Fritz Reck-Malleczewen
Charlotte Corday
Fritz Reck-Malleczewen

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Die Tat

Für die rund zweihundertundfünfzig Kilometer lange Strecke Caen–Paris benötigte die Eilpost mit zwei nächtlichen Ruhepausen rund zwei Tage, und Charlotte mag einigermassen reisemüde gewesen sein, als sie am elften Juli um die Mittagsstunde vor dem Zentralbüro der staatlichen Postlinien in der Rue Notre Dame des Victoires ausstieg. Hoteldiener warteten an diesem Endpunkte just so, wie sie heute an den grossen Bahnhöfen warten, und so nähert sich ihr mit dem empfehlenden Kärtchen seines Hauses der Diener Lebrun vom Hotel de la Providence in der Rue des Vieux Augustins Nr. 19.

Das Hotel de la Providence
Radierung von Montorgueil

Das der Madame Grollier gehörige Hotel ist offensichtlich kein »Haus ersten Ranges«, und der Hoteldiener wirkt nicht eben repräsentativ. Da sie aber, nach Lebruns späterer Aussage, »nicht allzu weit von der Rue école médicine« (will sagen von Marats Wohnung!) logieren will, so übergibt sie dem Manne ihren kleinen Koffer und folgt ihm. An Ort und Stelle wird ihr das Zimmer Nr. 7 angewiesen. –

Wo lag dieses heute schon legendär gewordene Hotel de la Providence . . . dieses Hotel einer 190 Vorsehung, die in den unmittelbar folgenden Tagen so energisch eingreifen sollte in die Geschichte Frankreichs? D'Almeras, einer der zahlreichen französischen Corday-Biographen, hat sich die Mühe genommen, die Lage des Hauses, das unter dem dritten Napoleon im Zuge der von Zola in seiner »Jagdbeute« so ausführlich geschilderten Altstadtsanierung abgebrochen wurde, zu ermitteln. Darf man sich auf D'Almeras verlassen, so war es ein an der Ecke der damaligen Rue des Vieux Augustins und der damaligen Rue SolySpäter Rue d'Argout und Rue Etienne Marcel., also im Zuge der heutigen Rue du Louvre gelegenes Haus des späten Barock – ein vierstöckiger steinerner Bau mit sechs Fenstern in jeder Etage, mit schönen schmiedeeisernen Balkongittern und ebensolchem Eisenwerk an den grossen Parterrefenstern rechts und links vom Eingang. Um 1800 erzählt dann der französische Romanschriftsteller Nodier von diesem Hause eine höchst romantische und mit rosenroter Sentimentalität übergossene Geschichte, wonach er selbst, Nodier, durch volle drei Wochen in dem bewussten Hause das bewusste Zimmer der grossen Toten bewohnt habe. »Eine üble Dachkammer, die nur über eine Hühnerstiege zu erreichen war, ein altes, wurmstichiges Bett mit grünlichen Vorhängen, dann noch ein 191 sehr hoher Armstuhl und ein fichtener Tisch mit reichlichen Tintenspritzern«, die natürlich, nach Nodier, von den dortselbst geschriebenen Briefen der Corday herrührten. Vervollständigt wird diese Schilderung durch die in jeder französischen Legende beinahe schon obligate »Mère« Grollier und ihren »Teilhaber« Feuillard, den Nodier einen »respectable et honnet vieillard« . . . einen würdigen und ansehnlichen Greis nennt. Wir wollen nun beim Forträumen dieser historischen Stuckornamente gleich beim Ende beginnen und an Hand der Polizei- und Gerichtsakten feststellen, dass die »Mutter« Grollier im Jahre 1793 sechsundzwanzig und mithin zu Nodiers Zeiten ganze dreiunddreissig Lenze zählte, dass aber der »würdige und achtbare Greis« Feuillard vierzig Jahre alt und niemals der Mitbesitzer, sondern immer nur der Zimmerdiener des Hotels war. Was aber Charlotte anbetrifft, so hat sie nie und nimmer eine »nur über eine Hühnerstiege zu erreichende Dachkammer«, sondern, ebenfalls nach den Polizeiakten, im ersten Stock das Zimmer Nr. 7, ein etwas düsteres, aber durchaus geräumiges, angemessen möbliertes und mit einem rotweiss verhangenen Bett ausgestattetes Gelass bewohnt. Ausserdem ist das Haus nie die wüste Spelunke der Nodierschen Erzählung, sondern immer der stattliche Bau gewesen, wie Vatel ihn noch um 1860 vorgefunden hat und wie ihn alte Leute, die ihn noch 192 aus eigener Anschauung kannten, uns noch kurz vor dem Weltkriege geschildert haben. –

Polizeilicher Meldezettel Charlottes, ausgefüllt drei Tage vor dem Mord

Sie hat beim Portier Bruneau den Meldezettel ausgefüllt, der Diener Feuillard hat ihren Koffer aufs Zimmer gebracht und ordnet jetzt, da sie nach der langen Fahrt zunächst ruhen will, das Bett. Als Feuillard, der natürlich ihren Anmeldezettel gelesen hat, sie nach dem Stande der Paris ja einigermassen interessierenden Dinge in Caen fragt, antwortet sie in einer den Sachverhalt übertreibenden und wahrscheinlich auf eine »Kompensierung« der eigenen Hoffnungslosigkeit hinauskommenden Fanfaronade, dass »sechzigtausend Mann im Anmarsch auf Paris seien«Dies die Aussage Feuillards. Die Grollier bekundet später im Prozess, Charlotte habe ihr gegenüber die Existenz einer gegenrevolutionären Armee abgeleugnet und achselzuckend erklärt, es hätten in der Normandie sich nicht mehr als dreissig (!) Mann zum Marsch auf Paris bereit gefunden.
    Charlotte hat diese Aeusserung mit dem Bemerken zugegeben, dass sie die Leute des Hotels durch diesen Widerspruch über die Zustände in der Heimat habe täuschen wollen.
, und erkundigt sich dann, ohne Feuillards Rückäusserung abzuwarten, wie man in Paris »über den kleinen Marat« denke. Als sie die Antwort erhält, dass Marat krank sei und seit Monaten schon im Konvent nicht mehr erscheine, fragt sie nach dem Einfluss des »Ami du Peuple« und erhält die diplomatische Antwort, »dass die Sansculotten ihn schätzen und die Aristokraten ihn verachten«. Nach diesem in 193 der Technik des delphischen Orakels gegebenen Bescheid ändert sie plötzlich ihre Absicht, erfragt von Feuillard den Weg zur Rue Saint Thomas, verzichtet auf die beabsichtigte Siesta und geht.

In der Rue Saint Thomas wohnte mit seinen Töchtern der in Paris verbliebene, den Girondisten nahestehende Abgeordnete Lauze-Duperret, und wir wollen es ihr immerhin nicht vergessen, dass sie nun, umrauscht schon von den Fittichen des Todes, noch diesen der Angelegenheit Alexandrine Forbin geltenden Gang tat. Was aber Duperret angeht, so ist er nicht sofort zu sprechen, ist noch (es dürfte mittlerweile drei Uhr geworden sein) im Konvent, und es bleibt ihr nichts übrig, als das schwere Paket mit den Druckschriften in seinem Salon zurückzulassen und zu gehen mit dem Bemerken, dass sie später wiederkommen werde. Das Weitere entnehmen wir am besten der Darstellung, wie Lauze-Duperret sie später in der anlässlich des Corday-Prozesses gegen ihn eröffneten Untersuchung gegeben hat. Bei seiner Rückkehr findet er also auf dem Kaminsims im Salon das Paket, entnimmt ihm die Druckschriften und den oben bereits zitierten Brief des Kollegen Barbaroux und liest ihn in Gegenwart seiner Töchter während des Mittagessens. »Während des Nachtisches«, heisst es in seiner Aussage, »erschien nun die besagte Bürgerin, um mich zu sprechen. Ich kannte sie nicht. 194 Sie fragte, ob sie die Ehre habe, mit dem Bürger Duperret zu sprechen, und als ich bejaht hatte, äusserte sie den Wunsch, mir unter vier Augen ein paar Worte sagen zu dürfen.

Ich ging also ins Nebenzimmer und fragte sie nach dem Ergehen unserer Kollegen in Caen. Nachdem sie mir diese Frage beantwortet hatte, las ich den Brief Barbaroux', und ich fand allerlei darin, was mich betroffen machte. Sie bat mich nun, sie zum Minister des Inneren zu begleiten. Ich meinerseits sagte ihr, dass sich das jetzt im Augenblick nicht gut machen liesse, da ich Gesellschaft erwartete, doch bat ich sie, wenigstens eine Erfrischung zu nehmen. Sie dankte und meinte, das geschähe besser wohl erst morgen, wenn ich aber mir morgen die Mühe nähme, bei ihr vorzusprechen, so könnte man vielleicht zusammen zum Minister gehen . . .

›Mit Vergnügen‹, sagte ich, ›ich weiss nur eben nicht, wo Sie wohnen.‹ Sie gab mir darauf die Karte mit der Adresse des Hotels de la Providence in der Rue des Vieux Augustins. Ich fragte sie endlich nach ihrem Namen, und sie nahm einen Bleistift und schrieb ihn mir auf diese Karte hier und zog sich dann zurück.

Als ich ins Speisezimmer zu den Meinen zurückkehrte, sagte ich: ›Eine nette Geschichte! Diese Frau sieht mir ganz wie eine Abenteurerin aus! Die 195 Vorschläge, die sie machte, erscheinen mir doch recht ungewöhnlich, und in ihren Begründungen und in ihrer gesamten Haltung habe ich allerlei bemerkt, was mir seltsam vorkommt. Morgen werde ich ja wissen, was es mit ihr auf sich hat.‹

Am nächsten Morgen begab ich mich zu ihr. Sie erwartete mich bereits. Ich verweilte bei ihr etwa eine Viertelstunde, in der wir über die Zeitlage plauderten. Ich sagte zu ihr nun: ›Ehe wir zum Minister gehen, müssen Sie mir schon gütigst etwas über Ihre Angelegenheit sagen.‹ Sie meinte daraufhin, diese Angelegenheit beträfe nicht sie, sondern ein Fräulein Alexandrine Forbin, die mehrere Jahre Klosterinsassin gewesen, dann in die Schweiz gegangen sei und von dort aus ihre gesetzliche Pension verlange.

An Ort und Stelle sagte man uns, dass der Minister nicht zu sprechen und dass heute der Empfang für die Abgeordneten erst am Abend sei, zwischen acht und zehn Uhr. Ich gestehe, dass mir diese Gepflogenheit ungeläufig war. So begleitete ich sie denn ins Hotel zurück und blieb dort noch etwa zwei oder drei Minuten, und wir verabredeten uns für den Abend.

Am Abend nun suchte ich sie wieder auf und sagte zu ihr: ›Ich fürchte eben sehr, dass meine Gegenwart beim Minister, der ja ein Gegner meiner eigenen Partei ist, Ihnen mehr schaden als nützen könnte, ich 196 rate Ihnen also zu einer anderen Begleitung. Im übrigen haben Sie ja auch keinerlei Vollmacht, und auf Ihr einfaches Verlangen hin wird man Ihnen die Akten Forbin kaum aushändigen.‹ Sie sagte mir: ›Da haben Sie freilich recht, ich gehe lieber ein anderes Mal hin.‹ Dann sagte sie mir noch mehrere Male: ›Bürger Duperret, ich gebe Ihnen einen guten Rat! Ziehen Sie sich aus der Versammlung zurück! Gehen Sie lieber nach Caen, wo Sie zusammen mit unseren Freunden dem öffentlichen Wohle dienen könnten!‹ Ich antwortete ihr: ›Mein Posten ist hier in Paris. Ich nehme an den Beratungen nicht teil und habe seit dem 2. Juni den Mund nicht mehr geöffnet. Wohl aber bin ich auf meinem Posten und kann ihn nicht gut verlassen, um fortzulaufen.‹ Sie sagte daraufhin: ›Sie begehen eine Dummheit.‹

Ich fragte sie noch, ob sie in Paris Bekannte habe, was sie bejahte. Im übrigen aber wolle sie inkognito sich hier aufhalten . . .«

Dies wäre die Darstellung, wie Lauze-Duperret sie gleich nach der Mordtat am vierzehnten Juli in der hier schon flüchtig geschilderten Konventsitzung gegeben hat, als er, zusammen mit seinem Kollegen Fauchet, durch Couthon, Robespierres rückenmarkkranken Freund, heftig der Mitwisserschaft am Morde und der Konspiration mit den Flüchtlingen von Caen bezichtigt wurde. Er war natürlich, als einer der in 197 Paris verbliebenen Girondisten, an sich schon verdächtig, und ausserdem waren, womit ich freilich notgedrungen den Ereignissen zuvorkomme, seine Besuche im Hotel de la Providence durch die Grollier und ihren Adlatus Bruneau sorgfältig beobachtet worden.

Von vornherein nämlich war diese seltsame Fremde mit ihrem Gemisch von Provinzialismus und aristokratischem Selbstbewusstsein den beiden aufgefallen, und als sie vollends im Hotel Herrenbesuch empfing, hatte sich das Interesse zu einer förmlichen Ueberwachung verdichtet. Als gar drei Tage später mit der Mordtat auch der Name »Corday« in Paris bekannt wurde und die Polizei, wie wir bald hören werden, auch das Hotel betrat, hielt die Grollier, was ihr schliesslich niemand verdenken wird, es für geboten, auch über Duperrets Besuche und über ihre sonstigen Beobachtungen eine förmliche Anzeige beim Sicherheitsausschuss zu erstatten . . .

»Die Corday hat im Hotel de la Providence, Rue des Vieux Augustins, seit dem elften Juli gewohnt. Sie wurde dort besucht von einem Manne, der etwa fünf Fuss und vier Zoll gross und hochstirnig war, braune Haare, braunen Bart und braune Augenbrauen hatte, einen gelblichen Rock und einen Dreispitz trug. Gesichtshaut finnig, Statur ziemlich untersetzt. Wohnt 198 anscheinend dicht beim Louvre, möglicherweise in der Rue Filles Saint Thomas. Der Fremde ist vier- oder fünfmal ins Hotel gekommen, die Besitzerin weiss um eine Unterhaltung, die er mit der Frauensperson gehabt hat.

Unterschrift:  
Louise Grollier.

Nachschrift: Der Fremde hat für die Frauensperson drei Briefe geschrieben, die mit der Post nach Caen aufgegeben wurden, das Zimmermädchen hat die Briefe auf dem Bett gefunden und sie auf den Tisch gelegt.«

So weit späterhin die Grollier. Was an der Anzeige auffällt, ist die Tatsache, dass sie von vier oder fünf Besuchen des Deputierten spricht, wo Duperret nur ihrer dreie zugibt – ferner wohl auch, dass das Zimmermädchen von Duperrets Hand drei Briefe hat herumliegen sehen, die nach Caen bestimmt waren und dorthin auch aufgegeben wurden. Wenn wir damit erneut die Frage aufwerfen, ob am Ende ihre Bindung an die Girondisten nicht doch stärker war oder ob sie gar in ihrem Auftrage handelte, so greifen wir zwar erneut den Ereignissen und besonders dem späteren Prozessgange voraus, knüpfen aber im Interesse einer grösseren Klarheit unmittelbar an die Ereignisse dieses elften und zwölften Juli, der 199 beiden entscheidenden Tage, an. Festzustellen ist nun folgendes:

1. Die Grollier hat zwar in der schriftlichen Anzeige von »vier bis fünf« Besuchen Duperrets gesprochen, hat aber im Prozess selbst nur gesagt: »Un citoyen à elle inconnu est venu la demander à l'hotel« . . . sie hat also späterhin ihre Behauptung mehr oder minder deutlich auf einen Besuch eingeschränkt.

2. Der Hoteldiener Feuillard hat in seiner Aussage die Besuche Duperrets überhaupt nicht erwähnt.

3. Woher wusste das Zimmermädchen, dass die auf dem Bette vorgefundenen Briefe von Duperrets Hand stammten, und ist Duperret wirklich die ungeheuerliche Dummheit zuzutrauen, dass er diese gefährlichen Briefe durch Dritte zur Post tragen liess?

Gerade diese Angelegenheit mit den Briefen lässt erkennen, dass in dem Augenblick, wo als Mörderin Marats »die Dame von Nummer sieben« bekannt wurde, mit den Frauen des Hotels die Phantasie und eine allzu grosse Kombinationsfreudigkeit durchging, und dass sie, um späterhin vorsichtiger auszusagen, bei der ersten in der Aufregung gegebenen Protokollierung sozusagen das Blaue vom Himmel herabschwatzten. Ist aber Duperret wirklich öfter als dreimal im Hotel gewesen, wurden wirklich (was im Prozess seltsamerweise überhaupt nicht berührt worden 200 ist) von ihm an jenem Tage Briefe nach Caen geschrieben – was hindert uns an der Auffassung, dass diese Briefe lediglich politische Interna der Gironde, nicht aber, was doch die Kardinalfrage ausmacht, Charlottes furchtbares Geheimnis, den Mordplan, behandelten?

Wir wissen, was bislang viel zu wenig beachtet worden ist, dass Duperret gerade in jenen Tagen vom Sicherheitsausschuss wegen seiner geheimen Beziehungen zu dem föderalistischen General Dillon behelligt wurde, und dass gerade am Morgen des Zwölften (also am Tage seines Besuches im Hotel!) seine Wohnung versiegelt worden war. Lag es da nicht nahe, dass er die Frage einer von Charlotte ja angeregten nachträglichen Flucht nach Caen mit ihr besprach und dass diese Tatsache seine Besuche im Hotel genügend erklärt?

Interessieren kann uns nicht, ob Charlotte gefühlsmässig den Girondisten nahestand . . . interessieren kann uns, die wir ja ihre Geschichte und nicht die der Gironde aufschreiben, nur die Frage, ob die Girondisten um den Mordplan wussten oder ihn gar ausgeheckt hatten . . .

Oder ob sie mit diesem Plan und mit der Gewissheit ihres nahen Todes allein war. Diese Frage allein ist wichtig und entscheidend für ihre menschliche Bedeutung, und sie allein soll hier ein letztes Mal 201 beantwortet werden. Fassen wir alles zusammen, was wir gesehen haben und noch sehen werden: Der spätere Prozess, der sich fast ausschliesslich um die Frage einer girondistischen Anstiftung drehte, hat in diesem Sinne ebensowenig etwas zutage gefördert wie die ganze von uns versuchte Expertise ihres bisherigen Verhaltens. Das, was bleibt, ist ein Mensch von ungeheurer Selbständigkeit, ungeheurer Willensstärke und ungeheurer Einsamkeit. –

Man bedenke: Sie hatte nie ihre engere Heimat verlassen, war nie in Paris gewesen und sass nun hier im Dickicht der grossen Stadt in einem trostlosen Hotelzimmer allein mit ihrem tödlichen Vorhaben. Ihre Mission in Sachen Forbin war beendet, Duperret war gegangen, und alle diese kleinen Fristen, die das Leben noch gewährt hatte, waren abgelaufen. Vor ihr lag nun beides, die Tat und der Tod. Wir wollen es ihr unendlich hoch anrechnen, dass gerade in diesen Stunden ihre Seele sich über sich selbst erhob und dass sie an diesem öden Nachmittag, stolz und hingebungsvoll wie nur eine Nachfahrin des Vercingetorix, ihrer Nation gedachte. Sie setzt sich nieder. In dem Brodem des glutheissen Grossstadttages, im Angesicht öder Brandmauern und in dieser ehrlosen Umgebung eines Mietzimmers schreibt sie ihr Vermächtnis . . .

202 »Wie lange noch, Ihr unseligen Franzosen, werdet Ihr Euch darin gefallen, zu hadern und zu streiten? Lange genug und übergenug haben verbrecherische Parteimänner ihre Privatinteressen denen der Allgemeinheit übergeordnet – warum also, Ihr Opfer unseliger Raserei, warum mordet Ihr Euch gegenseitig und löscht Euch aus, um schliesslich auf den Ruinen des Landes das Gebäude einer Tyrannei zu errichten?

Allerorts erheben sich die Parteien, der Berg triumphiert durch Verbrechen und Gewalttat, und auf verschiedenen Wegen führen ein paar Ungeheuer uns alle in den Abgrund. Wir arbeiten an unserem eigenen Verderben mit weit mehr Tatkraft, als ehedem an der Errichtung unserer Freiheit . . . eine kurze Weile noch, und von Euch wird nichts übrig sein als die Erinnerung, dass Ihr einmal gewesen seid.

Schon marschieren einige abtrünnige Departements auf Paris, schon hat das Feuer der Zwietracht und des Bürgerkrieges das grosse Reich ergriffen! Noch gibt es ein Mittel, den Brand zu löschen, und dieses Mittel muss rasch angewandt werden, wenn es wirken soll. Schon hat der niedrigste der Verbrecher, Marat, dessen Name uns allen ein Symbol jedweder Freveltat ist, durch seinen Fall unter dem rächenden Stahl den Berg ins Wanken gebracht und lässt Robespierre, Danton und alle die anderen von Blitzen umzuckten Banditen erzittern auf ihrem blutigen Thron. Die 203 Götter aber schieben ihre Strafe nur auf, um den Sturz der Bösewichter nur noch furchtbarer zu machen und um alle die abzuschrecken, die es wagen sollten, ihr Glück auf dem Ruin ihrer irregeleiteten Völker zu gründen.

Franzosen! Ihr kennt doch Eure Feinde, so erhebt Euch endlich und marschiert! Mögen nur Brüder und Freunde die Vernichtung des Berges überleben! Ich weiss nicht, ob der Himmel die Republik uns erhält, das aber weiss ich, dass er uns zum Herrn einen Mann des Berges nur in seinem Rachezorn geben kann! Deine Ruhe, Frankreich, hängt nun ab von der Erfüllung des Gesetzes. Ich meinerseits verletze das Gesetz nicht, indem ich diesen vom ganzen Weltall verdammten Marat töte – er steht ausserhalb des Gesetzes. Bin ich schuldig, so war es eben auch jener Herakles, als er die Ungeheuer vernichtete. Ihr werdet doch nicht, Ihr Freunde der Menschlichkeit, einem wilden Tier nachtrauern, das sich an Eurem Blute satttrank, und Ihr, trauererfüllte Aristokraten, die Ihr unter der Revolution genug gelitten habt – werdet Ihr ihn etwa beweinen, Ihr, die Ihr doch mit ihm nichts gemein hattet?

O mein Vaterland, dein Unglück bricht mir das Herz! Nur mein Leben kann ich dir geben und danke dem Himmel, dass ich's geben darf! Und ich 204 werde es gewiss nicht so machen wie jener PârisDer Mörder des Deputierten Lepelletier. und werde mir nicht selbst den Tod geben. Ich will, dass noch mein letzter Todesseufzer meinem Volke nützt, ich will, dass mein durch die Gassen der Stadt getragener Kopf allen Gesetzesfreunden zum Symbol ihres neuen Bundes wird. Ich will, dass mein Blut die Niederlage des Berges besiegelt, ich will, dass ich das letzte seiner Opfer bin, und dass das durch mich gerächte Weltall mir bestätigt, wie sehr ich mich verdient machte um die Menschheit.

Betrachtet man aber meine Tat mit anderen Augen – mir soll's das Herz nicht beschweren.

Mag doch der Pöbel einstens meine Tat
Bewundernd oder mit Entsetzen melden.
Ich will nichts von dem feilen Lorbeer seiner Helden,
Ich zittre nicht, ob je mir reift des Ruhmes Saat!

Frei durch mich selbst und treu dem Vaterlande,
Genügt es mir, dies Land zu retten.
Erhebt euch mit mir, brecht die Sklavenketten.Voltaire, Mort de César, III, ²

Meine Freunde und Verwandten aber sollen nicht behelligt werden – keiner wusste um meinen Plan. Meinen Taufschein und diese Adresse hinterlege ich, 205 um zu erweisen, was auch die schwächste Hand vermag, wenn ein vollkommener Opfermut sie lenkt. Missglückt mein Unternehmen, Franzosen, so habe ich Euch doch den Weg gewiesen. Ihr kennt nun Eure Feinde – erhebt Euch und holt endlich zum Schlage aus.«

Das ist dieser Aufruf »An die Freunde von Gesetz und Frieden«, und sie hat den ganzen heissen Spätnachmittag zugebracht mit der Niederschrift. Mit seinen ruhigen und beinahe männlichen Zügen ist es ein achtmal gefaltetes und achtmal von einer Nadel, angeblich von ihrer eigenen Busennadel durchstochenes Blatt. Es ist von ihren spärlichen Schriften jedenfalls das kostbarste Stück. Fünfzig Jahre nach ihrem Tode hat es der erste Besitzer, Paillet, an Lamartine weitergeschenkt, und als es dann 1855 bei einer Versteigerung wieder auftaucht, erzielt es immerhin schon gegen achthundert Franken. Obwohl heute, um es zu besitzen, ein leidenschaftlicher Autographensammler sozusagen seine Seele verkaufen würde.

In bewegter Zeit musste es ungeheuerlich wirken. Der Konvent aber, der doch Ludwigs letzte an die Zuschauer gerichtete Worte durch Trommelwirbel überdonnern liess, hat unbegreiflicherweise selbst im Schreckensjahre 1793 sein Bekanntwerden nicht verhindern können. Unbegreiflicherweise, da es doch 206 mit Feuerflammen noch heute ins Herz fährt . . . unbegreiflicherweise, da es nachträglich so scheint, als sei mit diesem Blatt erstmalig jene Saat gestreut worden, die dann nach einem Jahr des Leides aufging im Thermidor.

»Du allein warst ein Mann«, sagt angesichts dieses Blattes in seiner Corday-Ode André Chénier, und freilich gibt es in der gesamten französischen Parlamentsgeschichte bis zum heutigen Tag unter soviel vorzüglichen Reden nicht einen einzigen Aufruf von dieser ungeheuerlichen Durchschlagskraft. Denn es keimt nun einmal auch das entscheidende Wort nicht in der Brust des Wissenden. Sondern es fällt wohl, wenn im Ablauf des kosmischen Uhrwerkes die Stunde gekommen ist, heiliges Feuer auch in das Herz der abseitigen Träumerin. Und sie erwacht und tut, was sie soll, und es zerreissen um sie die geheimnisvollen Schleier, und sie steht da in ihrer antiken Grösse und in der todesfreudigen Gelassenheit der platonischen Apologie.

Es ist das freimütigste, das offenherzigste Lebensdokument, das wir von diesem verschlossenen Menschenkind besitzen, es ist das erste Aufleuchten einer neuen, über Frankreich dämmernden Zeit, und eigentlich umspannt es schon die Welt jener Bataillone, die über die Lodibrücke stürmten und bei Arcole siegten.

Es ist trotz der später in der Conciergerie noch geschriebenen Briefe ureigentlich ihr Schwanengesang, 207 es umwittert ihn, wie ihr ganzes kurzes Weiberleben, der Hauch der Todesnähe. Geschrieben hatte sie ihn hinter verschlossenen Türen. Niemand hat sie an diesem Nachmittag gesehen, und auf das Klopfen des Zimmermädchens hatte sie nicht geantwortet.

Es mochte Nacht geworden sein, als sie geendet hatte.

Sie wusste, dass es die letzte Nacht ihrer Freiheit war.

 


 


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