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I.

Es ist Frühling, aber noch fliegen die Schneeflocken und der Wind tobt, als wolle er sich den Spaß machen, die Dächer abzudecken. In den Kaffeehäusern sitzt es blitzvoll junger Männer, die ihre Promenadenstunde hier verleben, weil sie nicht hinaus können in die Alleen und auf die Esplanade, die stets eine Art Corso ist, wo die schönsten Mädchen in den reizendsten Toiletten promeniren. Im Schneesturm aber kann man nicht erwarten, daß eine Dame ihr Stübchen verläßt, in dem es sich gemüthlich plaudern läßt, trotz des heillosen Unwetters.

Plötzlich blitzt die Sonne hervor. Der Wind hört auf zu toben. Die Schneeflocken werden im Nu zu Tropfen, die schnell im weichen Erdreich verschwinden.

Im Café royal erhebt sich beim ersten Sonnenstrahl ein Mann und schaut durchs wohlverwahrte Fenster zum Himmel empor. Die Zeitung mit den Kriegsnachrichten an der Ost- und Nordsee entgleitet seiner Hand, während er tiefsinnig in die Ferne zu blicken scheint. Es ist ein schlanker, wohlgebauter Mann mit ernsten Augen und einem eigensinnigen Zug um die Lippen. Seine Gesichtsfarbe ist blaß, wie man sie bei Beamten findet, die ihrem Berufe mit Beharrlichkeit und Pflichttreue obliegen. Beim Sprechen gewinnt sein Gesicht. Ein leichtes Lächeln verbreitet sich dann über die ernsten, fast düsteren Mienen und der Wohllaut seiner Sprache erregt nicht selten die Aufmerksamkeit derer, die ihn nicht näher kennen.

Nachdem er eine lange Zeit in die fliegenden Wolken geschaut, wendete er sich sehr rasch um, nahm seinen Hut und wollte sich entfernen, augenscheinlich leise und stumm, um alles Aufsehen zu vermeiden. Sein Vorsatz glückte ihm nicht.

»Wo wollen Sie hin, Staatsanwalt?« fragte ein wohlgenährter, noch sehr junger Mann, dem die Vorliebe fürs Bier aus dem ganzen Gesicht leuchtete. »Zum Spazierengehen ist's doch wahrhaftig nicht einladend. – Sie finden keine Dame auf der Esplanade – selbst wenn das Herz manche dazu treiben wollte. Der geschmolzene Schnee in den Straßen erlaubt das Wagniß nicht. Bleiben Sie hier, Ettinger, und begleiten Sie mich nachher.«

»Zu Schramm in den Bierkeller?« ergänzte der Angeredete mit sarkastischem Lächeln.

»Nun ja! Wo vergäße man wohl die Launen des Aprils und die Launen der Damen sicherer, als in guter Gesellschaft bei einem Seidel Kulmbacher!« antwortete der wohlgenährte Jüngling mit friedlichem Tone.

»Mich alteriren weder die Launen des Aprils, noch die Launen der Damen,« bemerkte Ettinger kurz. »Ich erwarte nichts von beiden, lieber Bekon!«

»Stille!« rief der junge Mann mit Wichtigkeit. »Wollen Sie läugnen, daß der April, die Damen und Metthorst's falsche Wechsel Ihren Mienen starkes Eis verliehen haben?«

»Sie sind bisweilen, bei aller Liebenswürdigkeit, unerträglich, lieber Bekon,« sprach Ettinger gezwungen lachend. »Jetzt habe ich nicht Zeit, Ihnen eine Strafrede zu halten, aber vielleicht komme ich nachher zu Schramms. Dann soll es angesichts der ganzen Gesellschaft in aller Form geschehen.« Er verbeugte sich flüchtig gegen die Nächstsitzenden, die halb ergötzt, halb besorgt dem kurzen Dialoge der jungen Männer gelauscht hatten und entfernte sich, während der dicke Herr Bekon laut lachend rief:

»Thun Sie das, Ettinger! Kommen Sie und kanzeln Sie mich tüchtig ab. Ich werde mir expreß dazu ein Publikum bitten! Meine Herren, versäumen Sie dieß Amüsement nicht. – Freund Ettinger halt prachtvolle Vorlesungen voll Humor und Tücke. Die moralischen Hiebe, die er austheilt, versüßt er durch geistige Bonbons. Ich wette, er präparirt sich aufs beste, und dann gibt es etwas ausgezeichnetes. Versäumen Sie nicht, zu Schramm zu kommen!«

Ettinger hatte das Lokal so schnell verlassen, daß er noch nicht den dritten Theil von dieser Rede vernommen. Aber als er eben so eilig die leicht bergan geschwungene Straße hinauf schritt, sah er gar nicht aus, als präparire er sich zu einem scherzhaften Vortrag. Sein Blick war auffallend düster und gespannt, und sein Mund zeigte die feinen Falten, die einen Entschluß zum herben Kampfe verrathen. »Das geht nicht länger,« murmelte er, als er von der Straße abbog und die Esplanade betrat, die sich hier unmittelbar anschloß. »Ist denn mein ganzes Wesen wie in einem Glaskasten, daß selbst so sorgenlose Menschen, wie dieser Bekon, mein Inneres zu erklären vermögen? Ich muß fort! Es muß sich entscheiden. Entweder – oder!«

Ettinger fuhr bei diesem Ausrufe leicht zusammen, und starrte einen Augenblick, wie zum Tode erschrocken, auf einen Gegenstand, der sich in der Ferne zeigte. »Meine Ahnung hat mich nicht getäuscht« – fügte er in seinem Monologe hinzu. »Dort kommt Marilia mit ihrer Freundin – mein Wink verhallte unbeachtet – sie verhöhnt mit diesem öffentlichen Spaziergang meine Meinung – sie beweist mir, daß meine Hoffnung auf ihre Liebe ein Hirngespenst war – mir bleibt nichts übrig, als ein schneller Entschluß – ich nehme die Stelle an, die man mir offerirte – ich scheide auf ewig und suche zu vergessen, was mir den Himmel auf Erden verhieß!«

Stolz richtete der junge Mann sein Auge fest auf die beiden Damen, die ihm mittlerweile näher gekommen waren. Arm in Arm, eng an einander geschmiegt, elegant von Kopf zu Fuß ohne die Extravaganz der Mode, im einfachen Paletot, die Kleider leicht geschürzt, um sie vor Nässe zu bewahren, so schritten die Damen dem Manne entgegen, welcher sie mit feindseliger Absicht musterte. Die jüngere der Damen, größer, schlanker und schöner, als die ältere, erröthete sichtlich. Schüchtern, bittend und sorgenvoll flog ihr Blick zu dem Manne hin, der in königlicher Haltung näher kam. Es war, als wolle dies zarte, hübsche Mädchen stehen bleiben und zu ihm sprechen – ein vernichtender Blick voll Verachtung und mitleidslosem Hohne traf sie und ihre Freundin. Diesem Blick folgte ein kalter Gruß – das schöne Mädchen sah ihm dabei ängstlich ins Auge – es rührte ihn nicht! Er schritt dicht neben ihr vorüber!

Still gingen die Damen bis ans Ende der Esplanade und kehrten dann um. Marilias Auge suchte den Mann, welcher sie durch seinen Gruß hatte beleidigen wollen. Er war nicht mehr da. Also im vollen Zorne hatte er die Esplanade auf einem Nebenwege verlassen, um ihr nicht wieder begegnen zu müssen!

»Herr von Ettinger schien sehr übler Laune zu sein,« begann Frau Metthorst leise und demüthig. »Ich glaube, er sieht es nicht gern, daß Du mir Deine Freundschaft in meinem Unglücke bewahrst! Er hält natürlich meinen armen Guido für schuldig, weil er sich der Untersuchung durch seine Flucht entzogen hat. – Ich muß dieß ertragen, bis mein Mann es für gut hält, wieder aus seinem Versteck hervorzukommen – allein du, meine Marilia, hast keine Verpflichtung, die Schande des Verdachtes mit mir zu theilen. Meide mich, meine Mari – meide mich, wenn dir der Staatsanwalt von Ettinger deßhalb zürnen sollte – meide mich! Ich weiß, daß Du mich mit Schmerzen meiden wirst, aber es ist hoffentlich nur für eine kurze Zeit. Das Gestirn, das durch Nebel einige Zeit verdunkelt worden war, erscheint uns ja glänzender und herrlicher, als früher! So wird auch unsere Freundschaft nach kurzer Entbehrung um so beglückender sein.«

Marilia blieb die Antwort schuldig. Ein festeres und innigeres Anschmiegen an die junge Frau galt dieser als eine Entgegnung und sie fuhr fort:

»Alban Ettinger hat dich lieb, Marilia. Man sieht es in dem Leuchten des sonst finstern und forschenden Auges, daß er in Dir ein Ideal weiblicher Vollkommenheit verehrt. Er, der es sich zur Aufgabe seines Lebens gemacht hat, dem Laster und dem Verbrechen nachzuspüren, er hat in Dir ganz sichtlich ein menschliches Wesen gefunden, wie er es in dieser verderbten Welt nicht zu finden erwartete – beinahe gönne ich ihm das Glück Deiner Liebe nicht, liebe Mari. Aber ich will gerecht gegen ihn bleiben – er ist ein tüchtiger, ehrenwerther Mann, weder ein Schwächling der Zeit, noch ein Bramarbas, der Throne stürzen möchte. Er handelt stets nach Grundsätzen, und verfolgt nach Beweggründen einer heiligen Berufspflicht das Tadelnswerthe und Strafbare. Achte und ehre seine Meinung, wenn er sie Dir kund gibt, und verscherze nicht Dein Lebensglück aus Pietätsrücksichten gegen mich.«

»Jeder verfolgt den Weg, den ihm eine innere Ueberzeugung als einen richtigen bezeichnet,« antwortete das junge Mädchen mit sanfter Stimme. »Ich handle auch nach Grundsätzen, Adelheid, und zwar nach den Principien des Christenthums, welche die Menschenliebe und Menschenfreundlichkeit zur Grundlage des Glaubens machen. Du bist hülflos. Dein Mann hat Dich, entweder in einer Anwandlung von Furcht vor einem gerichtlichen Verfahren, oder in wohlüberlegter Absicht heimlich verlassen und Dich dadurch für den Augenblick compromittirt. Du bist hülfsbedürftig. Wer in der Welt hätte wohl stärkere Verpflichtungen, Dir in einer Krisis Deiner Lebensverhältnisse beizustehen, als ich?«

»Uebertreibe nicht, Marilia,« fiel die junge Frau zärtlich lächelnd ein. »Was ich jemals für Dich gethan habe, war nichts als –«

»Christenpflicht,« schaltete Marilia hastig ein. »Richtig! Nimm es als Christenpflicht an, wenn ich jetzt schützend neben Dir verharre, bis sich ein unerklärliches Dunkel lichtet.«

»Und wenn dabei Dein Lebensglück zu Grunde geht?« fragte Frau Metthorst ernst.

»Dann ist es eben kein Glück für mich gewesen,« antwortete das Mädchen mit sehr weichem traurigen Tone. Frau Metthorst wagte diese Behauptung nicht zu bekämpfen. Wenn ein Mann seine Pflichttreue allerdings so weit trieb, die Forderungen des Herzen derselben unterzuordnen, so blieb es fraglich, ob Marilias Leben an seiner Seite zu beneiden sei.

Stumm schritten die Damen bis zum Ende der Promenade. Als sie sich abermals wendeten, sahen sie sich mit einem Blicke ins Auge, der ein volles Einverständniß verrieth.

Marilia verbarg die Trauer ihres Herzens nicht vor dem Auge der Freundin, allein daß die Hoffnung auf Ettingers Liebe sie aufrecht erhielt, das verbarg sie ihr. Wie hätte sie aber ohne diese innerliche Zuversicht bestehen können, da sie sich noch in dem schönen Alter befand, wo man die Trauer des Herzens für unvergänglich hält. Sie baute auf die Macht der Liebe und trotzte dabei den Ansprüchen eines allzu pflichtgetreuen Mannes. Ruhig begann sie das Gespräch wieder, indem sie ihrer Freundin den Vorschlag machte, mit ihr die Stadt zu verlassen und in dem nahe gelegenen Badeorte Felsberg das weitere zu erwarten.

»Meine Eltern finden es zweckmäßiger für Dich, Adelheid,« setzte sie lebhaft hinzu, als die junge Frau eine abwehrende Bewegung machte. »Mein Vater meint, Du seiest der Ruhe sehr bedürftig, wenn Du nicht ein ebenso unglückliches Wochenbett herbeiführen wolltest, wie vor zwei Jahren. Er meint, Du wärest bei seinem Bruder, dem Badearzte in Felsberg, besser ausgehoben, als hier. Er behauptet, es gäbe gar keinen passenderen Aufenthalt für Dich, als Felsberg mit seinen herrlichen Umgebungen, mit seiner Ruhe, Behaglichkeit und mit der anerkannt gesunden und erquickenden Luft. Bitte, verwirf die Rathschläge meines Vaters nicht – er muß es am besten wissen, was Dir gut ist.«

Frau Metthorst senkte sinnend ihre Stirn. Der Vorschlag ihrer Freundin fand in ihrem Innern ein Echo. Die Abgeschiedenheit des kleinen Badeortes, welcher vor dem Mai noch nicht besucht wurde – Marilias unverkürzte Gesellschaft, wenn sie dort mit ihr im Hause des Oheims lebte – die Flucht vor den täglichen Demüthigungen, die sie als Gattin eines verdächtigten Mannes zu ertragen hatte – es waren ja Erleichterungen für sie.

»Aber mein Mann – mein armer Guido,« sagte sie hastig, als wollte sie die verführerischen Bilder verscheuchen, die sie dem Schmerze um sein Geschick entrissen.

»Natürlich bleibt Deinem Mann die Freiheit, Dich so oft zu besuchen, wie er will,« tröstete das junge Mädchen. »Die Schleier, welche über seinem Leben hängen, werden sich bald lichten und dann wird er sich um so lieber in diese kleine Trennung fügen, da er ein doppeltes Glück daraus hervorgehen sieht. Mein Vater, als Dein Arzt, übernimmt es, ihm die Nothwendigkeit einer Entfernung aus der Stadt darzulegen, wo jeder Blick Deine Nerven erschüttert.«

»Marilia – ich will mit Dir reisen,« sprach die junge Frau plötzlich entschlossen. »Ordne alles an! Ja – das Lächeln des Mitleids, der forschende Blick und das hohnvolle Zucken der Lippen zerreißt den Lebensfaden in mir – ich fühle das! Aber ich will leben, ich will wenigstens so lange leben, bis die Welt eingesehen hat, daß Guido Metthorst eines Verbrechens nicht fähig ist. Mag man ihn verdächtigen – mag man ihn verdammen – ich glaube nicht an seine Schuld.«

»Ich auch nicht!« erklärte das junge Mädchen feierlich.

Sorgsam geleitete Marilia die Freundin in ihre Wohnung zurück und entfernte sich mit dem Versprechen, wieder zu kommen, um den Abend bei ihr zuzubringen. Sie wollte ihrem Vater den Erfolg ihrer Unterredung mittheilen, damit er seine weiteren Anordnungen treffen könne. Sie beschwichtigte die Mahnungen ihres Herzens, die diesen errungenen Sieg über die Bedenklichkeit ihrer Freundin als einen Grenzstein ihres eigenen Glückes zu bezeichnen beflissen waren. Der Tag mußte ja erscheinen, wo Guido Metthorst sich von jedem Verdachte zu reinigen kam.

Daß sie sich trübe Stunden durch ihre opfermuthige Freundschaft bereitete, wußte sie recht gut, aber an eine Vernichtung ihres stillen Glückes, das noch jeder Erklärung entbehrte, glaubte sie keineswegs. Sie handelte mit der Erlaubniß ihrer Eltern, indem sie edelmüthig jeder mißliebigen Beurtheilung die Stirne bot und ihren gewohnten Platz neben der Jugendfreundin behauptete. Sie verdankte dieser Jugendfreundin das Leben ihrer Mutter. Nur der seltenen Ausdauer bei der Pflege in einer schweren Krankheit schrieb ihr Vater die Rettung derselben zu. Sie verdankte ihr aber auch das eigene Leben, denn nur die Geistesgegenwart Adelheids rettete sie vor einem unglücklichen Sturze. Und diese Freundin sollte sie aufgeben um eines Verdachtes willen, der durch nichts bewiesen war? Selbst für den Fall, daß der Gatte Adelheid's im Leichtsinne gefehlt hatte, was fiel denn der Frau dabei zur Last? Adelheid Metthorst war in ihren Augen das edelste und reinste Wesen unter Gottes Sonne. Ein heiligeres und festeres Band, als sonst Jugendfreundschaft bildet, verknüpfte sie. Die Engherzigkeit der Welt konnte dieß Band nicht zerreißen. Trotz der Feuertaufe der Leidenschaft schlug Marilias Herz unverändert für die Freundin – selbst die ersten Versuche des Mannes, den sie mit vollem Bewußtsein heiß und zärtlich liebte, hatten nicht die Macht gehabt, sie ihrer Freundschaft ungetreu zu machen. Sie verläugnete Adelheid nicht vor der Welt, als die allgemeine Stimme ihren Gatten als Wechselfälscher bezeichnete. Jetzt wollte sie mit ihr in Gemeinschaft fliehen um sie zu schützen.

Mit dem Lächeln der Verklärung auf dem holden Antlitze trat sie den Heimweg zum Elternhause an. Daß sich der Himmel wieder verfinsterte und eine dichte Schneewolke alsbald seine Schleier um sie wob, kümmerte sie wenig. Muthig kämpfte sie gegen dieß neue Unwetter, wie sie gegen die ungerechte Meinung der Welt zu kämpfen beschlossen hatte. Ihr guter Wille stählte sie für alle Ereignisse, und die Gesundheit ihres Körpers, sowie ihres Geistes versprach bei allen Kämpfen stichhaltig zu sein.

Es waren nur einige schmale Gäßchen bis zum Hause ihrer Eltern zu passiren. Ein großer freier Platz trennte aber diese kleinen Straßen und machten bei dem fürchterlich hereinbrechenden Sturme einen Umweg nöthig, der dem jungen Mädchen für den Augenblick sehr ungelegen kam. Zögernd blieb sie unter ihrem ausgespannten Regenschirme eine kleine Weile beim Ausgange der Gasse stehen und überblickte prüfend den Platz. Mit dem Schirme war die Passage unmöglich. Schnell schlug sie ihn zu und trat ihren Weg ohne Bedeckung und Schutz an. Gleich daraus ertönte eine Stimme neben ihr, die ihr Herz mit süßem Schreck erfüllte.

»Es scheint als ergötze Sie das Spiel mit Gefahren,« sprach diese Stimme. Marilia schaute auf.

»Um ein Ziel rascher zu erreichen, muß der Mensch die Gefahr nicht hoch anschlagen,« erwiederte sie mit heiterem Tone.

»Eine richtige Weltanschauung für Männer,« lautete die kurze, herbe Antwort, »aber in der Praxis unzulässig für Frauen.« Jetzt schauete Marilia nicht heiter auf, sondern antwortete beklommen:

»Sie scheinen den Muth an Frauen nicht zu lieben, Herr von Ettinger.«

»Nein! Es artet nichts eher bei Frauen aus, als eben ihr Muth,« sprach er hastig.

»Mein Vater hat andere Ansichten darüber, Herr von Ettinger,« entgegnete sie ruhig, während sie fest und schnell im Schneegestöber dahin schritt. »Er hat in seiner Praxis Gelegenheit genug gefunden, den Muth der Frauen wirkungsvoll und anerkennungswerth zu erklären.«

»Dann stützt sich Ihre Mißachtung meines Rathes, den ich Ihnen gestern gab, wohl auf die Meinung Ihres Herrn Vaters?« fragte Ettinger scharfen Tones.

»Nennen Sie die Ausübung einer Pflicht nicht eine Mißachtung Ihrer Ansicht, Herr von Ettinger,« sprach Marilia sanft. »Das Leben meiner Freundin ist in Gefahr, wenn ich aufhöre, mich ihr zu widmen. Wie könnte ich aber jemals auf eigenes Glück hoffen, wollte ich im harten Egoismus die heiligen Pflichten der Freundschaft vernachlässigen.«

»Würden Sie auch auf Ihrem Vorsatze beharren, wenn ich Ihnen eröffnete, daß Ihre Freundin die Mitschuldige ihres strafbaren Gatten zu sein scheint?« fragte der Staatsanwalt finster.

»Ich bürge für Adelheid Metthorst!« antwortete Marilia mit hellem Blicke und fester Stimme.

»Auch wenn die Anzeige vorliegt, daß der Fremde, mit dessen Hülfe die Wechsel in Umlauf gesetzt worden sind, mehrmals eine geheime Unterredung mit Madame Metthorst gehabt haben soll, obwohl sie angab, daß sie ihn niemals gesehen, nie seinen Namen nennen gehört habe?«

»Ich bürge für meine Freundin Adelheid!« wiederholte Marilia ohne Zaudern. »Was sie sagt, ist Wahrheit – alles andere ist Lüge!«

»Ist auch das ›Wahrheit‹, daß sie ihres Gatten Aufenthalt nicht wissen will?«

»Ich bürge dafür, daß sie es nicht weiß!«

»Mein Fräulein – die Lehren Ihres Vaters haben Ihren Muth bis zum Heroismus entwickelt, aber ich muß Ihnen bekennen, daß er Ihre Liebenswürdigkeit beeinträchtigt. Sie haben mir durch den Spaziergang am Arme Ihrer Freundin den Beweis geliefert, was Ihnen mein Wort, meine Warnung, mein Wunsch, meine Bitte gilt. Sie haben dadurch schon entschieden erklärt, was Ihr Herz gewählt. Aber – es ist furchtbar schwer, die Träume des Herzens aufzugeben, sie in der vollen Blüthe zu vernichten – ehe Sie also weiter handeln, Marilia, mache ich Sie aufmerksam, daß jeder Schritt in Gemeinschaft mit dieser Frau eine unausfüllbare Kluft zwischen uns aufreißt. Ist Ihr Muth groß genug, mit der Verurtheilung der Welt zugleich den Verlust der allgemeinen Achtung zu tragen?«

»Mein Bewußtsein wird meinen Muth aufrecht halten,« flüsterte das junge Mädchen, schüchtern zu ihm aufblickend. In diesem Blicke lag die Bitte um Schonung, aber es leuchtete auch darin die Zuversicht, daß er sie nicht falsch beurtheilen werde. Der junge Mann verstand diesen Blick richtig zu deuten, denn er antwortete schnell:

»Mein Stand – mein Beruf legt mir die Verpflichtung auf, dem Verbrechen nachzuspüren, mein Fräulein.«

»Schließt dieß die Menschlichkeit aus, so lange an einer Schuld zu zweifeln, bis sie erwiesen ist?« fragte sie sanft und eindringlich.

»Subjectiv betrachtet, bleibt mir diese Ansicht frei; allein um meine Integrität zu bewahren, muß ich streng die Gemeinschaft mit denen meiden, die dem Schwerte der Gerechtigkeit verfallen scheinen. Unsere Wege trennen sich also, Marilia! Hast Du den Muth, Mädchen, mit den Gefühlen, die uns beiden längst klar geworden sind, einen einsamen, dornenvollen Lebenspfad zu betreten, während Dein Herz sich nach dem Glücke einer Vereinigung sehnt, die uns eine Nothwendigkeit wurde?« Seine Stimme zitterte vor Bewegung, als er fast willenlos diese Frage hervorstieß. Marilia bebte ebenfalls vor Aufregung. Sie stand an einer Grenzscheide ihres Daseins.

»Alban –« flüsterte sie mit erstickter Stimme.

»Wähle!« rief er fest. »Die Braut des Staatsanwalt Ettinger muß unantastbar vor den Augen der Welt dastehen! Wähle zwischen mir und der Frau des Wechselfälschers!«

»Alban,« flehete das Mädchen. »Nur einige Tage und die Entscheidung über unser Lebensloos wird eine andere Gestalt annehmen. Meine Freunde sind unschuldig – ich bürge für Metthorst's.«

»Leben Sie wohl!« sprach der junge Mann. Er verschwand im dichten Schneeschleier. Marilia stieß einen leisen Schmerzensruf aus und starrte vernichtet ihm nach. Wie auch der Sturm tobte, wie dicht auch die Schneeflocken ihr Gesicht umspielten, sie empfand nichts davon. Regungslos dem tosenden Unwetter preisgegeben, stand sie da. Hoffte sie auf sein Wiederkommen? O nein, sie fühlte, daß er im Selbstgefühle eines nothwendigen Entschlusses gehandelt habe und daß er aus Rücksichten auf seine Selbstachtung nimmer umkehren könne. Ihr Glück lag zertrümmert am Boden, noch ehe es vollständig zur Blüthe entwickelt war. Er, der edle, charaktervolle Mann hatte sie aufgegeben um ihrer Freundschaft willen – er hatte sie einem einsamen Lebenspfade überantwortet, nachdem er ihr das Glück ihrer Vereinigung als eine Nothwendigkeit dargestellt – ein Schauder durchzitterte ihr gequältes Herz bei diesem Gedanken. Hastig, als könne sie der schrecklichen Wirklichkeit entfliehen, begann sie ihren Weg fortzusetzen. In wenigen Minuten erreichte sie das Haus, dort angelangt, überwältigte die Gewißheit ihres ewigen Unglückes ihr Bewußtsein und sie sank betäubt auf einen Sessel nieder. Unter den Liebkosungen ihrer Mutter kam sie wieder zur Besinnung. Geduldig ließ sie sich von den nassen Kleidern befreien, geduldig nahm sie die zärtlichen Vorwürfe hin, daß sie in solchem Wetter den Weg über den Platz genommen und nicht lieber den Umweg durch die schmalen Straßen, die Schutz geboten, gewählt habe. Geduldig trank sie den warmen Kaffee, den ihr Vater, jovial scheltend, ihr verordnete. O, sie hatte ein schwereres Leid zu tragen, als die Folgen ihrer Erkältung, aber sie schwieg von diesem Leide und berichtete nur eifrig dem fragenden Vater, daß Adelheid entschlossen sei, in ihrer Geleitschaft nach Felsberg zu reisen, um dort den Aufregungen zu entgehen, die hier in der Stadt unvermeidlich waren.

Der Vater Marilia's pries, als Arzt befriedigt von diesem Bericht, seines Töchterchens Geschicklichkeit zu diplomatischen Sendungen, ohne zu ahnen, was sein Lieblingskind zur Erreichung seines Zweckes hatte opfern müssen. Es galt hier ein Menschenleben zu bewahren. Darauf koncentrirte sich jetzt seine ganze Aufmerksamkeit, und da er, nach dem Grundsatze vieler Mediziner, bei der Rettung eines Patienten sehr wenig nach der Meinung des Publikums fragte, so hielt er es für recht und billig, seine Tochter zur Begleiterin einer Dame zu machen, die im Begriff war, die Achtung des lieben Publikums einzubüßen. Dazu kam noch, daß Frau Adelheid Metthorst ihm lieb und werth war und daß er den Gatten derselben, trotz seiner Flucht, nicht für schuldig hielt. Als Doctor ganz unabhängig von allen Coterien, bewahrte sich der Vater Marilia's eine gewisse Superiorität, die namentlich maßgebend für seine häuslichen Verhältnisse war. Dadurch wurde die Sicherheit erklärt, womit Marilia selbst den Warnungen des Staatsanwaltes zum Trotz den öffentlichen Verkehr mit der verdächtigten Dame fortsetzte. Aber dadurch wurde auch die Billigung des Publikums erklärlich, als sich die Nachricht verbreitete, daß des Doctor Hattorp älteste Tochter mit Frau Metthorst nach Felsberg gehen werde, um dort im Hause ihres Oheims die bevorstehende Entbindung der Dame zu überwachen.

Noch an demselben Tage erfuhr der Staatsanwalt von Ettinger die inhaltschwere Nachricht, die ihm natürlich als ein Grabstein aller seiner stillgepflegten Träume und Hoffnungen erscheinen mußte. Erbittert über diesen Schritt Marilia's, war er wirklich einige Momente entschlossen, die beabsichtigte Abreise der Frau Metthorst mit seiner Macht zu durchkreuzen und ihr Hindernisse in den Weg zu legen. Sein guter Geist regierte jedoch zu mächtig in ihm. Ein so edles Herz, wie das seine, konnte wohl zornig aufwallen, aber nie von der Einwirkung gehässiger Gefühle vergiftet werden. Rasch legte er die Feder wieder nieder, die er schon erhoben hatte, um eine vorläufige Verhaftung der Frau Metthorst zu beantragen.

Zur Arbeit durch seine Gemüthsbewegung untüchtig gemacht, vom stillen Schmerze gebeugt, von Sehnsucht nach dem Wesen, das er voreilig seinen Berufsansichten geopfert hatte, gefoltert, trieb es den jungen Mann fort aus seiner stillen Klause. Um seinen Gedanken zu entfliehen durchirrte er die Straßen bis er sich in der Nähe des Schramm'schen Bierlokales fand und sich seines Versprechens erinnernd, in dasselbe eintrat. Absichtslos war er in diese Gegend gegangen, aber als er sich des Vorfalles im Café royal entsann, da erhob es sich für ihn zu einer Geschickesfügung, die ihn hieher geleitet. Mußte er nicht dem Manne, der sich Albert Bekon nannte und im Uebermuthe des Reichthumes seine Zeit verpraßte, den Beweis liefern, daß er weder durch die Launen des Wetters, noch durch die Launen der Frauen afficirt werden konnte? Heischte es nicht seine Ehre, dem vorlauten Schwätzer, der ihn merkwürdigerweise durchschauen zu können schien, mit kaltem Blute zu imponiren, nachdem er sich durch seine Herzensunruhe bloßgestellt hatte? Entschlossen, wenn gleich mit innerem Widerstreben, trat er in die Gaststube, die sich wirklich in Erwartung eines kleinen Spektakelstückes übermäßig gefüllt hatte. Man übersah seinen Eintritt keineswegs und ein lebhaftes Murmeln begrüßte den als geistreichen Satyriker bekannten Mann. Aber Albert Bekon war noch nicht gekommen. Vergebens wartete man des niemals fehlenden Gastes. Er blieb aus und man begann schon mancherlei Vermuthungen Raum zu geben, als endlich ein Freund von ihm erschien, der mit wichtiger Miene die Meldung brachte, »daß Albert Bekon durch ein Telegramm aus seiner Heimath abgerufen sei und wahrscheinlich als steinreicher Mann wieder erscheinen werde, denn sein Vater, ein Millionär, liege todtkrank darnieder.« Albert Bekon entging also dießmal der satyrischen Strafpredigt Ettingers, allein ob es nicht zu seinem Unglück war, daß sein Vater an diesem Tage starb, mag die Folge lehren.

Es war spät in der Nacht als der Staatsanwalt von Ettinger in Gesellschaft mehrerer Freunde das Lokal von Schramm verließ und sich unweit des Café royal von ihnen trennte um einsam an der Häuserreihe hinauf zu schlendern, die neben der Esplanade entlang standen. Dort am Ende dieser Häuserreihe wohnte Frau Adelheid Metthorst, für ihn ein verkörpertes Mißgeschick, welches die stille Glückseligkeit seines Daseins untergraben hatte. Seine Gedanken hingen sich, trotz allen Kampfes, immer wieder an Marilia's Beharrlichkeit in der Freundschaft, die er für jeden andern Fall achtungswerth gefunden haben würde. Unter stillem Grollen näherte er sich dem Metthorst'schen Hause. Prüfend musterte er die Fenster der zweiten Etage, wo noch ein schwaches Licht ersichtlich war. Dort weilte vielleicht das Mädchen, das seine Liebe geringer anschlug, als die Freundschaft – dort bethätigte sie wahrscheinlich in stiller Wirksamkeit die Unwandelbarkeit ihres Glaubens und Vertrauens auf eine Redlichkeit, die alle andern Menschen zu bezweifeln begannen. Und er wurde geopfert! Er mußte mit blutendem Herzen zurückstehen, während unzuverlässige, verdächtige Menschen das reine, edle Gefühl eines Mädchens in Anspruch nahmen.

Seine Erbitterung kehrte zurück. Er nahm sich vor, alles aufzubieten um Metthorst zu entlarven, um die Genugthuung haben zu können, Marilia's Ueberzeugung von seinem Werthe umzustürzen. Jetzt stand er still und betrachtete das schwache Licht hinter den Vorhängen. Es war überall um ihn her dunkel, nur dieß Licht ergoß einen Dämmerschein über die Straße. Dennoch sah und erkannte Ettinger einen Mann, der eiligst vom entgegengesetzten Ende herschritt, schnurstracks auf die Hausthür zuging und dort mit sicherem Griffe einen Glockenzug berührte. Ettinger erkannte mit Bestimmtheit Herrn Guido Metthorst, den seit Wochen Verschollenen und eine leidenschaftliche Wallung trieb sein Blut schneller zum Kopfe. Schon wollte er vorwärts eilen, um diesen Mann im Namen des Königs zu greifen, um ihn den Händen der Gerechtigkeit zu überliefern – da erstand Marilia's Bild in seiner Seele, wie sie um Schonung flehte – sein Schritt hemmte sich unwillkürlich und er flüsterte: »Mag er bis morgen seine Freiheit genießen – morgen wird er Rechenschaft ablegen über seine Flucht – morgen wird es sich entscheiden, daß er ein Schurke, ein Betrüger ist und Marilia mag dann mit zerrissenem Herzen beklagen, meine Warnungen mißachtet zu haben. Ich kann uns nicht helfen – unsere Liebe wird ein ewiger Schmerz für uns werden, statt daß sie eine himmlische Erdenseligkeit hätte sein können. Vorbei! Wer hätte das gedacht! Vorbei auf immer!«

Mittlerweile hatte sich oben das Licht geregt und war in dem Nebenfenster sichtbar geworden. Frau Metthorst erschien an diesem erleuchteten Fenster. Sie lehnte ihr bleiches Gesicht unschlüssig dagegen – dann öffnete sie rasch.

»Ist Jemand unten, der zu mir will?« fragte sie leise und deutlich.

»Adelheid – öffne schnell!« flüsterte der Mann, welcher geklingelt hatte.

»Allmächtiger Gott – Du?« rief sie sichtlich ergriffen. Das Licht verschwand um nach einer Weile im Hausflur zu erscheinen. Die Thür öffnete sich – stürmisch umfing der Mann die zitternde Gestalt seiner Gattin – die Thür fiel wieder zu.

Tief ergriffen schritt der Staatsanwalt von Ettinger weiter. »Sie lieben sich – wie verklärt sah das arme Weib aus – wie stürmisch schloß der Mann dieß arme Weib an seine Brust – sie lieben sich – es ist vielleicht der letzte Abend eines häuslichen Lebens für lange Zeit! – Ich aber kann und darf nicht zaudern – morgen streckt sich die Hand der Gerechtigkeit nach diesem Paare aus!«


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