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Fünftes Kapitel

Eine Gouvernante. Ein Lehrer. Frohe Tage in Nerft. Gezwungene Lüge. Tod meiner Tante aus Nerft. Gefühle der zutraulichen Liebe gegen Gott.

So war ich bis zu meinem achten Jahre erzogen worden, nun sollte ich französisch, ich sollte lesen und schreiben lernen. Zwar hatte ich schon von meinem dritten bis zu meinem vierten Jahre eine Französin gehabt, die meine treue Pflegerin gewesen sein soll, aber von dieser weiß ich mich nichts zu erinnern, außer einige dunkle Bilder, die mir von der Sorgfalt der guten Pillon vorschwebten Sie hatte mir, als ich Mittag schlief, in meinem Zimmer eine Laube von jungen Birken errichtet; dieser Freude bei meinem Erwachen erinnere ich mich jetzt noch recht lebhaft: aber bald nachher brachten die Tante Kleist und ihre Tochter die gute Pillon aus dem Hause meiner Großmutter, weil mein Geist sich unter der liebevollen Pflege meiner lieben Pillon zu entwickeln anfing. (Anm. der Verf.)

Von meinem vierten bis zu meinem achten Jahre stand ich unter der Rute der Großschwester. Noch ehe meine Lehrerin und mein Lehrer ankamen, sprachen die drei Schwestern unter sich über den wunderlichen Einfall, den meine Großmutter hätte, daß ich etwas lernen sollte; ich sei so schwach von Kopf, daß ich gewiß albern werden würde, wenn ich mich anstrengen und etwas lernen wollte. Ich fürchtete also herzlich diesen Augenblick und faßte den stillen Vorsatz, nichts zu lernen, um nicht, wie die andern sagten, »dwatsch« etwa: verdreht. C. zu werden; denn meiner Stiefmutter Bruder hatte eine alberne Tochter, die vier Jahr älter als ich war, und deren Anblick fürchterliche Erinnerungen in mir zurückließ. Da hieß es immer: »Hätte man die arme Christine, die von Gott versäumt ist, nicht zum lernen gezwungen, sie wäre nicht so dwatsch geworden; jetzt werden wir mit Lottchen in unserer Familie den nämlichen Spektakel erleben.«

Mein Lehrer und meine Lehrerin kamen an, ich wurde beiden übergeben; meine Großmutter ordnete die Stunden an, wie diese gehalten werden sollten. Zwei schöne Aussichten wurden durch diese Veränderung mir eröffnet. Ich stand nun nicht mehr geradezu unter Constanze, und der lange Tag, den ich mit Nichtstun verbringen mußte, wurde nun mit Beschäftigung besetzt; aber der Gedanke des Albernwerdens ängstigte mich, und ich war fest entschlossen, mich nicht anzustrengen. Meine Französin war eine übermäßig dicke, sehr unangenehme Person; ihr Körper war so unbehilflich, daß sie nur mit Mühe von ihrem Stuhle aufstehen und nicht anders gehen konnte, als wenn zwei Personen sie führten. Ihre Hauptneigung war Neugier und Kartenspiel: an den Stuhl dieser Lehrerin war ich gebannt, und im Beisein der Demoiselle Audui gab mein Lehrer Apfelbaum mir Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen, in Geographie und Geschichte. Ich blieb meinem stillen Vorsatze treu, meinen Kopf nicht anzustrengen, und so konnte mir weder das Lesen, noch Rechnen beigebracht werden. Aber das Schreiben, das Nachmalen der Buchstaben unterhielt mich; die bunten Landkarten machten mir Vergnügen, und die Geschichten, die Apfelbaum mir erzählte, beschäftigten mich auf eine angenehme Art. Diesen Lehrer gewann ich recht lieb, und er auch mich. Diesen guten Lehrer aber behielt ich keine drei Monate – Großschwester schaffte ihm schnell den Abschied. Welche Gründe dazu angegeben wurden, weiß ich nicht; die eigentliche Ursache war: die Tante Kleist und ihre Töchter fürchteten, meine Seele könnte sich unter der Leitung eines solchen Lehrers entwickeln. Bei Mademoiselle Audui war dies nicht der Fall, die hielt mich bloß zum Horchen, Plaudern und Kartenspielen an. Ich lernte nichts bei ihr, und dies wurde auf Rechnung meines schwachen Kopfes gesetzt. Diese Audui machte mich zu einem unartigen Kinde, und nur die stillen Ermahnungen meiner Wärterin, ja nicht in Großschwesters Fußstapfen zu treten, sondern zu bedenken, wie meine Mutter gewesen sei, hielten meinen Hang, zu horchen, zu plaudern und zu lügen, in Schranken. Zu meinem Glücke starb die Audui; an ihre Stelle wurde eine andere Französin genommen, die nicht besser war, – auch bekam ich verschiedene Lehrer, die nie über drei Monate bei mir blieben. Tante Kleist und ihre Töchter sorgten dafür, daß Lehrer und Lehrerinnen immer gewechselt wurden. Ich lernte nichts, und meine Großmutter betrübte sich, daß ich einen so schweren Kopf hätte.

Meine Tante aus Nerft, diese Jugendfreundin meiner Mutter, bat sich es aus, mich auf ein halbes Jahr zu sich nehmen zu dürfen, sie wollte mich mit ihren Töchtern unterrichten lassen. Meine Großmutter bewilligte dies, aber die Kammerfrau von Großschwester wurde mir als Oberaufseherin mitgegeben, und meiner Tante wurde es fest eingeschärft, meine schöne weiße Haut und meinen feinen Wuchs zu schonen; das hieß, mich so vor Luft zu bewahren, daß ich selbst vor kein offenes Fenster treten durfte, und mich so fest einzuschnüren, daß mir die Luft verging. Meine treue Wärterin machte diese Reise nicht mit, statt ihrer blieb Madame Stern, Großschwesters Vertraute, bei mir. Die Trennung von meiner Wärterin verbitterte mir meine Reise nach Nerft; aber mein dortiger Aufenthalt, der zehn Wochen dauerte, gehörte zu der glücklichsten Periode meiner Kindheit. Mein Onkel und meine Tante begegneten mir mit zärtlicher Liebe, die Töchter meines Onkels waren von meinem Alter, und mein liebebedürfendes Herz verband sich mit diesen durch innige Liebe. Bald liebten die beiden Schwestern mich mehr, als sie sich unter einander liebten. Das Französische erlernte ich – ich weiß nicht wie; freilich kam ich bloß bis zum Verstehen dessen, was die andern sprachen, aber ich war im Herzen froh, daß ich so weit kam, ohne albern geworden zu sein: denn die Furcht hielt mich zurück, mich anzustrengen; und so ging es mit dem Lesen und Rechnen nicht von der Stelle; doch hütete ich mich, die Furcht, die ich hatte, zu verraten. Unterdessen mag Madame Stern es ihrem Fräulein wohl geschrieben haben, daß ich in der französischen Sprache und im Schreiben Fortschritte mache und überhaupt lebhafteren Geistes würde. Kurz nach zehn Wochen kam der Befehl meiner Großmutter, daß Madame Stern mich wieder nach Brucken bringen möchte. Ich war unaussprechlich betrübt. Meine Gespielen waren es auch, meine Tante und mein Onkel ließen ihr liebes Lottchen ungern von sich. Das einzige, was mich tröstete, war die Hoffnung, meine liebe Wärterin wieder zu sehen: aber die Furcht, aufs neue unter Großschwesters Herrschaft zu stehen, beugte mich nieder. Nerft lag zwei Tagereisen von Brucken; beide Tage, da wir unterwegs waren, durchweinte ich.

Als ich nach Brucken kam, wurde ich von meiner Großmutter meiner Zuchtmeisterin und ihren Schwestern nochmals und zwar mit dem Ausdrucke übergeben: ich sei ein Mädchen von neun Jahren, könne noch nicht einmal lesen, und meine Erziehung koste schon so viele Mühe und Geld. Großschwester und ihre Schwestern hätten meiner Großmutter versprochen, sich mit meiner Erziehung zu beschäftigen, und da sollte ich nur fleißig und folgsam sein oder auf tüchtige Ruten rechnen. Als ich mit den drei Schwestern allein war, sagte die älteste sehr liebreich zu mir: »Du armes Kind, ich weiß alles durch Madame Stern, du bist in Nerft recht unterdrückt worden.« – »O nein, es ist mir dort recht gut gegangen, der Onkel und die Tante haben mich sehr geliebt, mir viel Gutes getan.« – »Lügnerin! Ich weiß es besser, Spielzeug hat man dir wohl gegeben, aber Unterricht hast du in nichts bekommen, die Tante hat nur ihre Töchter vorgezogen, dich zurückgesetzt.« – »Wahrhaftig, liebe Großschwester, mir ging es in Nerft recht wohl, und Madame Stern lügt, wenn sie es anders sagt.« – Hier bekam ich tüchtige Ohrfeigen. – »Warte nur einmal, du naseweises Ding, ich will dich fluchen lehren! Das ist auch wohl eine Artigkeit, die du aus Nerft mitgebracht hast? Hört mir doch einmal, wie keck! – Madame Stern lügt! Du abscheuliches, vermaledeites Kind, ich will dir schon die Bosheit, die Lügen ausprügeln! Glaubst du, daß ich es nicht weiß, wie die Tante dich im Garten hat herumlaufen lassen?« – »Gewiß, sie hat mir es nie erlaubt, in den Garten meinen Fuß zu setzen; wenn ihre Kinder in den Garten gingen, mußte ich in der Stube bleiben.« – »Wo ist die Rute, du Starrkopf? Ich will dir gestehen lehren, was ich weiß – ich weiß, die Tante hat dich in der Sonne braten lassen, denn sie ist neidisch darüber, daß ihre Kinder keine so schöne, blendende Haut haben, wie du! Doch wenn du mir alles selbst gestehen willst, wie man dich in Nerft unterdrückt hat, dann will ich dir dein Leugnen verzeihen, und Großmama soll auch recht gnädig gegen dich sein; bestehest du aber auf deinem Kopfe, dann sollen tüchtige Ruten dir die Zunge lösen.« Um diesen Ruten auszuweichen, belog Nach damaligem Sprachgebrauch so viel wie verleumden. C. ich meine gute Tante tüchtig. Das Herz blutete mir dabei, aber die Furcht vor Mißhandlungen hieß mich alles sagen, was meine Tyrannin forderte.

Meine Großmutter wurde gegen meine Tante aufgebracht, Großschwester suchte sie zu besänftigen und dahin zu bringen, daß meine Großmutter nach ihrem Ausdrucke das Kopfwaschen bis zur nächsten Zusammenkunft verschob. Diese blieb über drei Monate ausgesetzt: ich litt in diesen die bittersten Qualen und wußte mir nicht zu helfen. Oft sprach meine Großmutter mit Großschwester von der Tücke meiner Tante, daß sie so die einzige Tochter ihrer Jugendfreundin hätte mißhandeln können. Immer ergriff mich dann eine drückende Gewissensangst, die sich nur durch ein herzlich an Gott gerichtetes stilles Gebet verminderte. Zu jener Zeit war es Mode, Neanders und Gellerts geistliche Lieder, die in Musik gesetzt sind, in Gesellschaft zu singen. Viele dieser Lieder hatten sich in meinem Gedächtnisse unvermerkt eingeprägt und mir eine innige Liebe und herzliches Vertrauen auf Gott eingeflößt. Der Gott, der mir in diesen Liedern dargestellt war, wurde mir so lieb – als der Gott, wie man mir ihn aus der Bibel geschildert hatte, mir verhaßt war. Die Ermunterungen dieser Lieder zur Tugend gaben mir den Vorsatz, mich durch Tugend dem lieben Gott recht lieb zu machen. Wenn ich dann aber an meinen Undank gegen meine gute, liebe Tante dachte, so verfiel ich in stille Trauer und wußte mir nicht zu helfen. Indessen rückte die Zeit heran, wo meine gute Tante zu ihrer Entbindung nach Mitau reisen sollte. Mit Zittern und mit Sehnsucht erwartete ich diese Ankunft; denn nun hatte meine Großmutter sich vorgesetzt, ihre Schwiegertochter recht über ihr Betragen gegen mich auszuhunzen.

Als meine Tante ankam, ihre Kinder voll Jubel in meine Arme stürzten, beugte mein böses Gewissen mich nieder, und doch war mein Herz voll innigster Liebe gegen die mir Teure und ihre Kinder. Gleich nach ihren ersten Bewillkommnungen band diese mütterliche Freundin mir ein Granathalsband um. Als sie mit ihren schönen Händen meinen Hals berührte, glaubte ich, unter die Erde zu sinken; meine Augen schwammen in Tränen; ich vermochte nichts zu sagen. Meine Großmutter trat hinzu und machte meiner Tante bittre Vorwürfe, daß sie mich in ihrer Gegenwart liebkoste, und so lange sie mich in ihrem Hause gehabt hätte, habe sie mich schändlich unterdrückt und in der Sonne braten lassen, um mich um meine blendende Weiße zu bringen. Meine Tante stand erstaunt da, ich warf mich zu ihren Füßen, umfaßte bald ihre – bald meiner Großmutter Knie, sagte, ich sei ein böses, gottloses Kind, ich hätte schändlich gelogen, der Teufel habe mich geplagt, solche infame Lügen zu erdenken; Großmama möge sich über mich erbarmen, mir Ruten geben, denn die schändlichen Lügen, die der Teufel mir eingegeben, hätten mich, seit ich sie hervorgebracht habe, bitter geplagt. Meine Großmutter stieß mich von sich, hieß mich ein abscheuliches, gottloses Kind. Meine Tante bat für mich, sagte, sie wolle darauf sterben, daß andere Menschen dahinter steckten. Meine Großmutter forschte, wie ich dazu gekommen sei, so abscheuliche Lügen zu erfinden und Familienhetzen anzurichten; sie sagte, ich sollte ihr gestehen, warum ich mich so teufelmäßig betragen und meine Tante für ihre Wohltat belogen habe. Schon hatte ich den Vorsatz, alles zu gestehen, aber der Gedanke, daß ich keinen Glauben finden und nachher noch ärger gestraft werden würde, ließ mich steif und fest bei der Ausflucht bleiben, ich habe mir das alles so zum Zeitvertreib erdacht. Ich bekam heftige Ruten und mußte acht Tage hindurch, solange die Nerftschen bei uns waren, wenn gespeist wurde, allein an einem kleinen Tische essen; denn meine Großmutter sagte, eine so schändliche Lügnerin sei aus der Gesellschaft verstoßen. So schmerzhaft mir dies auch war, so wurde mir, da ich meine Strafe empfangen hatte, doch leichter ums Herz. Meine gute Tante ermahnte mich sehr liebreich, so etwas nie wieder zu tun, weil ich meine Mutter in ihrem Himmel betrüben würde, wenn diese reine, wahrheitliebende Seele es wüßte, daß ihre einzige Tochter eine so arge Lügnerin sei. – Wie es mich drückte, daß ich mich meiner Tante nicht offenbaren konnte, vermag ich nicht zu sagen. Großschwester ließ mich nie von ihrer Seite; dies aber tat mir wohl, daß ich bisweilen hörte, wie meine Tante mich entschuldigte, wenn von der Tücke meines Herzens gesprochen wurde. Sie blieb steif und fest dabei, da müßten andre dahinter stecken, denn in den zehn Wochen, daß ich bei ihr gewesen sei, habe sie doch keinen häßlichen Zug des Charakters an mir bemerkt, und diese Sache sei zu schwarz, zu heimtückisch, als daß sie sich in einem Kinderkopfe hätte entspinnen können.

Ungefähr vierzehn Tage nach dieser Geschichte starb diese würdige Frau nach der Geburt ihres jüngsten Sohnes. Ihr Tod machte mich fast melancholisch, – ich fühlte beinahe ein ganzes Jahr die bitterste Gewissensangst, denn ich glaubte, die Mörderin meiner Wohltäterin geworden zu sein, weil ich mir es fest einbildete, der Gram über meine boshafte Lüge habe sie getötet. Ich wurde mir gram, weil ich mich nicht lieber von Großschwester hatte totprügeln, als zu Lügen zwingen lassen.

Nur im Gebet fand ich nun Ruhe für mich selbst! Neanders und Gellerts Bußlieder rührten mich tief, und ich faßte den festen Vorsatz, mich auf Zukunft durch nichts mehr dahin bringen zu lassen, solch ein Unrecht auf mich zu laden. Meinen stillen Gram bemerkte keiner; auch sagte ich niemand, was mich quälte, aber meine blühende Gesichtsfarbe verschwand. Man setzte diese Blässe auf mein starkes Wachsen, denn als ein Mädchen von zehn Jahren war ich größer als andre Enkelinnen meiner Großmutter von zwölf und vierzehn Jahren.


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