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V.
Die Religion.

Mit derselben zersetzenden Kritik, mit der Nietzsche die Sittlichkeit und ihre Erscheinungen behandelte, macht er sich auch an die Religion und insbesondere an die Beurteilung des Christentums heran. Von Schopenhauer ausgehend, richtet er seine Aufmerksamkeit auf die christliche Askese und das Heiligkeitsideal. Er verdammt beide Anschauungen, die den Menschen als böse hinstellen und alle natürlichen Triebe in ihm zu unterdrücken suchen.

Den Ursprung der Religion sieht er nicht in dem metaphysischen Bedürfnisse der menschlichen Natur, welche über die greifbare Erscheinungswelt hinaus zu einer höheren und allgemeineren Erklärung der Dinge sich hinübersehnt, sondern in dem Gefühle der Leere, die gewöhnliche Menschen überfällt. Dieses Gefühl der Leere wird durch künstliche Vorstellungen, aber durchaus nicht religiöser Natur, zur Annahme einer Gottheit hinübergeleitet, und was die Menschen in Urzeiten zur Annahme einer »anderen Welt« führte, war nicht ein Trieb und Bedürfnis, sondern ein Irrtum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellektes, wie er es nennt.

Die Motive, welche den Menschen den fast unausrottbaren religiösen Trieb eingepflanzt haben, sucht Nietzsche ebenso wie die moralischen Empfindungen und Wertschätzungen aus rein selbstsüchtigen und tierischen Instinkten abzuleiten. Er wendet seine Kritik hauptsächlich gegen das Christentum, er operiert jetzt nicht mehr mit Gründen, sondern mit Schmähungen. Das Christentum erscheint ihm als ein grosses Verbrechen, die christliche Religion hat die Furcht der Menschen vor den dunklen Naturgewalten aus herrschsüchtigen Absichten noch mehr vertieft und sie hat ihnen ein Erlösungsbedürfnis künstlich anerzogen. »Das Christentum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt muss es das Herz erst beschweren, um es nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen« (Menschl. Allzum. I. Nr. 119). »Es ist ein Kunstgriff des Christentums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist« (daselbst Nr. 117).

Leute, welchen ihr tägliches Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden daher leicht fromm, aber es ist eine Anmassung von ihnen, wenn sie Religiosität von denen fordern, denen das tägliche Leben nicht eintönig verfliesst.

Einen Glauben annehmen, bloss weil er Sitte ist, nennt er feige und unehrlich; jeder muss den Glauben sich bilden, der ihm und seinen Neigungen am besten entspricht. Ueber Gott spricht sich Nietzsche so aus:

»Gott ist eine Mutmassung … Gott ist ein Gedanke, der macht alles gerade krumm und alles, was steht, drehend« (Zarathustra S. 124). An einer anderen Stelle heisst es: »Ein Gott, der allwissend und allmächtig ist und der nicht einmal dafür sorgt, dass seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, – sollte das ein Gott der Güte sein? Der die zahllosen Zweifel und Bedenken fortbestehen lässt, Jahrtausende lang, als ob sie für das Heil der Menschheit unbedenklich wären, und der doch wieder die entsetzlichsten Folgen bei einem Sich-vergreifen an der Wahrheit in Aussicht stellt? Würde es nicht ein grausamer Gott sein, wenn er die Wahrheit hätte und es ansehen könnte, wie die Menschheit sich jämmerlich um sie quält? Aber vielleicht ist es doch ein Gott der Güte, – und er konnte sich nur nicht deutlicher ausdrücken! So fehlte es ihm vielleicht an Geist dazu? Oder an Beredsamkeit? Um so schlimmer! Dann irrte er sich vielleicht auch in dem, was er seine »Wahrheit«, nennt und er ist selber dem »armen betrogenen Teufel« nicht so ferne! Muss er dann nicht beinahe Höllenqualen ausstehen, seine Geschöpfe um seiner Erkenntnis willen so, und in alle Ewigkeit fort noch schlimmer, leiden zu sehen und nicht raten und helfen zu können, ausser wie ein Taubstummer, der allerhand vieldeutige Zeichen macht, wenn seinem Kinde oder Hunde die schrecklichste Gefahr auf dem Nacken sitzt« (Morgenröte Nr. 91).

Mit welcher Rücksichtslosigkeit die heiligsten Begriffe einer schonungslosen Kritik unterzogen werden, geht auch aus folgender Stelle hervor:

»… vielleicht erscheinen uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und gelitten worden ist, die Begriffe Gott und Sünde, nicht wichtiger, als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint, – und vielleicht hat dann der alte Mensch wieder ein anderes Spielzeug und einen anderen Schmerz nötig, – immer noch Kinds genug, ein ewiges Kind!« (Jenseits v. Gut u. Böse Nr. 57).

Nietzsche bekämpft die Religion und die Annahme eines Gottes nicht nur vom psychologischen, sondern auch vom historischen Standpunkte. Sein Hass gegen das Christentum kennt gar keine Grenzen; er geht in dieser Bekämpfung des Christentums sogar so weit, dass er die kulturhistorische Bedeutung desselben, welche selbst von den Gegnern eingestanden wird, leugnet.

»Das ist es nicht, was uns abscheidet, dass wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, – sondern dass wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als göttlich, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrtum, sondern als Verbrechen am Leben … Wir leugnen Gott als Gott … Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen … Eine Religion, wie das Christentum, die sich an keinem Punkte mit der Wirklichkeit berührt, die sofort dahinfällt sobald die Wirklichkeit auch nur an einem Punkte zu Rechte kommt, muss billiger Weise der Weisheit der Welt, will sagen der Wissenschaft, todfeind sein, – sie wird alle Mittel gut heissen, mit denen die Zucht des Geistes, die Lauterkeit und Strenge in Gewissenssachen des Geistes, die vornehme Kühle und Freiheit des Geistes vergiftet, verleumdet, verrufen gemacht werden kann« (Wille zur Macht I. S. 281).

Nietzsche verurteilt das Christentum und er erhebt gegen die christliche Kirche die furchtbarsten Anklagen. Die christliche Kirche ist ihm der Ausdruck der höchsten Korruptionen, die je die Welt gesehen hat. Nichts ist ihrer Verderbnis entgangen, sie hat die Werte künstlich hervorgerufen und »aus jeder Wahrheit eine Lüge, aus jeder Rechtschaffenheit eine Seelen-Niedertracht gemacht.« Er ist empört, wenn man von guten Werken der Kirche spricht, und sieht in allen Erscheinungen, die in irgend welchem Zusammenhange mit ihr stehen, den Ausbund aller Niedertracht. Sein Hass gegen das Christentum nimmt furchtbare Formen an und er ruft zornentbrannt aus:

»Diese ewige Anklage des Christentums will ich an alle Wände schreiben, wo es nur Wände giebt, – ich habe Buchstaben, um auch Blinde sehend zu machen … Ich heisse das Christentum den Einen grossen Fluch, die Eine grosse innerliche Verdorbenheit, den Einen grossen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich, unterirdisch, klein genug ist, – ich heisse es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit …« (Wille zur Macht I. S. 312).

Besonders verhasst ist ihm das Christentum, weil es den Leib und die Erde den Menschen verachten lehrt und das Himmlische Reich predigt. Kranke und Absterbende sind ihm die Gläubigen, weil sie den Vollgenuss des Lebens nicht kennen, immer rückwärts blicken und den Zweifel als Sünde hinstellen. Die christliche Demut und die Lehre von der Ergebung nennt er klein, krank und grindig. Er sieht in der Ueberwindung aller christlichen Ideale den Fortschritt der Menschheit und mit Begeisterung sagt er von sich: »Ich bin Zarathustra, der Gottlose: wo finde ich Meines-Gleichen? Und alle die sind Meines-Gleichen, die sich selber ihren Willen geben und alle Ergebung von sich abthun« (Zarathustra S. 250).

Nietzsche bekämpft das Christentum und mit demselben die ganze auf ihm sich aufbauende Kultur. Die gesamte Errungenschaft vergangener Jahrhunderte wird schonungslos zerstört, die verschiedensten wohlthätigen Einrichtungen, die das Werk der liebevollen und aufopfernden Güte sind, werden von ihm verneint. Denn diese Erscheinung des sozialen Lebens ist der Ausfluss der demokratischen Grundtendenz des Christentums, welches die Menschheit beglücken will und Nietzsche verabscheut diese künstliche Erhaltung der Masse. Wer nicht selbst das Leben bezwingen kann, der soll untergehen und es ist im Sinne Nietzsches eine Wohlthat, wenn man dem Armen und Schwachen die Mittel zum Untergange bietet. »Die Schwachen und Missratenen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.« Aus diesen Worten spricht ein falsch verstandener Darwinismus; Nietzsche hat damit die Lehre vom Ueberleben des Passendsten und der Auslese auf das menschliche Gebiet übertragen, mit vollständiger Nichtbeachtung des Geistes, der dort im Kampfe um das Dasein eine so bedeutende Rolle spielt. Wenn man die Konsequenzen dieser Auffassung ziehen wollte, so müsste man Nietzsche selbst nach seinem eigenen Rezepte längst beseitigt haben, da er von jeher ein Kranker war und zwar noch bevor er geisteskrank wurde.

Nietzsche schreibt dem Christentum alle Uebel zu, die in der Welt vorhanden sind. Die moralischen Wirkungen der christlichen Religion werden von ihm gänzlich verkannt, daher auch sein Hass gegen alles, was nur in irgend welcher Beziehung mit derselben steht. Das neue Testament hat für ihn keinen einzigen sympathischen Zug, es fehlen ihm darin »die Instinkte der Reinlichkeit.« »Alles ist Feigheit, alles ist Augen-Schliessen und Selbstbetrug darin. Jedes Buch wird reinlich, wenn man eben das neue Testament gelesen hat« (Wille zur Macht I. S. 279).

An einer anderen Stelle (zur Genealogie d. Moral. S. 462) heisst es: »Ich liebe das neue Testament nicht, man errät es bereits; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in Betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermassen allein zu stehen (der Geschmack zweier Jahrtausende ist gegen mich): aber was hilft es! … Das alte Testament – ja, das ist ganz etwas anderes: alle Achtung vor dem alten Testament! In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivität des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirtschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges, Wunderliches, lauter Konventikel-Luft, … Demut und Wichtigthuerei dicht nebeneinander; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt … Ein »unsterblicher« Petrus: wer hielte den aus! Sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht: das käut sein Persönlichstes, seine Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen vor, als ob das An-sich der Dinge verpflichtet sei, sich darum zu kümmern; das wird nicht müde, Gott selber in den kleinsten Jammer hinein zu wickeln, in dem sie drin stecken. Und dieses beständige Auf-du-und-du mit Gott des schlechtesten Geschmacks!«

Die obligate Frömmigkeit ist ihm verhasst und kein Schriftsteller hat mit einem grösseren Cynismus gegen die Kirche und ihre Institutionen geschrieben. Er nennt das neue Testament ein Allerwelts-Buch und: »Allerwelts-Bücher sind übelriechende Bücher: der Kleine-Leute-Geruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehn, wenn man reine Luft atmen will« (jenseits von Gut und Böse Mr. 30).

Wie in allen anderen Dingen, so liess sich auch Nietzsche bei der Beurteilung der Religion nicht von Gründen, sondern von Stimmungen und launenhaften Neigungen beeinflussen. »Jetzt entscheidet unser Geschmack gegen das Christentum, nicht mehr unsere Gründe« (Die fröhliche Wissenschaft. S. 168).

Gegen einen solchen Standpunkt ist es ganz vergebens anzukämpfen, man darf nur bei der Beurteilung diesen letzten Ausspruch gebührend würdigen, um die ganze Polemik Nietzsches in das richtige Licht zu stellen.


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