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Geschichte der Kindheit

Erstes Kapitel

Anmerkung. Die Verfasserin verbürgt sich in der 1795 geschriebenen Einleitung zu ihrer Selbstbiographie mit folgenden Worten für deren Richtigkeit: »Da diese Blätter erst nach meinem Tode und nach dem Tode aller derer, die hier genannt sind, öffentlich bekannt werden sollen, so werde ich über andere ebenso wahr als über mich selbst urteilen und meine Erfahrungen so treu darzustellen suchen, als sie noch meiner Seele vorschweben.« E.

Etwas von meinen Großeltern, als Skizze alter kurländischer Sitten, die noch aus dem siebenzehnten Jahrhundert in das achtzehnte hinüberkamen.

Meine Großmutter mütterlicher Seite hat auf mein ganzes Schicksal zu großen Einfluß gehabt, als daß ich nicht bis zur Geschichte ihrer Heirat zurückgehen sollte. Diese wird es erklären, wie natürlich es war, daß die Frau von Kindern und Enkeln unbedingten Gehorsam forderte, da sie ihrem Vater den allerstrengsten geleistet hatte.

Mein Großvater, der reiche Starost Korff, faßte erst in seinem vierundvierzigsten Jahre den Entschluß, zu heiraten. Schön und sanft sollte die künftige Gefährtin seines Lebens sein. Er hatte gehört, daß einer seiner guten Bekannten, der Herr von Ganskau und Graventhal, schöne Töchter haben solle, und so kündigte er diesem, da sie zum Johannistermin Zu Johannis ist die Zeit des Geldumsatzes in Mitau, dann versammelt sich der ganze Adel und jeder, der Geldgeschäfte hat, in dieser Hauptstadt. (Anm. der Verf.) in Mitau beisammen waren, seinen Besuch nach geendigten Geschäften in Graventhal mit dem Ausdrucke an, daß er, falls ihm eine seiner Töchter gefiele, diese heiraten wolle, ohne einen Heller Mitgift zu nehmen.

Herr von Ganskau ritt hocherfreut mit dieser glücklichen Aussicht heim, teilte sie seiner Frau und seinen Töchtern mit und lud zu dem bevorstehenden Besuche auch noch ein paar alte Tanten ein. Alles war in Graventhal voll Erwartung und der schönen Aussicht voll, mit dem reichen Starosten Korff in nahe Verbindung zu kommen. Am buntesten ging es in den Köpfen und Herzen der schönen Fräuleins her. Jede von diesen nährte Wünsche und Hoffnungen, machte schöne Pläne, wie sie als reiche Starostin Korff leben, sich ihres Glückes freuen wolle. Der Tag erscheint, wo der gewünschte Gast eintreffen soll; die schönen Fräuleins schmücken sich aufs beste; alles im Hause wird zierlich angeordnet, Eltern, alte Tanten und sogar das ganze Hausgesinde setzen sich in Feierkleider. –

Mein Großvater, von dessen originellem Charakter ich viele interessante Züge gehört habe, hat für seine Person sehr einfach gelebt. Bis zum Schlusse seiner Tage soll er, so prachtvoll es auch in seinem Hause zugegangen ist, für sich immer nur einen einzigen, sehr einfachen Rock, einen Diener, einen Kutscher und nur zwei Pferde gehabt haben. So ist er auch bis in sein hohes Alter nie anders, als in einer zweispännigen, mit Matten behangenen Kübitte kibitka, der russische Planwagen. E. gefahren. In solchem prunklosen Aufzuge wollte er sich auch seine Frau holen. An einem heißen Julitage unternahm er die Reise von Mitau nach Graventhal. In der Zeit wurde in Kurland, sowohl in der Stadt als auf dem Lande nach der Mittagsmahlzeit zwischen der dritten und vierten Mittagsstunde im häuslichen Familienkreise Kaffee getrunken, und dann hatte jedes Familienglied das Recht mitzusprechen. Gerade zu solch einer festlichen Stunde wollte mein Großvater in Graventhal eintreffen, um alle die Schönen besser in Augenschein nehmen zu können.

Da Graventhal acht oder neun Meilen von Mitau entfernt ist und mein Großvater solche Reisen gerne in einem Tage machte, so mußte er nicht nur sehr früh ausfahren, sondern sogar, was ihm viel beschwerlicher war, in der brennenden Sonnenhitze die Reise fortsetzen, um seine Absicht zu erreichen. Ein Grundsatz dieses Sonderlings soll gewesen sein, sich nie Zwang anzutun, sobald kein andrer darunter litte, wenn er sich gütlich täte. Da ihn also die brennende Hitze in seiner Kübitte zu sehr plagte, entschloß er sich, in dieser dergestalt zu liegen, wie Vater Adam vor dem Sündenfalle, der Sage nach, im Paradiese umhergewandelt ist. Seinem Diener gab er den Befehl, daß er ihn kurz vor Graventhal wecken möge, denn er wolle sich im Kruge So werden in Kurland die ländlichen Wirtshäuser genannt. (Anm. der Verf.)] wieder ankleiden. Nach dieser Abrede ließ der Diener den Vorhang der Kübitte nieder, nahm seinen Platz neben dem Kutscher ein, vergaß aber, diesem den Befehl des Herrn zu sagen, und wurde von der drückend schwülen Tageshitze so übermannt, daß er sanft einschlief.

In Graventhal war man mit Zubereitung des Kaffees beschäftigt. Alles, bis auf die Pfeife und den schmackhaften Knaster, war da mit größter Sorgfalt in Ordnung gebracht, als die Nachricht erscholl, man könne nun schon die Kübitte des Starosten in der Ferne sehen. Da begab sich voll Ungeduld die ganze Gesellschaft vor die Haustüre und harrete dort des erwünschten Gastes. Alle Schönen, unter welchen mein Großvater sich sein Liebchen wählen sollte, standen in zierlichstem Putze da. Eltern und Tanten erwarteten mit ihnen voll Ungeduld den Augenblick, wo sie meinen Großvater sehen und seinen Blicken abmerken würden, welche der Schönen ihm die Schönste sei. Endlich fährt der Kutscher vor, die Kübitte hält in diesem prunkvollen Kreise still, der schlafende Diener erwacht, reißt noch halb schlafend den Vorhang der Kübitte weg, mein Großvater erwacht auch, und da er im Kruge zu sein glaubt, so springt er wie im Stande der Unschuld hinaus und greift nach seinem Mantel, den er umwerfen will; indem er aber die Augen aufschlägt, sieht er die ganze Prunkversammlung erstaunt vor sich, erschrickt und ruft voll Unmut aus: »Nein! nun hole ich mir hier keine Frau!« – So wirft er sich schnell, ohne ein Wort zu sagen, wieder in seine Kübitte hinein und sagt dem Kutscher: er möge nur nach Brücken zu seinem alten Freunde Wahlen fahren. Die ganze Gesellschaft bleibt erstaunt und mißvergnügt stehen, die schönen Fräuleins, die sich geputzt und auf einen reichen und angesehenen Mann gefreut hatten, bekamen nun bloß einen eben nicht schönen Mann einige Augenblicke nackt zu sehen.

Dieser fuhr indessen voll Unmut zu seinem alten Freunde, den er seit einigen Jahren nicht gesehen hatte und der ein Nachbar von Graventhal war. Jetzt aber kleidete mein Großvater sich zuerst im nächsten Kruge an und traf ganz unerwartet bei dem alten Freiherrn von der Wahlen ein, der seinen lieben Korff recht herzlich bewillkommnete und von ihm viel über dessen Fehde mit dem reichen polnischen, sehr angesehenen Magnaten hören wollte: aber mein Großvater war von seiner neusten Begebenheit zu voll, und so erzählte er seinem Freunde sein böses Fatum, das ihm nun die Heiratslust vertrieben habe. Indessen trat ein schönes, wohlgewachsenes Frauenzimmer mit majestätischem Ansehen zum alten Wahlen, und sagte diesem mit ehrfurchtsvoller Freundlichkeit etwas ins Ohr. Mein Großvater fragte seinen Freund, was dies für ein schönes, junges Frauenzimmer sei. »Es ist meine einzige Tochter, welcher ich tanzen, rechnen und etwas lesen und schreiben gelehrt habe,« erwiderte der alte Wahlen. Mein Großvater sah die junge Schöne mit Wohlgefallen an und fragte nach dem Taufnamen dieses langen, schlanken Mädchens. – »Sie heißt Constanzia und ist die Freude meines Alters,« antwortete sein Freund. – »Bruder Wahlen, willst du mir deine Constanzia zur Frau geben?« – »Von Herzen gerne,« sagte mein Ältervater (Urgroßvater) erfreut.

Meine Großmutter zitterte bei dieser Äußerung, denn sie liebte einen jungen, schönen Mann – der aber dem alten Wahlen zum Schwiegersohn viel zu neumodisch und nicht reich genug war. Als sie ihre Augen gegen ihren Vater bittend aufhub, fand sie den zornig drohenden Blick, der Gehorsam ohne Widerrede von ihr zu erzwingen wußte. Ängstlich schlug sie ihre Augen nieder und gefiel meinem Großvater um so besser. Dieser erhob seine Stimme mit der Beteuerung, daß das schöne Constanzchen ihm sehr wohlgefalle, aber er müsse doch noch sehen, ob sie folgsam und geduldig sei, denn er wolle eine fromme Frau haben. Mit diesen Worten holte er aus seinem Stiefel ein Pfeifenrohr, aus der Tasche einen Pfeifenkopf und einen schmutzigen Tabaksbeutel und sagte: »Da, Constanze, stopfe mir diese Pfeife, denn wenn du meine Frau wirst, so mußt du dies immer tun.« Constanzchen stopfte mit inniger Betrübnis die Pfeife, wünschte, diesem barschen Herrn zu mißfallen, durfte aber aus Furcht vor ihrem Vater nichts versehen; und sie gefiel durch ihre Verlegenheit dem reichen Starosten umso mehr. Die schöne Constanze überreichte die gestopfte Pfeife und das Licht. Mein Großvater zündete seine Pfeife an, sprach dabei mit meinem Ältervater über die närrische Geschichte in Graventhal, die ihn nun aber, seit er das schöne Constanzchen gesehen habe, minder ärgere. Er rief sie zu sich, nahm ihre Hand und sagte zu ihr, seine künftige Frau müsse auch mit fröhlichem Sinne Schmerzen aushalten können – und so stopfte er seine brennende Pfeife ganz kaltblütig mit ihrem Finger zurechte. Meine Großmutter zuckte aus Furcht vor ihrem Vater kaum mit der Hand, verzog keine Miene. Nun sagte mein Großvater: »Wahlen, deine Constanze ist ein braves Mädchen; sie soll meine Frau werden; ich will sie recht glücklich machen.«

Das schöne Fräulein Constanzia von der Wahlen wurde des reichen Starosten von Korff Frau, und der biedere Mann hielt redlich sein ihr gegebenes Wort.

Mein Großvater starb vor meiner Geburt; er hatte den Ruf eines sehr redlichen, wohltätigen und originellen Mannes; er blieb immer bei seinem einfachen Auf- und Anzuge, in welchem er sich seine Frau geholt hatte. Da meine Großmutter aber Pracht liebte, so hielt er für diese nicht nur zwölf Livreebediente, vier Gespann schöner Pferde, einen Chor von zwölf Musikanten, Haushofmeister, Sänger und Läufer und was nur zur größten Eleganz damaliger Zeit gehörte: er ging noch weiter, und mit Freuden gestattete er es, daß sein Haus, sei es in der Stadt oder auf dem Lande, der Sammelplatz der elegantesten Gesellschaft wurde. Beträchtliche Summen setzte mein Großvater zur Haushaltung seiner Gemahlin aus, er aber lebte bei aller Pracht, die in seinem Hause herrschte, sehr einfach und nahm an alle dem, was in seinem Hause vorging, gerade so viel Anteil, als ein Fremder. Oft soll er seine Freude daran gehabt haben, wenn Fremde, die ihn nicht kannten, sich darüber wunderten, daß ein so schlecht gekleideter Herr in solch einer Prunkgesellschaft erscheinen und wohl gar zuweilen mit einem plötzlich entscheidenden Worte einen Fremden, der sich etwas herausnehmen wollte, niederdonnern dürfe. Für seine Untertanen soll er ein sorgsamer Vater gewesen sein. Meine Großmutter ist von ihm bis zu seinem Tode innig geliebt worden: jeden ihrer Wünsche hat er auszuspähen und zu erfüllen gesucht. So hat er ihr auch nach seinem Tode sein ganzes großes Vermögen mit dem Ausdrucke hinterlassen: »Meine Constanze soll mein ganzes Vermögen haben, denn das liebe Geld macht in der Welt alles, und ich will, unsre Kinder sollen ihre Mutter auch nach meinem Tode auf den Händen tragen. Alte Leute haben auch das Geld nötiger, als die Jugend; es ist gut, wenn diese es sich in der Welt sauer werden läßt! Daher setze ich für meine Kinder, so lange ihre Mutter lebt, nur ein geringes Vermögen aus; aber meine Constanze soll auch in ihren alten Tagen daran mit Dank und Freude denken, daß sie mich zum Manne hatte.«

Meine Großmutter war eine Frau von ausgezeichnetem Charakter: sie besaß edle, große Eigenschaften, aber auch ebensoviele Schwächen. Ihr Verstand war durchdringend, doch ungebildet und daher so manchen Vorurteilen unterworfen; ihre Leidenschaften blieben bis ins hohe Alter heftig, denn sie hatte in so günstigen Verhältnissen gelebt, daß sie ihren Willen jedesmal zur Tat machen konnte. Ihr Reichtum gab ihr Ansehen, weil sie ihn zu genießen wußte: sie war mit Überlegung wohltätig, und ihr Haus war der Sammelplatz der besten Gesellschaft. Jeder, dem sie Zutritt verstattete, fand mittags und abends eine angesehene, seinem Geschmacke angemessene Unterhaltung und Platz an ihrer wohlbereiteten Tafel.

Alle, die sich ihr nahten, spielten ehrfurchtsvoll um ihre Winke, weil es ein anerkannter Vorzug war, im Hause der Starostin Korff freien Zutritt zu haben, und nur diejenigen, die ihr zu gefallen wußten, fanden diesen. Fremde und Einheimische strebten nach dem Vorzuge ihrer Gunst. – Wem sie das Recht entzog, ihr Haus zu besuchen, war wie mit einem Banne belegt. Selbst der Fürst des Landes bemühte sich, ihr Wohlgefallen zu erlangen, da sie bei Landesverhandlungen den größten Einfluß hatte, denn durch ihre vielen Güter galt ihre Stimme bei Landtagen in mehreren Kirchspielen. Jeder Gutsbesitzer hatte in seinem Kirchspiele das Recht, einen Deputierten zum Landtage zu wählen, und die Mehrheit der Stimmen in jedem Kirchspiele bestimmte die Wahl des Deputierten und die Instruktion, die jeder Deputierte erhielt. (Anm. der Verf.) Ihre Art zu loben gab ihr Gewalt über Handlungen und Gemüter ihrer Landsleute; und so kann man sagen, daß sie, weil sie ihre glückliche Lage zu benutzen wußte, von ihrem zwanzigsten bis zu ihrem sechsundneunzigsten Jahre ununterbrochen befohlen und den Kreis, in welchem sie lebte, beherrscht hat. – Diese Herrschaft über so viele Gemüter gab meiner Großmutter, die noch im Alter eine majestätisch schöne Frau war, in ihrem ganzen Wesen etwas so Gebietendes, daß ihr erster Anblick allen Fremden Achtung und Ehrfurcht einflößte. Aber ihr Charakter erhielt auch eben dadurch eine grenzenlose Herrschsucht. Sie war milde und gütig, wenn man nach ihrem Willen lebte oder ihre Schwächen zu benutzen wußte: doch wurde sie hartherziger als der starrsinnigste Mann, wenn jemand ihr zu widerstreben wagte. Nie sah ich mehr Ordnungsgeist, als bei dieser Frau, die kaum lesen und schreiben konnte, nie mehr Sorgfalt bei Hausgenossen und Untertanen, als bei ihr! So war sie auch eine wahre Mutter aller Armen und Bedrückten. In Kurland hat noch niemand gelebt, der in allen Ständen solches Ansehen besessen hätte, als sie. Ihr Blick, ihr ganzes Wesen gebot Furcht und Hochachtung. Von ihrem zwanzigsten Jahre bis zum letzten Tage ihres Lebens hielt sie offenes Haus und lebte auf einem glänzenderen Fuße, als der Herzog. Sie starb mit aller Lebhaftigkeit des Geistes und ungeschwächtem Gebrauche ihrer Sinne; ob zwar sie sechzehn Kinder geboren hatte, so genoß sie doch bis an ihr Ende einer vollen Gesundheit und war blühend schön. Auch trug sie ihre hohe Gestalt immer fort mit majestätischer Anmut. Ihr Tod wurde als ein Verlust für das Publikum angesehen, und bis zum Schlusse ihres Lebens hat sie beinahe jeden zu beherrschen gewußt, der sich ihrer Atmosphäre nahete. Nur meine älteste Mutterschwester Frau von Kleist. E. und deren älteste Tochter Constanze von Kleist, später Frau Starostin von der Ropp. E. wußten diese wirklich große Frau durch List, Geschmeidigkeit des Charakters und Verleumdung anderer zu beherrschen; denn für Plaudereien hatte diese in so vielen Rücksichten vortreffliche Frau ein immer offenes Ohr.


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