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III.
Das Problem der Sittlichkeit.

Als Philosoph ist Nietzsche von Schopenhauer ausgegangen, beide sehen im Willen die Urmacht und das Leben erhaltende Prinzip. Aber ausser Schopenhauer hat er noch andere geistige Vorfahren, von denen seine Abhängigkeit nachweisbar ist, trotzdem er sich gegen dieselben auflehnt und sie schonungslos verspottet. So nennt er z. B. Kant einen verwachsenen Begriffskrüppel, Sokrates einen Hanswurst und Spinoza einen Hokuspokusmacher.

Wie schon an einer früheren Stelle angedeutet wurde, ist Nietzsche zur Untersuchung der moralischen Werte und der Entstehungsgeschichte derselben durch Dr. Paul Rée und sein Werk » der Ursprung der moralischen Empfindungen« geführt worden. Auch seine Abhängigkeit von den englischen und französischen Moralphilosophen wurde erwähnt. Inwiefern er selbst das Studium dieser Quellen getrieben hat, bleibt für unsere Untersuchung gleichgültig, ebenso, ob noch andere Schriftsteller als seine bewussten oder unbewussten Vorgänger und Anreger anzusehen sind.

Nietzsche ist ein Skeptiker, er bezweifelt alles, was bisher als wahr, gut und edel, als falsch, schlecht und verwerflich angesehen wurde. Er glaubt an keine feststehende Wertschätzung, die Grenzen des Guten und Schlechten werden verschoben und sogar gänzlich aufgehoben. Für die bisherige Begründung der Sittlichkeit bekundet er eine grosse Geringschätzung. Dieser Zweifel und diese Verachtung ist nicht mehr neu. Schon die griechischen Sophisten kannten das und suchten sogar daraus Kapital zu schlagen. Für sie war der Mensch, das Individuum das Mass aller Dinge und Werte. Es gab auch später grosse und geistreiche Skeptiker, die die Sittlichkeit als eine wechselvolle, den menschlichen Schwächen, Zu- und Misständen entsprungene Erscheinung hinstellten. Einer der bedeutendsten war Montaigne (1533-1592), der durch seine zündenden Essays den Geist der Zweifelsucht in Frankreich verbreitete und den Nährboden für den Sensualismus der Encyklopädisten abgab.

Wir unterlassen es auf die weiteren Erscheinungen der philosophischen Skepsis einzugehen und heben nur hervor, dass sie das Ergebnis einer überreichen Kultur ist und nur da hervortritt, wo bereits die Forschung eine Höhe und Breite erreicht hat, die eine Sichtung und Zusammenfassung, unter Ausscheidung der sich widersprechenden Meinungen verlangt.

Da wir bei Nietzsche keine einheitliche Darstellung des ethischen Problems finden, sondern nur aphoristische Auslassungen über diesen Gegenstand, so wollen wir dieselben aus seinen Schriften nach ihrer inhaltlichen Zusammengehörigkeit wörtlich anführen, um auf diese Weise dem Leser die Möglichkeit einer unbefangenen Kritik zu gewähren.

Den Ursprung der Moral denkt sich Nietzsche folgendermassen:

»Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen: »was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes); was mir einmal oder einigemale schadet, das ist das feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einigemale nützt, das ist das freundliche an sich und in sich.« O pudenda origo! Heisst das nicht: die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige Relation eines Anderen zu uns als sein Wesen und Wesentlichstes auszudichten und zu behaupten, er sei gegen alle Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemale erlebt haben? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Prinzip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst? (Morg. Nr. 102).

Sittlichkeit ist nach Nietzsche nur Gehorsam gegen die Sitten vergangener Jahrhunderte. Sittlichkeit ist die herkömmliche Art zu handeln und zu urteilen. Daher giebt es auch in Dingen, wo kein Herkommen vorhanden ist, keine Sittlichkeit. Die Sitte fasst die Erfahrungen früherer Menschen über das angeblich Nützliche oder Schädliche zusammen, und überliefert sie auf spätere Generationen, ohne daran zu denken, dass die Geltungssphäre dieser Erfahrungen bereits durch veränderte Umstände aufgehoben oder eingeschränkt wurde. Das Alter der Sitte ist die beste Garantie für die Heiligkeit derselben, man wagt nicht an altüberlieferten Vorstellungen und Gewohnheiten zu rütteln. Das ist eben die Indiskutabilität der Sitte.

Diese Indiskutabilität der Sitte ist die Ursache der Verdummung und der Einschränkung der moralischen Freiheit, man thut alles aus Gewohnheit, und wer sich dagegen auflehnt, wird als unsittlich verschrieen. Die Religionen und die Moral aller Zeiten haben immer diesen Grundsatz, die Unantastbarkeit der Sitte gepredigt.

»Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst: Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich! … Jede Moral, jede Religion ist dieser Imperativ – ich nenne ihn die grosse Erbsünde der Vernunft, die unsterbliche Unvernunft« (Götzen-Dämmerung S. 92).

»Moralisch sittlich ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben … Gut nennt man den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, … Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf Gut und Böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, eines Volkes … Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral als die, welche unegoistische Handlungen verlangt« (Menschl. Allzum. I Nr. 96).

Aus diesen Anführungen ist schon zu ersehen, dass die Voraussetzung der Sittenlehre Nietzsches in der Entwickelungslehre Darwins zu suchen ist. Der Anfang der Menschheit ist aus einem primitiven Tierzustande herzuleiten. Unter den zahllosen menschlichen Handlungen sind nun einzelne durch den Nutzen, den sie mit sich führten, als nachahmenswert anerkannt worden, während die schädlichen unter Androhung von Strafe unterdrückt wurden. Nietzsche ist mit dieser Auffassung ein Vertreter der fortbildenden Sittlichkeit. Nach ihm verliert der Mensch mit der Zeit den Einblick in die wirklichen Folgen und Zwecke der moralischen Handlungen, wodurch der Sittlichkeit der Sitte die Existenzmöglichkeit geboten wird. Man thut dann aus Gewohnheit, was man früher nur mit Rücksicht auf irgend einen Nutzen zu thun pflegte. Darauf bezieht sich am deutlichsten folgende Stelle:

»Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommnis flüchtig abgelesen, wurden sehr schnell unverständlich … aber indem man darüber hin und her riet, wuchs das Objekt eines solchen Grübelns an Wert, und gerade das Absurdeste eines Gebrauches ging zuletzt in die heiligste Heiligkeit über … Die Angst vor dem Unverständlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Ceremonien forderte, ging allmählich in den Reiz des Schwerverständlichen über, und wo man nicht zu ergründen wusste, lernte man schaffen« (Morg. Nr. 40).

Nietzsche wendet die Entwicklungstheorie auf das moralische Gebiet an. Es ist eine direkte Uebertragung der Lehre Darwins auf die Ethik. Denn, gleich Darwin, erklärt auch er die menschlichen Handlungen als das Ergebnis natürlicher Kräfte. Eine Erklärung der sittlichen Vervollkommnung der Menschheit aus irgend welchen idealen moralischen Forderungen und Zwecken will er gar nicht gelten lassen. In jedem Ideal sieht er nur den Ausdruck eines natürlichen Triebes, welcher befriedigt sein will. Die Tugend und das Laster sind Gebilde der sich entwickelnden Menschheit, es kommt ihnen deshalb kein specieller moralischer und objektiver Wert zu.

»Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind Furcht und Hoffnung … Weitere Stufen der Moral … sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz); noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem » du sollst« – alles noch ziemlich grob zugehauene, aber breite Stufen, weil die Menschen auf den feineren, schmaleren ihren Fuss noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine Moral der Neigung, des Geschmacks; endlich die der Einsicht – welche über alle illusionäre Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine andern haben durfte« (Menschl. Allzum. II. S. 227).

Nietzsche will die Moral nicht auf einem metaphysischen Unterbau errichten, für ihn ist sie eine Erscheinung gleich vielen anderen, die natürlichen Gesetzen unterliegt und die nur mit Hilfe dieser Gesetze erklärt werden kann. Dieser Standpunkt ist nicht neu, wie schon an einer anderen Stelle hervorgehoben wurde. Auch die Folgerungen, die Nietzsche aus seiner Betrachtungsweise zieht, bieten nichts neues. Da die Moral und das Wesen derselben darin liegt, dass man seine Handlungen auch mit Rücksicht auf die Mitmenschen thun oder unterlassen soll, so meint er, dass dieser Standpunkt ein recht kleinlicher ist. Ihm scheint es viel höher und freier, über die Folgen, die unsere Handlungen für die anderen haben, hinwegzusehen und seine eigenen Zwecke unter Umständen » auch durch das Leid des Anderen« zu fördern.

Nietzsche zerstört jede moralische Empfindung, an der bisher die Menschheit sich erfreut hat. Er nimmt eine Sezierung der moralischen Triebe vor und es freut ihn, die Motive der menschlichen Handlungen als hässlich und selbstsüchtig hinzustellen. Auf diesem Wege gelangt er allmählich dazu, die Sittlichkeit überhaupt zu leugnen.

»Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definiert hat, welche um des Anderen willen und nur um seinetwillen gethan werden, so giebt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch – wie eine andere Definition lautet –, welche in Freiheit des Willens gethan werden, so giebt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! – Und was ist also das, was man so nennt und das doch jedenfalls existiert und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger intellektueller Fehlgriffe« (Morgenröte Nr. 148). Etwas klarer geht diese Verneinung der Sittlichkeit aus folgender Stelle hervor:

»Ich leugne also die Sittlichkeit »Wie ich die Alchymie leugne, das heisst ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht – wie sich von selber versteht, vorausgesetzt dass ich kein Narr bin –, dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine: das eine wie das andere aus anderen Gründen als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: umzufühlen (Morgenr. Nr. 103).

Nietzsche entwickelt seine Moral im Gegensatze zu Schopenhauer, der das Mitleid für die wahre Grundlage und für die einzige Quelle der Sittlichkeit erklärt. Er bekämpft die Mitleids-Moral und sieht in ihr ein Symptom, welches zu einem neuen Buddhismus, zum Nihilismus führt. »Ach, wo in der Welt geschehen grössere Thorheiten als bei den Mitleidigen? Und was in der Welt stiftete mehr Leid als die Thorheiten der Mitleidigen?« Das weiche, gefühlvolle Mitleid entnervt den Menschen und erhält was zum Untergange bestimmt ist. »Die Schwachen und Missratenen sollen zu Grunde gehen. Und man soll ihnen noch dazu helfen,« das verlangt die höhere Sittlichkeit, die Moral des Uebermenschen. Einst hatte Nietzsche mit Schopenhauer das Leben verneint und gleich ihm die Quelle aller Moral im Mitleide gefunden. Jetzt bejaht er das Leben und verneint das Mitleid.

Nietzsche geht der Entstehung und Entwicklung der moralischen Triebfedern nach, um desto leichter ihre ganze Relativität, ihr »menschliches, allzumenschliches« nachzuweisen und um dem Leser klar zu machen, dass man einem durch menschliche Zu- und Missstände geschaffenen Gesetze keinen Gehorsam schulde. Es giebt kein an und für sich Gutes, ebenso wie es kein wirklich Böses giebt.

Die Relativität des Guten und Bösen findet man schon bei Spinoza, der ausdrücklich lehrte, dass die Begriffe des Guten und Bösen nichts Positives in den Dingen bezeichnen, sondern Gedanken der Menschen aus der Vergleichung der Einzeldinge und aus der Beziehung letzterer auf das Ich sind. Aehnlich erklärte auch Stirner die Tugend und das Laster, aber keiner von ihnen hat es so eindringlich und für weitere Kreise so plausibel auszudrücken verstanden, wie Nietzsche. Er wiederholt dies an unzähligen Stellen, aber immer wieder in einer neuen Form, so z. B. heisst es an einer Stelle:

»Gute Handlungen sind sublimierte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute … Ja in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird bei einem Rückblick all unser Handeln und Urteilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urteilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt. – Dies alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen.(Menschl. Allzum. I. Nr. 107).

Nietzsche wendet sich mit Entschiedenheit gegen Kant und seine Forderung, die er im kategorischen Imperativ ausgedrückt hat. Er nennt ihn und seine Moral eine steife Tartüfferie, die auf dialektischen Schleichwegen zu ganz falschen Resultaten führt und verführt. Der hohe sittliche Ernst des Königsberger Philosophen wird in den Staub gezerrt und ins lächerliche gezogen. Nietzsche nennt die Moral eine Notlüge, die nur deshalb nötig ist, weil ohne ihre Irrtümer der Mensch ein Tier geblieben wäre. Da es also kein wirklich Gutes noch Böses giebt, so bekämpft er mit Entschiedenheit jede aus einem sogenannten Schuldbewusstsein hervorgehende Reue. Wozu noch bedauern, sich kasteien und Gewissensbisse heraufbeschwören, da es doch in Wirklichkeit keine Sünde und kein Vergehen giebt! Es ist auch lächerlich, für eine schlechte Handlung noch bestraft zu werden.

Das Verwerfen der Reue nimmt einen breiten Platz in seinen Werken ein und wir heben nur einige wichtigere Stellen hervor.

»Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: dies hiesse ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. – Hat man Schaden gestiftet, so sinne man darauf Gutes zu stiften. Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit der Empfindung, damit schon etwas Gutes zu stiften: man schreckt die anderen ab, in die gleiche Thorheit zu verfallen. Jeder gestrafte Uebelthäter darf sich als Wohlthäter der Menschheit fühlen« (Menschl. Allzum. II. S. 364).

» Es giebt gar keine ewige Notwendigkeit, welche forderte, dass jede Schuld gebüsst und bezahlt werde, – es war ein schrecklicher, zum kleinsten Teile nützlicher Wahn, dass es eine solche gebe –: ebenso wie es ein Wahn ist, dass alles eine Schuld ist, was als solche gefühlt wird. Nicht die Dinge, sondern die Meinungen über Dinge, die es gar nicht giebt, haben den Menschen so verstört!« (Morgenröte Nr. 563).

»Damit, dass jemand sich schuldig, sündig fühlt, ist schlechterdings noch nicht bewiesen, dass er sich mit Recht so fühlt; so wenig jemand gesund ist, bloss deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen – Prozesse: damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege; die Hexen selbst zweifelten nicht daran, – und dennoch fehlte die Schuld« (Zur Genealogie der Moral S. 442).

Nicht nur die Relativität der Sittlichkeit, sondern ihre Gültigkeit überhaupt wird in Frage gestellt und bekämpft. Da die Menschen sich ihr Gutes und ihr Böses gebildet haben, so muss man aus dieser Einsicht auch die Folgerungen ziehen. Gleichnisse sind alle Namen von Gut und Böse, nur der Thor nimmt sie als Wirklichkeiten an und unterwirft sich den alten Werten blindlings. Diese Unterwerfung aber ist nach Nietzsche das Gefährlichste an der Tugend, weil sie das Denken, die Selbständigkeit des Handels und Empfindens beeinträchtigt und gegen diese Unterwerfung wendet er sich mit den Worten: »… eine unklare Angst und Ehrfurcht soll den Menschen unverzüglich gerade bei jenen Handlungen leiten, deren Zwecke und Mittel ihm am wenigsten sofort deutlich sind! Diese Autorität der Moral unterbindet das Denken, bei Dingen, wo es gefährlich sein könnte, falsch zu denken –: dergestalt pflegt sie sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Falsch: das heisst hier »gefährlich,« – aber gefährlich für wen? Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern ihre Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung, sobald das Recht, willkürlich und thöricht, nach eigener, kleiner oder grosser Vernunft zu handeln, allen zugestanden wird: für sich selber nämlich machen sie unbedenklich Gebrauch von dem Rechte der Willkürlichkeit und Thorheit, – sie befehlen, auch wo die Fragen »Wie soll ich handeln? wozu soll ich handeln?« kaum oder schwierig genug zu beantworten sind –« (Morgenr. Nr. 107).

Die Vorschriften, welche man moralisch nennt, meint Nietzsche, sind zur Einschränkung der persönlichen Freiheit und gegen das Glück der Gesamtheit gerichtet, denn sie verlangen Opfer und Entbehrungen. Es ist eine Art Grausamkeit, wie bei den kannibalischen Völkern, deren Götter Opfer fordern. Der Mensch soll sich daher von diesen herkömmlichen Anschauungen frei machen, er darf auf das moralische Urteilen und Verurteilen kein Gewicht legen; wer das nicht thut, ist geistig beschränkt.

Trotz dieser ablehnenden und feindlichen Haltung der Moral gegenüber dürfte man Nietzsche nicht zu den Immoralisten zählen. Um ihm gerecht zu werden, muss man sich auf seinen Standpunkt stellen, den er folgendermassen formuliert:

»Gedanken über moralische Vorurteile, falls sie nicht Vorurteile über Vorurteile sein sollen, setzen eine Stellung ausserhalb der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fliegen muss, … Der Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Wertmasse seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nötig, diese Zeit in sich selbst zu »überwinden« – es ist die Probe seiner Kraft« (Fröhl. Wissenschaft, S.339/40).

Ausserdem finden wir auch Aeusserungen, die für die Tugend im hergebrachten Sinne scharf eintreten. So z. B. heisst es in » Menschliches Allzumenschliches« II, S. 50:

»Man scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst wenn man deutlich einsieht, dass nichts als Egoismus – also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm – die dazu treibenden Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch: gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Mass und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre Beiworte lauten mögen! Erreicht man nämlich das, wozu sie rufen, so veredelt die erreichte Tugend, vermöge der reinen Luft, die sie atmen lässt, und des seelischen Wohlgefühls, das sie mitteilt, immerfort die ferneren Motive unseres Handelns, und wir thun dieselben Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröbern Motiven, welche uns früher dazu führten. –«

Aehnliche Aeusserungen sind nicht selten und dürfen bei der Beurteilung Nietzsches durchaus nicht ausser acht gelassen werden. So heisst er im ersten Bande von »Menschlich Allzumenschliches« S. 385: »Des Tages erster Gedanke. – Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn dies als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vorteil bei dieser Aenderung.«

Es wäre ganz verfehlt, wenn man bei Nietzsche seine innere persönliche Ueberzeugung mit seinen Aussprüchen identifizieren wollte. Bei keinem Denker vielleicht ist Theorie und Praxis schärfer zu sondern als bei ihm. Er selbst gehört zu denjenigen, die Wein predigen und Wasser trinken Er war in seinem Wesen äusserst zartfühlend, wohlwollend und opferfähig, er litt zuweilen sehr hart unter diesen Eigenschaften und wollte sich von ihnen befreien, indem er sie als schlecht, das Leben hemmend und verneinend hinstellte. Er kämpfte vergebens gegen die alten moralischen Werte an, denn er selbst unterlag ihnen nur allzuhäufig. Oberflächliche Leser sind daher sehr leicht geneigt, Nietzsche selbst als einen verkörperten Uebermenschen, als einen schonungslosen Barbaren und Genussmenschen aufzufassen. Sie vergessen aber den Ausspruch: »Wohlbefinden, wie ihr es versteht, – das ist ja kein Ziel, das scheint uns ein Ende. – Die Zucht des Leidens, des grossen Leidens – wisst ihr nicht, dass nur diese Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat.« Nichts ist ihm im Grunde widerwärtiger, als der Gedanke an sinnliches Behagen und Geniessen, er wiederholt oft: »Man soll nicht geniessen wollen«.

Man muss deshalb auch an die anderen Aussprüche Nietzsches denken, und wenn man auch nicht in ihnen seine eigentliche Grundstimmung, seine innere Ueberzeugung zu erkennen geneigt sein sollte, so verdienen sie doch bei seiner Beurteilung dieselbe Beachtung, wie die anderen Behauptungen. Er verteidigt zuweilen sogar die Moral aus ganz konservativen und utilitarischen Gründen, was z. B. aus folgender Stelle zu ersehen ist:

»Eignes Unrecht, das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen, als fremdes, das einem zugefügt wurde (nicht gerade aus moralischen Gründen, wohlgemerkt –); der Thäter ist eigentlich immer der Leidende, wenn er nämlich entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht, dass er die Gesellschaft gegen sich durch seine Handlungen bewaffnet und sich isoliert habe. Deshalb sollte man sich, schon eines inneren Glückes wegen, also um seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, ganz abgesehen von allem, was Religion und Moral gebieten, vor dem Unrecht-Thun in acht nehmen, mehr noch als vor dem Unrecht-Erfahren: denn letzteres hat den Trost des guten Gewissens, der Hoffnung auf Rache, auf Mitleiden und Beifall der Gerechten, ja der ganzen Gesellschaft, welche sich vor dem Uebelthäter fürchtet« (Menschl. Allzum. II, S. 38).

Wir haben gesehen, dass Nietzsche die moralischen Werte auf die Sitte, das Herkommen und die Gewohnheit, wobei allerdings ursprünglich Nützlichkeitsgründe bestimmend waren, die aber im Laufe der Zeit vergessen wurden, zurückführte. Ausser dieser Annahme finden wir noch eine andere, die das Entstehen der moralischen Empfindungen und Werte auf andere Weise zu erklären sucht. Die erste Erklärung, meint Nietzsche, kann höchstens für die Entstehung der Sklaven-Moral zutreffend sein, für die Herren-Moral muss ein anderer, edlerer Ursprung gefunden werden.

Zum Wesen der Herrenmoral gehört es, dass eine Handlung ohne Rücksicht auf den Nutzen beurteilt wird. Die Vornehmen, die Mächtigen, die grossen Herren sind es, welche sich selbst und ihr Thun, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Gemeinen, Schwachen, Abhängigen als gut nannten. Die Furchtsamen, die Sklaven, ihr Thun und Lassen waren im Gegensatze zu dem Handeln der Herren immer schlecht. Alles, was vom Starken, Befehlenden stammt ist gut, was dagegen der Sklave macht, ist schlecht. Die Sklavenmoral entsteht aus dem Rachegefühl derselben, es ist die Rache, die Bosheit der Ohnmächtigen, die alles was der herrschenden Klasse angehört böse nennt, und erst im Gegensatze zu diesem Bösen das Gute findet. Gut ist demnach für die Sklaven alles, was die Herren verachten, also das Schwache, Leidende und Unterdrückte.

»Während alle vornehme Moral aus einem triumphierenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem »Ausserhalb,« zu einem »Anders,« zu einem »Nicht-selbst«: und dies nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des wertesetzenden Blicks – diese notwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehen, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äussere Reize, um überhaupt zu agieren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Wertungsweise der Fall: sie agiert und wächst spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff »niedrig,« »gemein,« »schlecht« ist nur ein nachgebornes, blasses Kontrastbild im Verhältnis zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff »Wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glücklichen!« (Zur Genealogie der Moral S. 317.) Und in derselben Schrift (S. 326) heisst es: »das Problem vom anderen Ursprung des »Guten,« vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluss. – Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen »diese Raubvögel sind böse; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, – sollte der nicht gut sein?« so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals nichts auszusetzen, sei es auch, dass die Raubvögel dazu ein wenig spöttisch blicken werden und vielleicht sich sagen: »Wir sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar: nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.« – Von der Stärke verlangen, dass sie sich nicht als Stärke äussere, dass sie nicht ein Ueberwältigen-Wollen, ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig, als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere.«

Die Herren-Moral ist dem Gefühle der Macht entsprungen, und was die grosse Masse heute unter Moral versteht, ist nach Nietzsche eine Sklaven-Moral, eine Moral der Schwachen, Feigen, eine Moral des Ressentiments und der Dékadence. Nicht immer war sie die herrschende, aber es gelang ihr durch den » Sklavenaufstand in der Moral« die Herrschaft an sich zu reissen. Das Christentum hat diese Umkehrung der alten ursprünglichen Werte in ihr Gegenteil bewirkt. Solange Rom von der Herren-Moral regiert wurde, war es gross und mächtig, als aber das Christentum in Rom zum Siege gelangte und es mit seinem » Gifte« verseuchte, schwand auch seine Macht. Die Renaissance wollte zu den alten Werten, zur Herren-Moral zurückkehren, da kam Luther, der den Sklavenaufstand in der Kirche bewirkte. Daher auch Nietzsches Hass gegen alles, was mit dem Christentum zusammenhängt.

Die Herren-Moral kümmert sich wenig um gut und schlecht, für sie ist das unbändige Ausleben des Individuums, das Erstarken der Instinkte, die Hauptsache. Dagegen muss der im Sinne der Sklaven-Moral » Gute« ein ungefährlicher Mensch, gutmütig und wohlthätig sein. Die Sklaven-Moral in diesem Sinne ist aber der Kern des Christentums mit seiner Forderung der Nächstenliebe. Daher hasst auch Nietzsche alles, was christlich ist, und was in diesem Sinne als gut anerkannt wird. Er sagt: »Jedes Volk hat seine Tartüfferie und heisst sie Tugenden.« Der Starke, der Herr braucht sich aber um eine derartige Tugend nicht zu kümmern. Denn das moralische Verurteilen ist die Rache der Beschränkten an denen, die es nicht sind, und eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden.

Diese Herren-Moral Nietzsches ist wissenschaftlich und historisch betrachtet eine kühne Erfindung, der keine wirkliche Thatsache zu Grunde liegt. Sie ist eine ganz willkürliche und mechanische Zusammensetzung grundverschiedener historischer und psychologischer Erscheinungen.

Einen Sklavenaufstand in der Moral gab es in Wirklichkeit nie. Nietzsches Entwickelungsgeschichte der Herren- und Sklaven-Moral ist ein genealogisches Märchen, zur Begründung einer aprioristischen Idee erfunden. Es liegt ein ganzes Stück Originalitätssucht in dieser philosophisch-dichterischen Komposition. Er wollte was ganz neues bieten, etwas was die Aufmerksamkeit der Welt auf ihn lenken sollte. Er wollte die Moral auf ganz neuer und interessanter Grundlage aufbauen, die bisherige Begründung und Erklärung der Moral war ihm zu langweilig. Er sagt ja selbst:

»Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moralphilosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte – und dass die Tugend durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist als durch diese Langweiligkeit ihrer Fürsprecher: womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, – es liegt folglich sehr viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde!« (Jenseits von Gut und Böse Nr. 228.)


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