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VII.
Schluss.

Wir sind am Ende unserer Darstellung. Bei einem so vielseitigen Schriftsteller, wie Nietzsche, ist es aber nicht möglich, alle seine Gedanken, die er über die verschiedensten Erscheinungen und Ereignisse in seinen Schriften zerstreut niedergelegt hat, einheitlich zusammenzufassen und darzustellen. Wir haben uns deshalb auf das Wichtigste beschränkt und nur das hervorgehoben, was die Eigenart und Persönlichkeit dieses geistreichen Schriftstellers am besten hervortreten lässt.

Nietzsche ist kein Systematiker, und dieser Umstand beweist zur Genüge, dass die eigentliche Richtung seines Geistes keine philosophische war. Denn das Streben zum System ist nicht eine belanglose Erscheinung, sondern der entscheidende Zug des reinen, philosophischen Denkens.

Bei aller Genialität, über die Nietzsche verfügt, ist es ihm doch nicht gelungen, eine Philosophie, ein System zu bilden. Seine Lehren ruhen zum grossen Teile auf morschem Grunde, sie sind zu sehr von der Leidenschaft getragen, die ein kühles Abwägen und eine ruhige Ueberlegung gar nicht aufkommen lässt.

Das Problem der Sittlichkeit hat Nietzsche sehr stark beschäftigt, diesem hat er auch seine grösste Aufmerksamkeit gewidmet. Die empirische Richtung seiner Ethik fasst die moralischen Gesetze als Naturgesetze der menschlichen Gattung auf. Er steht in dieser Beziehung auf dem Standpunkte der Entwicklungslehre, wonach die moralischen Empfindungen und Handlungen als aus den Naturbedingungen der menschlichen Existenz resultierend, anzusehen sind.

Nietzsche hat aber bei dieser Auffassung eine ganz wichtige Thatsache übersehen oder nicht anerkennen wollen. Wenn man auch nicht in Abrede stellen kann, dass auch die Moral einer allmählichen Entwicklung unterliegt, so darf man doch nicht vergessen, dass ihr Bestand einer willkürlichen Beeinflussung vollständig entrückt ist. Man kann nicht nach Belieben, wie es eben Nietzsche wollte, neue moralische Werte schaffen. Denn die Gesetze der Sittlichkeit bilden eine dem Einzelnen und der Gesamtheit übergeordnete Macht, eine Macht, die sich im Laufe der Zeit zu einer solchen herausgebildet hat und sich nicht ohne weiteres abschaffen lässt.

Nietzsche wollte oder konnte diese Notwendigkeit der Unterordnung des Individuums unter die Moral nicht anerkennen. Er wollte eine Umwertung aller Werte herbeiführen, ein Unternehmen, welches an Wahnsinn grenzt, und das aus einer falsch verstandenen naturwissenschaftlichen Anschauung hervorgegangen ist. Er sah nicht ein, dass sich sämtliche, auch die geringsten Lebensbedingungen, von Grund aus zuerst ändern müssten, wenn die Menschheit mit einem Male und ganz plötzlich mit anderen neuen, willkürlichen Wertschätzungen beginnen sollte. Kein Uebermensch kann diese Umwälzung vollziehen, weil Werte, und im besonderen moralische, nicht künstlich gebildet werden können: ihr Ent- und Bestehen ist die Frucht hundert- und tausendjähriger Entwickelung. Gut und Böse lässt sich nicht durch einen Machtspruch dekretieren, auch kann man diese Begriffe mit geistreichen Wortspielereien nicht in das Gegenteil umsetzen.

Es klingt nur allzuwahr, wenn Nietzsche sagt: »Nicht nur die Vernunft von Jahrtausenden – auch ihr Wahnsinn bricht an uns aus. Gefährlich ist es, Erbe zu sein« (Zarathustra S. 113). Charaktere wie Nietzsche dürfen aber nicht nach rein moralischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Wir haben es bei Nietzsche mit einem Gemütskranken zu thun, Moral und Medizin teilen sich hier in der Beurteilung, und es ist äusserst schwer, festzustellen, wem man das grössere Recht einräumen soll. Was der Kranke begeht, dafür kann man das Genie nicht verantwortlich machen.

Mit Nietzsche ist der moderne Individualismus in eine neue Periode eingetreten, denn das Pochen auf die Rechte des Individuums ist nicht neu und im Grunde genommen nichts anderes als eine neue, verfeinerte Form der Rechtfertigung der Zügellosigkeit. So lange Sitte und Sittlichkeit eng miteinander verbunden sind, müssen wir sie anerkennen, wir können uns bemühen, beide zu bessern und höhere Anschauungen anbahnen helfen, aber wir dürfen das, was der grossen Menschheit heilig ist, nicht mit Hohn und Gelächter überhäufen und verzerren. Neue sittliche Werte lassen sich nicht gewaltsam erzwingen, sie müssen langsam sich entwickeln, und es ist lächerlich und an Grössenwahn grenzend, wenn Nietzsche meint: »Diese Schläferei störte ich auf, als ich lehrte: was gut und böse ist, das weiss noch niemand: es sei denn der Schaffende!«

Ungewissen und schwankenden Menschen wird Nietzsche immer eine grosse Begeisterung abzwingen, sie werden ihn als Apostel der Wahrheit und als Deckmantel ihrer eigenen Handlungen verehren, weil sie unfähig sind, die grossartige Entwicklung der Menschheit zu übersehen, und doch das Bedürfnis haben, über den Weltzusammenhang sich belehren zu lassen. Sie werden in Nietzsche einen sehr geistvollen Lehrer und äusserst nachsichtigen Beurteiler ihrer eigenen selbstsüchtigen Handlungen sehen, obwohl er, im Grunde genommen, diese kleinlichen Menschlein mit ihren Alltagsfreuden und Sorgen verachtet und mit Hohn überhäuft.

All diejenigen, die eigenen niedrigen Trieben und Interessen nachgehen, die ihr teures Ich zum Mittelpunkte ihrer kleinlichen Bestrebungen machen und die im Kampfe um ihr belangloses Dasein keine Mittel scheuen, um nur zum Ziele ihrer Wünsche zu gelangen, all diejenigen berufen sich – aber mit Unrecht – auf Nietzsche und beschwichtigen den Rest ihres zerrütteten Gewissens, indem sie mit dem Uebermenschen ausrufen: Es giebt keine Moral, nichts ist verboten, alles ist erlaubt. Sie missbrauchen Nietzsche, indem sie ihn als Verteidiger ihrer Brutalität, ihrer Selbstsucht und Rücksichtslosigkeit ansehen. Sie sind keine Uebermenschen, sie sind Unmenschen. Alles lässt sich ja missbrauchen, zumal bei Nietzsche seine Ausdrucksweise eine sehr dehnbare ist. Er ahnte auch sein Schicksal, als er sagte, er will nicht von allen verstanden werden und er zog auch Dornenhecken um seinen Garten, damit das Vieh nicht so leicht einbrechen könne.

Wer das arbeitsreiche und aufopfernde Leben dieses selbstlosen Denkers und Dichters kennt, der wird trotz der grossen und häufigen, unbewussten und absichtlichen Widersprüche, die wir auf fast jeder Seite seiner Schriften finden, Nietzsche als himmelstürmenden Idealisten ansehen müssen. Auch die Bitterkeit und der Hohn, mit denen er das Weib behandelt, legt von einem idealistischen Glauben Zeugnis ab, der auf eine schmerzliche Weise verloren gegangen ist.

Es ist daher ungerecht, wenn man Nietzsche einen groben Materialisten nennt, der den Erfolg um jeden Preis als oberstes moralisches Prinzip hinstellt. Auch an solchen Stellen, wo er ohne Umschweife das Recht der Individualität, den Kultus der Persönlichkeit scharf betont, ist er noch immer ein traumversunkener, weltflüchtiger Idealist, der höheren Zielen zustrebt. Dass diese Ziele und die zur Erreichung derselben vorgeschlagenen Wege sich nicht immer mit der hergebrachten moralischen Ordnung decken, ist klar, aber das berechtigt nicht dazu, Nietzsche als einen Verbrechertypus hinzustellen, der die Bestie im Menschen verherrlicht, trotzdem dass viele Züge seines Uebermenschen eine auffallende Aehnlichkeit mit den von Lombroso geschilderten Verbrechern besitzen.

 


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