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II.
Dichter und Philosoph.

Nietzsche gehört zu den interessantesten Erscheinungen der modernen Kultur. Vielseitig, wechsel- und widerspruchsvoll bietet er jedem Leser etwas, was seinem Gemüte oder Verstande zusagt. Anschauungen und Behauptungen, wissenschaftliche und persönliche, werden in stimmungsvollen, fein geschliffenen Aphorismen niedergelegt, die zwar nicht die kühl abwägende Vernunft, aber umsomehr das empfängliche Gemüt gefangen nehmen.

Nietzsche ist ein Dichter, der scharf beobachten kann und diese seine Beobachtungen in eine gefällige, blendende und paradoxe Form zu kleiden versteht. Darin liegt seine Stärke, aber auch seine Schwäche, denn was dem Dichter zugestanden werden kann, darf nie der Denker für sich in Anspruch nehmen. Man findet deshalb bei Nietzsche Dichtung und Philosophie nicht scharf gesondert, und man ist oft geneigt, seine Philosophie für Dichtung und seine Dichtung für Philosophie anzusehen. Und zwar nicht mit Unrecht. Denn seine Art zu schreiben, gleicht seiner Art zu denken; man vermisst nur zu oft die klare Fassung des Problems und die strenge Durchführung des Gedankens. Gleich- oder ähnlichlautende Worte verleiten ihn zu Gedankenzusammenhängen, die miteinander nichts gemeinsames haben. So sagt er z. B.: »Euer Eheschliessen: seht zu, dass es nicht ein schlechtes Schliessen sei! Ihr schlosset zu schnell: so folgt daraus – Ehebrechen! Und besser noch Ehebrechen als Ehe-biegen, Ehe-lügen! – So sprach mir ein Weib: »wohl brach ich die Ehe, aber zuerst brach die Ehe – mich!« (Zarathustra S. 307). Man achte hier auf den ganzen Gedankengang, der vom Wortklange »biegen – lügen« und von der geläufigen Wortverbindung »biegen – brechen« beherrscht wird. Aehnliche von Wortklängen beeinflusste Aussprüche findet man an vielen Stellen. So heisst es z. B. im Zarathustra S. 271: »Wer alles bei den Menschen begreifen wollte, der müsste alles angreifen. Aber dazu habe ich zu reinliche Hände.« Oder auf S. 306: »Ihr Unterhalt – das ist ihre rechte Unterhaltung.« Auf diese billige Weise kommt Nietzsche sehr oft zu seinen Gedanken. Zuweilen häufen sich bei ihm die Bilder, ohne dass die Vorstellung dadurch an Klarheit gewinnt. »– wer hasste dich (Leben) nicht, dich grosse Binderin, Umwinderin, Versucherin, Sucherin, Finderin! Wer liebte dich nicht, dich unschuldige, ungeduldige, windseilige, kindsäugige Sünderin! Wohin ziehst du mich jetzt, du Ausbund und Unband? Und jetzt fliehest du mich wieder, du süsser Wildfang und Undank!« (Zarathustra S. 329).

Zuweilen erzielt er mit dieser Sprache und diesen Bildern die grössten Effekte, besonders da, wo es sich darum handelt, Stimmungen hervorzurufen und Seelenzustände zu schildern. Eine einheitliche Philosophie sucht man bei Nietzsche vergebens, denn in seinen Schriften tritt uns kein festes, abgeschlossenes System, keine systematisch durchdachte und ausgeführte Weltanschauung entgegen. Es wechseln vielmehr die Meinungen und Ansichten, je nach der Laune und Stimmung des Dichters. Es sind Stimmungsbilder, etwas gespannte, zuweilen überspannte Seelenzustände, die durch ihre meisterhafte Darstellung den Leser packen. Nietzsche widerspricht sich sehr oft und zwar mit voller Absicht: »Ich verwandele mich zu schnell: mein Heute widerlegt mein gestern« heisst es im Zarathustra.

Man darf deshalb bei der Beurteilung Nietzsches mit der wissenschaftlichen Genauigkeit und Methode es durchaus nicht so genau nehmen, denn sonst gelangt man zu Resultaten, die sein Verständnis beeinträchtigen. Es ist überhaupt gegen seinen Wunsch, überall tiefe Wahrheiten und etwas ganz besonderes suchen zu wollen. Er sagt ja selbst: »Wer die Stelle eines Autors tiefer erklärt, als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern verdunkelt« (Menschl. Allzum. II, S. 203). Es scheint sogar, dass Nietzsche manchmal absichtlich unverständlich sein will: »Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, – er wollte nicht von ›irgend jemand‹ verstanden werden« (Die fröhliche Wissenschaft S. 340). Diesen Grundsatz haben sich auch viele Verehrer Nietzsches zu eigen gemacht, ohne aber dieselbe Berechtigung dazu zu haben. Die moderne Litteratur wimmelt von solchen dunkelen Stellen, die durch Unklarheit und Unsinn den Schein einer tieferen Erfassung der Welt und des Lebens für sich in Anspruch nehmen wollen.

Auf Nietzsche passen die Worte, die er Lorenz Sterne, den er den freiesten Schriftsteller nennt, widmet: »Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht: denn er versteht sich auf beides in einer Faltung seines Gesichtes, er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich Recht und Unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwickelungen der Geschichte; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, … So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege: ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist … Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben – … Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein: seine Eichhorn-Seele sprang mit unbändiger Unruhe von Zweig zu Zweig; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt; … Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch« (Menschl. Allzum. II, S. 63 f.).

Man muss Nietzsche von künstlerischen Gesichtspunkten aus betrachten, denn er war eine echte Künstlernatur, die sich nur psychologisch, aber nicht logisch erklären lässt. Er will gar nicht als Philosoph und Gelehrter angesehen werden, trotzdem er sich nur zu oft für einen der bedeutendsten Philosophen hält. Er sagt ja selber: »Wir sind etwas anderes als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehen ist, dass wir auch, unter anderem, gelehrt sind. Wir haben andere Bedürfnisse, ein anderes Wachstum, eine andere Verdauung: wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger« (daselbst S. 341). Er betrachtet es für überflüssig, seine Meinungen zu beweisen, ein Künstler hat es gar nicht nötig, auf den Verstand, sondern auf die Sinne zu wirken: »… ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch selbst gegen die Schicklichkeit des Beweisens,« das ist sein schriftstellerisches Glaubensbekenntnis.

Nietzsche ist ein Dichter, der über ernste philosophische Probleme dichtet. Als philosophischer Dichter ist er in erster Reihe ein grosser Zweifler, für den es keine feststehende Wahrheit giebt, und es ist deshalb ein grosser Widerspruch, wenn er glaubt, eigene Wahrheiten gefunden zu haben. Für ihn ist ja die Wahrheit ein Weib, er nennt sie falsch, kokett, lügenhaft, aber trotzdem begehrlich. Auf diese Weise zerstört er den Begriff der Wahrheit, und wir machen nur von dieser seiner Auffassung in seinem eigenen Sinne Gebrauch, wenn wir nicht alle seine Lehren als Wahrheiten ansehen. Es ist ihm um seine Meinungen nicht so sehr zu thun, er kann sie ja, sobald er es für begehrenswert hält, gegen andere, wenn auch nicht immer bessere, eintauschen: »Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen: wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, dass wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen« (daselbst S. 367).

Er bekämpft alles, was bis jetzt die Kultur der gesamten gesitteten Welt hervorgebracht hat, er ist ein grosser und starker Zerstörer, der mit scharfen Werkzeugen den Kulturbau angreift und niederreisst Es ist geradezu eine dämonische Lust am Zerstören, die uns bei ihm entgegentritt, ein Schwelgen im Aufdecken der Widersprüche. Es ist ihm nicht darum zu thun, das Falsche zu widerlegen und das Wahre an dessen Stelle aufzurichten, denn er stellt zuweilen das Falsche viel höher als die Wahrheit, was aus folgender Stelle in » Jenseits von Gut und Böse« Nr.4 zu ersehen ist:

»… wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urteile (zu denen die synthetischen Urteile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, – dass Verzichtleisten auf falsche Urteile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Wertgefühlen Widerstand leisten; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.«

An einer anderen Stelle heisst es ähnlich:

»Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ›Wahrheit um jeden Preis,‹ dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet; dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief … Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben« (Fröhl. Wissenschaft S. 11).

Schon dieses Aufgeben der Wahrheit, die doch die Grundbedingung einer jeden wissenschaftlichen Forschung ist, berechtigt uns Nietzsche ausserhalb eines jeden ernsten philosophischen Strebens zu stellen. Dieses Negieren der Wahrheit berührt unangenehm, und wenn es auch nicht, wie meistens alles bei Nietzsche, ernst zu nehmen ist, so bleibt doch eine bittere Enttäuschung im Gemüte des Lesers nach einer solchen Stelle zurück. Lebensmächte wie Gott, Unsterblichkeit, Wahrheit und Liebe, auf welche die grössten bisherigen Errungenschaften der Menschheit zurückzuführen sind, werden von ihm als nichtig und hohl und als eingebildete Götzen hingestellt. Auf diese Weise stellt sich Nietzsche in schärfsten Gegensatz zur gesamten Welt und Kultur, die ihm ein Farbentopf ist, mit dessen Farben die Menschen bis zur Unkenntlichkeit übermalt sind. »Alle Zeiten und Völker blicken bunt aus euren Schleiern; alle Sitten und Glauben reden bunt aus euren Gebärden« (Zarathustra S. 175). Er vergisst aber dabei vollständig, dass auch er diesen bunten Rock und diese farbenprächtige Maske der Vergangenheit trägt, ja, dass er ein typischer Vertreter dieser ganzen Richtung ist, die das Erbe vergangener Jahrtausende übernommen hat, nur dass ihm nicht die Kraft verliehen wurde, dieses Erbteil zu tragen, es in sich einheitlich und harmonisch zusammenzufassen. So sehen wir ihn auch dann unter dieser Last an Geist und Körper zusammenbrechen.

Wenn man Nietzsche nur unter Einschränkung einen Philosophen nennen darf, so muss man dagegen in ihm einen grossen Dichter sehen, einen Dichter, dessen eigenartige und grosse Persönlichkeit eine verführerische ist. Er ist ein Virtuos der Sprache und er versteht es mit unvergleichlicher Meisterschaft, alle Töne und Gedankensymbole ihr zu entlocken. Daher kommt es, dass auch seine Irrtümer und Fehler, seine gewagtesten Behauptungen durch ihre bezaubernde Form den Verstand zurückdrängen und das Gefühl gefangen nehmen. Man wird von dieser seiner Sprache und von seinen Bildern berauscht und man überlässt sich gern diesem Zustande, wenn man der klaren und durchsichtigen Verstandesarbeit nicht gewachsen ist.

Alle seine künstlerischen Fähigkeiten haben sich vereinigt, um die Eigenart seines Stiles zu bilden. Er ist Musiker, Bildhauer und Dichter in der Behandlung der Sprache, deren Grundton der musikalische Rhythmus ist. Als Dichter ist Nietzsche zu den Romantikern zu zählen, denn mit denselben teilt er die Vorliebe für das Orakelhafte und Mystische. Das scharfe Betonen der eigenen Persönlichkeit, das Hervorkehren aller Einzelheiten des Innenlebens und das Verherrlichen des eigenen Ichs ist durchaus romantisch. Auch das Selbstbewusstsein ist ein Zug, den er mit den Romantikern teilt, wenn es auch zuweilen in eine Ueberhebung und ein sich Geltendmachen, das an Grössenwahn grenzt, ausklingt, wie z. B. in dem Satze: »Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der erste unter den Deutschen Meister bin, sind die Formen der Ewigkeit; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder andre in einem Buche sagt, – was jeder andre in einem Buche nicht sagt.«

Romantisch ist auch die Verschmelzung von Kunst und Wissenschaft und die Forderung: »Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens.« Gleich den Romantikern bewegt sich auch Nietzsche in zwei starken Gegensätzen. Verstand und Phantasie vertauschen bei ihm oft die Rollen. Ebenso wie bei den Romantikern will auch er mit dem Verstande die Aufgaben der Phantasie und mit der Phantasie die Probleme des Verstandes lösen, was ihn oft zu den grössten Missgriffen und Widersprüchen führen musste.


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