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Das Testament Peters des Großen.

Als Kaiser Nicolaus I. von Rußland von der deutschen Gradheit des Doktor Mandt erfahren hatte, daß seine Zeit auf Erden gemessen sei, entfernte er, nachdem er noch einige Befehle erteilt, seine ganze Umgebung und behielt nur den Großfürsten-Thronfolger bei sich, der seit dem 22. Februar nach dem Willen seines erlauchten Vaters bereits sämtliche Regierungsgeschäfte übernommen hatte. Vgl. Retcliffe, »Sebastopol«.

Der Kaiser winkte dem Sohn, der Großfürst trat dicht an das Lager seines Vaters und beugte sich über ihn.

»Strecke Deine Hand unter das Lederkissen unter meinem Kopf und nimm, was Du findest.«

Der Sohn folgte dem Gebot, es war ein stählerner Ring mit fünf bis sechs Schlüsseln von verschiedener Größe und Form, die er hervorzog.

»Dieser da – der Kranke wies auf den kleinsten – »die andern sind zu jenem Schrank, er enthält die Papiere und Dokumente, von denen ich Dir gesprochen. Du kennst das Bild unsers Ahnherrn Peter?«

Der Großfürst wies nach dem Brustbilde, das gegenüber dem Arbeitstisch des Kaisers zwischen andern Bildern hing.

»Auf der Brust, im Stern, eile Dich und öffne!«

Der Großfürst trat an den Wandpfeiler, zog einen der einfachen Sessel des Gemachs herbei, denn das Bild befand sich höher, als selbst seine stattliche Gestalt zu reichen vermochte, über einem der Bücherschränke an der Wand, und stieg auf den Sessel.

Zum ersten Male, wie oft er auch das Arbeitskabinett seines Vaters betreten, in dem übrigens selbst der Knabe nie vorlaute Neugier zu zeigen oder einen Verstoß gegen die darin herrschende militärische Ordnung aller Gegenstände zu begehen gewagt, bemerkte er jetzt, daß der massive Rahmen des Porträts von dunklem Holz in die Wand eingelassen war.

Das Licht der Kerze, die er in die Hand genommen, ließ ihn, dicht vor das Bild gehalten, in der Mitte des Sterns, den das Konterfei trug, eine kleine, runde Öffnung finden. Hier hinein steckte er den gleichfalls runden, in Spitzen ausgefeilten Schlüssel, ein Druck, und die Kupferplatte, auf welche das Porträt gemalt, sprang, wie von einer Feder geschnellt, weit auf.

In der nischenartigen Öffnung, die es verdeckt hatte, stand ein Kästchen, er nahm es heraus und setzte es auf den Tisch vor dem Lager des Kaisers.

Das Kästchen, in oblonger Form, war von cisiliertem Eisen, mit goldenen Arabesken ausgelegt. Auf dem Deckel sah man in gleicher Arbeit den Doppeladler Rußlands, mit der Krone darüber.

»Gieb!«

Als das Kästchen auf das Bett des Kranken gesetzt worden, fuhren seine Finger tastend darüber her, bis mit einer energischen Kraftanstrengung dieses eisernen Willens, den selbst die eisige Hand des Todes nicht beugen sollte, sie auf der Wappenplatte haften blieben und diese bei Seite schoben.

»Öffne und lies!«

Der Deckel ließ sich jetzt ohne Mühe aufschlagen und der Großfürst, der das Kästchen wieder auf den Tisch gestellt hatte, erblickte darin zwei Pergamentrollen, die er herausnahm und zu lesen begann.

Beide Dokumente waren offenbar alt, das eine, wie die Handschrift erwies, vielleicht um hundert Jahre älter, als das andere, schien aber nur eine Kopie zu sein, da das große Siegel, welches das Pergament trug, das der Großfürst zuerst in die Hand genommen, jenem fehlte.

Der Thronfolger des mächtigen Zarenreichs hatte kaum einige Zeilen gelesen, als er erstaunt inne hielt und den Kaiser fragend ansah. »Sire,« sagte er, »wenn dies Dokument echt ist, wie es den Anschein hat, so wäre es wirklich das Testament unsers Ahnherrn, von dem die liberale Presse Europas so viel gefabelt hat?«

Der Kranke nickte. »Das Datum, das Datum!« sagte er schwach, indem ein krampfhafter Husten seinen mächtigen Leib erschütterte.

»Es ist vom 12. Januar 1725 datiert, zwei Monate vor Peters Tode, und dies ist in der That seine Schrift, ich kenne sie aus den Archiven.«

»Weiter! weiter!«

»Hier ist des Kaisers Unterschrift, darunter eine Reihe Namen, Iwan, Katharina, Peter und Anna – Elisabeth, Peter der Dritte – jedesmal mit dem Tage ihres Regierungsantritts – Katharina II., unsere Großmutter, Kaiser Alexander – und hier Ihre eigene Unterschrift, Sire!«

»Am 26. Dezember 1825!«

»Der Tag ist mit Blut, aber auch mit goldenen Lettern in die Geschichte Rußlands eingeschrieben. Aber ich bitte Sie. Sire, mir zu sagen, was das bedeutet?«

»Lies! lies laut! Es ist eine Mahnung auch an mein Gedächtnis!«

Der Großfürst-Thronfolger las mit tiefer erregter Stimme den Inhalt des Dokuments, das in russischer Sprache abgefaßt war und dessen Dasein er bisher für eine unbegründete Tradition oder eine Erfindung der Gegner Rußlands gehalten hatte. Das Pergament zitterte in seiner Hand, als er las, so aufgeregt war er.

Wir lassen das berühmte und berüchtigte Aktenstück hier folgen, wie sein Wortlaut in Europa bekannt geworden.


»Im Namen der hochheiligen und unteilbaren Dreieinigkeit, Wir Peter, Kaiser und Selbstbeherrscher aller Reussen etc. allen unseren Abkömmlingen und Nachfolgern auf dem Thron und in der Regierung der russischen Nation:

Der gütige Gott, von dem wir unser Dasein und unsere Krone haben, hat uns beständig mit seinem Licht erleuchtet und mit seiner göttlichen Hilfe gehalten. Nach dem Plane der Vorsehung ist das russische Volk berufen zur allgemeinen Herrschaft über Europa für die Zukunft.

Rußland fand ich vor als einen Bach; ich hinterlasse es als einen Fluß; unter meinen Nachfolgern muß es ein großes Meer werden, bestimmt das verarmte Europa zu befruchten. Dazu übergebe ich ihnen das Vermächtnis der folgenden Unterweisungen, deren stete Beachtung und Befolgung ich ihnen einschärfe, sowie einst Moses dem Volke Israel die Gesetztafeln gab.

1.

Das russische Volk stets auf dem Kriegsfuß erhalten, ein Volk von Soldaten, abgehärtet durch Disziplin, stets zur Verwendung bereit. Dem Heere gerade so viel Rast geben, als nötig ist, um die Finanzen sich erholen zu lassen und die Truppen zu ergänzen. Die geeignetsten Gelegenheiten zum Angriff wählen. Krieg dem Frieden, Frieden dem Kriege. Dienstbar machen, immer zu dem Zwecke, das Gebiet Rußlands zu vergrößern, sein Gedeihen zu fördern.

2.

Durch alle möglichen Mittel aus den gebildeten Völkern Europas die geschicktesten Heerführer und Männer von Gelehrsamkeit und Bildung in den russischen Dienst ziehen, so daß Rußland die eigentümlichen Vorzüge aller Völker gewinnt, ohne seine eigenen zu verlieren.

3.

Bei allen Gelegenheiten sich in die innern Angelegenheiten und Streitigkeiten des übrigen Europa mischen, vorzüglich des Deutschen Reiches.

4.

Polen zerrütten durch Erregung fortwährender Unordnungen und Parteikämpfe. Die Regierungen kaufen. Durch den Reichstag Einfluß auf die Königswahlen gewinnen. Unsere Kandidaten wählen lassen, sie unter Protektion nehmen, kraft dieses Protektorats das Land besetzen, bis es Zeit ist, ganz darin zu bleiben. Wenn die benachbarten Mächte dieser Politik Schwierigkeiten machen sollten, sie für den Augenblick durch eine Teilung des polnischen Gebietes beruhigen, bis es Zeit ist, ihnen das Hingegebene wieder abzunehmen.

5.

Von Schweden so viel Gebiet nehmen, wie zu bekommen, und es zum Angriff reizen, damit Gelegenheiten gewonnen werden, es zu unterwerfen; zu dem Zweck Schweden von Dänemark isolieren und umgekehrt und ihre Eifersuchten sorgfältig nähren.

6.

Die Gemahlinnen für die russischen Prinzen stets aus deutschen Häusern wählen, um dadurch unsern Einfluß in Deutschland zu vermehren.

7.

Handelsbündnis vorzugsweise mit England suchen, das uns am meisten für seine Flotte braucht und uns am nützlichsten für die Entwickelung der unsrigen werden kann. Im übrigen vor England zu hüten.

8.

Uns unablässig im Norden an dem baltischen, im Süden an dem schwarzen Meer ausdehnen.

9.

Konstantinopel und Ostindien so viel wie möglich näher kommen. Wer dort herrscht, wird der wahre Herr der Welt sein. Zu dem Zwecke unablässig Krieg erregen, abwechselnd gegen die Türkei und gegen Persien: Werfte am schwarzen Meere anlegen. Dieses, wie das baltische Meer Schritt vor Schritt in Besitz nehmen. Den Verfall Persiens beschleunigen. An den persischen Meerbusen vordringen. Wenn möglich den alten Handelszug durch Syrien herstellen und gradeswegs auf Indien losgehen. Wenn einmal da, können wir das Gold Englands entbehren.

10.

Das Bündnis Österreichs mit Eifer suchen und pflegen. Offen den Gedanken Österreichs an eine künftige Herrschaft über Deutschland unterstützen, aber im geheimen die Eifersucht der deutschen Fürstenländer anfachen. Es dahin bringen, daß beide Teile Rußland um Hilfe angehen und über Österreich ein Protektorat ausüben als Vorbereitung zu der künftigen Beherrschung.

11.

Das Haus Österreich für die Vertreibung der Türken aus Europa gewinnen und seine Eifersucht auf den Besitz Konstantinopels dadurch zu neutralisieren, daß man es entweder in Krieg mit andern europäischen Staaten verwickelt oder ihm ein Stück von der Eroberung abgiebt, das ihm zu gelegener Zeit wieder abzunehmen ist.

12.

Planmäßig dahin arbeiten, alle slawischen Stämme und die an der Donau und im südlichen Polen zerstreuten schismatischen Griechen um uns zu sammeln, uns zu ihrem Mittelpunkt, ihrem Rückhalt machen und vorläufig einen überwiegenden Einfluß zu gewinnen durch eine Art von politischer und priesterlicher Oberherrlichkeit. In dem Maße, wie dies ausgeführt wird, haben wir Freunde inmitten unserer Feinde erworben.

13.

Wenn Schweden geteilt, Persien unterworfen, Polen unterjocht, die Türkei erobert, unsere Armeen zusammengezogen und das schwarze und das baltische Meer von unseren Flotten bewacht sind, dann müssen wir einzeln und im tiefsten Geheimnis erst dem Wiener und dann dem Versailler Hof den Vorschlag machen, mit uns die Herrschaft der Welt zu teilen. Wenn der eine annimmt, was nicht fehlen kann, so ist er als Werkzeug zu brauchen, um den andern zu vernichten, dann der übrig bleibende zu vernichten in einem Kampfe, dessen Ausgang nicht zweifelhaft sein kann, wenn Rußland schon den Osten und einen Teil Europas besitzt.

14.

Wenn, was nicht wahrscheinlich ist, beide Mächte das Anerbieten Rußlands ablehnen, so wird es notwendig sein, sie in einen Streit zu verwickeln, in dem sie sich gegenseitig erschöpfen. Dann muß Rußland den entscheidenden Augenblick ergreifen, seine bereit gehaltenen Truppen über Deutschland ausgießen und gleichzeitig zwei Flotten von dem schwarzen und dem baltischen Meer mit asiatischen Horden gefüllt in das mittelländische Meer und den Ozean schicken und Frankreich überschwemmen. Wenn Deutschland und Frankreich unterworfen sind, wird der Rest Europas uns leicht und ohne einen Schlag zufallen.

So kann und muß Europa unterworfen werden.


Eine kurze Pause folgte, dann sprach der Großfürst beklommen: »Alles, Sire, was man hier mit dem Schleier des tiefsten Geheimnisses umzieht, ist aller Welt bekannt. Jedes Wort dieses Dokumentes haben die liberalen deutschen und französischen Blätter noch vor kurzem wiederholt und stützen ihren Angriff gegen Rußland darauf!«

»Schuwaloff war der Verräter beim Kongreß zu Wien,« sagte der Herrscher mit Anstrengung, »Metternich, der Spion, kaufte das Geheimnis, als Alexander auf Galizien bestand, und verbreitete es.«

»Diese Österreicher waren stets im geheimen Rußlands Gegner!«

Die Stirn des hohen Kranken überzog eine leichte Röte bei diesem Vorwurf oder dieser Erinnerung.

»Mögen die Toren reden von der Existenz dieses Dokuments, Schuwaloff ist in Sibirien, und nur die drei wissen darum, die es kennen müssen. Du hast die Unterschriften gesehen. Jeder Herrscher Rußlands unterzeichnet in der Stunde, ehe er die Krone erhält, diese Schrift, so will es das geheime Gesetz unseres Hauses, und verpflichtet sich mit seinem Namen, einen Schritt vorwärts zu thun auf der Bahn, die allein Rußlands Macht und Größe sichert. Nimm die Feder und unterzeichne – dann bist Du der Kaiser.«

Der Großfürst war überaus bewegt, die Farbe wechselte wiederholt auf seinem schönen männlichen Gesicht.

»Sire,« sagte er, »ich muß aufrichtig sein in dieser Stunde; Sie kennen meine Gesinnungen, ich habe sie nie verhehlt! ich finde die Aufgabe eines Monarchen Rußlands nicht in der Vergrößerung seiner Macht, sondern in der Hebung, in der größeren Kultur seiner Völker. Diese Unterschrift unter diesem Dokument würde mich zu vielem verpflichten, was gegen meine Überzeugung ist.«

Der Kranke winkte dem Czesarewitsch, sich auf sein Bett zu setzen, das Sprechen wurde ihm bereits schwer. Er nahm seine Hand und drückte sie. »Alexander,« sprach er, »Du weißt, wie ich Dich liebe!«

»Ich weiß es, Sire, Sie waren mir stets nicht bloß der Kaiser, sondern der Vater!« Thränen rollten über das Gesicht des Großfürsten.

»Du willst Nicolaus, Deinem Sohne, die Krone hinterlassen, wie ich Dir jetzt?«

»Ich hoffe, ihm Rußlands Schild rein zu übergeben, wenn Gott die Stunde bestimmt hat.«

»Höre! Ich fühle so gut wie Du, daß zu viel germanisches Blut in unseren Adern fließt. Seit Peter III. sind nicht Romanows mehr auf Rußlands Thron, Du, wie ich, gehören dem Hause Holstein-Gottorp!«

»Aber wir sind die rechtmäßigen Erben der Krone, Sire!«

»Selbst das echte Blut der Romanows besaß sie nur durch Wahl und Vertrag der wahren Erben Ruriks, Ruriks Blut ist in Rußland nicht ausgestorben. Du weißt es! Die Fürsten Dolgorucky, Wjäsemsky, Labanow-Rostowsky, Gortschakoff und mehrere andere, selbst aus dem unbemittelten Adel, stammen im direkten ehelichen Mannesstamme von Rurik ab. Lies das andere Dokument.«

Der Czesarewitsch ergriff mit leichtem Erzittern das zweite Pergament und las es langsam und mit einiger Mühe, denn Schriftzüge und Stil waren von hohem Alter. Seine Züge nahmen bei dem Lesen den Ausdruck eines noch tiefern Ernstes an, als der Schmerz um das Leiden des Kaisers und das Gewicht dieser Stunde bereits darauf gelagert hatten.

»Dies ist eine bloße Abschrift, Sire, wo ist das Original?« fragte er fast tonlos.

»Das Original vererbt sich in den Händen der Ältesten aus Ruriks Stamm. Es würde erscheinen, wenn die Zeit gekommen. Auch Autokraten sind nicht frei! Du weißt, daß der Russe nur mit Mißtrauen auf deutsches Blut sieht, es ist zu viel davon in unsern Adern, die Politik des Zaren darf nicht anders als russisch sein!«

»Aber Sie selbst, Sire« –

Der Sterbende winkte ungeduldig mit der Hand. »Zweimal fehlte ich gegen Rußlands Interesse, damals in Warschau, als ich die Preußen hinderte, sich von Deutschland zu emanzipieren, und als ich meine Armee nach Ungarn sandte für Österreich. Aber ich hasse die Revolutionen, Du kannst sie benutzen! Der Undank Österreichs ist die Frucht jenes Fehlers. Sei der Freund Preußens, aber der Gegner Deutschlands. Es war zu viel Deutsches in mir, zu viel! und daran sterbe ich. Folge der Zeit, so viel Du willst, mit Reformen, sie sind nicht aufzuhalten; die Neuerung ist ein revolutionärer Brand, den man nur erstickt, wenn man ihm die Nahrung entzieht. Aber wenn die Stunde gekommen, dann sei ein Russe und sei es ganz! – Unterzeichne!«

Der Thronfolger, die Feder in der Hand, zauderte.

Die Stimme des Kranken erhob sich. »Zum letztenmal – schreib' – oder entsag'! Da draußen steht einer, der sich keinen Augenblick bedenken wird. Er ist ein echter Russe! Hüte Dich vor ihm!«

Mit einem raschen entschlossenen Zug schrieb der Czesarewitsch seinen Namen auf das Pergament, unter den seines Vaters. Dann, auf dessen stummen Wink – legte er die Urkunde wieder in das Kästchen und verschloß es in dem geheimen Behältnis.

Der Kaiser winkte ihn jetzt zu sich, der Großfürst kniete am Bett seines Vaters nieder und küßte seine Hand, der Kaiser aber erhob sich mühsam auf seine Arme.

»Sire,« sagte der Kranke, »empfangen Sie meine Huldigung. Sie sind von diesem Augenblick an allein der Herr und Gebieter von Rußland. Mögen Gott und die Heiligen mit Ihrer Regierung sein.«

Der junge Monarch beugte sein Haupt, auf das die erkaltenden Lippen des Sterbenden einen Kuß drückten. »Nehmen Sie jene Klingel, Sire,« sagte dieser alsdann – »ich will, daß man Ihnen in meiner Gegenwart huldigt, damit ich ruhig sterben kann. Eilen Sie, denn meine Kräfte gehen zu Ende, und es ist vielleicht nötig, daß ich deren noch in Ihrem Interesse bedarf.«

Der Thronfolger schellte. Sogleich öffneten sich zwei der Thüren, die in das Gemach führten, durch die eine trat der Czesarewitsch, durch die andere traten mehrere Männer ein. Es waren: der Fürst Dolgorucki, der Kriegsminister, der Metropolit von Petersburg und Nowgorod Nicanor und der Präsident des Senats Graf Bludoff.

Der Czesarewitsch wollte auf das Lager seines Vaters zuschreiten, doch ein gebieterischer Wink des Kranken hielt ihn an seinem Platz. Das Gesicht des Czesarewitsch, so ausdrucksvoll durch den veredelten aber unverkennbar nationalen Typus, den es trägt, war äußerst bleich.

Der Kriegsminister hatte sich seinem sterbenden Freund und Kaiser genähert, und sein Blick drückte ein stumme gewichtige Frage aus.

Das Auge des Kaisers antwortete in gleicher Weise, indem es sich bedeutsam nach der Stelle wandte, an welcher der Kasten mit den Dokumenten verborgen war, sein Haupt nickte bejahend, während er das Zeichen des Kreuzes machte.

»Meine Freunde,« sagte der kranke Fürst, »ich habe Euch hierher beschieden, um Euch zum letztenmal in diesem Leben meinen Willen kund zu thun. Von diesem Augenblicke an bin ich nur noch Nicolas, Euer sterbender Freund! Dieser ist der Kaiser, und es ist mein letzter Wille und Befehl, Rußland ihm den Eid der Treue leisten zu sehen in den Vertretern seiner Religion, seiner Armee und seiner Gesetze, bevor ich sterbe!«

Der Fürst Dolgorucki küßte. Thronen in dem Auge, die Hand seine kaiserlichen Freundes. Dann beugte er ein Knie vor dem Thronfolger.

»Kraft der Akte Peters III. erkenne ich Dein Recht auf den Thron und schwöre den Eid der Treue Alexander II., Kaiser aller Reußen!«

Alle drei Männer legten ihre rechte Hand auf das goldene Kreuz, das der Metropolit ihnen vorhielt und sprachen die Worte des Eides nach. Der Fürst und der Graf küßten nach altrussischer Sitte den Rockzipfel der jungen Kaisers, der höchste Würdenträger der Kirche machte dreimal das Zeichen des Kreuzes gegen ihn.

Das feste, fast starre Auge des Kranken suchte den Prinzen, seinen Sohn, der unbeweglich dieser feierlichen Scene beigewohnt hatte. »Constantin Czesarewitsch,« sagte er mit klangvoller Stimme, die einen Augenblick kräftig und jung schien, »Großadmiral von Rußland, tritt her und huldige Deinem Kaiser.«

Der Czesarewitsch blieb unbeweglich stehen, sein Auge haftete fest am Boden, sein Gesicht war noch bleicher als vorhin.

»Hat der Czesarewitsch mich nicht verstanden? Ich warte!«

Um den Mund des Prinzen zuckte es; dann schlug er entschlossen den Blick empor und begegnete jenem großen, glanzvollen Auge, dessen Ausdruck noch durch die Majestät des nahenden Todes erhöht war.

»Ich kenne nur einen Kaiser von Rußland, Sire, dem mein Eid gehört, und das sind Euer Majestät!«

»Aber ich entbinde Dich Deines Eides, Dein Bruder ist mein Nachfolger! Es giebt von diesem Augenblick an keinen Kaiser mehr von Rußland, als ihn!«

»Sire, ich kenne nur einen Kaiser, so lange Sie leben!«

»Ungehorsamer! Ich befehle Dir, zu gehorchen!«

»Sire – wenn Sie nicht mehr Kaiser sind, können Sie mir nicht befehlen! Wenn Sie es noch sind, kann ich keinem andern den Eid leisten.

»Als Vater –«

»Auch der Vater hat kein Recht über mich, wo es die Treue des Unterthans gilt!«

Diese ruhigen, entschlossenen Antworten enthielten eine so furchtbare Logik, daß sich selbst dieser mächtige Geist, der im Begriff war, jede irdische Schwäche von sich zu werfen, einen Augenblick darunter zu beugen schien.

Aber dieser Augenblick ging rasch vorüber.

Der junge Monarch war auf den Trotzenden zugetreten. »Ich beschwöre Dich, mein Bruder, gieb nach – nicht um meinetwillen, kein Streit kann unter uns sein, aber um des Vaters willen! Es ist ein Wort, daß Du mir leider in wenig Stunden doch nicht verweigern wirst!«

Er bot ihm die Hand, der Blick des Czesarewitsch haftete finster am Boden, seine Arme blieben gekreuzt über der breiten Brust.

»Hierher zu mir, Alexander, mein Sohn!«

Der junge Monarch gehorchte.

Der Arm des Kaisers streckte sich drohend aus nach dem Ungehorsamen. »Ich kannte ihn!« sagte er mit mühsam unterdrücktem Zorn. »Ich allein kenne ihn und seinen Sinn. Zwingst Du ihn nicht in dieser Stunde, da ich lebe, seinen Trotz zu brechen, so ist Deine Krone ein Schatten, Deine Regierung ein blutiger Fleck in der Geschichte Rußlands! Er oder Du; er beugt sein Haupt vor Dir, oder der Henker thut es! Willst Du Kaiser der Russen sein, so zeige, daß Du es vermagst! Dein sterbender Vater will es, befiehlt es Dir!«

Die Zeugen dieser furchtbaren Scene standen still, zitternd, ihre Blicke suchten mit offenbarer Teilnahme bald den Bedrohten, bald richteten sie sich mit Besorgnis auf den neuen Herrn.

Der neue Monarch trocknete mit dem Tuch, das er in der Hand hielt, große Schweißperlen ab, die auf seiner Stirn standen. Seine Züge prägten den Kampf aus, der in seinem Innern tobte.

Der Metropolitan war zu dem jungen Großfürsten getreten. »Kaiserliche Hoheit, wir erkennen an, daß Ihre Skrupel gerechtfertigt erscheinen, aber bedenken Sie, daß dem Gesalbten des Herrn freisteht, der Krone, die Gott ihm zu tragen gegeben, zu Gunsten seines Erben zu entsagen, wenn seine irdische Kraft zu Ende. Die Männer, die hier versammelt, sind die treuen Freunde und Diener Ihres Vaters. Wenn Ihnen Ihr Gewissen erlaubt, dem Herrscher schon in dieser Stunde zu huldigen …«

Das Auge des sterbenden Löwen hatte mit drohendem finstern Ausdruck wie eine Bergeslast von Erz auf dem schwankenden Sohne gelegen. Eine ungeduldige Bewegung der Hand unterbrach die Worte des Kirchenfürsten.

»Mach' ein Ende! Er oder Du!«

Die hohe schlanke Gestalt des jungen Monarchen wurde straff, sein Auge blitzte, über die Züge seines Gesichts kam eherne Ruhe.

»Fürst Dolgorucki, welches Regiment hat die Palastwache?«

»Das Regiment Semenoff, Sire. Hauptmann Ssabanieff mit der zweiten Kompagnie des ersten Bataillons.«

»Erteilen Sie Befehl: ein Offizier und zehn Mann hinter jener Thür. Der Profoß des Regiments sofort hierher. Ein verschlossener Wagen an die Thür, zu der diese Treppe führt. Zwanzig Gardegendarmen zur Bedeckung!«

Der Minister verließ durch die Thür nach den Vorzimmern das Gemach.

»Halbe Maßregeln! halbe Maßregeln!« murmelte erschöpft der Kranke, indem er sich auf das Lederkissen zurücklehnte. »Laß dem Rebellen den Kopf vor die Füße legen, wenn Du ihn nicht gewähren lassen willst!«

»Sire,« sagte der neue Kaiser mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung, »das Blut unsers Großvaters Paul muß das letzte gewesen sein, das die Wohnung der Monarchen von Rußland befleckt hat. Die Urteilssprüche in der kaiserlichen Familie mögen in Schlüsselburg vollzogen werden!«

Man hörte das Rollen eines Wagens, der in einiger Entfernung still hielt, zugleich das Kommando »Gewehr bei Fuß,« und das Rasseln der Kolben auf dem Korridor.

Aus dem Vorzimmer trat der Kriegsminister wieder ein, ihm folgte ein riesengroßer starker Mann mit finsterm Gesichtsausdruck, der Profoß des Regiments. Er blieb am Eingang stehen und salutierte, dann ließ er die Hand an die Seite fallen, den Zeigefinger an der Naht der Hose. So blieb der Mann gleich einer Statue, das Auge nicht rechts noch links, keine Fiber bewegte sich an ihm.

Man vernahm den Trab eines Kavalleriepiketts und sein Halt.

»Dolgorucki, seien Sie so gut zu schreiben. Dort ist Feder und Papier!«

Der Kriegsminister setzte sich an den Arbeitstisch des Kaisers.

»Ich Nicolajewitsch Constantin, Czesarewitsch von Rußland,« diktierte der junge Kaiser, »erkenne meinen Bruder Alexander als Kaiser aller Reussen und gelobe ihm Treue und Gehorsam.«

Die Feder flog noch über das Papier, als der Kaiser zu seinem Bruder schritt, ihn freundlich bei der Hand nahm und zu ihm sagte: »Unterzeichne dies Blatt, Constantin, Du weißt, es ist notwendig, und unser Vater will es.«

»Er allein ist mein Kaiser!«

Der neue Monarch trat zwei Schritte zurück, er suchte das Auge des sterbenden Vaters, das fest und drohend auf ihm lag.

»Einen andern Bogen, Dolgorucki. Schreiben Sie.«

Man sah, wie der alte Fürst zitterte, indem er das Papier vor sich legte und die Feder ergriff.

»Dem Generalmajor Trotzki, Gouverneur von Schlüsselburg.«

»Schlüsselburg!« wiederholte der Fürst.

 

»Michael Pawlowitsch, Gott und die Heiligen seien mit Dir! Du wirst Angesichts dieses Briefes die Thore der Festung schließen lassen und den gegenwärtigen Großadmiral von Rußland Konstantin Nicolajewitsch, Kaiserliche Hoheit –«

 

Der Diktierende hielt inne – wiederum perlte kalter Schweiß in dicken Tropfen auf seiner Stirn und er trocknete sie wiederholt, und wiederum mit dem Ausdruck der Angst und Bitte sah er nach dem Manne von Erz auf seinem Todesbett.

Der sterbende Kaiser machte eine einzige Bewegung, das Zeichen des Kreuzes und neigte das Haupt.

Die folgenden Worte wurden fast klanglos in fieberhafter Eile gesprochen, alle Anwesenden schienen sie mehr zu fühlen, als zu hören.

 

»Nicolajewitsch, Kaiserliche Hoheit, in abgesonderte Haft zu nehmen und Höchstdemselben darin zu behalten, bis …«

 

»Halt! Kein Wort davon, Dolgorucki!« der Kranke hatte sich mit einer gewaltigen Anstrengung auf seinem Lager erhoben, sein Auge funkelte, seine Hand streckte sich mit der erhabenen Gewohnheit des Befehls gegen die Anwesenden. »Siehst Du nicht, daß Du den Bürgerkrieg in dieses Reich schleuderst? Schreib', was ich diktiere, Fürst, bei Deinem Kopf!«

»Nicolajewitsch, Kaiserliche Hoheit,« wiederholte der Schreibende.

Die Stimme des sterbenden Kaisers war fest und kräftig, als er weiter diktierte:

 

»Fünfzehn Minuten nach Empfang dieses Befehls erschießen zu lassen – es sei denn, daß Seine Kaiserliche Hoheit das einliegende Papier unterzeichnen, in welchem Fall Höchstdieselben frei die Festung verlassen.

Gegeben im Winterpalast am 18. Februar 1855.«

 

»Und nun – unterzeichne!«

Der junge Monarch wagte kein Wort der Entgegnung, mit einem raschen Federzug, abgewandten Gesichts, warf er seinen Namen unter das verhängnisvolle Papier.

»Sire,« bemerkte der Kriegsminister ehrerbietig, »man weiß in Schlüsselburg noch nicht, daß Sie der Kaiser sind!«

»Du hast Recht, Dimitry! Gieb her!« Der Kranke ergriff die Feder und schrieb mit fester Hand die Worte unter das Papier!

»Gegeben auf meinen Willen und Befehl. Nicolaus.«

Es war das Letzte, was er geschrieben.

Ein wildes stöhnendes Ächzen entrang sich der Brust des Großfürsten in dem Augenblick, als er seinen Vater unterzeichnen sah. Seine Gestalt schien zusammenzubrechen, die Blässe seines Angesichts wurde zu einer fahlen grauen Farbe.

»Mein Bruder,« sagte nach einer Pause, die nur durch das Knistern des Siegellacks unterbrochen wurde, mit dem der Minister die Depesche langsam untersiegelte, der junge Kaiser. »Sie zwingen mich, meine Regierung an ihrem ersten Tage mit dem Schrecklichsten zu beflecken. Sie brechen mein Herz! Ich beschwöre Sie bei dem Leben unserer geliebten Mutter, der Sie es mit dem Ihren rauben, geben Sie dem Willen unsers Vaters nach!«

Der Czarewitsch erbebte, sein Auge rollte unstät umher, aber seine Lippen blieben krampfhaft auf einander gepreßt.

»Siehst Du jetzt, was Du bei diesem Kopfe aufs Spiel setzest? Ich allein kannte ihn! Profoß!«

Die militärische Maschine am Eingang des Gemachs trat drei Schritt vor und salutierte.

»Hast Du Deine Handeisen bei Dir?«

»Ja, Batuschka!«

»Lege jenen Rebellen in Fesseln und dann fort mit ihm!«

Der Riese zog gleichgültig die Handringe aus der Tasche und näherte sich dem Czesarewitsch, als dieser plötzlich aus seiner krampfhaften Erregung emporfuhr und ihn so funkelnden Blicks anschaute, daß der Mann unwillkürlich zurückfuhr.

Dann sprang der Prinz zum Tisch, entriß dem Minister die Feder, unterzeichnete seinen Namen, und stürzte vor dem Lager seines Vaters auf die Knie. »Oh Sire, Ihren Constantin – in Fesseln!«

Es war das Schluchzen eines gebrochenen Herzens. Der Vater, der Kaiser beugte sich über ihn und drückte das Haupt des Sohnes an die Brust, während er sein Haar küßte. »Armes Kind! ich hoffte, Dir eine Krone zu hinterlassen, wie ihm, denn ich liebe Dich, wie ihn, aber Rußland war meine erste Pflicht! Gottes Wille geschehe auch mit Dir!«

Erschöpft von dem furchtbaren Austritt reichte der sterbende Monarch seinem Erstgeborenen, der seinen Bruder, umschlungen hielt, die Hand. »Jetzt erst bist Du Kaiser von Rußland, ich kenne ihn, er wird sein Wort halten. Liebt Euch und lebt zum Heil Rußlands!« Er sank, von den Armen der Söhne gehalten, zurück auf die Kissen. »Laßt Orloff und Adlerberg kommen – ich will Abschied von ihnen nehmen!«

Der Kriegsminister hatte den Schergen bereits entfernt und das Pikett fortgeschickt. Die Thüren des Vorzimmers wurden geöffnet und die Grafen Orloff und Adlerberg mit den Ärzten traten ein, man sah in den Vorzimmern die Dienerschaft versammelt.

Der junge Kaiser hatte den Arm seines Bruders gefaßt und ihn nach der Nische des großen Fensters geführt.

Trotz der strengen Kälte sah man den ganzen weiten Platz mit dichten Volksgruppen bedeckt, die eine ehrfurchtsvolle Stille beobachteten. Viele Personen knieten auf dem Schnee im Gebet für den sterbenden Herrn.

»Mein Bruder,« sagte der Kaiser, indem er nach der weiten, prächtigen Stadt deutete, »ich baue auf Dich, Du wirst der Eckstein des Werkes sein, das unser Vater uns hinterläßt. Dies Rußland ist mein durch das Recht Gottes und darf nur einen Herrn haben. Unserer Feinde sind viele, Einigkeit ist uns not, wir haben einen bösen Kelch zu leeren! Aber bei der Krone Ruriks! ich gelobe Dir, wenn die Zeit gekommen, wird die der Kommenden dem Haupte meines Bruders passen!«

»Gott mache Rußland groß und segne Eure Majestät!« Der Czesarewitsch machte eine leichte Verbeugung, das Knie zu beugen, der Kaiser verhinderte sie, indem er ihn an seine Brust drückte.



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