursch da, den der Herr derschossen, nit der schlechte Kerl, der Schinder von den Blauen ist, der vorgestern auf dem Platz die Hieb gekriegt wegen Mauserei!«

Der Vorgesetzte war näher getreten. Der Räuber, dem man eben nicht in besonders zarter Weise das geschwärzte Gesicht gesäubert hatte, lag ohnmächtig von dem Blutverlust, mit geschlossenen Augen da. Wer aber einmal dieses finstere unheimliche Gesicht gesehen, mußte es wieder erkennen.

»Es ist wahr, es ist holter der Szabó Polkó, der Gehilfe des Profoß vom Regiment Schwarzenberg!« Er wandte sich zu dem Juwelier, der emsig beschäftigt war, die von den Räubern zerstreuten Wechsel und Papiere zu sammeln. »Herr Mortara,« sagte er zu diesem, der ihm wohl bekannt war, »Sie können von Glück sagen, daß unsre Patrouille grad' zu rechter Zeit vorbei kam und die Spitzbuben gefangen hat. Aber wir wären sicher zu spät gekommen, wenn der brave Mann Sie hier nit früher gerettet, denn der Kerl dort ist a arger Bub', a Schinderknecht, der a wahre Freude dran hat, a Menschenkind zu hängen. Dem Herrn hier verdanken Sie's Leben, uns bloß Ihr Geld!«

Der letzte höfliche Wink ging dem Wechsler nicht verloren. Er drückte dem wackern Korporal die Hand und lud ihn ein, am andern Morgen wieder bei ihm vorzusprechen, um sich ihm und seinen Leuten gebührend erkenntlich erweisen zu können. Er bat ihn, ohne von dem Anteil seines schurkischen Gehilfen an der Unthat zu sprechen, da er dessen Ergreifung keineswegs wünschte, das Haus vor seinem Abzug noch genau durchsuchen zu lassen, ob etwa noch ein Helfershelfer der Räuber dort versteckt sei, und wandte sich dann zu seinem Retter, der, von dem gewaltigen Ringen erschöpft, bisher nur schweigend Anteil an dem Verlauf der Scene genommen hatte.

»Soll mir Gott helfen, das ist der fremde Herr, der Sekretär der gnädigen Frau Fürstin! Ich bin ein alter Mann, Signor, und mein Leben ist nicht mehr viel wert! Aber Sie haben mir's bewahrt, daß ich nicht zur Grube gefahren bin als ein unehrlicher Mann, der nicht geordnet sein Geschäft vor seinem Tod. Der Samuel Mortara, Signor, ist Ihnen fremd und ist nur ein Jud, aber Sie haben gewagt für ihn Ihr Leben, und glauben Sie mir, er hat ein Herz, das nicht vergessen wird, was Sie gethan.«

Der Hauslehrer schüttelte dem alten Mann die Hand. »Sie sind mir keinen Dank schuldig, Signor Mortara,« sagte er herzlich. »Es freut mich, daß ich Ihnen einen Dienst leisten konnte, aber jeder Mann von Ehre hätte das gleiche gethan, wenn er seinen Nebenmenschen in Gefahr gesehen, und es ist mir nur lieb, daß der Rückweg zum Hotel von der Begleitung des Herrn, den Sie kennen, und der sich glücklicher Weise verzögerte, mich nochmals an Ihrem Hause vorüberführte und ich durch die offen stehende Thür aufmerksam gemacht wurde.«

Der Wechsler sah ihn groß an. »Die Hausthür nach der Piazza war offen? Wahrscheinlich hat sie die Barbara aufgerissen, als sie um Hilfe schrie.«

»Nein, Signor, ich stand bereits an der offenen Thür und war aufmerksam geworden durch das Klirren einer Glasscheibe und ein auffallendes Geräusch, als ich Ihren Hilferuf hörte und gleich darauf das Geschrei Ihrer Dienerin von der Treppe herab.«

»So mir Gott soll helfen – wie ist mir denn? ich habe doch selbst verschlossen und verriegelt die Thür!« Er sah auf die Dienerin, die zitternd und weinend zur Seite stand.

»Hast Du aufgemacht, um Hilfe zu holen, die Thür?«

»Nein, Signor!«

»Rufe Deine Mutter, wie kommt es, daß ich nicht sehe die Anna Morisi, wo hat sie gesteckt während des Gespektakel?«

»Die Mutter ist fort,« schluchzte das Mädchen, »ihr Bett ist leer!«

»Fort?«

»Sie führte so seltsame Reden, Signor, diesen Abend, besonders nachdem Ihr fortgegangen!«

Der Korporal hatte den ohnmächtigen Henker nach dem Flur bringen lassen, wo man ihn so gut als möglich verband und ihn auf eine Trage legte, um ihn mit dem andern Gefangenen zur Wache zu schaffen.

Vor dem Hause hatten sich, durch den Lärm angelockt, trotz der späten Stunde und des schlimmen Wetters Neugierige gesammelt.

»Was hat sie gesagt?«

»Sie ist schon seit mehreren Tagen ganz tiefsinnig, Signor, sie sagt, sie müsse eine Seele vom ewigen Feuer bewahren, sie müsse den Knaben retten!«

»Deine Mutter ist toll! ich werde sie einsperren lassen durch die Polizei! Sie steht in Verbindung mit den Dieben, sie hat ihnen geöffnet die Thür … was will sie retten den Knaben! Von welchem Knaben redet sie?«

»Von Edgard Mortara, Ihrem Neffen,« sagte eine scharfe Stimme. »Dies Weib, Anna Morsi, steht unter meinem Schutz! ihre Anwesenheit hat keinen Bezug auf den Diebstahl, der bei Ihnen verübt worden. Sie hat Ihr Haus einzig verlassen zu einer Unterredung mit mir, wie ich bezeugen kann!«

Der Wechsler starrte wie auf eine gespenstige Erscheinung auf den Mann, der auf der Schwelle der Thür stand, und streckte totenbleich, aber mit zornfunkelndem Auge die Hände abwehrend gegen ihn aus. Hinter dem Mann sah man das verstörte Gesicht der Apfelsinenhändlerin, der Mutter Theresittas, die wiederholt ein Agnus-Dei in ihren Händen küßte und verzückt die Augen zum Himmel schlug. In dem Hausflur beschäftigten sich die Soldaten mit dem Transport der Gefangenen, ein Polizei-Beamter war soeben angekommen und hörte den Bericht des Korporals.

»Sohn einer abtrünnigen Mutter, verflucht von dem Samen Abrahams, aus dem Du entsprossen,« rief der Jude drohend, »was willst Du zum zweitenmal auf der Schwelle der Gerechten, die Dich nicht kennen!«

»Sie kennen mich sehr wohl, Samuelo Mortara,« sagte finster der Graf; denn dieser war es, der Begleiter des Herrn von Neuillat, der auf der Schwelle stand. »Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen, sondern einzig mit dieser Frau, die meine Pflicht mir gebietet, noch diese Nacht aus Ihrem Hause zu nehmen, damit Sie ihr Gewissen nicht länger bethören können!«

»Beim Gott meiner Väter, der einst richten wird zwischen mir und Ihnen – ich weiß nicht, was Sie wollen von mir!«

»Samuel Mortara – Du sollst es erfahren, sobald Du allein bist.«

Der Wechsler erhob bittend die Hand nach dem Mann, der ihn aus der Mörderfaust gerettet. Der Sekretär reichte ihm die seine. »Signor Mortara,« sagte er mit einem festen strengen Blick auf den Grafen, »ich entferne mich, weil Sie es wünschen. Aber wenn Sie der Hilfe eines ehrlichen Mannes bedürfen, so zählen Sie auf mich, ich bin in Ihrer Nähe.«

Er verließ das Gemach mit der weinenden Dienerin und ihrer Mütter und wußte draußen unter dem Vorwand, daß der Juwelier von dem Überfall und den erhaltenen Verletzungen zu angegriffen sei, um noch ein Verhör bestehen zu können, die Polizeibeamten aus dem Hause zu entfernen.

Der modenesische General blieb mit dem Wechsler zurück.

Der Jude sah finster auf den Edelmann. »Wir sind allein, Signor, was wollen Sie von uns noch? Genügt es nicht der Schmach, die die Abtrünnige, Ihre Mutter, angethan unserm ehrlichen Namen? was will der Sohn der Christin, die das greise Haupt ihrer Eltern mit Jammer in die Grube fahren machte, von dem verachteten Juden, seinem Oheim?«

Der Ton, mit dem er die Worte sprach, war bitter und feindlich, der Hohn daran unverkennbar.

Der Graf biß sich in die Lippen, sein strenges finsteres Gesicht bedeckte sich mit dunkler Glut, aber es gelang ihm, den aufsteigenden Zorn zurückzudrängen.

»Meine Mutter, Ihre Schwester,« sagte er barsch, »hat ihren falschen Glauben abgeschworen und das wahre Licht erkannt.«

»Es war der Glaube ihrer Väter, den Moses gepredigt auf dem Horeb tausend und aber tausend Jahre, ehe der Messias der Christen gekommen ist in die Welt. Sie sind gezeugt als das Kind einer Jüdin in Sünde und Schmach, und der Fluch des rächenden Gottes treffe noch im Grabe den, der gebracht hat Unehre und Herzeleid unter das Dach des Friedens.«

»Wahren Sie Ihre Zunge, Sie sprechen von einem, der Ihr Herr war!«

»Und wenn er noch so vornehm und mächtig war und zu den Gewaltigen der Erde gehörte, die ihren Fuß setzen auf den Nacken meines Volkes,« rief mit finsterer Energie der Greis, »er ist Staub geworden, wie der Mann, dessen Haupt er mit Leid und Schmach bedeckt hat, eh' es zur Grube fiel! Hat er nicht doppelt gefrevelt gegen sein eigenes Gesetz, das ihm auferlegte die Keuschheit, und gegen das Gebot Gottes, das beim Christen wie beim Juden schützen soll die Ehre der Jungfrau und das weiße Haar des Greises? Wo ist seine Macht und Herrlichkeit, daß er nicht einmal dem Kind seiner Sünde hat seinen Namen geben können, trotz aller Ehre, und daß der Sohn des Frevels sich drängen muß in den Kreis der Gerechten und Gekränkten!«

»Hüte Dich, Jude,« sagte der General heftig. »Wenn man mich auch den Namen meiner Mutter führen ließ, der Rang, den meine Thaten mir erworben haben, hat den Flecken meiner Geburt längst vertilgt! Ich habe nichts gemein mit Euch!«

»Wenn der stolze Graf Mortara nichts gemein hat mit dem schachernden Juden des Ghetto, dessen Namen er trägt,« erwiderte der Wechsler giftig, »warum wollte er ihm stehlen das Erbe seiner Väter, an das keinen Anspruch hat die Abtrünnige und Verstoßene, noch ihr Samen?«

Die Adern auf der Stirn des alten Offiziers waren dunkel geschwollen, eine tiefe drohende Falte lag zwischen seinen buschigen Brauen, als er an den Tisch trat, an dessen anderer Seite der Juwelier saß, und einen Stuhl heranzog, auf den er sich mit gewaltsam erzwungener Ruhe setzte.

»Sie erlauben, Signor Samuelo,« sagte er höhnisch, »daß ich den Mangel an Höflichkeit, den Sie gegen Ihren Neffen zeigen, verbessere. Wir haben miteinander zu reden, Signor, und da es lange Zeit her ist, daß wir uns nicht gesehen, wünsche ich, es mit Bequemlichkeit zu thun.«

Der Juwelier antwortete ihm nicht, sondern sah, den Kopf in die Hand gestützt, düster vor sich nieder.

»Es ist wahr,« fuhr der General fort, »daß ich das Kind einer schweren Sünde bin, indes Sie wissen, daß in unserm Lande das Blut heißer durch die Adern rollt, als im kalten Norden, und daß ein Mann, und stände er selbst dem Stuhle Sankt Peters so nahe, wie mein Erzeuger ihm stand, in der Bewunderung der Schönheit seinen Rang, den Kardinalshut, ja, selbst das Gelübde des Priesters vergessen kann. Meine Mutter war schön, die engen Schranken des Ghetto gefielen ihrem heißen Blut und ihrem jugendlichen Sinn nicht, und als der Kardinal, mein Vater, sie entführen ließ, folgte sie gern. Sie ließ sich taufen, und ich war die Frucht dieser heimlichen Verbindung. Um der liebeswürdigen Verwandtschaft des Ghetto zu entgehen, die uns im stillen alle möglichen Flüche auf den Hals schleuderte, und sonstige Verlegenheiten zu beseitigen, sandte der Kardinal mich schon zeitig nach Spanien, und sein Schutz machte, daß ich als Kavalier in den Reihen des Adels erzogen wurde und als Soldat und Streiter der Kirche und des Königtums Gelegenheit hatte, den Namen Mortara mit dem Grafentitel zu zieren, auch nachdem mein Erzeuger eines so plötzlichen und geheimnisvollen Todes gestorben war, daß gar manche noch heute der Meinung sind, er sei das Opfer einer heimlichen Rache geworden.«

»Wer unterdrückt die Schwachen und hört allein auf den Rat seiner Leidenschaft, nicht auf das Gesetz,« sagte finster der Wechsler, »den bedroht in jeder Stunde die Strafe Gottes!«

»Ich bin nicht hier, um mit Ihnen über den Charakter meines Vaters zu streiten. Genug, daß Kaiser und Könige seinen Beistand suchten und die höchste Macht der Christenheit in seiner Hand war. Aber er starb so plötzlich, daß er nicht Zeit hatte, für die zu sorgen, die ein Recht auf diese Sorge hatten, und die Erinnerung an ihn war alles, was sie aus dem Glanz mit sich nahmen.«

»Die Rache des Herrn straft die Frevler bis ins vierte Glied!«

»Ich empfand das Unglück damals weniger, weil ich bereits in meine militärische Laufbahn eingetreten war, und die Sorge meines Vaters mir Gönner und Schützer erworben hatte. Ja, ich hörte nicht einmal, damals in der neuen Welt und im wilden Kampf mit den aufrührerischen Mexikanern, von dem Schicksal meiner Mutter. Aber Sie, die drei Brüder Mortara, Sie wußten, daß Ihre Schwester in Not und Armut versank, daß sie vergeblich ihr Erbteil forderte, um nicht Hungers zu sterben!«

»Wir hatten keine Schwester,« sagte der Wechsler fest. »Wer abfällt vom Gesetz Moses und der Propheten, ist tot für Vater und Mutter, für Bruder und Verwandte. Er ist ausgestoßen und schlimmer als der Heide, der geboren ist in der Finsternis. Die Christin hat keinen Anspruch an das Erbe des Juden! Sie mochte zu ihren neuen Brüdern gehen!«

»Euer wahnsinniger fanatischer Haß war es, der die eigene Schwester von der Schwelle stieß! Sie wollte nichts von Euch, als ihr Recht, das Erbe ihrer Eltern!«

»Der Rabbi, ihr Vater, dessen weißes Haar sie mit Kummer zur Grube gebracht, hat ihr geflucht! Seine Söhne hatten allein das Gebot zu erfüllen, mit dem er gestorben ist.«

»Und Ihr habt es wie Henker gethan! Als ich nach dem Kriege in Spanien zurückkehrte, war meine Mutter verschwunden. Die Nachfragen, die ich bei ihren Brüdern hielt, wurden mit dem alten Haß zurückgewiesen. Vergeblich suchte ich Auskunft über ihr Schicksal, erst vor drei Jahren erlangte ich durch einen alten Diener meines Vaters die Gewißheit, daß sie in Elend und Not gestorben ist, während ihre Brüder zu den reichsten Wechslern Italiens gehören. Von dem Augenblick an, Signor Mortara, hat der Krieg zwischen uns begonnen!«

Der Juwelier lächelte spöttisch. »Die Gerichtshöfe der Christen müssen heut zu Tage haben ein gleiches Recht für den Juden wie für den Christen,« sagte er. »Der Jude ist auch in Italien ein Mensch geworden, seit dem Tage der großen Revolutionen, der Anspruch hat auf das Gesetz und nicht mehr unterliegt wie sonst der Gewalt und der Willkür. Der Sohn der Abtrünnigen hat prozessieren lassen drei Jahre gegen uns an den Gerichtshöfen zu Mantua und Bologna, um uns zu entreißen unser Geld, weil er hat geglaubt, daß das Geld ist das Leben der Juden. Aber der vornehme Graf hat sich geirrt. Der Jude hat bekommen sein Recht, was ihm höher steht, als das Geld. Der Sohn der Abtrünnigen hat verloren die Prozesse, die seine Advokaten angestellt gegen die Söhne des Rabbi.«

»Ich hatte Unrecht, Signor Samuelo,« sagte der Graf kalt, »ich gebe es zu. Die Sühnung für meine Mutter muß einen andern Punkt treffen, als Ihren Geldkasten. Sie hassen die Christen, und wollen nicht, daß das Erbe Ihres Vaters in christliche Hände kommen soll!«

»Ich hasse nicht die Christen! Samuel Mortara thut ihnen wohl von Herzen gern, wenn sie die Hand nach ihm strecken und sagen: Bruder! Die Welt ist groß, und es sind viele Völker, die darin wohnen. Aber über alles steht ihm der Glaube seiner Väter! Der Jude soll bleiben Jude und der Christ Christ – es möge jeder behalten seinen Glauben!«

»Sie wissen, daß der Name Mortara auf zwei Augen steht, da ich nicht vermählt bin!«

»Und er wird wieder werden, was er gewesen ist, ein Name rein in meinem Volk, nicht befleckt durch die Sünde der Untreue und des Abfalls. Der Gott Zebaoth hat mir genommen die eigenen Kinder und hat sterben lassen meinen Bruder David in Florenz ohne Erben. Aber er hat gesegnet meinen Bruder Joel in Bologna mit drei Töchtern und einem Sohn, und dieser wird sein der Erbe von uns allen und aufrecht halten das Geschlecht der Rabbi.«

Der Graf stand auf. »Er wird es thun,« sagte er kalt, »aber als Christ.«

Der Wechsler fuhr zurück, ein Zittern überflog seine Glieder, er mußte sich festhalten an den Tisch, an dem er sich erhoben.

»Das ist Lüge, die kommt wie Gift aus Deinem Mund, Sohn derer, die gewesen ist unser Fluch! Mein Bruder ist ein treuer Bekenner des Gesetzes, und der Knabe wird niemals abtrünnig werden vom Glauben seiner Väter!«

»Es steht weder in der Macht des Vaters noch des Knaben. Er hat die christliche Taufe empfangen in seiner Kindheit, und die geistlichen Gerichte werden ihn fordern. Sie haben sich auf das Gesetz und das Recht berufen, ich thue desgleichen!«

Der Juwelier hatte krampfhaft seinen Arm gefaßt, große Schweißtropfen rannen über sein Gesicht.

»Du lügst! Du lügst!«

Der General riß sich los und öffnete die Thür. »Anna Morisi, bist Du hier?«

»Ja, Excellenza!«

»So tritt ein!«

Die Frau, die der Jude in sein Haus aufgenommen, die Mutter seiner Dienerin, der er und seine Familie so viel Wohlthaten erwiesen, trat ein, die Augen zu Boden geschlagen, in der Hand ein Bündel mit ihren Sachen, die sie unterdes zusammengepackt.

»Sage dem Manne da, Frau,« befahl der Graf, »daß der Knabe, den Du an Deiner Brust gesäugt, die heilige Taufe empfangen hat.«

Die Frau ließ das Bündel fallen und streckte schluchzend beide Hände nach dem Wechsler.

»Ah, Signore, Ihr werdet einem armen Weibe nicht zürnen, ich that es für sein ewiges Seelenheil; denn ich schwöre Euch, ich liebe das Kind wie mein eigenes Fleisch und Blut, und ich hätte keine Ruhe gehabt, wenn er in seinen Sünden gestorben wäre. Gott und die Heiligen haben mein Gebet erhört, und er ist frisch und gesund.«

Der Juwelier starrte, die beiden Hände auf den Tisch gestemmt, mit weit geöffneten Augen sie an. »Was sprichst Du, Weib, was ist geschehen?«

Sie hatte ihre Redseligkeit wieder gefunden. »Ihr müßt Euch ja erinnern, Signore, wie das liebe Kind so krank war, kaum sechs Monate nach der Geburt, und Eure Schwägerin auch, daß wir glaubten, es würde nimmer den nächsten Tag erleben. Ich lag auf den Knieen und weinte und betete, denn Ihr wißt ja, ich bin keine gewöhnliche Amme und hänge an Eures Bruders Haus, wenn sie auch nur Juden sind. Da war mir's, als habe meine Padona, die heilige Rosalia selber, mir's eingegeben, daß ich den Knaben retten könne durch das Sakrament oder ihn wenigstens erlösen müsse vor dem höllischen Feuer, in dem alle Ketzer und alle Juden und Heiden verbrennen sollen, und ich hab' ihn getauft im Namen Gottes und des Heilandes und des heiligen Geistes und aller Heiligen, Amen!«

Der alte Wechsler antwortete nicht, nur sein Mund bewegte sich krampfhaft, als schnappe er nach Luft, oder als könne er den Fluch, der aus seinem Herzen quoll, nicht über die Lippen bringen.

Selbst das düstere, von Haß und Fanatismus gestählte Gemüt seines Verwandten empfand einen Augenblick Teilnahme für den alten Mann.

»Samuel Mortara,« sagte er milder, »Du siehst, daß ich nichts dazu gethan. Es ist die Hand Gottes allein, die Dich straft in dem, woran Du gefrevelt: Du hast gehaßt und verstoßen Deine Schwester, weil sie Christin geworden, und der Himmel hat es gefügt, daß der Erbe Deines Mammons schon in seiner Wiege die heilige Taufe empfangen hat! Erkenne den Finger Gottes und beuge Dich in Demut seinem Willen!«

Der Wechsler war zurückgesunken auf seinen Stuhl, aber noch gab sein kräftiger Geist den Kampf nicht auf. So edel und vorurteilsfrei er auch dachte, so menschenfreundliche und edle Gefühle er stets in seiner Brust gehegt hatte, das hartnäckige Festhalten an seinem Glauben, sein Stolz darauf, das war der einzige Punkt, in dem er engherzig, ja fanatisch dachte. Aus diesem Stolz und Fanatismus hatte er das einzige Unrecht seines Lebens, die Verstoßung der hilfsbedürftigen Schwester begangen, in diesem Stolz hoffte er, seine Familie in dem jungen Sprossen reich und mächtig blühen und den Abfall des einen bösen Zweiges vergessen machen zu sehen, und deshalb traf der Schlag den innersten Nerv seines Lebens.

»Unglückliche! weiß mein Bruder oder sein Weib von Deiner That?«

»Gott bewahre, Signore, keine Menschenseele als mein Beichtvater, und der Herr hier, der mir Botschaft von ihm gebracht und mir Mut zugesprochen in meiner Qual! Ach, Signore, ich bin eine große Sünderin, daß ich das Glück meines Milchsohns so lange verschwiegen und ihn den Anfechtungen des bösen Feindes ausgesetzt habe. Himmlische Jungfrau, wenn ich gestorben wäre und das Geheimnis mit mir, ich wäre in Ewigkeit nicht aus dem Fegfeuer gekommen!«

»Möge Deine Zunge verschwarzen,« schrie der Wechsler in ausbrechender Leidenschaft, »möge der Fuß verdorren, den Du gesetzt über der Meinen Schwelle! Hinaus mit Dir, elendes Weib!«

Das Auge des Hausherrn schoß einen so grimmigen Strahl des bittersten Hasses, daß die Frau ihr Bündel aufraffte und eilig aus der Thür floh.

Die ganze Leidenschaft des Orientalen brach jetzt in dem sonst so ruhigen, bedächtigen Manne aus. Er schlug seine Brust, zerraufte sein Haar und warf sich auf den Boden. Sein Mund sprudelte die furchtbarsten Verwünschungen des Talmud, untermischt mit Anrufungen Jehovahs.

Dann plötzlich, als sei ihm ein sicherer Gedanke der Rettung gekommen, sprang er empor und schüttelte die grauen Locken aus seinem Gesicht.

Der Graf hatte unbewegt, die Arme über die Brust gekreuzt, der Verzweiflung des alten Mannes zugeschaut. Auch jetzt begegnete er dem brennenden geröteten Auge mit kaltem, feindseligen Blick.

»Ich will die schlimmen Lästerungen nicht gehört haben, die Ihre grundlose Leidenschaft Sie gegen die heilige Kirche ausstoßen läßt, Samuel Mortara,« sagte er kalt, »aber erinnern Sie sich, daß es noch ein Inquisitions-Gericht zu Rom gießt, und daß dieses eine lange Hand hat, auch über Bologna hinaus!«

Der Jude legte mit einem verächtlichen Hohnlächeln die Spitzen seiner Finger auf den Arm des Offiziers. »Mantua liegt nicht im päpstlichen Staat, und das Gold hat seinen Klang selbst in den Mauern des Palastes der Inquisition, die sonst haben gesehen den Jammer meines Volks. Der weise Hohe Priester der Christen hat geöffnet die Thore des Ghetto und will haben Gerechtigkeit in seinem Staat. Sie wissen davon zu reden selber ein Wort. Der mächtige Staatssekretär Kardinal Antonelli wird aufthun sein Ohr unserer Klage.«

Diesmal war es der Soldat, der spöttisch lachte. »Sie verwechseln die geistliche Gerichtsbarkeit mit der weltlichen, sehr kluger und weiser Oheim. Die Justiz konnte vielleicht gegen die rechtmäßigen Ansprüche des Grafen Mortara ein taubes oder von Ihren Zechinen gestopftes Ohr haben, aber wo es sich um eine Christenseele handelt, die Juden zu ihrem Götzendienst zwingen wollen, würde Sankt Petrus Stuhl sich selbst vernichten, wenn er für alles Gold von Italien ein Haarbreit von seiner Pflicht weichen wollte! Man kann einen Richter bestechen, aber nicht das Kollegium der Kardinäle. Monsignore Antonelli, so sehr er das Gold lieben mag, wird der erste sein, das heilige Gericht in seinem Rechte zu schützen.«

»Aber noch ist die Anzeige nicht gemacht, noch kann werden die Sache unterdrückt,« sagte fast flehend der alte Mann. »Sie haben verloren Ihren Prozeß, Sie werden haben ein Einsehen Herr Graf mit einem alten Mann, der doch ist von Ihrem Blut; ich will zahlen das Erbe Ihrer Mutter nicht ein-, nein zehnfach, wenn Sie mir versprechen zu schweigen von dem, was ist geschehen mit dem Knaben!«

»Ich treibe nicht Handel mit Christenblut!« sagte der General stolz. »Ich räche meine Mutter an Ihrer Hartherzigkeit, indem ich meinen Neffen dem einzig wahren Glauben zuführe. Wie ich ein Soldat bin für die Kirche und ihre Gesalbten mit dem Schwert, soll der Knabe ihr Streiter werden mit der Verkündigung ihrer Lehre. Die heilige Propaganda wird ihn aufnehmen als ihren Schüler!«

»Niemals! lieber möge er tot und begraben sein!« Der Graf streckte gebieterisch die Hand gegen ihn.

»Hüten Sie sich, Samuelo Mortara, Ihr und Ihres Bruders Leben bürgt für den Knaben. Die heilige Kirche hat ein Recht an ihn und kann es fordern zu jeder Zeit – merken Sie Wohl auf, zu jeder Zeit!«

Der Wechsler atmete hoch auf. »Verstehe ich Euer Excellenz recht? Sie wollen das Kind jetzt nicht nehmen seiner Mutter?«

»Die Kirche ist seine wahre Mutter, seit er durch die Taufe in sie übergegangen, aber sie ist nachsichtig und mild und wird ihn seiner irdischen Mütter lassen unter einer Bedingung.«

»Welche, Signore? der Samuel Mortara will opfern sein halbes Vermögen, ja, ich will geben alles, was ich besitze und anfangen wieder von vorn!«

»Die Kirche will Ihr Gold und Gut nicht. Ich stelle Ihnen eine andere Bedingung.«

»Welche, Signor Conde, reden Sie!«

»Man weiß, daß Sie Verbindungen in Ihrem Geschäft mit den verschiedenen politischen Parteien unterhalten, und daß merkwürdiger Weise alle Ihnen, dem Juden, ein großes Vertrauen schenken.«

»Ich habe mein Lebelang gehandelt als ein rechtlicher Mann, Signor Conde, und niemals ein Vertrauen gemißbraucht, das ist das Geheimnis.«

»Wir wollen die kleinen Geheimnisse Ihres Handels nicht. Aber man weiß sehr wohl in Rom, wie in Modena und Florenz, daß Ihr Volk durch die Geldmittel und die Schlauheit, die es besitzt, einen sehr bedeutenden Einfluß auf die revolutionären Bewegungen übt, welche das unglückliche Italien zerreißen und selbst die Hand an den heiligen Stuhl Sankt Peters legen. Der treulose Sohn der Kirche in Turin hegt das ehrgeizige Gelüst, sich zum Herrn von ganz Italien zu machen und selbst die Kirche zu berauben. Frankreichs Schutz ist ein unsicheres, von den egoistischen Plänen seines Beherrschers allein abhängiges Ding, Österreich ist zwar die kräftige Stütze der bestehenden Ordnung, aber es ist die Frage, ob es im Augenblick der Gefahr mächtig genug sein wird, das weltliche Gebiet des Papstes und die rechtmäßigen Fürsten Italiens zu schützen. Diese teuflische Macht der Revolution lauert auf die Gelegenheit zum Umsturz und hebt wieder frech und kühn ihr Haupt, wie die Meuchelmorde in Parma zeigen. Wenn sie sich mit dem Ehrgeiz der Politik von Turin verbindet, wird Italien, in Flammen stehen.«

»Wer kann verhindern, was ist der gewaltige Gang der Zeit! Mögen die Großen und Mächtigen geben dem Volk, wonach es dürstet, und es wird küssen die Hand, die es ihm giebt. Der Fuß, der auf seinem Nacken lastet, ist schwer.«

»Nicht so schwer, wie das Elend, welches die Zügellosigkeit und der Unglauben bringen. Konzessionen in dieser Zeit heißt dem Kinde die Brandfackel, dem Mörder den Dolch in die Hand geben. Der heilige Vater hat die Erfahrung im Jahre Achtundvierzig schwer erkauft.«

Der Jude antwortete nicht. Endlich sagte er: »Ein einzelner Mann kann nichts thun, die Sache zu ändern!

»O doch, Samuel! Der Einzelne kann vieles und Großes wirken. Auch Ihr sollt dies thun!«

»Ich?«

»Ja, Samuel Mortara! Ich wiederhole Ihnen, man weiß sehr wohl, wie weitreichende Verbindungen Sie und Ihr Volk haben, und welches Ansehen und welchen Einfluß Sie bei diesem besitzen. Sie machen für alle Parteien mit jenem Geist Ihres Volkes Geschäfte, der nur das Materielle, den Vorteil kennt, ohne für eine große erhabene Idee zu leben. Sie wissen sehr gut, was vorgeht. Sie haben hundert Gelegenheiten, in die Pläne dieser fluchwürdigen verbrecherischen Gesellschaft einen Einblick zu thun. Sie werden uns daher von allem Wichtigen, was Ihnen vorkommt, in Kenntnis setzen. Wir haben zwar der treuen und edlen Freunde genug, aber in einer so entarteten und drohenden Zeit, wie die gegenwärtige, ist es unsere Pflicht, auf alle Zeichen zu achten.«

»Wie, Signor? ich sollte werden ein Spion? ich sollte verraten die Geheimnisse der Geschäftsleute, die vertrauen dem Samuel Mortara? Ich bin kein Politiker, ich schwöre Ihnen bei dem Gott Abrahams, daß ich nicht weiß, was ich sollte Ihnen entdecken, ich mache mein Geschäft und frage nicht nach der Politik.«

»Ein kluger Mann sieht viel! Sie werden es erfahren durch sich oder durch Ihre Nation, wenn dem heiligen Stuhl oder den rechtmäßigen Fürsten Italiens neue Gefahren drohen. Auch der Stein, den die Handwerksleute verworfen, kann zum Eckstein werden, selbst ein Jude kann helfen, den großen und herrlichen Bau Sankt Peters zu stützen. Sie werden von allem, was Sie erfahren, mich sofort in Kenntnis setzen!«

»Gott soll mir helfen, ich bin kein Verräter!«

»Sie werden,« fuhr der General fort, »Ihren ganzen Einfluß auf Ihr Volk aufbieten, daß es die Pläne der Verruchten und die kirchenschänderischen Absichten des Kabinetts von Turin nicht unterstützt.«

»Ich will nichts haben damit zu schaffen! ich bin ein armer Mann, der nichts kann thun!«

»Sonst …«

Der Juwelier sah ihn flehend an, er hob die Hände zu ihm auf. »Excellenza, haben Sie Mitleid mit einem Greis!«

»Der Knabe Edgar Mortara mag bei seinen Eltern bleiben, so lange, wie Sie der guten Sache dienen. In dem Augenblick, wo Sie es wagen, ihr untreu zu sein, sei es durch Unterstützung jener frevelhaften Revolution mit Ihren Mitteln, sei es durch Verschweigung wichtiger Nachrichten, wird die Kirche ihr Eigentum fordern.«

»Barmherzigkeit, Signor, was kann das unschuldige Kind dafür, daß sich streiten die Mächtigen der Erde! Ich will bleiben ein ehrlicher Mann, ich kann nicht sein ein Spion!«

»Dann, Samuel Mortara, wird morgen das geistliche Gericht in Bologna Ihren Neffen holen. Die Aussage der Amme genügt.«

»Soll ich fahren mit Schmach und Leid in die Grube, wie mein Vater? Es ist das letzte Reis, auf dem steht unsere Hoffnung; ich will thun, was ich kann, wenn Sie mir geloben, zu lassen das Kind bei dem Glauben seiner Väter!«

»Der Knabe hat die Segnung der Taufe empfangen, aber die heilige Kirche kann Nachsicht und Duldung üben, wenn es sich um wichtige Zwecke handelt. Er wird einer der erhabenen Märtyrer sein für die Kirche!«

Der Jude warf einen raschen Blick empor.

»Ich will meinem Bruder ersparen das Herzeleid; das Weib, das treulos gehandelt am Kinde ihres Herrn, könnte verraten in unbewachter Stunde, was ist geschehen. Die Anna Morisi mag bleiben bei ihrer Tochter in Mantua!«

»Die Anna Morisi,« sagte der Graf kalt, »tritt morgen in das Kloster der grauen Schwestern zu Modena.«

Der Juwelier kniff die schmalen Lippen zusammen. Mit der Schlauheit seines Volkes hatte er, bei dem Gedanken, Zeit zu gewinnen, sofort in seinem Geiste allerlei Pläne gebildet, den Knaben und seine Familie aus der Nähe und der Macht der päpstlichen Gerichte entfernen zu können. War auch der Einfluß der geistlichen Entscheidungen selbst außerhalb des Kirchenstaats in den katholischen Ländern groß, so konnte man doch auf österreichischem Gebiet nicht wagen, so ohne weiteres und ohne Dazwischentreten der weltlichen Gerichte zu verfahren. Im Notfall fand die Familie in Sardinien gewiß Schutz und Sicherheit, wenn sie Italien nicht ganz verlassen wollte.

Diese Gedanken beruhigten ihn einigermaßen. Er wußte sehr wohl, wie bestechlich die Obrigkeiten des Kirchenstaats zum größten Teil waren und wie leicht ihre Aufsicht einzuschläfern sei.

»Ich will thun, was steht in meinen Kräften, Signor Conde,« sagte er demütig. »Sie werden nicht verlangen, daß ich thue das Unmögliche, daß ich verrate, was ich nicht weiß! der Knabe wird bleiben bei seinen Eltern, bis ich ihn nehme in mein Geschäft, da wird er sein meine Stütze und mein Erbe.«

Er hob sein Auge beobachtend zu dem Gegner, aber er fuhr unwillkürlich zusammen vor dem durchdringenden Blick, der auf ihm lag, und der alle seine Geheimnisse zu erraten schien.

»Der Knabe Edgardo,« sagte der General kalt, »wird in Bologna bleiben. Es ist dort jemand, der sich für ihn und die Bedingung, unter der er seiner Familie belassen wird, besonders interessiert, und der die Macht hat, bemerken Sie das wohl, Signor Mortara, über ihn zu wachen und ihn zu bewahren vor seinen Feinden und – seinen Freunden!«

Der Juwelier sah ihn fragend an.

»Sie wollen wissen, wer dieser mächtige Beschützer ist?«

»Wenn es Ihnen gefällig wäre, Signor Conde? Man kennt gern, wie Sie soeben sagten, seine Feinde und seine Freunde!«

»Sehr gern. Es ist der Beichtvater der Anna Morisi!«

»Ah …« Der Wechsler machte eine ziemlich geringachtende Gebärde.

»… und heißt: Pater Antonio, der Superior des Profeßhauses der Gesellschaft Jesu zu Bologna.«

Der Jude sank in sich zusammen auf das alte Kanapee, auf das ihn der Mörder vorhin geworfen und barg sein Gesicht in den magern Händen. Als er nach einer langen Weile das bleiche gefürchtete Antlitz erhob, war der Graf verschwunden.


Die Lampe warf einen matten erlöschenden Schein; durch die Spalten des mit starken Eisengittern von außen und mit festen Laden im Innern verwahrten einzigen Fensters, welches das Gemach enthielt, dämmerten die ersten Spuren des Tages.

Der alte Mann saß noch immer vor seinem Arbeitstisch, den Kopf in die Hand gestützt, nicht einmal, daß er die längst getrockneten Spuren des Bluts von den Schlägen und Kratzwunden des Verräters von seiner Stirn gewischt.

Ein leises Murmeln klang durch das Gemach wie das Rauschen einer Quelle, es war die Stimme des alten Wechslers, die jene traurigen Verse Hiobs murmelte, mit denen er sich gegen seinen Gott auflehnt.

 

Meine Seele verdrießt mein Leben; ich will meine Klage bei mir gehen lassen und reden von der Betrübnis meiner Seele.

Und zu Gott sagen: verdamme mich nicht, laß mich wissen, warum Du mit mir haderst?

Gefällt Dir es, daß Du Gewalt thust und mich verwirfst, den Deine Hände gemacht haben, und machst der Gottlosen Vornehmen zu Ehren?

Ich begehre nicht mehr zu leben. Höre auf von mir, denn meine Tage sind vergeblich gewesen.

 

Große Thränen rollten über die Hagern Wangen des Mannes, und seine Hände bedeckten das Gesicht.

»Der Engel der Finsternis ist gekommen über mein Haus und verzehrt meine Eingeweide. Herr, Herr! was habe ich gethan, daß Du mich prüfest so hart! Das Kind meiner Hoffnung soll werden der Verachtetste unter den Christen, und der Mann, auf den ich baute fast dreißig Jahre, der gegessen mein Brot und getrunken mein Vertrauen, ist geworden zum Dieb und zum Verräter an dem, der ihm wohlgethan, um schnöden Gewinstes willen. Der Feind meines Hauses hat gesiegt und ich bin geworden der Spott meiner Feinde, daß ich sein muß ein Werkzeug in ihrer Hand, zu kämpfen gegen die Befreiung meines eigenen Volks! Der Tag des Unglücks war groß! Man hat mir gestohlen den kostbaren Stein bei dem russischen Knees und ich weiß nicht, ob er aufstehen wird von Krankenlager, um mir zu ersetzen den Schaden. Die Hoffnung meines Alters ist dahin, oder ich muß opfern die Rechtschaffenheit eines langen Lebens und das Gewissen. Israel ist erlegen, und seine Feinde sind im Triumph! Warum hat der Herr das gethan mit seinem Gerechten?«

Und als er in verzweifeltem Vorwurf nach oben blickte, antwortete plötzlich eine klare und männliche Stimme vom Eingang her mit den Versen desselben Propheten, dessen Klagen er vorhin gegen den Himmel gerichtet:

 

»Hüte Dich und kehre Dich nicht zum Unrecht, wie Du denn vor Elend angefangen hast.

Siehe, Gott ist zu hoch in seiner Kraft. Wer will über ihn heimsuchen seinen Weg? Und wer will zu ihm sagen, Du thust Unrecht?

Gedenke, daß Du sein Werk nicht wissest. Er deckt den Blitz wie mit Händen und heißet es doch wieder kommen.«

 

Der Wechsler sah sich erstaunt um, in die Thür des Gemachs war der Erzieher des jungen Prinzen, der Sekretär der Fürstin getreten, der ihn vor wenigen Stunden vor einem plötzlichen Tode bewahrt hatte.

»Verzeihen Sie, Herr Mortara,« sagte derselbe freundlich, »daß ich mich nochmals bei Ihnen eindränge, aber ich sah, daß eine Wache im Hause zurückgeblieben ist zu Ihrem Schutz, und man eintreten konnte. Ich wollte mich nur überzeugen, ob Sie von dem Unfall sich erholt haben, bevor ich abreise, und zugleich die Waffe holen, die ich in der Aufregung dieser Nacht zurückgelassen.«

Er nahm den Revolver von der Stelle, an der er ihn hatte fallen lassen, und die noch getränkt war von dem Blut des verwundeten Räubers.

Der Wechsler reichte ihm die Hand.

»Ich bin Ihnen Dank schuldig, Signor,« sagte er, »und doch möchte ich wünschen. Sie hätten mich lassen enden unter der Hand der Räuber und Mörder. Was thu' ich mit dem Leben, wenn gewichen ist das Vertrauen auf Gott und die Menschen, und die Ungerechten siegen über den Gerechten! Fluch ihnen, die genommen mein Bestes und zerreißen meine Seele!«

»Ich kenne Ihren Kummer nicht, Signor Mortara, und darf mich nicht eindrängen in Ihren Schmerz. Aber ich wiederhole Ihnen: ›Wer will zu ihm sagen, Du thust Unrecht!‹ Er läßt seine Sonne aufgehen über Gute und Böse, und sein Gericht bleibt nicht aus über alle, die ihren Brüdern Böses gethan!«

»Sie gehören zu jenen, denen es leicht wird, zu trösten,« sagte der alte Mann nicht ohne Bitterkeit. »Sie sind ein Christ!«

»Es giebt Schlechte und Gute unter allen Nationen und unter allen Religionen, Sie haben es selbst erfahren diese Nacht. Warum wollen Sie die Christen mehr anklagen, als die Juden? Manche schwere Schuld mag an beiden haften, aber unsere Religion ist die der Liebe, und welcher Haß und Kampf auch in allen Parteien und allen Richtungen toben mag, in Kirche, Gesellschaft und Staat, welche schlimme Thaten auch im Sturm der Leidenschaften und des Egoismus vollführt werden mögen, die Rechtschaffenheit der Herzen steht über allen Parteien, und wer sich diese bewahrt, kann mutig dem Kampf des Lebens entgegentreten; seine bittern Erfahrungen und Leiden, die Täuschung seiner Hoffnungen und Wünsche können ihn beugen, aber nie sollen sie ihn brechen.«

Der Jude hielt noch immer seine Hand und drückte sie jetzt warm.

»Sollten gelitten haben auch Sie, der Sie sind noch so jung, vom Haß und Vorurteil der Menschen?«

Der Deutsche zuckte leicht die Achseln. »Wer hat in unserer Zeit nicht seine Ideale und Träume schwinden sehen, Signor Mortara. Die starren Prinzipien und die heißen Leidenschaften stoßen gegen einander und so manches Herz trägt eine tödliche Wunde aus dem Kampf. Heut zu Tage macht man seine Erfahrungen sehr jung.«

»Wo kennen Sie her die Verse des Propheten?« fragte plötzlich abbrechend der alte Mann.

»Ich bin der Sohn eines evangelischen Dorfpredigers bei Berlin, eines jener Männer, die einfach nach dem Herzen Gottes die Liebe lehren,« sagte der Sekretär. »Auch ich war zum Theologen bestimmt und hatte die Studien dafür beinahe vollendet, als die Stürme der Zeit und die Vorurteile der Menschen mich hinaus warfen ins Leben. Ich habe das Vaterhaus nur wieder gesehen, um am Grabe des Vaters zu beten und dann wieder hinaus zu wandern in die Welt.«

»Schreiben Sie mir Ihren Namen auf dies Papier.«

Der Sekretär erfüllte den Wunsch.

»Sie wollen verlassen die Stadt? Sie werden nicht können abreisen wegen des Vorfalls von dieser Nacht!«

»Ich habe bereits mit dem Polizei-Kommissär gesprochen und ihm mitgeteilt, daß, wenn meine Vernehmung notwendig sein sollte, ich in Verona dazu bereit stehe oder auf der Villa der Fürstin.«

»Wollen Sie mir thun, Signor Meißner, noch einen Dienst?«

»Mit Vergnügen!«

»Dann vermeiden Sie zu sprechen von dem Mann, den niedergeschlagen Ihre Kraft, als er kniete auf meiner Brust.«

»Wie, den Schurken, Ihren eigenen Diener, der Sie ermorden wollte, wollen Sie schonen?«

»Er ist entflohen, und ich wünsche nicht, daß er werde verfolgt von den Richtern. Der Undank wird sein die Strafe, die ihm gönnt keine Ruhe. Auch das Gesetz Moses, Signor, nicht bloß die Religion der Christen, lehrt die Vergebung.«

»Dann, Signor Mortara, vergeben Sie einer, die draußen sitzt in Thränen.«

»Von wem sprechen Sie?«

»Von dem jungen Mädchen, Ihrer Dienerin. Ich weiß nicht, durch welche Nachlässigkeit sie vielleicht den Vorfall dieser Nacht verschuldet hat, aber sie scheint mir in Wahrheit mit Liebe an Ihnen zu hängen und fürchtet, daß Sie sie so fortschicken werden.«

»Das Mädchen ist gewesen bisher ehrlich und treu, sie soll bleiben auf ihrem Platz.

»Ich danke Ihnen. Und nun Signor, leben Sie wohl, denn ich muß die Brücke von San Giorgio passieren, sobald die Thore geöffnet sind, um noch zur rechten Zeit auf den Bahnhof zu kommen. Keinen Dank, Signor Mortara,« sagte er ernst, als er sah, daß der Juwelier diesen wiederholen wollte. »Was ich gethan, war Christen- und Menschenpflicht, und wenn Sie glauben, dieser Waffe,« er zeigt ihm lächelnd den Revolver, »einige Verpflichtung schuldig zu sein, nun so zahlen Sie dieselbe, wenn die Gelegenheit sich bietet, indem Sie einem andern beistehen, der sich in Gefahr befindet, sei er Christ oder Jude; denn ich wiederhole Ihnen, Signor Mortara, der Mensch, der unserer Hilfe bedarf, ist immer der Glaubensgenosse aller rechtschaffenen Herzen.«

Der alte Wechsler war aufgestanden. »Sie haben recht, Signore, die Rechtschaffenheit ist die Religion, die verbinden soll alle Manschen. An ihr sollen sie festhalten, und das will ich thun. Leben Sie wohl, Signore, und erinnern Sie sich in jeder Lage des Lebens, daß in allem Leid und Kummer, die seine Seele bedrücken, der Jude Samuel Mortara wird bewahren ein dankbares Herz für den ersten Christen, der ihm gedrückt die Hand als aufrichtiger Freund und nicht um schnöden Zweckes willen. Der Gott Moses und Abrahams geleite Sie, und der Messias der Christen möge Ihr Trost sein, wenn Stunden der Finsternis über Sie kommen!«

Wenige Augenblicke darauf war der alte Wechsler wieder allein mit seinem Schmerz und seinem Kampf.


Auf dem harten Lager lag in festem ruhigen Schlaf der Gefangene.

Die Uhren der Kirchthürme schlugen, mit dem letzten Schlage erwachte der Schläfer.

Es ist eine jener merkwürdigen Thatsachen, welche die Macht des Willens im menschlichen Geist über Zeit, Raum und körperliche Schwäche konstatiert, daß dieser vorher gefaßte Entschluß uns zur bestimmten Stunde, ja Minute, aufwachen lassen kann.

Der Gefangene lauschte, ohne sich zu erheben, nach der Thür. Schwankende, schläfrige Schritte schlurften heran, der Schlüssel drehte sich im Schloß, die Thür öffnete sich ein wenig, der Kopf des Aufsehers streckte sich hinein.

Zwischen den rauhen Stößen des Windes, der sich an dem mächtigen Gemäuer brach, hörte man die regelmäßigen schnarchenden Atemzüge eines Schlummernden.

»Alles gut!« murmelte der Aufseher. »Lassen wir ihn schlafen, er ahnt nicht, was ihn morgen erwartet – Cospetto! wie der Wind heult!«

Die Thür schloß sich wieder, der Schlüssel drehte sich im Schloß.

Der Ton war noch nicht zu Ende, als die Decke von dem Lager flog und der Gefangene mit dem Sprung eines Panthers lauschend sich an der Thür befand, das Ohr zum Schlüsselloch niedergebeugt.

Die schlurfenden Schritte entfernten sich, einige Worte mit der Schildwache, die am Ende des kurzen Korridors an der Mauer lehnte, dann das Einklappen einer Thür.

Vor sechs Uhr morgens hatte der Gefangene keine Störung mehr zu fürchten.

Aber die Zeit war so kurz, daß kein Augenblick zu versäumen war.

Der Verschwörer hatte sich längst gewöhnt, im Dunkel zu sehen und jeden Gegenstand zu finden. Er holte seine Strickleiter, oder vielmehr das Seil hervor, das er gefertigt, zerriß die Decke, die noch übrig war, und knüpfte sie daran.

Dann zog er die Kleider an, deren er sich bedienen wollte, steckte die beiden übrigen Apfelsinen in die Tasche, band seine Manuskripte, ein Paar andere Kleidungsstücke und Bücher, die ihm lieb geworden, an das Ende des Strickes und schob seinen Tisch leise an das Fenster. Auf diesem stehend, hob er die abgefeilten Gitterstäbe aus, befestigte das Ende seines Seiles an einem der stehen gebliebenen und prüfte nochmals seine Festigkeit.

Vorsichtig wurde jetzt das äußere Drahtgitter durchschnitten. Die Uhren schlugen zwei, als er mit allen Vorbereitungen zu Ende war.

Er warf noch einen kurzen Blick in das Zimmer zurück, dann ließ er sein Seil an der äußeren Mauer hinabgleiten.

Er lauschte.

Nichts regte sich als der Wind, der knarrend die Wetterfahne drehte und in den Ecken des Mauerwerks sich fing.

Die Beine voran, die Hände auf die Gitterstangen stützend, begann er sich durch die enge äußere Öffnung zu drängen. Sie war so schmal, daß er nur mit Mühe sich durchwand und Stücke seiner Kleidung und seiner Haut daran hängen blieben.

Jetzt war er draußen, die gehobene Brust atmete zum erstenmal wieder die Luft der Freiheit, einer Freiheit, die allein auf der Kraft seiner Arme basierte, in einer Höhe von 104 Fuß, in freier Luft, und unter ihm der Abgrund.

Ohne hinabzusehen, begann er langsam das gefährliche Niedersteigen.

Der heftige Wind schaukelte ihn an seiner schwanken Leiter hin und her und warf ihn häufig mit einer Gewalt gegen die Mauer, daß ihm die Sinne zu vergehen drohten. Von Strecke zu Strecke hatte er Knoten in seinem Seil angebracht oder einzelne Gegenstände eingeknotet – sie waren sein einziger Halt. Er wagte nicht einmal an dem Seile entlang zu rutschen, denn er fürchtete, durch den heftigeren Ruck an den Knoten, es zu zerreißen. So mußte er allein auf die Kraft seiner Muskeln vertrauen und Griff um Griff sich hinunter arbeiten, während die Füße gegen die Mauer gestemmt waren, wobei ihm der verrenkte Knöchel die bittersten Schmerzen bereitete.

Oft verloren seine Füße den Haltepunkt, und er wurde dann vom Winde und der Drehung des Seils rundum gewirbelt, bis es ihm mühsam wieder gelang, sich fest zu stemmen.

Aber diese Muskeln, ohnehin nicht durch die Übungen des Turnens gekräftigt und allein von der furchtbaren Willenskraft des Mannes gestählt, begannen mit jedem Schritt weiter zu erschlaffen und endlich den Dienst zu versagen. Unter ihm gähnte schauerlich und dunkel die Tiefe, und obschon er sich durch geschickte Erkundigungen möglichst über deren Beschaffenheit versichert hatte, waren die Nachrichten doch so unvollständig und das, was unter ihm lag, so zweifelhaft, daß in der That ein ehernes Herz dazu gehörte, den Mut nicht zu verlieren.

Er befand sich jetzt bereits 84 Fuß unter seiner Zelle, als der Schmerz, den die Spannung seiner Muskeln ihm verursachte, so heftig wurde, daß er ihn nicht mehr zu ertragen vermochte.

Er sandte einen verzweifelten Blick hinaus in das Dunkel, als er unter sich einen Karnies der Mauer fühlte, der ihm einen Stützpunkt für seine Füße zu geben schien.

Erfreut setzte er diese darauf, aber in demselben Augenblick glitt ihm der Strick durch die Hand, die versäumt hatte, ihn festzuhalten, und der Versuch, ihn aufs neue zu fassen, war vergeblich.

Der Vorsprung der Mauer war zu eng, um sich darauf zu halten. Es war das Werk einer Sekunde, einen Entschluß zu fassen, ein Blick hinunter machte ihn glauben, daß der Boden nur noch etwa 6 Fuß entfernt sei, und er ließ sich hinabfallen.

Aber der Fall dauerte länger, als er berechnet hatte. Er war wenigstens noch zwanzig Fuß von dem Grunde ab gewesen und der Anprall, mit dem er auffiel, so heftig, daß er das Bewußtsein verlor.

Als der kühne Flüchtling wieder zu sich kam, fühlte er einen stechenden Schmerz im Knie und im rechten Bein, und glaubte anfangs, daß er es gebrochen habe. Er führte eine der mitgenommenen Apfelsinen an seine Lippen, und der Saft, den er sog, erfrischte ihn so weit, daß er sich durch Bewegungen überzeugen konnte, es sei wenigstens kein Knochen gebrochen. Unter gräßlichen Schmerzen gelang es ihm, das Hemd, die Strümpfe und Beinkleider zu wechseln, die von den Gitterstäben des Kerkerfensters zerrissen waren. Die Kleider und Apfelsinenschalen blieben an der Mauer liegen und bezeichneten am Morgen den Ort seines Entkommens. Er blickte an den massiven Wänden des Turms in die Höhe, und sein mutiges Herz krampfte unwillkürlich zusammen, als sich der gefährliche Weg, den er zurückgelegt, dunkel vom dunklen Nachthimmel abhob.

Er lauschte nach dem Geräusch der Schildwachen auf den Wällen, aber das schlechte Wetter und der kalte Wind, der über den See strich, hatte sie in ihre Schilderhäuser zurück getrieben, und es war nichts von ihnen zu hören und zu sehen.

Auf Händen und Füßen kroch er mit möglichst wenig Geräusch in dem Graben weiter. Die Wände desselben waren zu glatt und steil, um sie zu erklimmen, auch die Gefahr zu groß, hier den Schildwachen in die Hände zu fallen.

Ebenso wenig durfte er nach der Vorstadt selbst sich wenden, er konnte sie nicht verlassen, ohne bemerkt zu werden.

Der einzige Weg der Rettung war der See und die Stadt selbst. Um dahin zu gelangen, mußte er aber die Brücke von San Georgio passieren, und diese wurde um 5 Uhr geöffnet.

Um zur Brücke zu gelangen, mußte er den Lauf des Grabens verfolgen bis zur Mündung, durch welche das Wasser des Sees eingelassen werden kann. Diese Mündung aber war so voll Kot und Schlamm, daß er sich nicht hinein getrauen konnte, ohne die größte Gefahr, zu versinken. Sonst aber war jeder Ausgang verschlossen, es war also unmöglich, bis in das Röhricht zu gelangen, um sich dort versteckt zu halten und den glücklichen Schlag der fünften Stunde abzuwarten, der die Brückenthore für den freien Verkehr öffnete.

Gezwungen, umzukehren, versuchte es der Flüchtling vergebens, einen der Bogen, unter welchen er weggekrochen, zu erklimmen; der Schmerz im Fuße ließ es nicht zu, und er fiel kraftlos wieder in den Graben zurück.

Wieder und wieder mit aller Anstrengung seiner Nerven, mit den Nägeln sich in das Gemäuer bohrend, wiederholte er den Versuch, die Verzweiflung verdoppelte seine Kräfte; aber kaum hatte er sich einige Fuß emporgearbeitet, als er an dem feuchten glatten Mauerwerk wieder zurücksank. Mit unsäglichen Mühen und Gefahren dem Kerker, dem sichern Tode entronnen, so nahe der Freiheit, der Rettung, mußte er hier an dem elenden Hindernis scheitern!

Eine dumpfe Gleichgültigkeit bemächtigte sich seiner, der Unglückliche gab alle Hoffnung, ja selbst das Verlangen nach Rettung auf. Die Natur selbst erbarmte sich seiner Verzweiflung und von Müdigkeit und Erschöpfung überwältigt, schlief er ein.

Der Morgen graute, als er nach einer Stunde vom Frost geschüttelt wieder erwachte; der kalte Tau und der Wind vom See her hatten seine Glieder fast steif und bewegungslos gemacht; dennoch hatte der kurze Schlaf dazu gedient, seine Energie aufs neue zu wecken. Er erwärmte seine Glieder, indem er seine Arme um sich schlug und schleppte sich, so gut es ging, möglichst nahe an die Brücke. Er begriff, daß er in seiner Not aus eigener Kraft nichts mehr für sich thun könne; seine letzte Hoffnung stellte er auf irgend eine mildherzige Seele, die über die Brücke kommen und ihm Hilfe gewähren würde. Freilich wagte er viel dabei; denn wie viel wahrscheinlicher war es, daß er unter denen, an die er sich wandte, auf einen Denunzianten traf.

Aber wenn das nicht der Fall, wenn das Glück ihm wohl wollte und er nur der ersten Verfolgung entgehen konnte, so wußte er, daß er Freunde und Hilfe genug in Mantua traf. Zunächst die Frau, die mit ihm an einer Brust gelegen und den Wechsler Mortara, der, ohne sich selbst zu kompromittieren, doch ihm die Mittel der Flucht hatte zukommen lassen.

Mit dem Glockenschlag 5 Uhr wurden die Brückenthore an der Seite der Stadt und der Vorstadt geöffnet, damit der Verkehr nach dem Bahnhof beginnen könne.

Der erste, den der Flüchtling über die Brücke gehen sah, war eine kleine, in Röcke und Tücher zur Unkenntlichkeit verhüllte Gestalt. Der Mann schien auf die Öffnung des Festungsthores gewartet zu haben, denn er eilte, so rasch er konnte, über die Brücke und sah sich häufig um, als fürchte er, verfolgt zu werden.

»Wenn Sie ein Christ sind, helfen Sie mir aus diesem Graben,« erklang plötzlich eine Stimme neben ihm aus der Tiefe. »Ich bin in der vergangenen Nacht in der Trunkenheit hier hinein gefallen.«

Der Kleine hielt zögernd an. Als er sich über das Brückengeländer hinab beugte, konnte man trotz der Umhüllung sehen, daß er verwachsen war und einen starken Buckel hatte.

»Ich kann mich nicht aufhalten mit jedem Trunkenbold,« sagte er barsch. »Sie müssen sehen, wie Sie herauskommen aus dem Graben.«

»Bei der gemeinsamen Mutter, die uns geboren, bei der Freiheit Italiens von allen Banden,« klang die Stimme entschlossen, »es ist Ihre Pflicht, mir zu helfen!«

Bei diesen Worten blieb der Kleine stehen und sah aufmerksam hinab in den Graben. Ein Blick genügte ihm, sich zu überzeugen, daß der Verdacht, der ihm durch den Kopf gefahren, begründet sein mußte.

»Sie sind Signor Orsini,« flüsterte er sich vorbeugend hinunter, »Sie sind entflohen aus San Giorgio!«

»Still! verraten Sie mich nicht! wer sind Sie, daß Sie mich kennen?«

Abraham – denn es war der kleine Jude, der sich auf der Flucht befand – hielt es nicht für nötig, weitere Erklärungen zu geben. Er überlegte rasch, wie weit ihm eine Denunziation des Flüchtigen nützen könne, aber er fand, daß er dabei seine eigene Person zu sehr in Gefahr setzen würde, die es ihm jetzt galt, möglichst schnell in Sicherheit zu bringen.

Konnte er dagegen seinem bisherigen Herrn die Sache zuschieben, so hatte dieser genug damit zu thun und kompromittierte sich den Behörden gegenüber. Daß er dem Unglücklichen, Verfolgten nicht seinen Beistand verweigern würde, wußte der Bucklige recht gut. Auf jeden Fall hatte er so ein neues Mittel gegen seinen Herrn in der Hand, wenn dieser als Ankläger gegen ihn auftreten sollte.

Diese Überlegungen flogen ihm rasch durch den Kopf. Er band einen Strick los, den er unter seinem Rock um den Leib gewickelt trug, und warf ihn dem Flüchtling zu.

»Ich kann nichts thun für Euch, Signore,« sagte er hastig, »vielleicht hilft Euch der Strick aus der Grube heraus. Wenn Ihr entkommt, werdet Ihr gut thun. Euch zu wenden an den Wechsler Mortara am Platz von San Barbara. Eure Milchschwester, die Anna Morisi, die Euch geschickt die Sägen in den Orangen, wohnt bei ihm, und die Frau aus Zürich hat ihm gegeben Geld für Euch. Er wird Euch helfen aus der Macht der Philister.«

Damit rannte der Bucklige davon.

Ihm folgten zwei Bürgersleute. Orsini wiederholte seine Bitte.

» Povero Signore,« antworteten sie, »wir würden uns nur in Ungelegenheiten bringen, wenn wir Ihnen auch heraushelfen wollten, ohne Ihre Lage zu verbessern.«

Andere blieben stehen, und dreister als jene, faßten sie das Ende des Strickes, den der Entflohene ihnen zuwarf. Schon schickten sie sich an, ihn heraufzuziehen, als sie Schritte neuer Ankömmlinge hörten, die Flucht ergriffen und den Unglücklichen wieder zurückfallen ließen.

Eine halb unterdrückte Verwünschung über die Feigheit drang aus dem Graben.

Ein Mann kam von der Stadt her über die Brücke.

Orsini wiederholte seine Bitte. »Werfen Sie mir den Strick, den Sie da haben, zu,« sagte der Fremde augenblicklich. »Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen.«

Der Accent seines Italienischen war unverkennbar. Der Verschwörer zauderte einen Augenblick. »Ein Deutscher!« murmelte er, »er wird mich verraten!«

Der Sekretär der Fürstin Trubetzkoi – denn dieser war es, der sich nach dem Bahnhof der Borgo San Giorgio begab, um die Vorbereitungen zu ihrer Abreise zu treffen, – lehnte sich über die Brüstung.

»Ich sehe recht gut,« sagte er freundlich, »daß Sie aus einer anderen Ursache sich in der gefährlichen Lage befinden. Aber vertrauen Sie mir immerhin, wenn ich auch nicht Ihr Landsmann bin. Ich werde thun, was in meinen Kräften steht.«

Der Flüchtling warf ihm jetzt den Strick zu. Meißner ergriff das Ende und versuchte mit Aufbietung aller Kraft, den Unglücklichen allein heraufzuziehen. Aber die Last war, da dieser nur wenig helfen konnte, zu schwer für ihn. Zum Glück kam ein Bauer von der Vorstadt her; mit seiner Hilfe und der einiger anderen Personen – es war Sonntag Morgen und die Brücke daher durch Andächtige, welche die Messe in der Stadt hören wollten, belebter als sonst um diese Stunde – gelang es, den angeblich Betrunkenen auf die Brücke zu ziehen. Es war die höchste Zeit, denn in dem Augenblicke versagten ihm die Kräfte, und er wäre wieder in den Graben zurückgestürzt. Es fehlte nur noch eine Viertelstunde zu sechs Uhr, der Zeit, in der die Gefängniswärter ihm den Morgenbesuch machen mußten.

Mit dem Kanonenschuß, der die Flucht eines Gefangenen verkündete, war seine Rettung unmöglich, keine der Schildwachen hätte ihn mehr passieren lassen.

Aber noch war die Brücke selbst zu überschreiten.

Der Flüchtling faßte die Hand seines ersten Retters. »Wer Sie auch sein mögen, Herr, ich vertraue mich Ihnen. Sie haben recht gesehen, ich bin ein politischer Gefangener und dort« – er zeigte schaudernd nach dem Gerüst auf der Bastion, dem Galgen, an dem sein Gefährte Calvi den Tod erlitten – »dort ist das Los, das mich erwartet, wenn ich ergriffen werde.«

»Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, wenn ich auch nichts weiter für Sie thun kann,« sagte der Deutsche. »Der Zug nach Verona geht in zehn Minuten ab, und dort am Stadtthor sehe ich schon den Wagen der Fürstin, der ich den Waggon bestellen soll. Aber warten Sie – einen Augenblick!« Er wandte sich an die Umstehenden. »Ich bin ein Fremder, dem es unmöglich ist, diesem Unglücklichen zu helfen. Wenn er nicht unbehindert die Brücke passieren kann, ist er verloren. Sie sind Italiener; hat keiner von Ihnen den Mut, sich dieses Mannes weiter anzunehmen?«

Die Umstehenden zögerten, sie mochten es längst geahnt haben, daß es sich um einen flüchtigen Gefangenen handelte, aber sie zögerten doch, sich der schweren Strafe auszusetzen, die auf der Hilfe zur Flucht stand.

Dann trat der Bauer vor, der zuerst Beistand geleistet. »Wenn der Herr hinter mir drein gehen will und wir das Thor passiert sind,« sagte er, »will ich ihm ein Versteck zeigen, wo keine Spürnase ihn in einem Jahre finden soll.«

Sofort, nachdem der Anfang gemacht worden, fanden sich mehrere, die bereit waren, den Flüchtigen zu unterstützen. Ein Mann reichte ihm seine hölzerne Weinflasche, um sich zu stärken und mit dem Wein das Gesicht zu waschen, ein anderer reinigte ihn so gut als möglich. Man warf den Strick in den See, dann gingen die Helfer voran, der Flüchtige sollte ihnen in kurzer Entfernung folgen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Der Sekretär wandte sich zu dem Flüchtling. »Haben Sie Geld, Signor?«

»Ich besitze dessen hinreichend; nur eins fehlt mir – Waffen, um zu sterben, wenn man mich entdecken sollte.«

Meißner griff in seine Tasche und zog den Revolver heraus, mit dem er in der Nacht den Slowaken niedergeschossen hatte. »Nehmen Sie,« sagte er eilig, »und wenn Sie einen Helfer brauchen, so senden Sie die Waffe an den Wechsler Mortara bei San Barbara, und lassen Sie ihm sagen, sie habe ihm das Leben gerettet, und er möge dieselbe mit seinem Beistand für Sie einlösen. Leben Sie wohl, und möge Ihre Flucht gelingen.«

Der Italiener hielt ihn fest. »Ihren Namen, Signor, damit ich ihn in meinem Herzen dankend bewahre!«

»Ich bin ein Deutscher,« sagte der Sekretär nicht ohne Stolz, indem er sich losriß, »das mag genügen, um Sie zu erinnern, daß die Völker bestimmt sind, sich zu lieben und zu achten, nicht sich zu hassen und zu morden!«

Er eilte mit schnellen Schritten davon, denn der Wagen der Fürstin kam heran, und er wollte vor ihm den Bahnhof erreichen.

Der Entflohene folgte mühsam in entgegengesetzter Richtung den Personen, welche ihn unterstützen wollten, indem er sich häufig vorsichtig umschaute. Er hinkte, war mit Kot und Staub bedeckt, und seine Hände bluteten; als er an dem Wagen der Fürstin Trubetzkoi vorüber kam, sah er infolge der Worte seines Retters mit einem gewissen Interesse hinein.

In dem Wagen befanden sich die Fürstin, der Knabe und Tunsa-Feodora, auf dem Bock ein Diener; die andere Dienerschaft mit dem Gepäck sollte mit dem nächsten Zuge nachkommen.

»Sieh', Mama, den armen Mann, er kommt gewiß von den Bergen, zu denen wir fahren. Gieb ihm Geld, Feodora, damit er sich Brot kaufen kann!«

Die Fürstin winkte ihrer Begleiterin, der Bitte des Knaben zu folgen, und Tunsa warf dem Fremden ein Guldenstück zu.

Er nahm das Geldstück auf und machte, vielleicht mehr aus Zufall, als zu einem Zweck, jenes Maurerzeichen der europäischen Liga, an dem sich die Mitglieder aller Länder erkannten, indem er zweimal mit dem Daumen über das Kinn glitt.

Die Fürstin fuhr betroffen zurück, dann riß sie der Zigeunerin die ganze mit Gold reichlich versehene Börse aus der Hand und warf sie aus dem Wagen.

Die kurze Scene hatte kaum wenige Sekunden gedauert und der Wagen rollte unaufhaltsam weiter.

» Gratia!« klang es hinter ihm drein. »Für Geld kauft man Eisen. Es lebe die Freiheit!«

Zehn Minuten später hatte der Flüchtling die Schildwachen passiert. Als er von ihnen nicht mehr gesehen werden konnte, holte er die Vorangegangenen ein, die ihn zu einem Versteck im Röhricht des Seeufers führten.

Sechs volle Tage und Nächte brachte er, wie er selbst in seinen Memoiren erzählt, in einem fast unzugänglichen, nur wenigen bekannten Schlupfwinkel des Rohrdickichts zu, das sich am ganzen Ufer entlang zieht bis zur Insel Cerese und dem Außenwerk Pietole. Sein Fuß war geschwollen, und die giftigen Nebel der Sümpfe machten ihn fieberkrank. Aber er war frei, entkommen den Händen seiner Kerkermeister, und alle Leiden waren nichts gegen dies Bewußtsein.

Die kühne Flucht machte natürlich das größte Aufsehen, und die Polizei bot alles mögliche auf, um des Flüchtlings wieder habhaft zu werden. Selbst der Raubmordversuch an dem Wechsler Mortara trat in den Hintergrund vor diesem Fall und um so mehr, als die Verwundung des Slowaken zwar nicht tödlich, aber doch so gefährlich war, daß längere Zeit vergehen mußte, ehe man die Untersuchung eröffnen konnte.

Aber alle Nachforschungen, Drohungen und Versprechungen der Polizei blieben fruchtlos. Unter den vielen, die nach und nach um das Geheimnis wußten, fand sich kein Denunziant, ja keiner, der aus Schwatzhaftigkeit oder Unbesonnenheit die Sache verraten hätte.

Kinder, die am Ufer des Sees spielten, Fischer, die ihn befuhren, brachten dem Gefangenen Nahrung und Umschläge für seinen Fuß. Erst nach einer vollen Woche gelang es, ihn aus der gefährlichen Umgebung fort und, als sein Fuß notdürftig geheilt war, nach der Schweiz zu schaffen.

Von dort gelangte er nach England, wo ihn die Propaganda mit offenen Armen aufnahm.

Mazzini hatte sein Werkzeug gefunden.

Der Schwur an jenem Schreckenstag der Villa Corsini naht seiner Erfüllung! Der verhängnisvolle Spruch der Feme der Revolution von Saint Pietro in Montorio unter dem Krachen der französischen Bomben ist rechtskräftig geworden – – hüte Dich, Wortbrüchiger von Rom!

In Paris feiert das neue Kaisertum seinen größten Triumph: den Kongreß!



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