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Neuntes Kapitel

Leere im Hause meiner Großmutter. Meine Stiefmutter nimmt mich zu sich. Ich sehe zum erstenmal mit freiem Angesichte Wald und Flur. Ankunft im väterlichen Haus.

Auf mich machten die Sterbefälle meiner liebsten Verwandten einen tiefen Eindruck, den ich umso lebhafter fühlte, weil durch die Flucht des schönen Constanzchens die ersten Monate eine nicht gewohnte Stille im Hause meiner Großmutter herrschte. Die Jahreszeit, wo diese auf dem Lande lebte, war da; aber Nachbarn und Fremde blieben weg, weil der Humor der sonst so fröhlichen Frau durch die Entfernung ihres Lieblings gelitten hatte und heitere Geselligkeit auf einige Zeit von ihr gewichen war. Sie liebte diese Enkelin über alles, sehnte sich nach ihrem unterhaltenden Geiste. Aber ihre Begriffe von beleidigter Mutterwürde gaben ihr die Festigkeit, das Kind nicht wieder sehen zu wollen, welches ihr Vertrauen, ihre Liebe so beleidigt hatte. Über zwei Jahre blieb sie ihrem Vorsatze treu, und da die nunmehrige Starostin Ropp von Verwandten und den Hausfreunden meiner Großmutter gehaßt, selbst von Geschwistern und Mutter mehr gefürchtet als geliebt wurde, so machte niemand den Versuch, sie wieder in Gunst zu setzen. Nur meine Stiefmutter wagte es bisweilen, ein Fürwort einzulegen; und es gelang dieser interessanten, sehr geistvollen Frau, wie die Folge es zeigen wird, der intriganten Ropp bei der Großmutter ihre alten Rechte zu verschaffen.

Um die Entfernung ihres Lieblings minder zu fühlen, hatte meine Großmutter Tante Kleist mit Mann und Kindern auf ihrem Landgute bei sich. Die Tante wurde, seit mein Vater eine reiche Witwe geheiratet hatte, liebreicher gegen mich, nannte mich, weil sie glaubte, daß meine Stiefmutter mir viel vermachen könnte, ihre liebe, künftige Schwiegertochter. Meiner Großmutter gefiel diese Idee; mir aber war Fritz Kleist verhaßt, ich verglich ihn mit meinem sanften, verstorbenen Vetter Niklas Keyserlingk und konnte Fritz Kleist nicht einmal als Verwandten lieben. Verglich ich ihn mit dem schönen Heyking, dann wurde er mir noch mehr zuwider.

Indessen hatte Herr von Behr meiner Stiefmutter gesagt, wie ich durch Kleistens Familie behandelt worden sei, wie man alles täte, um meine angebornen Fähigkeiten zu unterdrücken, und wie es ihres Geistes und Herzens wert sein würde, mich aus dieser Sklaverei zu befreien und meiner Erziehung eine andere Richtung zu geben. Meine Stiefmutter freute diese Aufforderung; sie bewog meinen Vater, ihr das Geschäft zu überlassen, mich ohne Familienszene zurückzuerhalten. Nach ihrem Verstande leitete sie es so ein, daß meine Großmutter mich ihr unter Segenswünschen und der Bitte übergab, mich als ihr eigenes Kind zu betrachten, dabei aber sehr die Erhaltung meiner blendend weißen Haut anempfahl, die dadurch so erhalten worden sei, daß ich noch nie in freier Luft, nie außer den Zimmern von der Sonne beschienen worden sei. Meine Stiefmutter versprach alles. Mir ging ein neues Leben auf; tiefgefühlte, zarte Liebe und Verehrung entwickelten sich in meiner Seele für meine Erlöserin. In meinem jungen Köpfchen wälzten sich mannigfaltige Ideen; in meinem Herzen regten sich die seligsten Empfindungen! Meine Wärterin war eben so glücklich als ich, weil auch sie mich begleitete; doch riet sie mir an, meine Freude zu verbergen. Wirklich war diese auch mit der Furcht gemischt, daß meine Großmutter sich bedenken könne. Als der Augenblick der Trennung erschien, fühlte ich mich dennoch bewegt, weil ich meine Großmutter, in deren Augen ich so selten Tränen gesehen hatte, mich nun unter Tränen als das geliebte Pfand ihrer geliebten Tochter segnen hörte, dann von ihr ermuntert wurde, meine Stiefmutter als meine leibliche Mutter anzusehen, sie zu lieben, ihr zu gehorchen und um ihre Winke zu spielen. Das Hausgesinde, welches mich liebte, weinte und begleitete mich bis an den Wagen unter lauten Segenswünschen. Tante Kleist bat meine Stiefmutter, mich für ihren Sohn zu erziehen, und so wurde ich als elfjähriges, sehr langes Mädchen vom stärksten Diener meiner Großmutter die Treppe hinuntergetragen, weil mein Gesicht, in vielfache Florkappen und eine Kalesche Eine Art Hut von grünem Taffent, der das ganze Gesicht verhüllte und wider Sonne und Luft schützen sollte. (Anm. der Verf.) gehüllt, so verdeckt war, daß ich nichts sehen, also keinen Schritt ungeführt tun konnte. So war ich bis dahin der freien Luft zugeführt worden, und nie kam ich aus dem Zimmer, als wenn wir von einem Orte zum andern fuhren. Die Freuden des Spazierengehens kannte ich nicht. Denn meine Großmutter selbst setzte sich nie der frischen Luft aus, und machte sie eine kleine Reise, dann waren alle Fenster des Wagens fest zugemacht. So hatte ich denn auch keine weitere Idee der Natur, als so viel ich diese aus den Fenstern der sehr beschränkten Aussicht unseres Wohnortes übersehen konnte.

Was mich zuerst angenehm überraschte, als ich mit meinen Eltern im Wagen fuhr, war, daß die Wagenfenster nicht zugezogen wurden. Nachdem meine Eltern einige Fragen an mich gerichtet hatten, ich meiner Stiefmutter den wärmsten Dank für meine Befreiung aus der Sklaverei gesagt hatte, so überließen diese und mein Vater sich mannigfaltigen Gesprächen, auf die ich nicht achtete, weil sich in meinem kleinen Köpfchen mancherlei Ideen entwickelten. Die älteste des Hauses, so geehrt sein, als Großschwester im Hause meiner Großmutter geehrt wurde, war ein Gedanke, der mich anlächelte. Aber dann versprach ich es mir, alles im Hause meiner Eltern so zum Besten zu wenden, wie Großschwester nur Hetzen machte. Indessen hatten meine Florkappen, die um die Kalesche festgebunden waren, sich gelöst; ich hatte es gewagt, den Kopf unvermerkt zu schütteln, so daß die Kalesche mit den doppelten Floren mir vom Kopf gefallen war. Mein Herz schlug bei dem Gedanken hoch auf, daß ich, nun vielleicht mit unverhülltem Angesichte, Flur und Wald sehen würde. Unvermerkt steckte ich bisweilen den Kopf zum Fenster hinaus. Mein Vater, der sehr ernsthaft gegen seine Kinder war, fragte, warum ich immer so furchtsam zum Fenster hinausblickte? Ich küßte seine Hand ehrfurchtsvoll und sagte mit gerührter Reue, ich wolle es nicht mehr tun. Meine Stiefmutter fragte mich sehr liebreich, was ich denn nicht mehr tun wollte? nicht mehr zum Fenster hinaus sehen? Warum denn nicht? – »Um, wie Großmama sagt, die Haut nicht zu verderben.« – »Sanfte Luft tut der Haut nicht schaden; sieh nur, so viel du immer willst, zum Fenster hinaus und nimm die häßliche Kalesche ganz ab! Ein Hut, der vor der Sonne schützt, und ein Flor, wenn der Nordwind weht, sollen auf Zukunft alles sein, womit dein Gesicht gegen Luft und Sonnenbrand geschützt wird.«

Mir ging ein neuer Himmel auf; freudig sah ich nun zum Fenster hinaus; wir fuhren gerade über eine Brücke, unter welcher ein Fluß rauschte; die alte Ruine des Schlosses Doblén Ehemals bedeutende Deutschherren-Komthurei. C lag nahe vor uns, – und zum ersten Male in meinem Leben sah ich mit unverhülltem Angesichte eine der schönsten Landschaften meines Vaterlandes. Ich konnte mich der Freudentränen nicht enthalten und rief mehr als einmal aus: »O Gott!

Wie schön ist es! Liebe Mutter, wie sind Sie so gut! Ich bin wie im Himmel!« – Meine Eltern richteten verschiedene Fragen an mich, sahen, daß ich noch nichts gelernt hatte, sehr unwissend war, aber die Familiencharaktere, mit welchen ich zu tun gehabt hatte, genau kannte, richtig beurteilte und ein sehr tiefes Gefühl für Recht und Unrecht besaß, verschwiegen war und früh alles um mich her beobachtet und meine Gedanken über alles in mir selbst verschlossen hatte. Meine Stiefmutter sprach so liebevoll zu mir, daß sie mit jeder Stunde mein Herz an sich zog.

Wir trafen erst des andern Tages in Remten, auf dem Gute meiner Stiefmutter ein, wo mein Vater seiner Gattin zu Liebe nun seine Wohnung aufgeschlagen hatte. Liebevoll schlug mein Herz meinem Geschwister entgegen, die freudig jauchzten, die lieben Eltern wiederzusehen und ihre älteste Schwester nun immer um sich zu haben. Ich wußte nicht, wie mir war; zum ersten Male in meinem Leben konnte ich mich ganz unbefangen freuen. Der Geist der Liebe und Freude schien mich zu umschweben und die trübe Schwermut aus meiner jungen Seele zu nehmen, die mich seit frühester Kindheit niedergebeugt und etwas Melancholisches in mein kindisches Wesen gebracht hatte. Das Landgut meiner Stiefmutter lag auf einem Hügel, an einem Terrassengarten, an den ein großer, stehender Landsee stieß. In diesem Garten speisten wir den Abend, und fröhliche Heiterkeit würzte das Mahl. Von solchem Freudengenusse hatte ich keine Vorstellung gehabt! Alles in der Natur war mir neu! Der Blumenduft! Der Gesang der Vögel! Die mannigfaltigen Bäume! Die Wolken, der See! Dann der liebliche Mond, der aufging, sich im Silbersee spiegelte; die blassen Steine, die auf der leichtbeweglichen Fläche flimmerten! Ich küßte die Hände meiner Stiefmutter, fragte dann tiefbewegt: »Ach! gute Mutter! ich träume doch nicht? Morgen, wenn ich aufstehe, bin ich doch wieder hier und nicht bei Großmama?« – Ich lief mit meinem Geschwister den ganzen Garten durch, und unbeschreibliche Gefühle bemeisterten sich meiner, denn zum ersten Male in meinem Leben sah ich ohne verhülltes Angesicht den weiten Horizont in freier Luft und hatte die Freiheit, mich ins grüne Gras zu lagern. Gott und Menschen wurden mir lieber! Ich sehnte mich danach, auf meine Knie zu sinken und Gott so in dieser Anbetung meinen Dank für die Freuden zu sagen, die mir nun zuteil wurden: aber von meinem fröhlichen Geschwister umgeben, wagte ich es nicht, mich diesem Ausbruche des Gefühles zu überlassen. Als ich allein in meinem Zimmer war, stürzte ich, ehe ich mich ins Bette legte, auf meine Knie, betete, – weinte vor Freuden und betete wieder.

Meine jüngeren Geschwister waren unter der Aufsicht einer Französin; mein ältester Bruder hatte einen Lehrer; noch war ein Tanzmeister und ein Lehrer der Musik im Hause; all die neuen Menschen, der ganz andere Ton, der im Hause meiner Eltern herrschte, alles dies beschäftigte mich, erhielt meine Seele so wach, daß ich nicht schlafen konnte. Ich hatte mein eigenes Zimmer, stand nur unter dem Befehle meiner Stiefmutter, wurde nicht einmal der Aufsicht der Französin übergeben, da noch vor zwei Tagen Tante Kleist und ihre beiden Töchter mich nach Willkür behandeln konnten! Mein glückliches Gefühl werden wenige sich denken können, weil nur wenige eine so qualvolle Kindheit, als ich, gehabt haben. Ich sprang die Nacht oft aus meinem Bette, trat ans Fenster, das auf den Garten stieß, sah den spiegelhellen See, hob meine Hände gen Himmel und sagte: »Gott! wie gut bist du! Morgen und übermorgen und alle Tage werde ich dies mit meinen bloßen Augen sehen können! Gute, liebe Mutter! du, der ich mein Leben zu danken habe, die ich nur aus deinem sanft-lieblichen Bilde kenne, du, du hast mir wohl aus deinem Himmel von Gott die Mutter erbeten, die mir nun auf dieser Erde schon einen Himmel macht?«


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