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Bourgeoisie – Aristokratie – Proletariat.


3. Das Proletariat

Vergl. die Überschrift des letzten Kapitels von »Villafranca«, Bd. III.

Nicht weit von dem Hause, in dem die Hauptmannswitwe und die Justizrätin wohnten und in dem jene famosen Matratzenbälle gehalten wurden, befand sich der »Schmortopf«, eine Kneipe niedrigster Art.

Ein dunkler, enger, schmutziger Eingang, vor dem eine Laterne mit einem Stück grünen Glases brannte, führte in das niedere Vorderhaus, an das sich ein Anbau anschloß. Das war der sogenannte Saal, ein drei Fenster breiter Raum, so niedrig, daß die von animalischen Ausdünstungen, Tabaks- und Spirituosenqualm geschwängerte Luft wie eine dichte Wolke über den Tanzenden lag. Ein Vorzimmer, in dem die Schenke befindlich, bildete die weiteren Räumlichkeiten; nur die Stammgäste des Orts, und großenteils solche, welche an dem nächtlichen Vergnügen teilnahmen, wußten, daß hinter dem »Saal« sich noch zwei Zimmer anschlossen.

Schon das Entrée gab einen Vorgeschmack von den Vergnügungen des Lokals.

Hinter einem handfesten, massiv eichenen Schenktisch, der bei Gelegenheit der häufigen Faust- und Messerkämpfe den Wirtsleuten als Schutz und Barrikade diente, hantierte die Wirtin, eine Frau von etwa vierzig Jahren mit kupferglühendem Gesicht und überaus wohlbeleibt, ja fett. Wenn sie gerade Muße hatte, saß sie im Winkel des abgeschlagenen Teils hinter einem kleinen Bretterverschlag und nippte von einem Glase, das sie dort stets mit jenem beliebten Fluidum gefüllt hielt, das der Berliner »Getreidekümmel« zu nennen liebt. Die würdige Hausfrau und Schenkmutter trug eine schmutzige Haube mit fliegenden feuerfarbenen Bändern und furchtbaren Blumen aufgeputzt, deren Form und Farbe noch meilenweit über die so reiche Phantasie der Mutter Natur hinausging, im übrigen ein Kattunkleid mit aufgekrempelten Ärmeln und eine große Pichelschürze vor dem vollen Busen und der elefantenartigen Peripherie ihrer Taille.

Trotz dieser Korpulenz aber entwickelte die würdige Dame eine große Thätigkeit, und namentlich war es die Zunge, die sich eben nur dann Ruhe und Rast zu gönnen schien, wenn ihre Inhaberin sich zur Stärkung ihrer angegriffenen Organe hinter jenen kleinen Verschlag zurückzog. Diese Beweglichkeit der Zunge erstreckte sich nicht bloß auf die Begrüßung der Eintretenden und die Bedienung der Gäste mit einer undurchsichtigen Weißen, einer Werderschen oder einem Gläschen aus den mit weißem, rotem, grünem und gelbem flüssigen Feuer gefüllten Flaschen des Regales hinter dem Schenktisch, sondern erging sich namentlich auch in überaus zarten Anweisungen und Kritiken des würdigen Gemahls und der beiden unglücklichen Burschen, die alle drei mit der Bedienung beschäftigt waren, oder machte einen Abstecher durch das große hölzerne Schiebfenster in das nebenan gelegene Gebiet der Küche, aus dem ein Qualm von gebratenen Zwiebeln, Käserationen, Schweinekoteletten und »deutschem Beefsteak« hervordrang.

Der Mann der würdigen Wirtin war ganz ihr Gegenteil: klein, hager und spitznäsig, wie eine Ratte. So war auch seine Beweglichkeit, mit der er von einer Ecke zur andern fuhr. Die Nachbarschaft munkelte, daß er früher einmal »überm Berg« gewesen, das heißt im Spandauer Zuchthause gesessen habe, aber man wußte nichts Genaues mehr, und die Heirat mit der Inhaberin der »Restauration zum Schmortopf« hatte auch ihn längst restauriert. Er war mit allen Gästen auf Du und Du und ein wahrer Schatz für das Lokal. Bei den Gästen führte er den bezeichnenden Namen »Wiesel«.

Außer einigen Tischen und Bänken, einer alten Uhr, einem Spiegel und einem Riegel zum Aufhängen der Kleider enthielt die Stube kein Mobiliar. Der Riegel war natürlich leer, denn wer hierher kam, behielt seine Kleider auf dem Leibe und Hut oder Mütze, waren sie auch noch so schlecht, auf dem Kopf. Es hätte sich immer ein noch schlechterer zum Vertausch, am ehesten gar keiner wieder gefunden.

Durch die offene Doppelthür des »Tanzsaals« strömte die heiße Atmosphäre, der Lärm der Tanzenden und das Quietschen zweier Violinen, einer Guitarre und eines Triangels hinein. Einen Baß gab es in diesem Orchester nicht, man liebte nur die hohen Töne; außerdem wäre ein solches Instrument zu bequem und zu teuer für eine Schlägerei gewesen.

Soeben kam ein Trupp von vier oder fünf jungen Mädchen in das Lokal, junge Kinder von fünfzehn bis siebenzehn Jahren, in einfachem Kattunkleid, einen Seidenfetzen von Mantille um die Schultern hängend, so gut aufgeputzt wie möglich, und doch das Elend, die Armut in allen Zügen, alle bis auf eine lachend und lärmend, des Ortes gewohnt.

Die Gefährtin, die sie mit sich zogen und zerrten, war ein blödes Kind, höchstens sechzehn Jahre, in dürftigem Kleid. Aber ihr Teint war fein und frisch, in dem schüchternen Aufschlag der großen blauen Augen lag etwas ungemein Anziehendes, und die Züge waren fein und lieblich, trotz der Not, die ihre hagere Blässe verriet.

Jetzt färbte freilich ein höheres Rot die Wangen, das Rot der Scham und der Erwartung. Sie war bisher züchtig und ehrlich geblieben, trotz der tausend Verlockungen und Verhöhnungen in der Fabrik, in der sie mit ihren Gefährtinnen arbeitete, und hatte mit dem kärglichen Lohn noch die alte Mutter ernährt; aber die Gefährtinnen redeten ihr so viel zu, sie erzählten ihr so lange von den Freuden, die sie genossen nach der ermüdenden Arbeit des Tages, sie malten ihr das schmutzige Bild dieser Hölle mit so lockenden Farben, daß sie endlich, nur ein einziges Mal, dies Vergnügen kosten wollte. Hatte sie doch nie ein anderes gekannt, nicht einmal des Sonntags Gottes freie Natur, denn da mußte sie nähen, um nur noch ein Paar Groschen zu verdienen für das Fähnlein, das sie trug.

»Einfältige Trine,« sagte eines der Mädchen, »was hast Du Dich so jämmerlich, wirst schon auf den Geschmack kommen! Denkst Du, man kann sich den janzen Tag schinden und rackern am Spulrade und die Fäden knüppeln, wenn man das bißchen Vergnügen nicht haben sollte!«

»Ich schäme mich,« sagte das Mädchen, »Ihr seid schon so oft hier gewesen, da ist's was anderes!«

»Warum hast Du so lange die Prinzessin gespielt! na, heute soll's anders werden, ich laß Dir den Fritz ab für den Abend!«

»Um Gotteswillen, verlaßt mich nicht!«

»Seh' mir doch einer die Gräfin an! Glaubst wohl, Deine Jungfernschaft wäre mehr wert, als andere ihre! Ich rat' Dir zum besten, Luise, Du sollst sehen, wenn Herr Meyer, der erste Commis, Dich wieder zu sich auf die Stube bestellt, um Dir die neue Manier zum Seidedrehen zu lernen, und Du gehst wieder nicht hin, so bist Du die längste Zeit bei uns gewesen. Ich hab's neulich ausdrücklich gehört, wie er zum Aufseher sagte, Du wärst zu ungeschickt zu der Arbeit.«

Die Kleine schlug die Augen traurig zu der räucherigen Decke des Gemachs. »Ich thue doch mein Möglichstes,« sagte sie. »Aber Ihr habt mir so bange gemacht, wenn man zu Herrn Meyer geht!«

»Dumme Lise! bange gemacht! Wir haben alle hinkommen müssen, das ist nun einmal so in der Fabrik. Geben thut er freilich nichts, aber er ist doch immer noch besser als früher der alte häßliche Kerl, der vor ihm da war und uns Mädel kujonierte, daß wir die Wände hätten hinauflaufen mögen.«

»Wenn die kranke Mutter nicht wäre, ich wäre so gern in Dienst gegangen. Dann kann man doch wenigstens ehrlich bleiben!«

Die Mädchen, die sich um den Spiegel gedrängt, um ihren dürftigen Putz noch etwas in Ordnung zu bringen, lachten hell auf. »In den Dienst willst Du gehen! Na, sie werden Dir's lernen! Ja, wenn die Herren's nicht wären! Hast Du nicht gehört, wie die schwarze Jette wiedergekommen ist? Und den ganzen Tag das Jegröle und das Schimpfen von der Madam; da will ich doch lieber Nummer Zehn spinnen, als das anhören. So ist man doch wenigstens des Abends frei!«

Madame Knuspe, die Wirtin des »Schmortopfs«, die bisher mit der Bedienung von Kunden zu thun gehabt, mischte sich jetzt hinein. »Der Tausend, Mädels, Ihr kommt ja so spät heute! Wen habt Ihr denn da mitjebracht? Die war man ja noch jar nich bei uns! Komm hierher, Laura, ick habe mit Dir zu reden!«

Das gerufene Mädchen, die älteste von der kleinen Gesellschaft, kam ans Büffett. »Geben Sie mir einen Nelken, Madame Knuspe,« sagte sie, »Fritz hat es jern, wenn man en bisken parfümiert riecht!«

»Hast De Jeld?«

»Ne, aber der Fritz hat welches, ich weiß es jewiß!«

Madame Knuspe mochte die gleiche Überzeugung haben, denn sie goß in der That ein Spitzglas jenes trüben Gebräues ein, das, Fusel auf Gewürznelken, unter dieser Klasse als Mittel angesehen wird, sich einen wohlriechenden Atem zu machen.

»Wer is die Kleene da?«

»Ich hab' Ihnen schon von ihr erzählt, es ist die Luise Croft, ihr Vater ist vor fünf Jahren beim Bau verunglückt, und die Mutter liegt an der Brust nieder und kann vom Strohsack nicht aufstehen. Sie wohnen neben uns im Familienhause in der Stube mit der Lubecken zusammen, die die Kinder hält für die Weihnachtsschäfchen und die Streichhölzer!«

»Et is en nettes Jesichte, nur das Fleisch fehlt ihr mank! Hat se en Liebsten?«

»Sie ist erst im vorigen Jahre konfirmiert und näht in der Nacht, damit sie Sonntag in die Kirche gehen kann. Aber lange wird's nicht dauern, der Meyer hat ein Auge auf sie.«

»Des is unser bester Lieferant! Wenn's so weit ist, sag' mir's gleich, der Dicke mit der großen Nase, Du kennst ihn ja, will gerne wat frisches haben, und die Röhlen ist ooch schon dajewesen und fragt nach Ufwuchs! Sie brauchen jetzt so ville wegen die Polkamamsells!«

»Ist der ›Vornehme‹ wieder da?« fragte das Mädchen.

»Freilich! er is janz doll heute und traktiert. Der Bengel hat gewiß en jroßen Masematten jemacht, und es wundert mir nur, daß die Polizei ihm noch nich uf de Hacken is.«

»Unsinn, Madame Knuspe, der hat die Polizei nich zu fürchten. Ich glaube, er is juter Leute Kind, aber …«

»Na wat denn, wat willst Du denn sagen mit des Kopfschütteln?«

Die Dirne lachte so eigentümlich. »Wissen Sie, Madame Knuspen, ich glaube gar nich, daß er en richtiges Mannsbild ist!«

»Setz' Dir keene Raupen in den Kopp! Du bist neidisch, weil er noch nie nich mit Dich jegangen is!«

Das Mädchen warf schnippisch den Kopf in den Nacken. »Was ich mir davor koofe. Aber sagen Sie mir doch, mit wem er jegangen ist? nur mit die Mannsleute giebt er sich ab. Ich habe meinen Liebhaber und brauche keinen andern!«

»Meinetwegen, er hat Jeld und traktiert. Wilhelm,« unterbrach sie sich kreischend, »fauler Bummenkop, willst De nu bald des Büfsteck rintragen un de Kartoffeln liegen lassen! Weeßt De was Neues, Laura?«

»Nun?«

»Der Tambour is ene vornehme Dame jeworden. Se hat en Ollen, der ihr Seide und Samt koft. Se geht wie en Pfauhahn uf de Straße, un ihre Mutter hat se vorgestern uf de Strohschütte sterben lassen. He kesse Rosa, warte en bisken! Bist de schon wieder raus ausm Ochsenkopp? Die Radeken wird Dich's jut jeben, daß Du ihr mit de Lehnkluft Geliehene Kleider. Ein bekannter Erwerbszweig gewisser Weiber in Berlin. durch die Lappen gebrannt bist!«

Mit dem großen rothaarigen Mädchen, das eben durch die Stube eilte, war eine Anzahl von Männern aus dem Tanzsaal, wo jetzt die Jammermusik schwieg, an den Schanktisch gekommen.

Es waren zum Teil wüste, zum Teil jämmerliche, verkommene Gestalten, Fabrikarbeiter, Lehrlinge und Gesellen der niederen Gewerbe, Diebe und bestrafte Subjekte, vom Torfdrücker Taschendiebe. und Flatterfahrer, Wäschediebe. dem Schottenfeller Laden- und Marktdiebe. und Kaffernfänger, Die sogenannten Bauernfänger, Betrüger mit falschen Münzen oder falschen Karten. dem Stipper Der Dieb, der mit Leimruthen aus der Ladenkasse stiehlt. bis zum Makkener Gewaltsame Diebe. und Einbrecher, der auch vor einem Morde nicht zurückbebt. Dazwischen heruntergekommene Gestalten, denen man bei aller Verwilderung an einzelnen Zügen noch die frühern bessern Zeiten ansah, ja selbst die höhere Gesellschaft und Bildung.

»Einen grünen Pomeranzen, Mutter Knuspen!«

»Mir eene kleene Weiße! Ich hab' einen teufelmäßigen Durst!«

»Grogk mit Rum, aber viel Rum!«

»Jott! da is ja die Laura! Bon jour, Laura!« Der große hagere Bursche mit dem grünen Schwalbenschwanz und dem zerdrückten weißen Filzhut auf dem Kopf, ein vagierender Kellner, den fast alle Wirte Berlins schon aus dem Hause geworfen und der unter dieser Sorte den Stutzer spielte, wollte das Mädchen mit Gewalt umarmen, aber sie verabreichte ihm eine so stattliche Ohrfeige, daß er drei Schritte zurückflog.

»Bleib' mir vom Halse, fauler Marqueur,« rief das Mädchen heftig. »Du hast mir neulich acht Jroschen aus der Tasche gestohlen, als ich mit Dir Schottisch tanzte!«

»Pfui Deifel, Laura, wer wird so grob sind!« sagte der ehemalige Kellner, der sich jetzt vom Bauernfang und falschem Spiele nährte, »wie kannst Du mir so verleumden? Du bist eine Fabrikdame und hast im Leben noch keene acht Jute in der Tasche jehabt.«

»Die Kitzler-Gräfin hat's gesehen und die rotbäckige Lotte, willst Du's leugnen?«

»Du lügst.«

»Wer sagt, daß die Laura lügt?«

Ein stämmiger Bursche, ein Arbeiter aus einer Eisenfabrik, drängte sich durch den Kreis und faßte die Hand des Mädchens, während er seine sehnige Rechte mit funkelndem Auge geballt dem anderen unter die Nase streckte. »Die Laura ist ein ehrlich Mädchen und lügt nicht, wenn sie auch schlechten Umgang hat. Du aber bist een miserabler Kerl, der niemals nicht arbeiten will und die Leute betrügt.«

»Ich verbitte mir alle Grobheiten, Hammerfritz!« sagte sich aufblähend, aber mit vorsichtigem Rückzug der falsche Spieler, um den sich die Diebe und Vagabunden zu sammeln begannen, da sie einen der Ihren angegriffen sahen.

»Gieb's ihm, Marqueur, laß Dir's nich gefallen, der Bursche macht sich viel zu breit hier!«

Der Hammerfritz trat noch einen Schritt vor, auf seiner Stirn schwoll quer herüber eine dicke rote Ader auf. Seine Bekannten und alle seine Mitarbeiter in der Fabrik wußten, daß bei diesem Zeichen nicht mit ihm zu scherzen war.

»Kommt heran, einer oder alle, wie Ihr wollt! ich kenne Euch, Gesindel, es ist nicht einer darunter, der nicht hinterm Berge gewesen. In Spandau gesessen. Aber ich sag's Euch, laßt mir das Mädel in Frieden, oder es setzt blutige Köpfe!«

Der »faule Marqueur« schien aber wenig Lust zu haben zu einem Handgemenge mit diesen Fäusten. Er zuckte die Achseln, steckte die Hände in die Taschen und wandte sich zum Schenktisch. »Ich werde mir nich jemeen machen mit ihm!«

Dennoch wäre es wahrscheinlich zu einer Prügelei gekommen, denn es waren unter dem Gelichter mehrere, denen es gewiß nicht an Courage fehlte, aber die Wirtin des »Schmortopf« legte sich mit ihrer Stimme ins Mittel und drohte mit der Polizei, und zugleich begann das Orchester im Tanzsaal wieder seine jammervollen Melodieen.

Der Hammerfritz machte eine die tiefste Verachtung ausdrückende Gebärde gegen seine Widersacher und faßte sein Mädchen am Arm. »Komm, Laura, bei den Kerls ist doch nischt zu holen, sie haben keine Ehre im Leibe!« Er zog sie nach dem Tanzsaal, und die schwarze Laura an ihrer Hand des junge Mädchen mit, das hier sein erstes Debüt gab.

Sein erstes Debüt! Es ist eine entsetzliche Thatsache, daß in diesen niederen Lokalen brutalen Vergnügens ein Dritteil jener weiblichen Korrumption herangebildet wird, welche die Straßen der Residenz in sanitärer Beziehung unsicher macht. Das zweite liefern die Herrschaften und die Verführung, das dritte die Putzsucht und der Drang nach Vergnügen!

Freilich ist es eine Seltenheit, daß in jene Höhlen ein auch noch so junges Mädchen aus dem Kontingent der Fabriken und der dienenden Klassen noch mit dem Zauber der Unschuld und Reinheit eintritt, dafür sorgt das Zusammenleben der Armut, das Gift der Gesellschaft und die empörende Obscönität der Unterhaltungen schon am heranwachsenden Kinde; aber es ist ein junger Ausschuß, noch kräftig und fähig für das Bessere, mit geringen Ansprüchen, die erst im Genuß des Vergnügens und der Faulheit wachsen. Das empfängliche, weibliche Herz, das auf den Höhen der Gesellschaft wie in ihren Kloaken aufopfernd schlägt, rettet manche zu einem Leben der Arbeit, der Entbehrung und Duldung. Andere machen ihre »Carrière«! Das Raffinement der Wollust sucht hier seine Rekruten. Der bequeme Gourmand in Menschenfleisch steigt in Verkleidung bis zu dieser Höhle herab und sucht junges und neues, oder er schickt seine Adjutanten, die alten kuppelnden Weiber. Dann, wenn er des Spielwerks bald überdrüssig geworden und es weggeworfen, geht es in andere Hände über, in die eine oder zwei Stufen höher sich erhebenden Tanzsäle und Hallen, wo nicht mehr der Dieb und der niedere Arbeiter den Chapeau macht, sondern schon der Ladendiener und die Schar der jungen Männer, die der Centralpunkt aller Studien und Büreaukratieen in der Hauptstadt versammelt, der übermütige Gewerbetreibende, der in Lieferungen das Gold häuft, der Wechselschwindler und die Menge der Fremden! Nicht mehr das Kattunfähnchen fliegt um den jugendlichen Leib; die schwere Seidenrobe, die vielleicht bei einer Hofcour um stolze Aristokratinnen gebauscht und aus der Hand der Kammerfrau in die der Schauspielerin, von da zur Lehnkluft, diesem berüchtigten Wucher mit der Eitelkeit gewandert ist, sie fegt jetzt am Leib der Dirne das Trottoir oder rauscht im wilden Tanz der Hallen. Dann kommt der privilegierte Lieferant der petits plaisirs, der Tanzmeister, und engagiert die hübschesten für die geschlossenen Bälle eines Gesellschaftshauses, Stück für Stück zwei Thaler, wo der Graf und der Baron ohne die zwängende und kitzelnde Uniform den Erlös der leichtsinnigen Wechsel vergeudet, in welche die jüdische und christliche Halsabschneiderbrut systematisch den jungen Verschwender verstrickt hat und die schon so manchen hohen Namen des Landes, so manche Familie ruiniert und das Erbgut der Verwandten in die parcellierenden Hände der Wucherer und Güterspekulanten gebracht haben, oder wo der prahlende Bankier, der übermütige Fremde und einheimische Wüstling den Champagner sprudeln läßt, und das Glas abwechselnd mit Dukaten füllt für die eine Nacht. Dann ist die Carrière gemacht, dann spreizt es und wogt es in der Krollschen Promenade, gefolgt von der »Mutter« oder an der Hand den zierlich aufgeputzten Affen, das gemietete Kind; oder es zieht des Sommers gar in die Bäder, und wenn Mutter Natur die gehörige Portion Schlauheit gegeben, bringt es wohl eine oder die andere gar zur Berliner Hauswirtin, oder beschimpft mit ihrer Heirat einen ruhmvollen Namen – – aber wie wenige kommen zur Carrière! Wie viele, die meisten, bleiben am Wege liegen, unglückliche Geschöpfe, verkommend im Schmutz, im Kampf mit der Polizei und ewiger Not! Die letzte Station der Ruhe ist dann der Kirchhof der Charité. Oder sie kuppeln mit andern Leibern, wenn der ihre verblüht, und ziehen als »Tanten« hinter den neuen Tagesschmetterlingen her, enden als Diebinnen und Hehlerinnen im Zuchthaus, oder schleppen gekrümmten Rückens vor den glücklichen Frauen her die Kiepen vom Wochenmarkt nach Hause.

In dem Eingang zu der Tanzhöhle lehnte eine Männergestalt, unter Mittelgröße von zierlichen Formen. Eine reinliche Arbeiterblouse fiel kurz auf die dunklen Beinkleider, aus denen ein auffallend kleiner Stiefel trotz seiner plumpen Machart hervorsah. Auch die Hände, vielleicht absichtlich etwas schmutzig und unrein, waren schmal und fein geformt, wie man sehen konnte, wenn er sie aus den Hosentaschen zog, um die Cigarre zu irgend einer lustigen oder zotigen Bemerkung aus den Lippen zu nehmen. Das Gesicht war nicht jung, nicht alt, von mattem durchsichtigem Teint und mit einem Stutzbärtchen geziert, das Kenner der Verkleidungen für ein falsches hielten. Auf dem krausen dunklen Haar saß keck eine gewöhnliche Schirmmütze.

Der Bursche war seit dem Winter ein bekannter und wohlgelittener Gast dieser Gesellschaft und galt bei den meisten für einen wohlverdienenden französischen Hutmachergesellen oder einen Taschendieb; andere kümmerten sich nicht um ihn, und überhaupt stand er unter dem besondern Schutz der Madame Knuspe und einiger gewichtiger Stammgäste, denn er war nicht knauserig, ließ viel draufgehen und hatte immer Geld. War es doch ohnehin nicht selten, daß fremde Gesichter und Leute anderer Lebensstellung zu irgend einem Zweck in diese Gesellschaft sich mengten. Dieser da aber war so gut wie heimisch darin, denn er stimmte mit einer wahren Wollust in den gemeinen Ton der Kneipe ein und that es allen zuvor an Frivolitäten und wildem Treiben.

Der Mann in der Blouse warf einen scharfen Blick auf den Eisenarbeiter, es lag etwas Begehrliches, Freches darin, das selbst die rohe Natur anwiderte.

»Teufel, Hammerfritz,« sagte er spöttisch, »Du hast Dich heute gut vorgesehen. Zwei auf einmal, ich meinte die schöne Laura wäre so eifersüchtig, daß sie Dir nicht einmal die Gesellschaft der Männer erlauben will!«

»Es kommt drauf an, Musjö Louis,« sagte das Mädchen. »Es ist nicht jeder ein Vogel, der Federn trägt!«

»Da hast Du recht, mein Schatz! Ein Hut mit einer Feder müßte Dir sehr hübsch stehen!«

»So sein Sie kein Nassauer und schenken mir einen!«

»Ein Wort, ein Mann, wenn Ihr mir die hübsche Kleine da gebt. Es soll mir auf einen Punsch nicht ankommen.«

»Lassen Sie mich ungeschoren, ich mag Ihren Punsch nicht! Hierher, Laura, der Galopp geht los!«

Das junge Mädchen blieb allein stehen und sah sich ängstlich um. Alle ihre Gefährtinnen wirbelten bereits in dem wüsten Tanz.

»Donnerwetter, das is wat für meinen Schnabel! Hierher Kleene und drink' eenen mit mich!«

Monsieur Louis lachte vor sich hin, als er sah, wie vom nächsten Tisch ein brüsker Kerl das Mädchen mit Gewalt auf seinen Schoß zog und ihr das Schnapsglas entgegenhielt.

»Sirupsnase, laß das Mädel, sie ist zu hübsch für Dich.«

»Schwerenot! Meinst Du, weil Du der schöne Heinrich bist, Du hättest das Vorrecht auf alle Mädels?«

»Ich will sie haben!«

»Nein, ich!«

Der schöne Heinrich beugte sich zu ihm. »Weißt Du vielleicht, wem das Porum Schränkzeug – die Dietriche und Instrumente zum Einbruch. gehört, das gestern der Pallopete in der Köthnerstraße gefunden?«

Die Sirupsnase schielte ihn grimmig an. »Was geht's mich an?«

»Laß mir die Keibe Liebste. und Du sollst morgen meine Tantel Nachschlüssel. haben!«

»Wort?«

»Handschlag!«

Das geängstete Mädchen hing bereits am Arm des im Gegensatz zu seinem Gefährten ziemlich gentil aussehenden Diebes, in dem sie einen Beschützer erblickte.

Mit dieser Bewegung war sie verloren!

Monsieur Louis hatte mit einer gewissen Schadenfreude die Scene betrachtet.

»Masel Toof, Gut Glück. schöner Heinrich!« lachte er. »Einen Koher Liebhaber. wie Dich bekommt sie nicht wieder. Du mußt was draufgehen lassen zu Deiner Hochzeit!«

»Der Dalles is Rittmeister, Ich habe kein Geld. die alte Hexe borgt nicht.«

Musjö Louis warf zwei Räder Thaler. auf den Tisch. »Für was hätt' ich denn Moos. Wir wollen uns lustig machen heute Abend!«

»Hurra, der Hutmacher soll leben. Hierher Wiesel, was trinken wir?«

»Bring' einen Topf Punsch, Wiesel! aber die Mädels herbei!«

»Hierher, Kranzjuste! Wo ist die rotbäckige Lotte und die Schwefelmarie? Hurra polsche Gräfin, es giebt Punsch!«

Die mit dem letztern Namen angeredete Dirne setzte sich dem Hutmacher auf den Schoß und umarmte ihn. »Ich bin dabei, meine Gurgel ist so trocken wie eine alte Nachtmütze!«

Der kleine Wirt schleppte einen großen Topf herbei, aus dem eine Wolke von Fuseldampf emporstieg. Das scharfe Gift – denn der Kartoffel-Rum dieser Kneipen wird von gewissenlosen Fabrikanten selbst mit Oleum versetzt – würde durch den bloßen Dampf schon jedes gewöhnliche Gehirn betäubt haben; in diesen Kneipen aber gilt es als Delikatesse.

Das beginnende Bacchanal, zwischen dem sich die Paare von Zeit zu Zeit in den rasenden Tanz stürzten, hatte bald einen lärmenden jubelnden Kreis um den Tisch gesammelt; Musjö Louis, der Wirt der Gesellschaft, schien im Vergnügen zu schwimmen.

Das Vorzimmer der Madame Knuspe war ein italienischer Himmel gegen die Atmosphäre dieses sogenannten Tanzsaals. Der Tabaksqualm und der Lampendunst lag wie eine dicke Wolke auf den Köpfen, In der Mitte, auf einem Raum von zwanzig Quadratfuß wirbelten eben so viele tanzende Paare wild durcheinander, stampften, stießen, schrieen über ein fallendes stürzten unter dem Gelächter der Runde die andern, daß die Röcke der Weiber weit aufflogen! Die Männer tanzten in Hemdsärmeln, die Mädchen mit keuchendem Atem und fliegendem Busen, im Schweiße ihres Angesichts, als würden sie schwer bezahlt für diese Anstrengung. Mitten in der Reihe walzte allein ohne Aufhören ein altes großes Weib von abschreckender Häßlichkeit in wahrhaft scheußlicher Absurdität aufgeputzt; zwischen den Arbeitern und Dirnen drängten Jungens, den Cigarrenstummel im Mund, Bosheit und Frechheit auf den jugendlichen Gesichtern, kleine Mädchen, die ihr Herumziehen in den Bierhäusern der Stadt eben beendet, Arbeiterfrauen, Straßendirnen und Dienstmädchen, die sich heimlich aus dem Hause ihrer Herrschaft geschlichen und hier Bekanntschaften machten, die, zehn gegen eins zu wetten, mit einem Einbruch oder einem tüchtigen Hausdiebstahl endeten. Bunter fast noch, als diese weibliche Gesellschaft war die männliche in Kostüm und Physiognomieen. Sie drängte sich um den Tanz oder um die Tische, an denen gezecht und Karten gespielt wurde, oder zog mit den Mädchen und Frauen durch den Saal, denn auch an den letztem fehlte es nicht, die vielleicht nach einem Tage angestrengter Arbeit hier ihre Erholung – ihr Vergnügen suchten!

In einer Ecke auf der Bank saß ein Mann, dem man das Pech in doppelter Beziehung auf zehn Schritte ansah, so schmutzig und verkommen sah er aus. Der alte Rock war zwar sauber geflickt, aber voll Schmutz, was, wie der Zustand der Hände und des Gesichts, sehr wenig für die Ordnungsliebe des Trägers sprach. Er war offenbar ein Trunkenbold von Profession und bereits in dem Stadium, wo der glückliche Inhaber den Himmel für eine Baßgeige anzusehen beginnt.

Ihm gegenüber aber saß niemand anders, als Herr Franz Günther, der »Kommissionär vor alles«.

Die neue Säule des Ministeriums Brandenburg-Manteuffel schien sich aber doch etwas geschämt zu haben, in die bekannten Kreise der ehemaligen Freunde herabzusteigen, denn er hatte sich möglichst unkenntlich gemacht. Das weiße Halstuch und die großen Vatermörder waren verschwunden, der lange Überrock hatte einem gewöhnlichen Arbeiterkittel Platz gemacht und die Mütze, die den breitköpfigen Hut ersetzt, zeigte keine Spur der großen Kokarde, mit der Herr Günther sich seither zu brüsten pflegte. Der Träger wußte sehr wohl, daß sie in dieser Gesellschaft ein zu seltenes Möbel gewesen wäre.

Er saß bei dem unglücklichen Schuster, und beide hatten eine Halbe Kümmel vor sich, aus der der Kommissionär fleißig einschenkte.

»Warum besinnst Du Dich noch, Weber?«

Der Schuhflicker kratzte sich verlegen hinter den Ohren. Bei Trunkenbolden seines Schlages bleibt, sie mögen noch so viel des giftigen Getränks in sich hinein schütten, immer ein gewisses Bewußtsein, eine instinktmäßige Überlegung.

»Wenn nur das Weib nich wäre, sie sieht durch en Brett, und ich fürchte mir vor ihr!«

»Dummkopf! Du wirst Dich doch vor Deinem eigenen Weibe nicht fürchten? Es geht Euch schlecht genug; wenn sie die zehn blanken Thaler sieht, wird sie nichts nich dawider haben.«

Der Schuster blickte ihn von der Seite an. »Da kennen Sie Carline schlecht, Herr Franz! Vor Jeld thut die's nich, und sie kratzte mich die Oogen aus, wenn sie ooch nur een Splinterchen von Ahnung hätte, deß ich mir mit der Sache befaßt. Schenken Sie mal inn, so geht et wahrhaftig nich.«

»So denk' nach, wie es zu machen ist!«

Der Trunkenbold sann hin und her. »Es is heute Mondag, da is bei die Justizrätin Jesellschaft, des Haus bleibt auf und meine Olle muß die Kinder zu sich runter nehmen. Wenn ick nur wüßte, wie ick sie fortkriegen sollte!«

»Hast Du den Schlüssel von Eurer Stube?«

»Den hab ick!«

»Wo schlafen die Kinder?«

»Die Carline jiebt sie ihr eigenes Bett un legt sich uf die Diele. Sie is sehr gut vor die Kinner, et is eene traurige Geschichte, und ick gräme mir manchmal selber, deß ick so een schlechter Kerl bin, wenn ick se mit de finstern Oogen so in den Winkel starren seh, als läge des unglückliche Wurm dort!«

»Wo so? was ist's mit Deinem Weibe?«

Der Schuster rückte traulicher heran. »Sie is orndtlicher Leute Kind,« flüsterte er, »und war een nettes Jeschöpf in ihrer Jugend, als sie bei Jeheimderats diente, wo ick die Stiefeln hinbrachte. Sie war so flink und proper, daß es eene wahre Freude war. Denn kam die Jeschichte mit des Kind, des sie tot in der Schachtel im Jarten verjraben fanden, un sie sagten, daß sie's umgebracht hätte, um die Schande nicht zu haben. Aber es is eene nichtswürdige Lüje is et, und ick hab' es immer jesagt, ooch dem Herrn Kriminal, als sie mich vorjefordert hatten, un ich der Vater von des unschuldige Wurm sein sollte, obschon ich so unschuldig war, wie et selber.«

»So hat Deine Frau gesessen?«

»Nee, außer in der Untersuchungsprisong. Der Jeheimderat hat es ooch nich jejloobt, denn er hat sie des beste Zeugnis jejeben, un mir hundert Thaler, damit ick sie heiraten konnte, wenn des Kriminal sie losjelassen. So is et ooch jekommen, denn die Doktorsch haben jesagt, deß die Flecke an dem Kopp ooch von een ander Unjlück sein könnten, und die Carline is meine Frau geworden!«

»Wie konntet Ihr aber so herunter kommen? Der Jeheimderat hätte Dir doch jewiß jeholfen!«

»Freilich dhat er's, un er kam ooch zweemal zu uns, um zu seh'n, wie's uns jing. Aber die Carline war wie een Deifel, so ecklig jegen ihn un wollt es partoutement nich haben, deß ich ihn um Jeld anging. Na dadruf is er des Todes jestorben, der Schlag hat ihn jerührt, un mit uns is es immer rückwärts jejangen, obschon die Carline jearbeitet wie een Pferd, ick konnte des verdammte Saufen nich lassen. Nur wenn sie man so een kleenes Kind sieht, denn is se manchmal wie toll im Kopp und sieht nischt und hört nischt, wat um se her vorjeht.«

Der Kommissionär war aufmerksam geworden durch den letzten Umstand. »Ich möchte mich das Kleine doch wenigstens einmal anseh'n; vielleicht ist Deine Frau vernünftiger!«

»Wat woll'n Se denn eegentlich mit des Kleene machen! die Bernburgen wird een höllischen Lärm ufschlagen.«

»Narr! ich werd' des Kind doch nicht fressen. Aber es soll in eene jute Erziehung kommen, außerhalb Berlin, wo et gesunde Luft giebt. Du weeßt, deß bei de Berenburgen die Kinder doch alle sterben.«

Der Schuster nickte. »Des is wahr, aber des eene, des sie jetzt haben, des halten sie wie eene Prinzessin. Im Grunde, wenn Se man was zulegen wollten, und ich nischt zu riskieren habe, Sie sind man doch der Onkel, und die Carline is immer so rappelköppsch, wenn se des Kleene sieht!«

Der Kommissionär schenkte ein. »Ein letztes Wort, ich gebe Dir zwanzig Thaler – aber es bleibt unter uns! keen Mensch nicht erfährt eene Silbe davon, ooch Deine Frau nicht!«

»Zwanzig Thaler? Donnerwetter!«

»Bedenk, was Du Dir davon zu Jute thun kannst!«

»Un gleich?«

»Zehn auf der Stelle und zehne, wenn ich die Kleene habe!«

»Injeschlagen!«

Die würdigen Genossen drückten sich die Hand, der Kommissionär ließ noch eine Halbe kommen. Sie mußten das Gespräch unterbrechen, denn andere Gäste setzten sich an ihren Tisch, ein Kerl, der während des Tages mit seiner Chonte als blinder Leiermann die Häuser unsicher machte, während seine Begleiterin mit ihrem Gesang die Ohren malträtierte und Gelegenheit zum Stehlen ausspionierte, nebst einem blassen langen Kerl mit einem hochgewachsenen Mädchen von feinem aber schrecklich abgelebtem Gesicht, die in ihrem ganzen Wesen und in der abgenutzten, schäbig koketten Toilette eine gewisse Vornehmheit über diese Gesellschaft hinaus zu prätendieren schien.

»Bomben und Kanonen,« schrie der Orgeldreher, der eben so wenig blind war, wie er das geringste Recht auf den Invalidenrock hatte, den er trug. »Schnapps her, wir wollen lustig sein, der blasse Ede bezahlt's. Es lebe das Militär, meine Juste versteht sich darauf!«

»Ich bitte mich's aus, Vater, ich liebe nur die Kavallerie, mit dem Fußjelatsche habe ich mir nie einjelassen!«

»Jarde-Ulanen! Du wirst vornehm, Juste, und schlägst aus der Art. Wenn Deine Mutter ooch so gedacht hätte und von die Infanterie nischt wissen wollte, wärst Du nich uf der Welt!«

Die Dirne warf ihm einen verächtlichen Blick zu, der deutlich zeigte, wie sie über die Angelegenheit dachte. »Ich hätte Appetit auf was feines,« meinte sie. »Vater mag Kümmel drinken, sieh nach, Eduard, ob es vielleicht Limunade-jasöse jibt! Es erinnert mir immer an den Champagner!«

Die würdige Stiefmutter schnitt ein bitterböses Gesicht und murmelte etwas von fauler Prinzessin und vergangenen Zeiten, aber sie wagte nicht, ihrer sonst sehr freien Zunge den Zügel schießen zu lassen, um nicht um ihr Abendbrot zu kommen; denn darin verstand ihr Blinder keinen Spaß. Auch war der blasse Ede bereits aufgesprungen und mit einem »Jleich, Freilein Auguste« durch die Menge geschossen.

Die Dirne hatte sich auf dem Stuhl zurückgelehnt und fächelte sich Luft mit einem halbzerrissenen Taschentuch. »Es is so heiß hier und drückend; in der Musenhalle is es doch anders. Ich bin bloß dem Eduard zu Jefallen wieder mit hierher jekommen, er ist een so netter Mensch!«

»Und Kies hat er,« sagte der Alte. »Der Deifel weeß, woher, er ist en gekauter gewitzter. Bursche un nich so ne wittsche Hanne, dummer Tölpel. wie der Goldfuchs. Er muß eenen juten Masematten Diebstahl. jemacht haben.«

»Pfui, Vater, wie können Sie so reden!«

»Na was denn, mit Schnorren Betteln. wird er die Räder nicht verdient haben. Aber Bomben und Jranaten! wat jeht's mir an, der Ede berappt, und ick habe Hunger und will picken essen. und meine Frau ooch. Hierher, Oberkellner!«

Der laute Ruf zog außer dem unglücklichen Subjekt, das einen Garçon der Kneipe vorstellte, die Augen eines Suchenden auf die Gruppe, er trat eilig näher und streckte die Hand nach dem Mädchen aus.

»Guten Abend, Juste, ich suchte Dich schon lange.«

Der hinzugetretene war ein großer, kräftiger Bursche mit blassem, sinnigem Gesicht und rotem Haar. Er trug gewöhnliche Schiffskleidung, die aber so naß war, daß, wo er stand, sich um ihn ein Wasserfleck auf der schmutzigen Diele bildete und er in dieser heißen Atmosphäre förmlich dampfte.

»Juten Abend, Joldfuchs,« schrie der Orgeldreher, indem er dem andern statt des Mädchens die Hand schüttelte. »Wie jeht's? wat machst Du?«

Der Bursche zog seine Hand zurück und hielt sie aufs neue dem Mädchen hin.

»Na, wird's bald?«

Die Dirne drehte ihm verächtlich den Rücken. »Jeh Deiner Wege, ich will mit Dich nichts zu thun haben! Kommen Sie mir nich zu nah, Sie sind ja ganz Nassauer und verderben mir das Kleid. Sie können mir ohnehin kein anderes koofen, Herr Schultze!«

Die zarte doppelsinnige Anspielung trieb dem Kerl das Blut ins Gesicht, und er sah sich wild nach der Ursache des kalten Empfanges um. Die Madame Orgeldreher aber, die den Schiffer protegierte, winkte ihm bedeutsam mit den Augen und machte ihm Platz an ihrer Seite.

»Kommen Sie hierher, Herr Schultze, ick fürchte mir vor Ihr nasses Jewerbe nich! Herr Eduard kann sich dahin setzen.«

»Also der – aus dem Loche pfeift der Wind? Na warte – er soll mir in die Fäuste kommen! ich schlag' ihn windelweich!«

»Sie werden ihm gar nichts thun. Sie jrober, ungehobelter Mensch,« sagte das Mädchen mit blitzenden Augen.

»Das wollen wir sehen, Ulanenjuste!«

»Wenn Sie mich schimpfen wollen, kratz' ich Ihnen die Augen aus. Sie boshafter, schlechter Kerl, Sie! Herr Eduard is ein anständiger Mensch und kein Lump wie Sie, der immer verspricht und nichts hat. Ich werde doch noch umgehen können, mit wem ich will!«

»Ja Joldfuchs,« unterstützte der würdige Orgelspieler seine Tochter, »des is Jerechtigkeit. Die Juste is en freies Geschöpf, sie ernährt sich selber un zuweilen, wie Du siehst, ooch mir! Wir leben in die Zeit der Freiheit und die jekränkten Menschenrechte, trotz Wrangeln, mit dem ick bei Leipzig gefochten, – un ick als Vater un oller Kriejer fühle mir verpflichtet, vor ihre Unabhängigkeit zu sorgen!«

»Wenn's darauf ankommt,« sagte der Schiffer, indem er auf die Tasche schlug, »hier is Kies!«

Er griff in die Tasche und warf etwas auf den Tisch. Der helle, aus früheren Zeiten, als sie jung und frisch war, ihr vielleicht nicht unbekannte Klang, machte die zürnende Dame sich rasch umdrehen.

»Ein Fuchs! Goldstück. Wie kommst Du zu dem Gold?«

»Das kann Dir egal sein; wo der eine her ist, werden ihrer mehre zu finden sein! Du kannst bei Deinem Ede bleiben, wir wollen sehn, wer's länger macht, ich oder er!«

Die Dirne hatte bereits andere Segel aufgezogen, ihr verblühtes Gesicht war ganz Honig und Koketterie.

»Sie sind auch immer so ungestüm, Herr Schultze,« sagte sie mit schmachtendem Lächeln, »Sie müssen doch wissen, daß man Damen nich zu nahe kommt, wenn man so trieft, wie Sie!«

»Für wen ist's denn anders als für Dich,« sagte unwirsch der Kerl. »Ich bin ausgeglitten und ins Wasser gefallen, aber ich wollte nicht erst nach Hause gehen und andere Kleider anziehen. So hab' ich sie ausgerungen im Türkenkeller und bin hierher gekommen.«

»Das is hübsch von Dir, Wilhelm!«

Sie reichte ihm jetzt selbst die Hand, die er zögernd nahm. Der Orgeldreher und Vaterlandsretter von den Leipziger Gefilden, die er höchstens als herumziehender Strolch gesehen hatte, war ganz Respekt geworden bei dem Anblick des Goldstücks, mit dem der Rotkopf jetzt prahlerisch auf dem Tisch knippte und hantierte.

»Es is ooch wahr, Schiffer-Wilhelm is en janz anderer Kerl, – ick lobe mir den Wilhelm!«

Die Ulanenjuste hatte ihre freundlichsten Augen gemacht. »Nun, wie ist es, Herr Schultze? sind Sie noch böse.«

Auch die Frau Orgeldreherin half, und so bestürmt konnte der ungeschlachte Gesell nicht länger widerstehen. Es wurde volle Versöhnung geschlossen, und er rief nach dem Wirt und dem Kellner, um das beste zu bestellen. Ohnehin blieb sein Rival aus. Ob er ihn etwa von ferne gesehen und sich gescheut hatte, mit ihm anzubinden?

Das Rätsel sollte sich bald auf andere Weise lösen.

Eine dunkle Gestalt in einem langen Oberrock strich an der Gesellschaft vorüber und beugte sich zum Schiffer.

»Dibbre Sprich. nicht so laut, Goldfuchs, und mach kein Geseyreß Unnützes Geprahle. mit Deiner Mesumme,« Geld. flüsterte der Mann. »Die Greiserei Kriminalpolizei. ist vorn in der Stube und baldowert Spioniert. herum.«

Der Rote wurde totenbleich, er fuhr unwillkürlich mit der Hand nach der Kehle.

»Was ist's? was wollen Sie von mir? Ich kann nichts für das Unglück!« stotterte er.

»Von Dir vorläufig nichts, sie hat eben den blassen Ede abgefaßt, Verhaftet. Du brauchst nicht zu bleffen. Erschrecken. Ich weiß nicht, was er gemacht hat, aber hierher wird er so bald nicht wiederkommen, denk' ich!«

Der Schiffer hatte sich ermannt, als der erste Schrecken vorüber war, und er den Warner erkannte. »Schwarzer Schmul, der Teufel soll mich holen, wenn Du mich nicht erschreckt hast!«

Der andere sah ihn mit einem bedeutsamen Blick an. »Wirst wohl haben Ursach' dazu! komm hierher, ich hab' mit Dir zu dibbern!«

Der Goldfuchs erhob sich gehorsam. Die Nachricht, daß die Polizei im Lokale sei und bereits einen abgefaßt habe, hatte sich mit Blitzesschnelle in der ganzen Gesellschaft verbreitet und verfehlte ihren Eindruck nicht. Der wüste Lärm hörte sofort auf, die falsche Muddelei Kartenspiel. wurde eilig versteckt, jeder befleißigte sich eines so anständigen und unschuldigen Aussehens, wie irgend möglich.

Die Gefahr ging indes glücklich vorüber. Die Polizei schien es diesmal bloß auf den einen abgesehen zu haben, und der Kriminalkommissar, ein rund und rot aussehender Mann mit blitzenden, schwarzen Augen, begnügte sich, bloß den Kopf in den Saal zu stecken und die Gesellschaft mit einem langen prüfenden Blick zu beehren. In diesem Blick lagen verschiedene Nüancen, für den einen ein gewisses trauliches Verständnis, wie zwischen alten Bekannten, die sich baldigst wiedersehen werden, für den andern Warnung und Drohung; ein dritter erhielt sogar ein bedeutsames Augenzwinkern. Dennoch war es allen, selbst den Frechsten und Übermütigsten, wie eine Last von der Brust, als der Kopf wieder verschwand, und die Nachricht kam, daß die Polizei das Lokal wieder verlassen habe.

Desto toller und wüster brach jetzt der Jubel von neuem los, und alles kehrte mit doppeltem Eifer zu den früheren Beschäftigungen zurück, dem Tanzen, Kartenspielen, Essen und Trinken und Karessieren.

Der schwarze Schmul hatte während der Scene unbeachtet den jungen Schiffer in eine Ecke gezogen. »Was hast Du gemacht? Du bist ganz naß? woher hast Du die Mesumme?«

»Ihr habt's ja selber gesehen,« sagte der Bursche trotzig, »das ganze Geld für die Kluft hat der Alte eingesteckt und die Hälfte von dem Fahrgeld dazu, das der Franzose gegeben. Auf mein Hellig Anteil. kommt immer das wenigste.«

»Aber Deine Kleider sind naß! wo bist Du gewesen, was ist geschehen? ich will es wissen.«

»Na, was wird geschehen sein, freilich ein Unglück. Der Kahn ist angestoßen und ist umgeschlagen.«

»Aber das Weib, die Dirne, die ich vertraut Euch an, was ist mit ihr?«

»Na, was wird mit ihr sein? Wenn sie nich hat schwimmen können, wird sie wohl verdrunken sein!«

»Red' die Wahrheit, Goldfuchs, der schwarze Schmul assert Verrät. nichts.«

»'s ist nix zu assern dabei,« sagte ärgerlich der Kerl. »Wir hatten genug mit uns selber zu thun, der Alte is auf der einen Seite rausgekommen, ich auf der andern. Das schöne Geld liegt mit ihr auf dem Grunde – wer weiß, wo sie wieder raufkommt!«

Der Jude sah ihn mit einem scharfen Blick an. »Thut Ihr doch sein ein paar Gameln, Dummköpfe. Du und Deine Tate. Es war ein Vogel, wo wir hätten verdienen können alle viel Mepaie. Aber es ist vorbei und es geht mich nicht an, wie is gekommen die Kalle ins Wasser. Jetzt hör'!«

»Was ist's!«

»Da drinnen sind sie am Werk, zu beraten en Frankeschen Masematten, der Klitscher-Carl, der Starke und das Schiefmaul. Ich will nischt haben mit ihnen zu thun, aber ich will wissen, was geschieht. Du mußt Dich machen an sie und baldowern, welchen Masematten sie stehen Einen Diebstahl vorhaben. haben, Du sollst es nischt thun machimmet, wenn Du mir Schuwe stehst, Nachricht giebst. Du kannst sie brennen, wenn's geschehen, und ich will nicht gesehen haben, daß die Kalle ist gestiegen in den Kahn.«

Der Goldfuchs schnitt zwar ein finsteres Gesicht, daß er so bald in seinen Bewerbungen um die Ulanenguste gestört worden, aber er wußte, daß er sich in den Händen des Juden befand, den alle fürchteten, während ihm keiner recht traute, weil er mit allen Personen und Vorgängen vertraut war, ihnen Ratschläge gab, die Unterbringung des Raubes vermittelte, obschon niemand recht wußte, wohin er ging und woher er kam, und obschon er jeder persönlichen Teilnahme an den verbrecherischen Unternehmungen sich enthielt. Überdies hoffte der Goldfuchs bei der Kabruse Die Gesellschaft von Dieben, die sich zur Ausführung eines Diebstahls bildet. selbst etwas zu verdienen und war daher bereit, sich ihm anzuschließen, wenn man ihn haben wollte; denn der Louisdor des Franzosen, den er als Anteil für die nächtliche Fahrt erhalten, konnte nicht lange aushalten, und die schwere Börse der Unglücklichen, um derentwillen er sich zum Mörder gemacht, lag mit ihr auf dem Grunde des Kanals.

Die Ulanenguste und ihre Gesellschaft trösteten sich einstweilen mit Speise und Trank und hin und wieder mit einem Galopp über seine Abwesenheit, während der schwarze Schmul unter der Gesellschaft umherstrich und bald hier, bald da mit einem und dem andern verkehrte. Auch war kaum eine Viertelstunde vergangen, als der junge Schiffer wieder erschien und seinem Freunde einen Wink gab.

Dieser strich an ihm vorbei. »Aufgepaßt!« sagte der Goldfuchs. »Es ist ein gut Geschäft, und ich soll Schmiere Wache stehen. stehen. In einer halben Stunde geht's los.«

»Aber wo?«

»Kennt Ihr den Samuel Jonas, den Pfandleiher?«

»In der Jakobstraße?«

»Ja. Der ist's! Der alte Kerl soll teufelmäßig Mepaye haben und ist so geizig, wie een Hund auf den Knochen.«

»Nehmt Euch in acht! ich hab's immer abgeraten, mit ihm sich einzulassen. Er ist vorsichtig und hat's mit den Pallopeten Polizei. gut.«

»Eben deshalb! Der rote Schuft hat den Schwindel-Müller verraten, als er ihm das goldene Halsband zum Verkauf anbot. Jetzt soll er blechen.«

»Aber ist der Masematten gut baldowert?«

»Der Klitscher-Carl hat's ausbaldowert, er is eben davon gekommen. Nichts als Weiber im Hause und oben Jesellschaft. Der einzige Mann noch im Hause, der versoff'ne Schuster, sitzt dort am Tisch und ist vor morgens nicht wegzubringen, wenn er zu saufen hat!«

»Na – was thut's mir! Gut Glück! aber nehmt Euch in acht; ich mag doch nischt zu thun haben mit der Geschicht'!«

Der Goldfuchs trat wieder zu seiner Gesellschaft, der schwarze Schmul trieb sich noch einige Zeit im Lokal umher, dann ging er durch die hintere Ausgangsthür in den kleinen Hof, der, weil dort ein alter Kastanienbaum stand, im Sommer als Zech- und Erholungsgarten für die gemischte Gesellschaft des Schmortopfes galt.


Es war eine Stunde später, etwa ein Uhr nachts, der Mond untergegangen und die Straße dunkel und schwarz, denn der Wohllöbliche Magistrat sparte damals noch das Gas, wenn irgend Mondschein im Kalender stand, auch wenn er nur wenige Stunden des Abends dauerte.

Bei der Justizrätin war der Matratzenball noch im Gang, auch im Schmortopf amüsierte man sich nach Kräften. Nur die Arbeiter, die Lasttiere der Gesellschaft, mit ihren Frauen und Töchtern, für die sie keine andere Erholung haben, hatten sich zum Teil entfernt; um 6 Uhr Morgens beginnt ja das schwere Tageswerk, und 10 Minuten zu spät kostet einen Vierteltag des Lohns, in vielen Fabriken sogar den halben.

Am Arm des Kommissionärs, der bei dem Trinken seine volle Ruhe und Besonnenheit bewahrt, schwankte der mehr als halbtrunkene Schuster seinem Hause zu – unter dem Vorwand, ihn freundschaftlich zu geleiten, konnte Herr Franz Günther unbemerkt ins Haus kommen, und wenigstens mit der Gelegenheit sich bekannt machen. Vielleicht auch, daß die Schusterfrau, die Kindesmörderin, gewonnen oder entfernt werden konnte. Des Mannes war er sicher.

Das Haus war verschlossen, aber der Schuster hatte einen Schlüssel, und sein würdiger Freund schloß auf. Der Flur war stockfinster, aber aus dem obern Stock schallten die muntern Töne eines Klaviers, Lachen und Gläserklingen.

Bei dem Trödler war es still, finster und still.

Herr Günther ließ vorsorglich die Hausthür angelehnt, für jede Eventualität.

In seinem Hausrevier war der Schuster zu Hause, jeder Schritt und Tritt ihm wohlbekannt, er hatte alles so zu sagen am Griff, trotz seiner Trunkenheit; hier machte er den Führer.

Bald war das Paar an der Thür der jämmerlichen Wohnung im Erdgeschoß des Hinterhauses, ein leises Weinen von Kinderstimmen ließ sich deutlich vernehmen.

»Weeß Gott!« sagte der Schuster, »die Würmer sind wirklich da. Wenn wir nur meine Frau wegkriejen könnten! ick werde mir krank stellen und sie in die Apotheke schicken. He, Carline!«

Er begann kläglich zu stöhnen, aber niemand antwortete.

»Na wat is denn das? Sie is doch sonst immer uf dem Posten. Vielleicht hat sie ihren Starrkrampf, oder sie is gar nich da!«

»Das wäre günstig für uns!«

»So muß et sind! Ick hätt' mir's gleich denken können, weil die Kleenen schrieen. Sie kann das Kinderjeweine durchaus nich vertragen.«

»Hast Du den Schlüssel?«

»Nee, sie macht immer selber auf, wenn ick kloppe. Aber ick weeß, wie man die Thür offen macht, der rote Jude, der schäbige Filz, läßt nichts nich machen an dem Schloß, er sagt, et wäre jut jenug für arme Leute, bei uns wäre doch nischt zu stehlen, un des is wahr!«

»Wer weiß! Aber still! hörtest Du nichts?«

Es kam wie ein leichtes Geräusch aus dem Vorderhaus, wie das leise Öffnen einer Thür, wie flüsternde Stimmen, dann, als lausche jemand nach dem Hofe hinaus.

»Ach, des is nix! des is von der Justizrätin. Sie werden eenen rauslassen. Et kümmert uns nichts.«

Er hatte das Loch gefunden, durch welches er das Schloß öffnen konnte; gleich darauf tappten sie in die Stube. Es war wirklich das leise Weinen eines Kindes, das sie draußen gehört.

»Mach' Licht!«

Der Schuhflicker suchte ein Schwefelholz und zündete die Lampe an. Dann sah er sich überall in der ärmlichen Stube um.

»Die Carline is richtig nich da!«

Auf dem Bett der Frau lagen zwei Kinder, das eine war erwacht und weinte leise, das andere schlief ruhig fort.

Der Kommissionär war an das Bett getreten. »Welches ist denn der Male ihr Kind? Die Bälger seh'n sich alle so ähnlich, wenn sie klein sind, daß man sie nicht unterscheiden kann!«

Der Schuster kratzte sich hinter den Ohren und sah sehr verlegen drein.

»Ja, wenn ick't man selber wüßte!«

»Verdammt, was bist Du auch für ein Tölpel. Die Sache ist so leicht zu haben und nun wie ein Ochse am Berge steh'n zu müssen!«

Er prüfte sorgfältig die Kleider und Wäsche der Kleinen, dabei erwachte auch das andere Kind und sah ihn mit den hellen blauen Augen an.

»Des muß es sind, des sind des Leutnants seine Oogen. Gieb man her!«

»Aber die Carline …«

»Dummkopf! Du hast Dein Geld! laß' die Thür offen und komm erst zurück, wenn Dein Weib wieder da ist, dann weißt Du von nichts!«

Er hatte das kleine Wesen eingewickelt in die alte Decke, auf der es lag, und nahm es auf seinen Arm. »Wenn der Balg nur nicht schreit unterwegs, daß die Nachtwächter mir nachlaufen. Geh' voran, Schuster, und mach' die Thür auf. Lösch das Licht aus.«

Sein würdiger Kumpan gehorchte.

Sie waren bereits an der Thür und schlichen leise über den Hof, als ein Geräusch sie stutzen machte.

Plötzlich kam ein lauter Hilferuf aus dem Vorderhaus, gleich darauf fiel ein Schuß –

Das Küchenfenster in der Wohnung des Juden wurde aufgerissen, ein Mann sprang heraus und stürzte in den dunklen Flur.

»Fort! wir sind entdeckt!«

Sein Gefährte, der im Flur Wache gestanden, faßte ihn.

»Was ist gescheh'n, Klitscher-Carl?«

»Nachher! ich glaub', der Starke ist erschossen, oder er macht dem Juden den Garaus. Frag' nicht, das verdammte Knallding wird uns die Leute auf den Hals hetzen. Mach', daß wir fortkommen.«

Sie waren bereits an der Hausthür und rissen sie auf. »Du rechts, ich links!«

Aber sie kamen nicht dazu. An der geöffneten Thür prallten sie zurück.

»Halt!«

»Verflucht! die Pallopeten!«

Den Klitscher-Carl hatte ein Schutzmann bereits am Kragen, sein Gefährte, das Schiefmaul, wehrte sich wütend, aber es half ihm nichts, die kräftigen Hände der Konstabler brachten ihn bald zur Ruhe, und als er sich noch immer nicht geben wollte, wurden ihm die Arme auf den Rücken geschnürt. Draußen vor der Thür, von zwei Dienern des Gesetzes bewacht, stand bereits der Goldfuchs, und um die Gruppe sammelten sich nächtliche Schwärmer, die aus dem Schmortopf und ähnlichen Lokalen eben des Weges kamen und mit jenem merkwürdigen Instinkt des Berliners, zu wittern, wo »etwas los« ist, neugierig herbeieilten.

»Lassen Sie niemand ein- oder auspassieren,« befahl der Kriminal-Kommissär. »Der Schuß ist bei Herrn Jonas gefallen, zwei Mann mit mir, halten Sie Ihre Waffen bereit.«

Mit dem Schuß hatte im obern Stock auch das Klavierspiel aufgehört, auf der Treppe, die mit einer Gitterthür abgesperrt war, erschien Tante Charlotte mit Licht und frug mürrisch, was denn geschehen.

Das war der Augenblick, in dem der Kriminal-Kommissär die Wohnung des Trödlers betreten wollte, und in dem ihm der Jude auf der Schwelle entgegen kam, während hinter ihm die Gestalt Rebeccas sichtbar wurde –


Die famose Soirée bei der Justizrätin v. Wengern nahte ihrem Ende.

Auf den Gesichtern der matte Zug des Genusses, um die Augen jene Schatten süßer Erschöpfung, die Brust noch außer Atem, hoch bewegt vom Tanz.

Einzelne Gruppen saßen und lagen auf den Diwans, mehr noch hatten sich jetzt um den Spieltisch gesammelt; die priapische Toilette begann den gewöhnlichen Erfordernissen des Heimwegs Platz zu machen.

Tante Charlotte und die Justizrätin waren beschäftigt, den Damen zu helfen, und holten aus den Seitenzimmern die Korsetts, Roben und Shawls, auch die Kavaliere waren nicht müßig, die meisten aber am Spieltisch, wo das hohe Spiel bis zum letzten Augenblick fortdauerte.

»Werden Sie an mich denken, süße Aurelie?«

» Sans doute! haben Sie mich nicht engagiert auf den ersten Contretanz, wenn Sie wieder zurück sind?«

»Aber vielleicht werd' ich ihn mit einer andern Schönheit tanzen müssen!«

»Ungetreuer! mit welcher denn?«

»Mit der Knochenbraut. Vielleicht lieg' ich am nächsten Morgen schon tot oder schwer verwundet auf dem Schlachtfeld!«

» Fi donc! welche garstige Gedanken nach dem Vergnügen. Ich werde die ganze Nacht abscheulich träumen, so müde bin ich. Sie sind recht boshaft, Fritz!«

Der junge Mann wandte sich ziemlich verletzt ab. So herzlos und egoistisch er selbst war, so berührte ihn doch das geringe Gefühl, das er hier fand, schmerzlich.

»Es wird so arg nicht sein!« sagte die Dame, vor dem Spiegel das Pariser Korsett schließend. »Aber könnten Sie sich nicht krank melden, Sie wissen, mein Mann hat Verbindungen, ich verliere nicht gern meinen besten Tänzer!«

»Ich bitte, ihn nicht meinetwegen zu inkommodieren. Ich werde bestimmt morgen in Hamburg sein und hoffe, vierundzwanzig Stunden nachher vor dem Feind. Man erwartet schon in den nächsten Tagen eine Schlacht!«

Die Dame klatschte in die Hände. »Ach, was das schön sein wird, von Ihren Heldenthaten zu lesen! Was Sie martialisch aussehen werden, wenn Sie zurückkommen, natürlich als Kapitän, oder gar als Major. Wissen Sie, Herzchen, Ihr Teint als Blonder ist ohnehin etwas zu zart, setzen Sie ihn nur recht tüchtig der Sonne aus – mein Vetter Karl rieb sich ihn – ich weiß nicht gleich, mit was – und stellte sich alle Tage eine Stunde in die Sonne. Aber die Hände hatte er sorgfältig in doppelten Handschuhen.«

Er war bereits fort am Spieltisch. »Lassen Sie uns aufbrechen, Kommissionsrat – ich muß in der That noch ein paar Stunden schlafen, und um 7 Uhr ist die Abfahrt bestimmt!«

»Sie können noch ein Spielchen wagen, Bester – einer der Herren teilte eben mit, daß gestern Abend noch Contreordre gekommen, Ihr Zug geht erst um 11 Uhr!«

Der Leutnant von Röbel hatte bereits bedeutend verloren und selbst die Summe schon angegriffen, die er zur Bezahlung der beiden Wechsel am Morgen brauchte. Er schämte sich jedoch, nochmals sich an seinen Begleiter zu wenden und wollte lieber die Hilfe des Wucherers in Anspruch nehmen.

Während der Kommissionsrat dem Spiele zusah und die Gesellschaft sich in dem Gemach versammelte, schlich er ins Entree, nachdem er der Aufwärterin einen Wink gegeben.

Sie ließ nicht auf sich warten. »Was ist's denn, was giebt's?«

»Ist der Samuel Jonas zu sprechen?«

»Es sind mehrere unten gewesen, aber er hat keinem die Thür geöffnet. Jetzt muß er aber zu Hause sein, denn er hat die Rebekka herausgeschickt.«

»Wo ist die Kleine?«

»Hier, gnädiger Herr!«

Die kleine üppige Judendirne mit den kohlschwarzen blitzenden Augen knixte aus dem Winkel herbei, wo sie gesessen. »Machen Sie's mit ihr ab,« sagte die Aufwärterin, »ich habe drin zu thun. Es ist Zeit, daß die Herrschaften gehen, und unsereins auch zur Ruhe kommt.«

Der Leutnant war ganz zufrieden, mit dem hübschen Judenmädchen allein zu bleiben, die trefflich ihren Vorteil verstand und stets zur Hand war, wenn die Gesellschaft aufbrach, um von dem mehr oder weniger vom Champagner angeregten Kavalieren ein Geschenk zu erhaschen. Die Münze, die sie dafür wiederzahlte, bestand jedoch nur in Worten.

Der Leutnant hatte sie um die Taille gefaßt. »Hier ist ein Thaler, Kind, ich muß den alten Gauner, Deinen Onkel oder wie Du ihn nennst, sprechen!«

»Pfui, Herr Baron! Wie können Sie schimpfen meinen Onkel? Was hat er Ihnen gethan?«

»Er hat Dich vor allen Dingen zur Nichte, das ist ein schweres Verbrechen an einem so hübschen runden Mädchen.«

»Ach, gehen Sie doch!« sie wehrte ihn, sich zierend, ab, als er Miene machte, sich in der That von der Rundung dieser Formen zu überzeugen. »Was würden die schönen Damen sagen da drinnen?«

»Daß ich guten Geschmack habe, weiter nichts! Aber nun mach' schnell, ich muß Deinen Onkel sprechen, eh' ich geh'!«

»Es wird doch nicht können geschehen. Er hat mich doch geschickt herauf und mir verboten, zu kommen herunter. Es ist noch nicht lange her, daß er ist gekommen zu Hause.«

Offenbar hatte das ungewöhnliche Verbot die Neugier des sonst über die Angelegenheiten ihres angeblichen Verwandten sehr diskreten Mädchens erregt. Sie widerstand daher auch nicht lange dem Drängen und den Versprechungen des jungen Herrn.

Die hübsche Rebekka willigte ein, den Offizier auf der dunklen Hintertreppe, welche außer der vordern die beiden Stockwerke verband und durch das Magazin zur Wohnung des Juden führte, hinunter zu führen.

Der Verkehr, welchen die Besucher der pikanten Bälle der Justizrätin hin und wieder mit dem alten Trödler unterhielten, wurde gewöhnlich auf diesem Wege abgemacht. Deshalb war auch die sonst verschlossene Thür, die aus der Küche zur Stiege führte, jetzt geöffnet, und das Mädchen auf demselben Wege nach oben gekommen.

Auf der Mitte der dunklen Treppe umfaßte der Leutnant die Kleine und sie mußte sich trotz alles Sträubens einige Beweise der praktischen Verehrung ihrer Schönheit gefallen lassen, bis sie zuletzt mit Nägeln und Zähnen, wie eine junge Katze, ihn zwang, sie los zu lassen.

»Pfui, Rebekka! wer wird so boshaft sein!«

»Lassen Sie mich gehen, der Onkel jagt mich fort, wenn er hat den geringsten Verdacht. Hörten Sie nichts?«

Sie blieb lauschend auf der untersten Stufe, schon in dem dicht mit allerlei Kram gefüllten Raum stehen.

»Ich höre nichts und sehe nichts, aber desto mehr fühle ich! Laß mir Deine Hand, sonst find' ich mich in dem verfluchten Dunkel nicht zurecht.«

»Es ist jemand beim Onkel; ich höre reden. Bleiben Sie hier, ich werde holen Licht und fragen den Onkel, ob er Sie will sprechen.«

Sie entschlüpfte dem Offizier und öffnete leise eine Thür.

Gleich darauf folgte der schon erwähnte Aufschrei, dann der Schuß!


Eine halbe Stunde vorher, ehe sich diese Scenen ereigneten, hatte eine tief in einen großen Rock verhüllte Gestalt leise das Haus des Pfandleihers aufgeschlossen, dann den Eingang zur Wohnung desselben und war eingetreten.

Etwa zehn Minuten nachher rief der Hausherr seine Nichte Rebekka und schickte sie, wie bereits erwähnt, über die Hintertreppe hinauf nach dem ersten Stock mit dem Auftrag, dort zu bleiben und ihn nicht zu stören.

Die sonst gebückte Gestalt des Juden war jetzt, wenn auch nicht groß, doch stark kräftig, sein sonst mit spärlichem rotem Haar bedeckter Schädel aber ganz kahl rasiert.

In wenig Augenblicken erfolgte eine merkwürdige Veränderung.

Der Besitzer der Wohnung öffnete eine Schublade und nahm eine überaus fein und fast unkennbar gearbeitete Haartour heraus. Diese zog er vor dem Spiegel über den Kopf.

Die Tour imitierte täuschend die Kopfhaut mit spärlichem rotem Haar.

Zugleich mit seinem Hauptschmuck änderte sich wie auf einen Zauberschlag die ganze Erscheinung des Mannes, die ganze Figur des Herrn Jonas sank zusammen, krümmte sich und wurde mager. Er mußte selbst darüber lächeln vor dem Spiegel. Nur zuweilen richtete sich der Körper aus der gebückten Stellung kräftiger und muskulöser auf, und über das Gesicht flog ein Zug von Spott und Energie.

Der Jude rieb sich vergnügt die Hände. »Soll mir Gott helfen,« murmelte er, indem er seinen Rock, Mütze und andere Dinge sorgfältig fortlegte, »sie laufen in ihr Unglück, die witschen Hammel. Dem Starken hab' ich's längst zugedacht, ich hab' zu machen mit ihm eine alte Rechnung. Er ist gekommen mir schon sehr oft in den Weg. Um den Klitscher Karl thut es mir leid, seine Zeit ist noch nicht da! Aber sie sind gewarnt, und mein Ansehen wird steigen immer mehr. Der Goldfuchs hat's verdient wegen dem Streich, den er mir hat gespielt! Es wird gut sein für ihn, wenn er kommt für einige Zeit ins Kühle!« In das Gefängnis.

Während dieses gemurmelten Selbstgesprächs hatte der Jude verschiedene Geschäfte vorgenommen. Er probierte sorgfältig die Schlösser an den verschiedenen Behältnissen im Zimmer, namentlich an einer großen eisernen Kiste und versteckte die Schlüssel dann in einem Winkel, wo sie unmöglich jemand anders, als er selbst, finden konnte. Das Zimmer, in dem er sich befand, und das mit einem vorn daran stoßenden und einem kleinen Entree den Teil der Wohnung nach der Straße hinaus bildete, während die Küche, ein Stübchen des Mädchens und das zum Hintergebäude führende Magazin die andere Hälfte ausmachten, war schmutzig und mit allerlei Sachen überfüllt. Verschiedene Kleidungsstücke, die eben so gut Pfandstücke sein mochten, wie sie zu Verkleidungen dienen konnten, hingen zwischen alten, zum Teil wertvollen Ölgemälden und hundert anderen Gegenständen umher. An sorgfältig mit Läden, die inwendig mit Eisenblech beschlagen waren, verwahrten Fenstern stand ein Pult mit großen Büchern und vielen Skripturen. Hinter einem Vorhang von grüner Serge befand sich das Bett des Pfandleihers.

Der Inhaber der Wohnung war an das Pult getreten, hatte es aufgeklappt und zwei Gegenstände herausgenommen, die bei dem Schein der Lampe sich als ein Paar Terzerole und eine kleine Laterne von der Art erwiesen, wie sie die Diebe und die Londoner Policemen zu brauchen pflegen.

Er sah die Terzerole sorgfältig nach, ließ den Hahn spielen und steckte frische Zündhütchen auf, dann steckte er das eine zu sich, das andere legte er mit gespanntem Hahn hinter die Gardine auf das Bett.

In gleicher Weise setzte er die Laterne in Stand.

»Der Meyer hat recht,« sagte er – »ich weiß nicht, für was ich mich aussetz' all der Müh' und Gefahr! Ich kann's doch haben so leicht wie er und will genießen mein Leben vor mir und meine Kinder. Warum sollt' ich nich aach können werden a angesehener Mann in Berlin? Hab' ich nicht gearbeitet genug? Die Polizei is mir gut und wird mir legen kein Hindernis mehr in den Weg! Was geschehen, ist vergessen, ich hab gemacht vornehme Bekanntschaften genug, sie werden brauchen mein Geld und geben noch bessern Zins, wenn ich hab' Kutsch und Pferd.«

Sein Blick fiel jetzt auf eine wertvolle Standuhr von vergoldeter Bronze, die, ein Kauf- oder Pfandstück, auf einem Schrank stand.

»Soll mer Gott! es is Zeit – sie müssen am Werk sein in fünf Minuten!«

Er zündete eilig das Wachslicht in der Diebeslaterne an und versteckte sie hinter dem Bett. Dann löschte er die Lampe aus, obschon bei dem Verschluß der Fenster, wie er oft genug selbst geprüft, auch nicht der geringste Schein von außen bemerkt werden konnte.

Als er dies gethan, öffnete er leise die mit einem alten Teppich überhangene Seitenthür, die nach dem Magazin und so zu der Hintertreppe nach dem ersten Stock führte.

»Es wird gut sein für jeden Fall. Das Rebeckche wird offen gelassen haben die Thür, wie ich sie geheißen. Es sind oben Leute genug, wenn die Greiferei kommt zu spät. Was ich bin ä Narr, mich so zu geben in die Gefahr. Aber was thut man nicht für Frau und Kind!«

Dann schlich er nach dem vordern Zimmer und lauschte. Er stand kaum an der Thür, als er in das Schloß der Hausthür einen Schlüssel stecken und diese ziemlich geräuschvoll sich öffnen hörte.

»Was ist das? – was machen die Gamels solchen Lärm? Können sie nicht besser machen en Masematten?«

Sein scharfes Ohr vernahm, daß die Thür von innen nicht wieder verschlossen wurde. Er hörte leise Tritte und Geflüster. Anfangs glaubte er, es sei noch einer jener späten ihm wohlbekannten Besuche bei den Soireen der Justizrätin, dann aber hörte er die Hofthür gehen.

»Was ist das? Schmul, sei auf Deiner Hut!«

Wieder lauschte er. Es verstrichen etwa fünf Minuten, dann hörte er nochmals die Hausthür sich leise öffnen.

Ein leises Geflüster im Flur, dann schob sich ein Schlüssel in das Schloß des Entrees und wurde ohne Geräusch umgedreht.

Der Pfandleiher rieb sich ganz vergnügt die Hände, es war, als wäre mit der Erwartung eine Last von seiner Brust genommen; mit dem Augenblick der Entscheidung war er ganz wieder der Alte und beobachtete mit dem Interesse eines Mannes von Fach die Manipulationen des Einbruchs.

»Soll mer Gott! sie haben richtig genommen den Abdruck und der Tantel Nachschlüssel. ist gemacht vortrefflich. Ich erkenn' die Hand vom Klitscher-Karl. Die Schränker haben ihr Porum in Ordnung!«

Das Doppelschloß der Thür wurde rasch geöffnet; zum eigenen Erstaunen der Diebe fanden sie sie nicht mit einem innern Riegel verwahrt.

Der Jude hörte sie jetzt deutlich untereinander flüstern.

»Weißt Du gewiß, daß der Freier Der zu Bestehlende. ist gereist fort?«

»Ich hab' ihn gesehen auf dem niederschlesischen Bahnhof einsteigen heute Mittag in den Waggon. Er geht alle Monat auf zwei Tage nach dem Posenschen, ich hab' es ausbaldowert.«

»Dann hätt' ich ihn klüger gedacht, als die leichtsinnige Chonte hier allein zu lassen. Sie hat die Thür nicht verriegelt. Aber Vorsicht ist gut. Das Schiefmaul soll im Flur Schmiere Wache. stehen, wir werden allein fertig.«

In der That blieb einer der Diebe außerhalb der geöffneten Thür stehen, die beiden andern traten in das kleine Entree.

Der Jude hörte sie an der innern Thür arbeiten und untersuchen; keiner der Tanteln oder Dietriche wollte anfangs schließen.

»Sie werden haben vergebliche Müh',« flüsterte Jonas, »sie können sich denken, daß das Schloß ist gut, warum nehmen sie nicht die Säge und den Krummkopf?«

Aber das Porum oder Schränkzeug der Diebe war in der That vortrefflich. Samuel Jonas hörte mit Erstaunen, daß wirklich einer der falschen Schlüssel in das künstliche Schloß griff und den Riegel zurückzog. Die Thür wurde jetzt noch oben und unten durch einen Riegel gehalten.

Die Diebe hatten sich bald von der Stelle überzeugt, wo diese saßen.

»Gieb den Bohrer!«

Mit einer kaum glaublichen Schnelligkeit war der Centrumsbohrer oben angesetzt, während unten der Klitscher-Karl mit einem kleineren arbeitete. Dazu bewegten sich die wohl eingeölten Werkzeuge fast ohne alles Geräusch, so daß kaum der Besitzer der Wohnung, der doch den Einbruch mit allem Interesse beobachtete, das Geräusch hörte.

Im Nu – fast in geringerer Zeit, als wir all die Manipulationen hier erzählen können – waren im Viereck vier Löcher um die Stelle gebohrt, wo die Krampe des Riegels festsaß.

Dann arbeitete mit gleichem Geschick, gleichem Erfolg und gleicher Geräuschlosigkeit unten die Stichsäge, oben, wo im Innern ein Eisenblech angebracht war, die Uhrfeder.

Herr Jonas rieb sich nicht mehr die Hände; die Situation begann ernst zu werden. Dennoch horchte er noch immer mit großem Interesse.

»Soll mer Gott! ich erkenn' ihn am Schritt. Ist er doch gewesen damals ein junger, aber gekauter Bursch, als wir zusammen machten den großen Masematten in der Akademie. Aber es wär' Zeit, daß kommen die Pallopeten, sonst muß ich selber sehen, wie ich mir helf!«

Furcht hatte er nicht, er verließ sich auf seine Waffen und wußte, daß ihm jeden Augenblick Beistand kommen mußte.

Jetzt knirschte es leise, wie ein Stück brechendes Holz; das obere Thürstück um den Riegel war ausgeschnitten, und wurde mit dem Meißel aufgelockert, dann sorgfältig ausgedrückt und mit dem Riegel zurückgezogen.

Einige Augenblicke lauschten die Diebe, ob das geringe Geräusch Beachtung gefunden, dann arbeiteten sie hastig weiter an dem untern Riegel.

Herr Samuel Jonas hatte sich in das zweite Zimmer zurückgezogen.

Nach wenig Momenten war auch der zweite Riegel beseitigt.

Die Thür ging auf, die beiden Diebe traten ein.

Samuel Jonas hörte sie flüstern; er war hinter den Vorhang seines Bettes getreten und hatte eine Stellung eingenommen, wo er ohne genaue Nachforschung nicht entdeckt werden konnte.

Aus dem vordern Zimmer ging links eine Seitenthür zur Küche. Der Starke und der Klitscher-Karl, nachdem sie wieder einige Augenblicke gelauscht, zündeten ein Streichholz an und dann das mitgebrachte Ende von Wachslicht.

Das Zimmer war jetzt erhellt, sie sahen sich überall um.

»Der Schrank mit der Mesumme Geld. wird da drinnen sein,« sagte der Starke. »Ich werde zuseh'n, thu Du's indes in der Küche und hier nach dem Silberzeug – dem Freier Der Befohlene. kann es nicht fehlen daran und paß auf, daß uns die Chonte nicht überrascht.«

Auf den Zehen schlich er sich nach der Thür der guten Stube, der Klitscher-Karl öffnete unterdes die Küchenthür und untersuchte dort die Schränke.

Der Starke, so genannt wegen seiner großen körperlichen Kraft, ein Kerl in den dreißiger Jahren, steckte spähend den Kopf in das Schlaf- und Arbeitszimmer, dann trat er ein.

Keine Spur einer Gefahr.

Seine Augen funkelten, dort in der Ecke stand der massive Geldkasten und neben ihm befand sich das Pult.

Dennoch schlich er zuerst, um sich zu überzeugen, zu dem Bett und lüftete den Vorhang.

Er war so nahe der Mündung des Terzerols, daß er bei der geringsten weiteren Bewegung hätte daran stoßen müssen.

Das Bett war leer, mit Kleidern und Sachen bedeckt.

Der Dieb trat beruhigt zurück; man konnte den Masematten jetzt in aller Bequemlichkeit ausführen.

Er zündete mit seinem Wachsstumpf die Lampe auf dem Tisch wieder an und sah sich dann habgierig in der Stube um, was er etwa an Wertvollem einstecken könnte, bevor sein Kabber Gefährte. daran teilnahm.

Es ist eine Thatsache, daß auch die ältesten, gewiegtesten Diebe oft die unsinnigsten wertlosesten Dinge nehmen, bloß um der Lust des Stehlens halber.

Der Starke steckte eine zerbrochene Porzellanfigur und eine Papierschere in die geräumigen Taschen seines Rockes.

Dann aber, der bessern Überzeugung folgend, kniete er vor dem eisernen Kasten nieder und untersuchte die Schlösser.

Es war zwar kein Arnheim, sondern eben bei Gelegenheit von dem jetzigen Besitzer gekauft, aber die Schlösser waren kunstvoll und fest gearbeitet und der Dieb überzeugte sich bald, daß seine Klamoniß Nachschlüssel. nicht ausreichten.

Er griff sofort zu dem Schabber Stemmeisen. und dem Krummkopf, einem von dem kessen Barsenelochner Vertraute Schlosser. Golze in dem berüchtigten Diebesnest Betsche im Großherzogtum gearbeiteten Instrument, auf das er sich verlassen konnte, und zwängte die Spitze zwischen den Deckel und den Kasten. Dann begann er mit Aufbietung seiner bedeutenden Kraft zu wippen und zu heben.

In diesem Augenblick fühlte er eine Hand auf seiner Schulter; aufblickend sah er in das spöttisch grinsende Gesicht des Juden Samuel.

Aufspringen und mit einem Satz bis ans andere Ende des Zimmers fliegen, war ein Moment. Dort blieb er stehen und starrte, das schwere Brecheisen in der Hand, den unerwarteten Feind mit wilden Augen an.

»Verflucht! der Lampe!« Der Bestohlene, oder jede Person, die den Diebstahl hindert.

»Ein fauler Masematten,« sagte der Jude grinsend.

»Gieb Dir keine Mühe, Starker, Du bist ertappt und wirst Karle gehen.« Verhaftet werden.

»Daß Du die böse Meschunne frißt, Hund von einem Juden! Du kennst mich?«

»Soll mir Gott helfen, wer wird den starken Louis nicht kennen, der schon vor fünfzehn Jahren bei dem Masematten in der Akademie geholfen. Aber es ist der dritte Rückfall jetzt, und es ist schade, daß der Starke wird kommen lebenslänglich übern Berg.«

Der Dieb betrachtete ihn aufmerksam, er war noch nie mit dem Juden zusammengetroffen, und es schien ihm offenbar etwas in der Stimme oder dem Aussehen aufzufallen.

»Laßt mich geh'n, Herr,« sagte er endlich mürrisch, »die Sache ist abgeblefft, Ihr sollt sicher sein von jetzt ab.«

Er machte eine Bewegung nach der Thür.

Der Jude lächelte tückisch und winkte ihn zurück. »Es kann nicht sein, das Gericht will haben sein Recht. Der starke Louis wird diesmal nicht wieder geh'n mit einem Jahr aus, wie damals, als er hat sein Emmes gepfiffen Geständnisse gemacht. auf die Kabruse bei dem Masematten in der Akademie, um sich zu brennen rein.«

Der Dieb zuckte zusammen bei dieser Erinnerung. Wieder betrachtete er den Juden scheu von der Seite, es lag etwas Teuflisches in dem Blick desselben.

»Soll mich der Henker holen, ich muß Dich kennen! Laß mich gehen, oder es wird nicht gut!«

»Nicht von der Stelle, bis die Pallopeten sind hier!«

Der Dieb that einen Sprung nach der Thür, das ganze Aussehen des Pfandleihers schien sich zu verändern, als er sich vor diese warf. Der gekrümmte Rücken streckte sich gerade, die Gestalt schien zu wachsen, wilde Energie und Kraft flammte in den Augen, in diesem Gesicht, als er das Terzerol dem Diebe entgegenstreckte.

»Halt! oder Du gehst kapores!«

Der Starke taumelte zurück. An diesem Gesichtsausdruck erkannte er den Mann.

»Schwarzer Schmul!«

In diesem Augenblick ertönte aus der Küche der laute Hilferuf Rebekkas.

Der Starke knirschte mit den Zähnen.

»Verfluchter Jude! so hast Du uns in die Falle gelockt! Du bist ein Vigilant! Du mußt sterben!«

Er schwang das Brecheisen und stürzte auf den Pfandleiher zu.

Der Terzerolschuß knallte, der Dieb ließ das Eisen fallen und taumelte zurück.

»Verdammt!«

»Wenn Du weißt, daß ich bin der schwarze Schmul, will ich sorgen dafür, daß Du nicht asserst.«

Der Dieb lag am Boden, aus einer Wunde in der rechten Brust strömte Blut, er war einer Ohnmacht nahe.

Der Jude kniete neben ihm nieder und hatte das zweite Terzerol aus seiner Tasche gezogen, das er ihm vor die Augen hielt.

»Schwarzer Schmul, Du wirst mich nicht ermorden. Ich will einen Eid schwören, daß ich Dich nicht kenne!«

Der Jude lachte. »Ich werde gehen sicher!«

Aber er wurde an der Ausführung des blutigen Vorsatzes verhindert, denn eine fremde Hand riß ihm das Terzerol fort. »Es ist unnötig, Herr Jonas, der Bursche hat sein Teil. Sehen Sie nicht, er ist ohnmächtig!«

Der Pfandleiher sah erstaunt auf, es war der Leutnant von Röbel, der, von dem Schuß herbeigerufen, neben ihm stand.

»Main! wie kommen der Herr Leutnant hierher?«

»Ich bin mit Rebekka gekommen, ich wollte Geld bei Ihnen holen, ich brauche zu morgen früh dringend 40 Friedrichsdor. Ich hoffe, ich komme zur rechten Zeit, wenn dieser Kerl Gefährten hat!«

Das scharfe Ohr des Pfandleihers hatte bereits den Lärm im Flur gehört, er erkannte die befehlende Stimme des Kriminal-Kommissars, und es galt ihm jetzt nur, den unberufenen Zeugen seiner schlimmen Absicht zu entfernen, an deren Ausführung jetzt natürlich nicht mehr zu denken war.

»Die Polizei kommt; wenn Sie nicht haben wollen große Unannehmlichkeiten, machen Sie, daß Sie fortkommen.«

»Aber das Geld! ich brauche es dringend!«

»Sie sollen es haben, morgen früh in Ihrer Wohnung, auf Wort!«

Das Judenmädchen stürzte herein. »Um Gotteswillen Onkel, was ist geschehen? Es waren Diebe in der Küche, sie sind gesprungen durchs Fenster!«

Der Pfandleiher hatte seine volle Fassung wieder. »Was dibberst Du, dumme Gans? Führ' den Herrn Leutnant zur Treppe, laß sie oben riegeln zu, fort!«

Das Mädchen zog den Offizier mit sich, der ohnehin mit Vergnügen der Polizei aus dem Weg ging, um nicht als Zeuge in der Untersuchungssache fungieren zu müssen.

Samuel Jonas betrachtete einen Augenblick den bewußtlos in seinem Blut liegenden Dieb. »Die Wund' ist nicht gefährlich, ich hab' ihn getroffen schlecht. Aber mit dem schwarzen Schmul ist es vorbei, die Polizei muß sein zufrieden damit, und ich bin es aach!«

Er ging, von dem wieder zurückgekommenen Mädchen gefolgt, dem Kriminalkommissar entgegen, um ihm Bericht zu erstatten und den verwundeten Dieb zu übergeben.


Es war anfangs bei dem Lärm dem würdigen Kommissär für alles nicht ganz wohl zu Mute, denn er wußte recht wohl, daß er selbst nicht auf den besten Wegen war. Der Schuster hatte sich mit dem Kinde wieder an seine Stubenthür geflüchtet, sein Genosse sah ein, daß für diese Nacht sein Plan aufgegeben werden müsse, und daß es galt, sich so rasch wie möglich zu entfernen.

Aber es sollte ihm nicht gelingen, dies unbemerkt zu thun. Die noch im Hausflur Wache stehenden Konstabler nötigten ihn, stehen zu bleiben, indem sie ihn für einen Diebesgenossen hielten.

»Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu thun?«

Der Ertappte warf sich in die Brust. »Kennen Sie mir nich, meine Herren? ick bin Berliner Bürjer und Kommissionär vor alles. Ick heeße Franz Günther und wohne Nagelgasse 14. Ick verbiete mich alle Molestierung.«

»Larifari! wie kommen Sie hierher?«

»Des kann ich Sie sagen, ick habe eenem Freund, der sich en Bitken benebelt, eenen Freundschaftsdienst erwiesen; Sie werden mir verstehen!«

»Gehen Sie hinein, Wendler, zum Kommissar und melden Sie's,« befahl der Wachtmeister seinem Untergebenen. »Der Mensch sieht mir etwas verdächtig aus!«

Herr Günther fing an zu bedauern, daß er seine weiße Halsbinde und seinen Rock verändert hatte. Einen Augenblick darauf kam der Polizeikommissar aus der Wohnung des Pfandleihers, wo er den Thatbestand des Einbruchs besichtigt und die Anstalten zur Fortschaffung des verwundeten Diebes getroffen hatte.

»Sie heißen Franz Günther?«

»Der nämlichte, Herr Leutnant!«

»Und sind Kommissionär?«

»Janz richtig!«

»Sie wohnen?«

»Nageljasse 14, Mitglied des Treubunds, Hinkeldey kennt mir persönlich!«

»Dann sind Sie der richtige. Nehmen Sie diesen Mann mit nach dem Präsidium. Heute Abend bereits ist die Ordre zu seiner Verhaftung ergangen, und es ist ein Glück, daß wir ihn so zufällig gefunden!«

»Mir, Herr Leutnant? Mir verhaften? erlauben Sie, des is en Irrtum, des würde Sie sehr schwer zu stehen kommen!«

»Fort mit ihm! Da bringt man den verwundeten Kerl! ich hoffe, die Kugel wird ihn nicht dem Zuchthause entziehen!«

»Herr Leutnant, ick bin Staatsbürjer, ick werde mir beschweren! Ick lasse mir nicht so behandeln!«

»Nehmen Sie ohne weiteres den Kerl mit,« befahl der Kommissär, »und wenn er sich mausig macht, lassen Sie ihn binden, wie die andern. Im Bureau lassen Sie alle sorgfältig visitieren, ich komme sogleich nach!«

Der Transport der Verwundeten nahm die Aufmerksamkeit der Beamten in Anspruch. Herrn Franz Günther schien doch nicht ganz wohl geworden, als er gesehen, daß es mit seiner Arretierung Ernst war, und er von der Visitation hörte. Als ein Mann von Vorsicht benutzte er die Gelegenheit, wo die Augen der Schutzleute nach einer andern Seite gerichtet waren, um sich seiner Brieftasche zu entledigen, welche die Beweise einiger etwas faulen Geschäfte enthielt. Er hoffte, sofort freigelassen zu werden, wenn erst nur am Molkenmarkt angelangt, wo mehrere Beamte ihn kannten.

Es hatte sich unterdes auf der Straße immer mehr Publikum gesammelt, der Kommissär eilte, seine Verhafteten fortbringen zu lassen. Ein Theil der Nachtschwärmer begleitete den Zug bis zum Polizei-Präsidium.

Sobald die Luft rein war und die Menge sich verlaufen hatte, machten sich auch die Gäste der merkwürdigen Soiree der Justizrätin von Wengern eilig auf den Weg.

Unter den letzten, denen Tante Charlotte die Treppe hinunter leuchtete, befanden sich der Leutnant von Röbel und der Kommissionsrat.

Der letztere trat einen Augenblick in den Hof. Als er denselben verlassen wollte, stieß sein Fuß an der Thür an einen Gegenstand.

Mit jener Vorsicht, die nichts unbeachtet läßt, bückte er sich und faßte nach dem Hindernis.

Es war, dem Gefühl nach zu urteilen, eine dicke Brieftasche.

Der Kommissionsrat wog sie in der Hand – er wollte erst den Fund verkünden, aber die Überlegung, die alle Schritte derer begleitet, die demselben Bündnis wie er angehören, ließ ihn schweigen.

Die Brieftasche in der Hand, trat er aus dem Hause, das die Tante hinter ihnen schloß.

»Welchen Weg nehmen Sie, Kommissionsrätchen?«

»Ich gehe rechts.«

»Dann leben Sie wohl, ich muß unsere Virtuosin wenigstens bis an die Ecke ihrer Wohnung bringen. Adieu und halten Sie hübsch den Daumen für mich, schon um des Wechsels willen!«

Der leichtsinnige junge Offizier eilte davon, die Dame am Arm, die vorhin Quadrille gespielt, und überließ es ihm, den Heimweg allein anzutreten.

Aus dem Fenster eines benachbarten Hauses fiel noch ein heller Lichtstrahl auf die Straße; die Bewohner waren wach geworden bei dem Lärm der Verhaftung und hatten sich noch nicht wieder zur Ruhe begeben. Der Kommissionsrat betrachtete in diesem Schein seinen Fund.

Es war eine schmutzige lederne Brieftasche mit vielen Papieren darin. Als er sie öffnete, fielen ihm zunächst mehrere unförmlich geschriebene Karten oder Adressen ins Auge, lautend:

Franz Günther,
Kommissionär vor alles,
Nagelgasse 14.

Es war dieselbe Adresse, die ihm am Abend der Leutnant als die jener Person genannt hatte, mit der seine Tante, die stolze Kammerherrin, eine Zusammenkunft gehabt, und die der Offizier selbst als im Zusammenhang mit den Angelegenheiten seines verstorbenen Bruders stehend glaubte.

Die Aufmerksamkeit des Kommissionsrats war erregt.

Schon das nächste Papier, das er öffnete, gab dem Fund eine schwere Bedeutung.

»Alle Teufel, was ist das?«

So undeutlich der Lichtschimmer war, er konnte die Namen, den Inhalt in der festen, kräftigen Handschrift des gefallenen Offiziers deutlich erkennen.

»Hm! hm! die Erbschaft, von der mir der Baron sagte, und was der leichtsinnige Bursche davon schwatzte! Dieser merkwürdige Verkehr der Baronin mit dem Verwandten des Mädchens, sollte das mit der Erbschaft in Verbindung stehen? Dieser Schein ist offenbar ein wichtiges Dokument, und ich habe die Familie damit in den Händen! Wahrhaftig, ich beginne zu glauben, daß ich mein Geld heute gut angelegt habe, und die Kongregation zufrieden sein kann! Wie die Brieftasche dahin kommt, möchte ich wissen!«

Unwillkürlich war er zu dem Hause des Juden zurückgekehrt und stand betrachtend und sinnend vor dessen Thür.

»Es ist Zeit, daß ich gehe. Da kommt ohnehin eine saubere Gesellschaft, der ordentliche Leute aus dem Wege gehen!«

Von der Biegung der Straße her klang Gelächter und lustiger Gesang:

»Wir blicken durch eiserne Stäbe, Ein bekanntes Berliner Spitzbubenlied.
Und seh'n durch ein Gitter von Draht
Die Freiheit ist unser Leben.
Der Kerker ist unsere Schmach.«

Herr Boltmann wollte der johlenden Bande, die eben aus dem Schmortopf nach Hause taumelte, aus dem Wege gehen und drückte sich fest an die dunkle Thür.

Plötzlich ging diese hinter ihm auf.

»Sein Sie's, Herr Günther?« lallte eine Stimme.

Der Kommissionsrat stutzte bei dem Namen, mit dem so eben seine Gedanken sich beschäftigt hatten. Er konnte den Frager nicht erkennen, es war so dunkel im Flur, daß man die Hand nicht vor Augen sehen konnte, aber ein widrig nach Schnaps riechender Atem schlug ihm ins Gesicht.

Er murmelte etwas, das wie eine bejahende Antwort klang.

»Da, da ist's, nehmt den Balg. Et is richtig der Mamsell Malchen, Ihrer Schwester, Kind, der Offizier-Bankert, ick hab' mir's überlegt – et is et! Aber thun Sie dem Wurm nischt nich zu leide, Herr Günther, un wegen die zehn Puppen komm' ick morgen. Die Carline nimmt mir se sonst weg! Sie wird en deifelmäßigen Lärm machen, die Carline, und die olle Berenburgen ooch – ick wees des!«

Der Betrunkene hatte in Absätzen gesprochen, indem er dabei dem Kommissionsrat etwas in den Arm drückte, das dieser willenlos festhielt.

»Laß's nich fallen, det Wurm. Jutenacht! morgen komm' ick!« Der Schuster schob den vermeintlichen Spießgesellen wieder aus der Thür und drückte sie zu. Jetzt erst fühlte der Kommissionsrat, daß warmes Leben in dem Bündel war, das man ihm in den Arm gesteckt.

Er strich mit der Hand darüber, es war ein Kind, ein schlafendes Kind.

»Doch mußt' ich nach dem Zoten Das Arbeitshaus. gehen,
Da blieben alle Keiben Frauenzimmer. stehen.
Und schrien: ei schauet mal her,
Der kesse Junge kommt nach dem grauen Bär!«

»Hui oh!«

Die Meute tobte wie toll die Straße daher, einem flüchtenden, in ihr Regentuch gehüllten Frauenzimmer nach.

Die wilde Jagd kam gerade auf das Haus des Pfandleihers zu, es war die Schuhmacherfrau, die, aufgehalten bei der Näherin durch einen ihrer schrecklichen Krankheitsanfälle, erst jetzt von dem späten Gang, den ihr die Hauptmannswitwe aufgetragen, zurückkehrte.

Der Kommissionsrat hatte sich mit der unerwarteten Bürde an den Häusern hin im Dunkel fortgeschlichen, er wußte zuerst nicht, was er anfangen sollte. Fortlegen, seinem Schicksal überlassen, konnte er das unschuldige kleine Wesen doch unmöglich. Lärm machen an dem Hause wollte er auch nicht.

Dann kam eine weitere Überlegung, die Worte, die der Trunkene gesprochen, die Namen, die er genannt, und die zu dem Papier in der Brieftasche paßten.

Mit jener scharfen Kombinationsgabe, die seine Lebensstellung ihm eigen gemacht, hatte er bald ziemlich richtig den Zusammenhang begriffen.

»Hollah, hier war etwas im Werk,« murmelte er. »Das Kind soll heimlich fortgebracht werden, vielleicht gar – –. Laßt uns die Fäden in der Hand behalten, zu näheren Erkundigungen ist morgen Zeit. Wenn ich nur wüßte, wo ich mit dem Kinde hin soll?«

Ein lustiges, freches Gelächter unterbrach seine Betrachtungen. Mitten auf der Straße stand ein Bursche in einer Blouse, die Mütze schief auf dem Kopf, in die Hände schlagend und seine saubern Begleiter anhetzend auf das flüchtende Frauenzimmer.

»Fangt sie! fangt sie! Wir wollen unser Vergnügen mit ihr haben! Sie soll mit!«

Dem Kommissionsrat war die Stimme bekannt, er sprang über den Straßendamm, seine freie Hand faßte den Burschen am Arm.

»Gräfin! wie kommen Sie hierher? in dieser Verkleidung? schämen Sie sich nicht?«

Der Bursche blickte ihn groß an, obschon es dunkel genug, schien die Erkennung gegenseitig.

»Kommissionsrätchen! ebbadta! Sie sind es wahrhaftig! Auf einem nächtlichen Liebesabenteuer, mein Bester? Und was ist das?«

Sie hatte die Hand auf seine Bürde gelegt. »Ein Kind, bei Gott ein Kind! Das ist lustig, ich habe Sie ertappt, alter Sünder!«

Sie lachte, daß sie sich die Seiten halten mußte; nur mit Mühe unterbrach der Kommissionsrat den Ausbruch der tobenden Lustigkeit.

»Schweigen Sie still! Sie werden diese Bande durch Ihr unzeitiges Gelächter zurückrufen. Zum Henker! hören Sie nicht! Es handelt sich um ernste Dinge, Sie können mir in dieser wichtigen Sache helfen, kommen Sie sogleich mit mir – der Himmel selbst hat Ihre tollen Streiche zu etwas Gutem verkehrt.«

» Baszom a lelkedet! Was ist's? was giebt's?«

»Sie werden es erfahren! jetzt kommen Sie. Indes Sie Ihrem Vergnügen nachlaufen, statt Ihre Aufträge zu erfüllen, habe ich gearbeitet. Ziska ist fort vor vier Stunden schon mit Depeschen nach Olmütz!«

Als die wüste Gesellschaft aus dem Schmortopf von der Verfolgung der Schuhflickerfrau zurückkehrte, nachdem sie ihr Mütchen gekühlt und die Arme derart gemißhandelt hatte, daß sie bewußtlos an ihrer Hausthür liegen blieb, waren der splendide Musjö Louis und sein Kompagnon fort.


Es war am Morgen nach den eben geschilderten Scenen. In einem Zimmer des Hotel St. Petersburg nach den Linden hinaus ging der junge Franzose, der der Familie von Röbel die Botschaft des glänzenden Vermächtnisses überbracht und so wenig Dank dafür geerntet hatte, ungeduldig auf und nieder, jeden Moment einen Blick nach der Thür werfend, als erwarte er, jemand eintreten zu sehen.

Auf einem Stuhl stand ein Koffer, in den ziemlich unordentlich und hastig die Sachen des Besitzers zusammengepackt worden, als gelte es eine schleunige, unerwartete Abreise. Auf dem Tisch neben dem Kaffeegeschirr lag ein geöffneter Brief. Die nach oben gekehrte Adresse lautete an Monsieur le Capitaine François Laforgne, die vielen Postzeichen, italienische und Schweizer Stempel deuteten auf den Weg, den er zurückgelegt.

Acht Uhr, die bestimmte Stunde, um die der Jude versprochen hatte, dem jungen Abenteurer Nachricht von seiner Geretteten zu bringen und ihn zu dieser zu geleiten, war längst vorüber, die Uhr zeigte auf neun.

» Mon Dieu! Drei Stunden noch, und ich muß fort!« Er griff ungeduldig nach dem Klingelzug und riß daran.

Der Kellner trat ein.

»Sehen Sie nach, ob niemand nach mir gefragt hat. Ein Mann mit einem starken schwarzen Bart, man soll ihn sogleich zu mir führen.«

»Nein, mein Herr! ich war soeben noch unten und fragte den Portier und den Kommissionär. Monsieur können sich darauf verlassen, sowie der Besuch kommt, wird er sogleich heraufgeschickt.«

»Um wie viel Uhr geht der Zug nach Paris ab?«

»Ich hatte bereits die Ehre, Monsieur zu benachrichtigen, daß er Punkt 12 Uhr abfährt. Befehlen Monsieur noch sonst etwas?«

»Nein!« – Der dienstbare Geist verschwand.

Wiederum setzte der junge Mann seinen ungeduldigen Gang durch das Zimmer fort. Dann ergriff er den Brief und las ihn wohl zum zehntenmal.

»Es ist unmöglich! ich darf nicht säumen, ich muß fort. Meine Ehre, meine Treue fordern es. Und dennoch – ich weiß nicht, was mich zurückhält, jenes Mädchen, ein halbes Kind – was kümmert mich ihr Schicksal! sie ist wahrscheinlich eine Verlorene, die es gar nicht verdient …«

Das alles sagte er fast unbewußt vor sich hin, während er den Brief las.

Der Brief lautete:

Aus der Hauptstadt der römischen Republik am 25. März 1849.

»Mein Sohn!

Die Zeit ist da, alle Freunde der Freiheit zu rufen. Italien und der Freund Deiner Jugend bedürfen Deiner. Der schwache Karl Albert, auf den wir vergeblich gehofft, ist vorgestern bei Novara den verhaßten Österreichern unterlegen, sie wenden sich gegen Rom, der blutige Bourbone von Neapel zieht von Süden herauf, ich habe Ursache, den Versicherungen in Paris zu mißtrauen.

Als General der lombardisch-römischen Legion ernenne ich Dich zum Kapitän in meinem Stab und sende Dir den Befehl, wo dieser Brief Dich trifft, angesichts seiner alle anderen Interessen zu verlassen und zur Verteidigung des wiedergeborenen Italiens zu eilen. Du wirst ohne einen Augenblick der Zögerung mit der ersten Gelegenheit abreisen und Dich nach Paris begeben, wo Ricciardi Dir weiteres mitteilen wird.

Bei Deiner Ehre! Als Dein Feldherr befehle ich Dir, als Dein Freund bitte ich Dich, keinen Augenblick der Zögerung. Dein Vater und der Ruhm erwarten Dich.

G. G.«

Der junge Offizier kannte die einfachen Buchstaben, die kräftige, männliche Handschrift, das war der Freund seiner Jugend, der ihn erzogen und zum Manne gemacht, sein Stern und Held, für den er zehnfach in den Tod gegangen dort auf den sonneglühenden Wassern des Laplata, in dem blutigen Kampf an der Mission von San Dolores.

Giuseppe Garibaldi, sein Freund, sein Vater, rief.

Durfte er zögern?!

Und dennoch konnte er das Bild des armen unglücklichen Mädchens nicht bannen, das auf ihn hoffte, den einzigen Freund in der herzlosen Fremde, und das den Namen seiner Mutter nicht nennen wollte in edler Scham.

»Nein, sie kann unmöglich schlecht sein!«

Es war ihm, als ob ein Band, nicht minder stark als das der Ehre, ihn an sie fesselte, obschon er nichts von ihr wußte, als den einfachen Namen: Elise!

» Elise

Plötzlich kam ihm der Gedanke, ob nicht vielleicht dem armen schutzlosen Mädchen ein Unglück, eine Gefahr begegnet sein könne.

Er erinnerte sich mit Erbeben des Goldes, das er ihr gegeben, daß die Männer, denen er sie anvertrauen gemußt, ihm so ganz fremd, nicht einmal von Zutrauen erregendem Äußeren gewesen, vielmehr gerade das Gegenteil.

Und dann das Versprechen des Mannes, ihn aufzusuchen, ihm Nachricht zu bringen – und er kam noch immer nicht.

Ihn überfiel unsägliche Besorgnis.

Der Koffer flog zu, der Hut war in seiner Hand, den verhängnisvollen Brief steckte er in die Brusttasche seines Rockes. Ehe fünf Minuten vergangen, stand er im Flur des Hotels.

»Einen Wagen!«

Der Fiaker war bei der Hand, der junge Mann sprang hinein. » A la porte de Potsdam!« Obschon er nichts, kaum einzelne Worte von der fremden Sprache verstand, verließ er sich bei seiner Nachforschung doch auf jenen Ortssinn, der durch seine wilde abenteuerliche Erziehung so sehr geschärft war.

Am Potsdamer Thor ließ er halten, dann folgte er nach seinem Instinkt an der Mauer entlang den Weg, den er gestern mit Leutnant von Röbel und dem Kommissionsrat eingeschlagen.

Er bog in die Dessauer Straße ein und erkannte bald das Eckhaus mit dem niederen eisernen Balkon, von dem er mit seiner süßen Bürde herabgesprungen war.

In der gestern eingeschlagenen Richtung ging er weiter. Da war der freie Platz, dort das Wasserbassin des Kanals, er konnte nicht fehlen!

Hier war die Stelle, wo sie sich hinter den aufgehäuften Mauersteinen um- oder vielmehr angekleidet hatte.

Die Röte der Scham und des Unwillens färbte seine Wangen, als er daran dachte, wie leichtsinnig er sie Unbekannten, Fremden überlassen hatte. Er dachte an nichts weiter, als wie er sie finden könne.

Dort war der Kanal, da die Treppe, auf der sie zu dem Boote stieg, das waren ja die nämlichen Stufen, auf denen er ihr Lebewohl gesagt, das verhängnisvolle trügerische: »Auf morgen!«

Da, hundert Schritt weiter hinauf, hatte das Schiff gelegen, von dem die Kleider geholt worden und zu dem die Männer gehörten, die sie an den Zufluchtsort geführt, dort konnte, dort mußte er jede Auskunft erhalten.

Die Stelle war leer, es war kein Kahn dort.

Der junge Offizier rieb sich die Augen, er versuchte nochmals sich zu orientieren, er war gewiß, an der richtigen Stelle zu sein, wo am Abend vorher der Spreekahn vor Anker gelegen.

Jetzt war die Stelle leer; weiter hinauf nach der Brücke zu lagen mehrere Schiffe am Ufer, aber er wußte nicht, ob sie schon am Abend vorher dort gewesen; andere trieben mit dem Ruder stromauf.

Seine Verlegenheit war groß, wie sollte er ohne weitern Anhalt, ohne Namen oder Personen zu kennen, der fremden Sprache unkundig, das, was er wissen wollte, ermitteln.

Dennoch machte er einen Versuch. Er redete die Arbeiter auf dem Platz am Bassin an, er deutete auf die leere Stelle am Ufer, er bezeichnete durch Gebärden ein Schiff.

Anfangs schüttelten sie den Kopf, dann lachten sie ihn aus und ahmten ihm nach, die Ungefälligkeit und der Hohn der Berliner unteren Klassen gegen Fremde sind bekannt genug. Während z. B. in Paris jeder Mann, der unterste Arbeiter, an den er sich gewandt, sich bemüht haben würde, seinen Wunsch zu erraten und ihm gefällig zu sein, fand er hier nur Hohn, zuletzt Schimpfreden.

Kapitän François sprang wieder in den Fiaker. Zurück nach Hotel Petersburg! Das Verschwinden des Schiffes machte ihm die Sache um so drückender und vermehrte die Vorwürfe, die er sich darüber machte, daß er das arme hilflose Mädchen Fremden überlassen.

Es war zehn Uhr, als er im Hotel ankam; um 12 Uhr ging der Zug nach Paris.

Keine Nachfrage! Niemand dagewesen, der nach Leutnant François Laforgne oder nur einem ähnlichen Namen gefragt hatte.

Der junge Offizier wußte nicht, was er thun, ob er sich an die Polizei wenden und dieser die weiteren Recherchen übertragen sollte. Zu allem sonst war es zu spät, aber sich an die Behörde wenden, hieß dieser das so glücklich gerettete Mädchen in die Hände liefern, es hieß mit einem Schlag die Unglückliche, wenn ihre Geschichte wahr, indem er sie kompromittierte, dem Verderben, der Schande überliefern.

Er gab sich selbst keine klare Rechenschaft, warum er solches Interesse an dem jungen Mädchen nahm, und dennoch drängte und trieb es ihn und ließ ihm keine Ruhe, zu erfahren, wo sie geblieben.

Zuletzt fiel ihm Leutnant von Röbel ein. Obschon ihre Charaktere sich sehr verschieden gezeigt und nur eine kurze Verbindung zwischen ihnen bestanden hatte, wie sie unter jungen Männern sich so leicht und oberflächlich schließt, war er doch der einzige Bekannte, den er in Berlin hatte, dem er die Sache anvertrauen, den er um Beistand angehen konnte, ohne sich lächerlich zu machen. Überdies war der Offizier mit den Verhältnissen der eigentümlichen Flucht bekannt, er selbst hatte ihn ja dort eingeführt.

Kapitän Laforgne wußte, daß der Leutnant diesen Morgen mit seinem Bataillon Berlin verlassen werde, aber er wußte die Stunde nicht oder hatte sie vergessen. Er ließ sich eilig zur Wohnung des Offiziers fahren, dann zur Kaserne. Dort hörte er, daß die Truppen schon vor zwei Stunden nach dem Hamburger Bahnhof abmarschiert waren, daß der Extrazug, der sie befördern sollte, glücklicher Weise aber erst um 11 Uhr abfahren sollte.

Er fuhr zum Hamburger Bahnhof.

Der Bahnsteig war dicht mit Menschen gefüllt, von Soldaten und Offizieren, die noch des Einrückens in die lange Reihe der Waggons warteten, anderen, die gekommen, ihre Kameraden zum Abschied zu begrüßen, von Damen in eleganter Toilette, von Marketenderinnen, die sich drängten, für ihre Bagage einen guten Platz zu erhalten, von mit dem Gepäck ihrer Herren beschäftigten Offizierburschen, fluchenden Trainsoldaten, befehlenden Offizieren und weinenden Mädchen und Frauen, Männern, die den Abziehenden die Hände schüttelten und ihnen das beste Glück wünschten gegen die rotröckigen Dänen. Knaben drängten sich zwischen den Erwachsenen, fliegende Buchhändler schrieen ihre Zeitungsblätter aus, Beamte der Bahn drängten, schalten, baten um Ordnung und trieben zur Eile.

Das war wieder einmal ein Stück des alten Berlins mit seinen soldatischen Sympathieen, keine demokratische Verhöhnung, kein giftiges Wort, keine übermütige Demonstration des von den Agenten der Revolution aufgestachelten Pöbels. Von der Gräfin, die dort im Kreis der Offiziere Abschied von dem Sohn nahm, bis zum Bummler, der in den Waggon hinein hinter dem Rücken des nicht sehen wollenden Unteroffiziers die gefüllte Schnapspulle reichte, alles selbst in der Trauer des Scheidens Freude an dem soldatischen Treiben, an der Kriegerschar, die nach dem Kampfplatz um deutsches Recht zog, Freude an der Armee, diesem ersten Stolz und dieser ersten Stütze Preußens.

Am 24. Februar war der Malmöer Waffenstillstand gekündigt worden, dessen Abschluß Der Waffenstillstand von Malmö war von England und Rußland verlangt worden, weil sie in dem von Friedrich Wilhelm IV. der deutschen Sache in Schleswig-Holstein gewährten Schutz die Absicht witterten, die Herzogtümer für Preußen zu erwerben. General Wrangel auf seiner Siegesbahn aufgehalten und ihn im August des vergangenen Jahres zum Rückzug aus Jütland genötigt hatte, nachdem noch bei Hollbüll und an den Düppeler Schanzen die preußischen Waffen glänzende, aber kurze Erfolge errungen.

Die Friedensverhandlungen hatten sich infolge des dänischen Übermuts zerschlagen, und noch einmal waren preußische und andere deutsche Bundestruppen in die Herzogtümer eingerückt. Am 30. März war dem Kommandeur der preußischen Garde-Infanterie, Generalleutnant v. Prittwitz, der Oberbefehl über die Reichstruppen übertragen, Generalmajor v. Hahn zum Chef seines Stabes ernannt und Generalmajor v. Hirschfeld mit dem Kommando der nach Schleswig-Holstein bestimmten preußischen Division betraut worden. Schon an den Tagen vorher waren preußische und sächsische Truppen von Berlin auf der Hamburger Bahn abgegangen, noch an demselben Morgen hatte der Prinz von Preußen auf dem Bahnhof eines der abgehenden Bataillone besichtigt.

Die Glocke gab das erste Signal, als es dem jungen Franzosen endlich gelang, den Leutnant v. Röbel in dem Gedränge herauszufinden.

»Bei allen Lorbeeren und blauen Bohnen, die wir zu erwarten haben,« rief der Offizier, »das ist hübsch von Ihnen, daß Sie noch kommen, mir Adieu zu sagen. Ich hatte auf Ehre keine Zeit mehr, zu Ihnen zu kommen und bloß meine Karte für Sie zurückgelassen, nachdem Sie uns gestern so schmählich abhanden gekommen. Wo zum Teufel haben Sie denn gesteckt, Freundchen, als die werte Berliner Polizei uns in die Luft sprengte, und was haben Sie mit dem Frauenzimmer gemacht, das Sie im Stande der Unschuld entführten? Ich mußte laut auflachen trotz der fatalen Situation, als Sie den dicken Bankier über den Haufen warfen.«

Der Franzose hatte ihn am Arm aus dem Gedränge gezogen. »Wegen des Mädchens eben muß ich mit Ihnen sprechen. Es ist eine Unglückliche, Schuldlose; sie muß gerettet werden!«

»Bah! nehmen Sie's nicht übel, lieber Freund! aber ich hielt Sie wirklich nicht für so grün, um den Fabeln einer Berliner Lorette zu glauben.«

»Es ist keine Berlinerin, es ist eine Schweizerin, aus Neufchâtel!«

»Desto schlimmer; die taugen alle nichts; unsere Bonne verführte mich schon als zehnjährigen Jungen, dafür verdanke ich ihr wenigstens gutes Französisch.«

»Ich wiederhole Ihnen, das Mädchen ist tugendhaft und unglücklich!«

»Desto schlimmer für sie – aber glauben wird's niemand nach dem köstlichen Badetableau von gestern. Es war ganz hübsch von Ihnen, daß Sie den Judenbengel in die Lampen warfen. Die Canaille fängt an, sich zu viel herauszunehmen!«

»Aber Sie sollen mir helfen, die Unglückliche zu retten; sie ist verschwunden, ich bin so thöricht gewesen, sie einem Unbekannten anzuvertrauen!«

»Bah! hat sie Ihnen nicht ihre Visitenkarte gegeben? Derlei verliert sich nicht, promenieren Sie des Abends nur durch die Friedrichsstraße, Westseite, Sie haben, ohne Schmeichelei, eine pikante Physiognomie, man wird Sie schon wieder erkennen!«

Der Franzose stampfte ungeduldig mit dem Fuß.

»Doch nun, Bester, muß ich fort,« sagte der Offizier, »wir sollten schon in den Waggons sein, und dort kommt der Alte, der keinen Spaß versteht. O, auf Ehre, ich sage Ihnen, Sie haben eine famose Nacht verloren! wenn Sie mit uns gegangen wären, Sie würden sich köstlich amüsiert haben!«

Der Franzose war dem jungen Offizier gefolgt, der jetzt nach dem Waggon drängte. »Ich beschwöre Sie, hören Sie mich einen Augenblick an. Sie sind der einzige Mensch, außer Ihren Verwandten, den ich hier kenne, an dessen Beistand ich ein Anrecht habe. Es ist wahr, ich interessiere mich für das unglückliche Mädchen, ich habe sie unbesonnener Weise gestern Abend einem Unbekannten anvertraut, der mir Nachricht bringen wollte, aber ich habe ihn vergeblich erwartet, und ich bin gezwungen, in einer Stunde abzureisen, wie Sie!«

»Wie? Sie wollen schon heute fort?«

»Nach Rom. Einer, der das Recht dazu hat, ruft mich, und ich darf nicht zaudern. Sagen Sie mir nur, an wen …«

»Die Herren Offiziere in die Waggons!« scholl laut und befehlend eine Stimme über den Perron.

»Sie sehen – auf Ehre, ich kann Ihnen wahrhaftig nicht helfen, sonst suchte ich die Kleine mit Ihnen. Trösten Sie sich, Herr Kamerad! die römischen Schönheiten sollen ganz andere sein, als unsere Berliner. Ich hoffe, Sie vergessen die Erbschaft nicht trotz des Eigensinns meines Herrn Papas und lassen bald von sich hören!«

»Hierher, Röbel! wir fahren ohne Dich, wenn Du nicht eilst!« Der Offizier sprang in den Waggon, der Kondukteur schloß die Thür.

Den Perron entlang, in seinem weißen Waffenrock, die Kürassiermütze auf dem Kopf, kam ein alter, benarbter Offizier. Das falten- und wetterdurchfurchte Gesicht lächelte so freundlich, das kleine blaue Auge blitzte so jovial umher.

»Ah, sieh da, meine Gnädigste! küsse das kleine niedliche Händchen! Machen Sie mich die Burschen nicht allzu sentimental mit des lange Abschiedjenehme! Sie werden man schon wiederkommen, wenn sie den Dänen den Rock ausjekloppt haben.«

Die junge Dame, die der alte Offizier so freundlich angesprochen, knixte. »Wie Euer Excellenz vor einem Jahr bei Schleswig!« sagte sie höflich.

»Nu ja, es war jrade kein schlechtes Stück Arbeit; ick hab' et schon schlechter jehabt! Na, Jungens, wahrhaftig, ick wäre am liebsten wieder mit Euch jejangen, aber es jeht halt nicht!«

Der junge Offizier in Husaren-Uniform, der, neben ihm ging, mit dem kecken Gesicht, das an die Jugendphysiognomie des großen Preußenkönigs erinnerte, während sein ganzes Wesen eine stolze, militärische Haltung auszeichnete, legte freundlich die Hand auf seinen Arm.

»Sie wissen, General, Se. Majestät braucht Sie hier weit nötiger als dort. Wenn's nach mir ginge, wäre ich auch lieber vor dem Feind!«

»Werden noch zeitig genug dahin kommen, zeitig genug, Königliche Hoheit! ich rechne mir's zur großen Ehre, daß Sie die ersten Kugeln unter mir bei Schleswig haben pfeifen hören. Denken Sie dann an den alten Wrangel, und wat er Ihnen jesagt. Es ist noch lange keen Frieden in der Welt nicht!«

»Desto besser!« Die großen, klaren Augen des jungen Husaren-Offiziers leuchteten voll Verlangen nach kühnen Waffenthaten, als er sich den Waggons näherte.

»Adieu, Kameraden!« sagte er mit klangvoller Stimme. Wenn's Seine Majestät erlaubt, sehen wir uns bald wieder. Adieu! und macht der preußischen Fahne Ehre!«

Ein donnerndes Hurra auf den jungen Prinzen, rollte von Waggon zu Waggon, und tausend Hände hoben sich begeistert zu dem treuen Versprechen, das bald darauf bei Kolding und Gutsöe und in der Nacht von Fridericia blutig gelöst werden sollte.

Der alte General nickte vergnügt mit dem Kopfe. »Sehn Sie man, Königliche Hoheit,« sagte er, »ich kenne das aus dem Jrunde. Wenn unsere Jungens man erst zum Ernst kommen, denn ist keene Rede mehr von all die demokratischen Muckens. Na Adieu, Kinder, und haltet Euch brav und singt mich eines zum Abschied, wie ich's gern höre!«

Ein dreimaliges Hoch aus den Waggons erschütterte die Luft. »Vater Wrangel soll leben! Hoch!« Die Offiziere salutierten, die Frauen und Mädchen ließen ihre Tücher wehen und riefen unter Thränen das letzte Lebewohl.

Und dann stimmte eine tiefe Baßstimme das stolze Preußenlied an, und tausend Kehlen aus der langen mit Fahnen und Laub geschmückten Wagenreihe und der dichtgedrängten Menge fielen ein.

Die Lokomotive pfiff, ein letztes Lebewohl: Adieu! Adieu! Auf dem Bahnsteig stand der alte General, die Hand am Helm, und der junge ritterliche Preußenprinz salutierend: »Mit Gott, Kameraden, für König und Vaterland!« und langsam begann die lange dunkle Reihe, von zwei ehernen Feuerrossen geführt, sich in Bewegung zu setzen, dann rascher und rascher unter den Stößen der Lokomotive dahinrollend.

Als der Waggon, in dem der Leutnant v. Röbel saß, an der Stelle vorüber kam, wo der neue Offizier der römischen Republik stand, winkte er diesem noch einmal zu: »Viel Glück, Monsieur de Laforgne, und vergessen Sie die Erbschaft nicht!«

Der Franzose sandte ihm einen finstern, unwilligen Blick nach. »Herzloser Fant!« murmelte er zwischen den Zähnen, »wenn sie verloren für mich, sollst auch Du das Gold nicht haben, für das Du allein Interesse zeigst, wenn ich's zu hindern vermag. Adieu, armes Kind! ich habe gethan, was ich konnte; jetzt ruft auch mich die Pflicht!«

Er drängte sich durch die Menge und warf sich in seine Droschke.

» A l'hôtel! vite! et après à l'embarcadère!«


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