Fritz Reck-Malleczewen
Charlotte Corday
Fritz Reck-Malleczewen

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»Lassen Sie gut sein, mein Lieber, schliesslich habe ich noch keinen gekannt, der sich nicht noch nach einem vollen Jahrhundert in sie verliebt hätte.«

                        Casimir Perier über die Corday.

Das Haus stammte, wenn man Ueberlieferungen trauen darf, aus dem Mittelalter, es stammte noch aus jenen verschollenen Zeiten, da man in Paris, wenigstens auf dem linken Seine-Ufer, noch Flämisch sprach und Frankreichs Könige sich geduldiger Ochsenkarren bedienten, wenn sie zur Krönung nach Reims fuhren.

Aus diesen fernen Zeiten also stammte das alte düstere Haus in der Rue école médicine. Aeltere Pariser, und selbst solche, die heute noch leben, mögen sich noch dunkel des Hauses erinnern, da es ja, gleich als habe es seinem bekanntesten Bewohner eine nachträgliche Genugtuung verschaffen wollen, noch die Kommune von 1871 überdauert hat und erst fünf Jahre später abgerissen worden ist. In den Jahrzehnten aber, ehe das geschah, wohnte in dem alten Hause ein käuzischer Doktor, der Gäste nur ungern vorliess, denen aber, die er ausnahmsweise empfing, bereitwillig die berüchtigten Räume zeigte. »Dieser Raum, in dem Sie meinen Schreibtisch sehen, war Marats Salon, an gesunden Tagen arbeitete er hier. 10 Sie waren ja freilich, wie Sie wissen, nicht allzu zahlreich, diese gesunden Tage.« Und dann riss er eine Tür auf, und an dem alten Getäfel, am Ziegelfussboden und der schmutzigen Tapete dieses Nebenraumes haftete noch gleichsam das Od einer Bluttat. »Dies also wäre das Mordzimmer. Marats Badewanne stand hier. Wenn Sie sich im übrigen, vor dem Abbruch, ein Andenken mitnehmen wollen . . .« Und die Besucher nahmen, während im Treppenhause schon die Spitzhacke wütete, sich allerlei mit, was an die blutige hier geschehene Tat noch zu erinnern schien. Ein Stück vom Fenstergitter und den Knauf der Tür, durch die die Mörderin eingetreten war. So hat sich denn manches Stück des alten verschollenen HausesDas gotische Erkertürmchen befindet sich heute im Musée Carnavalet. bis in unsere Tage hinübergerettet, und Victorien Sardou, der als junger Medizinstudent um 1850 von dem alten gespenstischen Doktor eingelassen wurde, hat in aller Eile sogar eine später noch zu erwähnende Skizze von dem Inneren gezeichnet.

Sonst aber ist das alte unheimliche Haus dem Gedächtnis der jüngeren Pariser völlig entschwunden, und selbst der Ort, wo es noch vor ein paar Jahrzehnten stand, ist heute bereits ungewiss geworden. Nur von ungefähr lässt sich wohl sagen, dass es mit seiner breiten Toreinfahrt und seinem lichtlosen 11 traurigen Hof dort gelegen haben mag, wo heute sich die Bureaus der medizinischen Fakultät befinden. Und das wäre denn in kurzem alles, was man heute über ein so berühmtes Mordhaus noch sagen kann. –

Damals aber, am dreizehnten Juli siebzehnhundertunddreiundneunzig, lag hinter Paris einer jener glutheissen Tage, an denen die grosse Stadt wie ein riesiger Backofen wirkt – so ein Tag, von dessen Abend sich nur eine sehr dürftige Abkühlung erhoffen lässt. Sonst, unter gewöhnlichen Umständen, wäre es an solchem Abend das Gegebene gewesen, seine Kinder an die Hand zu nehmen, mit dem Nachbarn ein wenig über die eben gestürzten, leider aber doch in die ferne Normandie entkommenen Girondisten zu schwätzen, oder doch wenigstens vor der Haustür den »Père Duchèsne«, das Standardblatt des kleinen Mannes, zu lesen . . .

Sonst wäre wohl solch Pariser Abend auf diese Weise verlaufen, heute aber ist jede Erinnerung an ein solches »Sonst« vergessen. Kurz nach acht Uhr war es, da erwachte mit Fensteraufreissen und Geschrei, mit Hin und Her und Glockengeläut bei der Cordelierskirche der Lärm, griff im Nu über auf die Inseln und auf die Vorstädte Saint Antoine und Saint Marceau, wo einst der Sansculottismus geboren wurde, und wo die Gassen so düster und schaurig sind, als sähe man in den Schlund einer Kanone.

Jean Paul Marat
Stich nach dem Porträt von Frémy

12 »Was ist denn geschehen, Bürger?«

»Man hat Jean Paul Marat ermordet, den Freund des Volkes.« Von Haus zu Haus geht es so, von Fenster zu Fenster. Man hört die Schreckensnachricht, man taumelt zurück ins heisse Zimmer, wirft den Rock über, eilt hinunter auf die Gasse, die von Menschen schon so vollgestopft ist, wie vom Kork der Flaschenhals. Es ist, wie am Tage der Königsflucht ein panisches, ein tief verängstigtes, ein durchaus unberechenbares Paris. In Knäueln umdrängt man die, die Näheres zu wissen scheinen, lauscht, poltert unausdenkliche Drohungen dazwischen, speit grimmig aus und macht nur widerwillig dem städtischen Dienstwagen Platz, der eben in die Rue école médicine einbiegt. »He, so gebt doch Raum, Freunde«, schreit der Kutscher, knallt mit der Peitsche, appelliert an den Ordnungssinn der Bürger, kommt aber nur schrittweise weiter. Fluchend tritt man zur Seite, bemerkt an der Mütze des Mannes die Kokarde der Mairie, erinnert sich daran, dass er immerhin etwas wissen könne . . .

»Weisst du denn nicht, wer ihn eigentlich getötet hat?« Der Kutscher aber weiss es nicht oder verbirgt sein Wissen hinter einem dienstlichen Gesicht und erkämpft sich bittend und drohend ein neues Stück. Murrend schliesst hinter ihm die Menge sich wieder zusammen, raunzt über die Behörden, die das Volk 13 im Ungewissen lassen, stöhnt vor Ungeduld und Neugier und erwischt dann schliesslich doch einen, der so aussieht, als wisse er etwas.

»Es war ein Mann, der in Weiberröcken steckte.« Die Nächststehenden haben's gehört, verschlingen die Neuigkeit wie ein ausgehungerter Strassenköter den hingeworfenen Wurstzipfel. »Ein Mann also in Weiberröcken!« Und das Weitere – dass dieser in Weiberröcken steckende Mann ein Aristokrat oder mindestens ein Sendbote der nach Caen geflüchteten Girondisten gewesen ist – das versteht sich für die Masse schon in der nächsten Minute von selbst, und jeder, der eine andere Möglichkeit zu äussern wagte, würde nun ohne weiteres als Volksfeind, wo nicht als Mitwisser gelten.

»Ein Aristokrat also in Weiberröcken – nun, ich denke, man wird sie ihm bald ausgezogen haben, diese Röcke!« Fäuste ballen sich, und Weiber schnattern und schluchzen: er war immerhin der Abgott dieser Menschen, der Bürger Marat. Und so steht man denn kummervoll beisammen, merkt es kaum, wie aus dem Abend stickiges Dunkel geworden ist, wird hier wohl herumstehen und warten bis zum Morgen. Plötzlich aber, da zuckt durch den Menschenwall eine neue Sensation, und wer lang genug ist und über die Köpfe der Nachbarn hinwegschauen kann, der späht nach der Rue école médicine hinüber, und wer zu kurz 14 geraten oder allzu fest eingekeilt ist und sich nicht umdrehen kann, der lässt es sich wenigstens von den Umstehenden berichten. »Da . . . da.« Der Kutscher nämlich hat jetzt das wohlbekannte Haus des Bürgers Marat erreicht, die Flügeltüren der Einfahrt haben sich geöffnet, der Wagen ist dort verschwunden.

»Man holt ihn jetzt also, diesen Mörder . . . kommt, Freunde, sehen wir ihn uns etwas näher an, diesen Ci-devant.« Die Menge heult, brüllt, tobt. Weiber schreien, Kinder, unvorsichtigerweise mitgeschleppt, beginnen zu weinen. »Holt ihn doch heraus, was sollen wir solange warten?« Aber die Torflügel der Einfahrt haben sich sofort wieder geschlossen. Man kann nur mit den Fäusten gegen die Eichenbohlen trommeln und sich herumzanken mit den Nationalgardisten, die urplötzlich auftauchen und brüsk und mit drohender Waffe sich zwischen Torflügel und Menge schieben . . .

»Ihr wollt ihn also beschützen, diesen Mörder!«

»Foutre! Nehmt gefälligst Vernunft an und geht schlafen, sonst . . .«

Sie ist überflüssig, diese Drohung; die Menge zieht sich knurrend zurück, schilt noch ein bisschen auf die zwei Grenadiere, verstummt.

Verstummt und gafft hinauf zu den Fenstern des Bürgers Marat, wo eben, gerade hier über der Einfahrt, ein Licht sich entzündet: wie mag es zur Stunde 15 dort aussehen und was mag sich inzwischen vollzogen haben?

Ja, wie verhält es sich damit? Zu einem viel späteren Zeitpunkt erst werden wir, die Nachgeborenen, uns diese ohne Zeugen geschehene Tat rekonstruieren und werden für den Augenblick uns wohl oder übel mit dem begnügen müssen, was der im gleichen Hause wohnhafte Zahnarzt Michon-Delafondée als der erste am Tatort erschienene Gewährsmann dort oben vorgefunden hat. Kurz nach acht Uhr ist es gewesen, da hat dieser Doktor, der unter Jean Paul Marat die Hauptetage des Hauses bewohnt, über sich Lärm und dann oben am offenen Fenster eine gellende Frauenstimme gehört. »A l'assassin . . . à moi!« Der Zahnarzt hört's, läuft in den Korridor, läuft die Treppe hinauf, findet dort oben schon den unter dem Namen »Citoyen Casimir« in diesem Viertel wohlbekannten Sektionskommissar Martin Cuisinier, der gerade am Hause vorüberging und seinerseits dieses schreckliche Geschrei gehört hat . . .

Die Herren läuten . . . wer dann eigentlich öffnet und die beiden zum Schauplatz des Verbrechens geleitet, das vergisst in seiner furchtbaren Erregung der Doktor schon in wenigen Minuten, und selbst da, als er im Mordzimmer steht, haftet sein Blick keineswegs an der furchtbaren, hier aufgebauten Staffage . . .

16 Sondern er haftet eigentümlicherweise zunächst an einer Szene, die im Nebengelass sich abspielt und so wildbewegt ist, dass alle ringsum darüber den Toten vergessen. Im Nebenzimmer nämlich scheint ein junges weibliches Wesen aus dem Fenster auf die Strasse springen zu wollen – der Bürger Laurent Bas, als Drucker an Marats Zeitung dem Doktor Michon-Delafondée wohlbekannt, stürzt sich mit erhobenem Stuhl auf die Fliehende und schlägt sie zu Boden. Sie scheint nicht allzu schwer getroffen, richtet sich auf und wird von Laurent Bas an der Korsage hochgezerrt. Damit aber verschwindet dieses Bild im Gedränge der Leute, die inzwischen im Nebenzimmer eingedrungen sind, und der Doktor, umdrängt von schluchzenden und jammernden Frauen, kann sich nun endlich der Tat und ihrem Opfer zuwenden.

Er schaut um sich. Da wäre zunächst, allenthalben auf dem Fussboden verstreut, eine Menge nasser, blutgetränkter KorrekturbogenDiese mit dem Blute des Toten getränkten Korrekturbogen wurden von Marats Schwester Albertine, die erst 1841 in tiefer Armut in Paris starb, gesammelt. Sie verschenkte sie an verschiedene Bewunderer ihres Bruders, und da diese sie späterhin veräusserten, zirkulieren diese seltsamen Erinnerungsstücke noch heute auf dem Bibliophilenmarkt. Eines kam in den Besitz von Anatole France. Ein weiteres kam auf seltsame Weise zutage: der französische Sammler Paul Dablin findet eines Tages, über den Kai Conti schlendernd, bei einem Trödler Marats ausserordentlich selten gewordene Schrift »Ueber das Feuer«. Als er sie aufschlägt, fällt mit dem Bleistiftvermerk »Aus dem Pack, der beim Mord neben der Badewanne lag«, einer dieser Bogen heraus. Die Schriftzüge werden als die der Albertine Marat erkannt, die Echtheit ist also sichergestellt. Das berühmte Billett dagegen, das der tödlich Getroffene mit zitternder Hand und überlegener Ruhe noch an seinen hébertistischen Freund Guzman geschrieben haben soll, ist eine der unverfrorensten Fälschungen, die die Bibliophilie kennt. Die Buchstaben sind nämlich mit so schöner Regelmässigkeit »gezittert«, dass der wirkliche Schreiber bei der Niederschrift sich wirklich eines beneidenswerten Wohlbefindens erfreut haben muss., da wäre auch, in all 17 dem Gedränge erst jetzt sichtbar werdend, der Bürger Marat, der nach seiner leidigen Gewohnheit wieder einmal in der Badewanne gearbeitet hat und dort vom Mörder überrascht worden ist . . .

Sterbend, mit einer Stichwunde unter dem rechten Schlüsselbein. Da er noch röchelt, so tut, während im Nebenzimmer der Lärm um die Mörderin andauert, der Doktor Michon-Delafondée das, was hier noch zu tun ist: er legt, unterstützt von Marats noch vielfach zu erwähnender Haushälterin, auf die Wunde feuchte Kompressen, muss aber sehr bald sehen, dass hier alle Bemühungen vergeblich sind. Der Lebensstrom versiegt, das sowieso morsche und kranke Herz tut seine letzten zappelnden Schläge, und auch der aus dem Hotel-Dieu inzwischen herbeigerufene Chefchirurg Pelletan kann nur noch den Tod feststellen. Den Tod, hervorgerufen durch einen Messerstich, der rechts oben zwischen der ersten und zweiten Rippe eingedrungen ist, schräg den ganzen Brustkorb durchmessen und, der Sachlage nach, wahrscheinlich die 18 grossen Gefässe geöffnet hat. Dies ist das vorläufige Gutachten des Chirurgen.

Inzwischen erscheint mit seinen Assistenten Marino und Louvet der Polizeikommissar Guellard, und es erscheinen die dem Sicherheitsausschuss angehörigen Konventsmitglieder Chabot, Maure, Drouet und Legendre. Der Tatort wird durchsucht, das zu Boden gefallene Mordmesser wird beschlagnahmt, und es wird mit der im Nebenzimmer festgehaltenen Mörderin ein allererstes Verhör angestellt, bei dem sie mit dem Toten konfrontiert wird, leider aber keine Spur von Reue zeigt.

Später gibt man die ihr in dieser Stunde in den Mund gelegten Aeusserungen sehr verschieden wieder, und deutlich erkennt man an den Fassungen die politische Einstellung des jeweiligen Berichterstatters.

»Mein Werk ist nun wohl getan, andere werden es vollenden.« Das wäre ja wohl eine ziemlich plumpe Erfindung derer, die dieser Frau durchaus Anstifter, Mitwisser und Hintermänner nachweisen wollen. »Ich glaubte, man würde mich erwürgen . . . wie denn, ist das etwa das gleiche Volk, das man mir als Kannibalenhorde geschildert hat und das dort unten auf der Strasse so willig den behördlichen Anordnungen gehorcht?« Das klingt wohlarrangiert und nimmt sich aus wie eine Reverenz, die man auch bei dieser Gelegenheit dem Pöbel und seiner Selbstzucht zu machen wünschte . . .

19 »Was wollt ihr denn noch, ich habe ihn ja getötet.« Das heisst mit anderen Worten: »Lasst mich jetzt gefälligst zufrieden mit allen Fragen und Konfrontationen – ich hab's ja getan, habe nicht die Absicht, etwas abzustreiten, wünsche zu meiner Tat zu stehen und weiss auch, welche Strafe meiner wartet, und will eben nur, dass man mich bis auf weiteres in Frieden lässt.« So ungefähr. Es klingt bedeutend weniger nach Legende und grosser Oper, es hat den Vorzug, natürlich zu klingen und auch, wie wir noch sehen werden, zur Persönlichkeit der Täterin zu passen. Diese dritte Fassung wird also wohl die richtige gewesen sein.

Es ist übrigens mit der Disziplin der Masse ohngeachtet der spät gewordenen Nachtstunde nicht weit her. Denn jetzt, wo man ahnt, dass oben das Verhör zu Ende geht und dass nun dieser schreckliche, in Weiberröcken steckende Mörder bald die Treppe herabkommen muss – jetzt ist die Menge aus ihrer Lethargie erwacht.

Die Nationalgardisten werden beiseitegedrängt, der Pöbel dringt in den Torweg ein, belagert Treppe und Wagen, macht sich Luft in schrecklichen Drohungen.

»An die Laterne mit dem Mörder . . . zerreisst ihn!« Es ist gut, dass der Kommissar im Inneren des Hauses für alle Fälle noch ein paar Polizeisoldaten bereitgehalten hat.

20 Die Soldaten drängen den Mob zum Tor hinaus. Als der Wagen die Strasse gewinnt, lässt der Konventsdeputierte Drouet halten und donnert vom Trittbrett aus die verdutzte Menge an. Das Mädchen aber, der vermeintliche Mann in Weiberröcken, ist ohnmächtig geworden. Man kann wohl, wie sich hier noch erweisen wird, ruhig und voll lächelnder Anmut dem unabänderlichen Tode entgegensehen, und kann doch zittern vor dem Unberechenbaren und Unausdenklichen, das in der Massenmenschen Brust schlummert. So ist sie ohnmächtig geworden.

Der Wagen aber gewinnt bei Saint Germain des Prés, wo die Menge sich nicht mehr so staut, freiere Bahn, und Drouet, der noch immer auf dem Trittbrett steht, lässt scharf antraben. Der Wagen poltert über den Pont neuf, er saust vorbei an der düsteren Masse des Louvre und gewinnt die seit einem Jahre verwaist liegenden Tuilerien. Dort hält er.

Kein Neugieriger hat ihn kommen sehen, nur die Gendarmen, die man wohl benachrichtigt hat, erwarten ihn. Hier, in der frischen, vom Fluss herüberwehenden Nachtbrise hat übrigens das ohnmächtige Mädchen die Augen aufgetan.

*

Noch in der gleichen Nacht, und mithin schon in der Frühdämmerung des vierzehnten Juli, wird sie 21 durch die noch immer verstopften Strassen zu einem erneuten Lokalverhör in die Rue école médicine geschleppt und erst nach endlosem Hin und Her bei Sonnenaufgang im Abbaye-Gefängnis abgeliefert.

Womit denn dieses seltsame Geschöpf bis auf weiteres aus unserem Gesichtsfelde verschwindet. Erst später werden wir sehen, wer sie war, wie ihr der Entschluss zur Tat reifte und wie sie ihre Freunde die Kunst des Sterbens lehrte.

Denn die grosse Stadt ist aus den Fugen seit dem gestrigen Abend, die Folgen der Bluttat sind vorerst, in der Frühe des vierzehnten, noch gar nicht abzusehen. Glutheiss ist dieser Tag und voll elektrischer Spannung – es ist einer jener hochsommerlichen Tage, wo der Fluss übelriechend durch die Stadt schleicht und die tausendfach geatmete und vergiftete Luft den Menschen noch reizbarer macht. Rabiat, alle Augenblicke durch ein neues Gerücht alarmiert, steht die Menge vor Plakaten, die in der Nacht unbekannte Hände an den Ecken befestigt haben . . .

»LepelletierLepelletier-Saint-Fargeau, Konventsdeputierter der Linken, wurde am 21. Januar 1793 während des Königsprozesses im Speisehaus Février durch den ehemaligen Garde du corps Pâris niedergestochen, nachdem er unmittelbar vorher für den Tod des Monarchen gestimmt hatte.

wurde ermordet, weil er dem Halunkentum den Garaus machte, 22

Brutus

geschworener Republikaner und geschworener Feind der Könige,

Marat

Freund des Volkes. Sie alle wurden erdolcht durch des Volkes Feinde.«

Das also steht dort zu lesen . . . wer hat es wohl drucken lassen? Wahrscheinlich sind es die Radikalen um Hébert, den Herausgeber des berüchtigten »Père Duchèsne«, gewesen, und nun nutzen sie in ihrer Weise den Tod Marats aus und wissen nur zu gut, wie sie das tausendköpfige, Masse genannte Tier zu behandeln haben. »Rache . . . Rache für Marat . . . heraus mit der Mörderin!« Immer wenn ein neuer Schub Passanten das Plakat gelesen hat, hört man den Schrei, und jedesmal, wenn man sich erleichtert hat durch dieses Gebrüll, dann geht man dazu über, in unwiedergeblichen Wunschbildern eine Strafe sich auszudenken für diese Mörderin. »Wahrhaftig, man sollte sie . . .« Und in Worten, wie sie sie in solcher Roheit am Ende nur das Gesindel von St. Antoine findet, tun sich unausdenkliche Leidenschaften kund. Kutschen rollen eilig durch die Rue St. Honoré, wo die Deputierten wohnen . . . Kutschen mit niedergelassenen Ledervorhängen, Kutschen, die sofort, sowie sie den Menschenwall passiert haben, ein höllisches Tempo vorlegen. Murrend schaut die Menge 23 ihnen nach, es sind die Kutschen verängstigter Girondisten, die da ahnen, dass mit Marats Ermordung eine neue Phase der Revolution anhebt. Der Terror. Die Prozession der Armsünderkarren, der schier unablässige Schwung der Todessichel und jener Blutstrom, der als furchtbare Libation durch ein volles Jahr für den Toten fliessen wird.

So also sieht es zur Stunde auf den Gassen der Innenstadt aus, so wird es noch mehrere Tage aussehen. Hinter den Fenstern jenes düsteren Mordhauses in der Rue école médicine hat inzwischen ein kahlköpfiger Herr, dessen Antlitz schon ein wenig die Züge des bald beginnenden neuen Jahrhunderts aufweist, traurige Arbeit verrichtet. Es ist der Doktor Deschamps, Chefchirurg der Charité, der soeben die Autopsie vorgenommen und über den Befund an den Konvent berichtet hat. Ach, es ist eine furchtbare Wunde, aus der der Volksfreund sich verblutete, sie ähnelt auffällig derjenigen, durch die vor einhundertunddreiundachtzig Jahren der Mönch Ravaillac den guten König Heinrich tötete! Sie hat, schräg und von rechts oben nach links unten den ganzen Brustkorb durchmessend, die ganze rechte Lunge zerstört, durch Oeffnen der Aorta und des linken Herzohres den sofortigen Tod herbeigeführt – so rasch, dass schon aus diesem Grunde Marat keine Abschiedsbilletts an seinen Freund Guzman mehr hat schreiben können.

24 In diesem Sinne hat Deschamps an den Konvent berichtet, hat an die Sektion sofort die Einbalsamierung anschliessen wollen, ist aber zunächst daran gehindert worden. Im Auftrage des Konvents nämlich ist da der Deputierte und Porträtmaler David erschienen, hat, nicht ohne Geschrei, von Deschamps verlangt, dass diese Einbalsamierung zunächst verschoben werde, da das Volk ein Recht habe, den Toten ohne Herrichtung so zu sehen, wie er von der Mörderin überrascht worden sei . . .

Und David hat den Leichnam nochmals in die Badewanne gesetzt, hat ihm eine Feder in die Hand gegeben und vor ihm die blutigen Korrekturbogen ausgebreitet. Dann hat er das bereits verfärbte Gesicht geschminkt und auch versucht, die schreckhaft verdrehten Augen des toten Marat zu schliessen, was leider nicht gelungen ist. Und so, nach diesen apokryphen Vorbereitungen, hat DavidIch bin mir bewusst, dass wir ihm eine unersetzliche Ikonographie der Revolutionsführer verdanken, und habe nicht die Absicht, seine malerischen Leistungen zu kritisieren. Als Mensch war er, der sich später als »Kompassnadel der Revolution« bezeichnete, indiskutabel und der reingezüchtete Typ des Konjunkturritters. Der Dünkel, mit dem er in den Tagen seines politisch fundierten Glücks seine Zunftgenossen behandelte, ist ebenso abstossend wie die skrupellose Roheit, der wir noch des öfteren begegnen werden. die Neugierigen eintreten lassen, die das Haus umlagern, und da sind sie denn gekommen, sind schluchzend 25 vorbeidefiliert und sind wieder gegangen – ein langer Zug von Gutgläubigen und Hysterikern. Noch im Paris des dritten Napoleon, als man Weltausstellungen veranstaltet und die Menschheit schon über Schnellfeuerkanonen, Blitzzüge und Rotationsmaschinen verfügt, gibt es dort uralte Leute, die sich erinnern können, dass sie den toten Marat in seiner Badewanne gesehen haben. –

Dies alles vollzieht sich am Sonntag, am vierzehnten Juli. Was inzwischen die polizeiliche Untersuchung zutage gefördert hat und wie sich der Konvent und sein Sicherheitsausschuss zu den Ergebnissen stellten – wir werden's später sehen. Zunächst aber haben wir es ja wohl mit der Strasse, mit diesem ganzen närrischen Paris und seinem Marat-Wahnsinn zu tun . . . mit diesem Rausch, aus dem die Stadt erst nach achtzehn Monaten, dann aber mit einem erheblichen Katzenjammer, erwachen sollte. Aus den Briefen, die damals Augustin Robespierre, jener »Bon-Bon« genannte Bruder des grossen Unbestechlichen, geschrieben hat, wissen wir, dass selbst die Männer der extremen Linken, dass Robespierre selbst, Danton und der ganze Jakobinerklub an diesem vierzehnten Juli von der Erregung der Massen eine furchtbare Staatskrise erwarteten . . . dass sie zitterten und erst am nächsten Tage aufatmeten. Denn es gibt, das muss man bedenken, ausser diesen Radikalen 26 damals ja noch weit Radikalere, es gibt vor allem die Unentwegten um Hébert, die, berühmte Kirchenverbrenner, Nonnenschänder und Vernunftanbeter, stets bereit sind, päpstlicher als der Papst zu sein, und allenthalben, sei es auch unter den Jakobinern, »verkappte Royalisten« und »Kryptaristokraten« zu entdecken.

Diese Leute, die gern die Gelegenheit wahrnehmen, auf den Flammen der allgemeinen Empörung ihr eigenes Parteisüppchen zu kochen, liegen nun auf der Lauer. Héberts Blatt, der in allen Kneipen und Gemüsekellern gelesene »Père Duchèsne«, nennt heute bereits im gewohnten Jargon die in der Abbaye sitzende Mörderin »eine Hure der nach Caen geflüchteten Girondisten«, der Exkapuziner Chabot, der, wie wir sahen, dem nächtlichen Verhör beiwohnte und es mithin wissen muss, spricht im Konvent bei einer noch des näheren zu erläuternden Gelegenheit von ihr als von »einem jener Ungeheuer, wie die Natur sie von Zeit zu Zeit hervorbringt zum Unheil der Menschen«. Und so beginnen in Konvent, Kommune und Jakobinerklub die Sitzungen vom Sonntag und Montag im Zeichen tiefster Niedergeschlagenheit und stellen seltsame Wechselgesänge dar zwischen den ehrenwerten Mitgliedern und den Abordnungen, die die Sektionen von Paris an die Barren der Sitzungssäle entsandt haben. In allen drei 27 Korporationen sind die Präsidenten klug genug, diese Leute nach Herzenslust reden zu lassen. »Einer unserer Brüder, einer der Begründer der Republik, einer der Repräsentanten des souveränen Volkes ist ermordet. Die Sektion ›Panthéon‹ bewahrt ihre Trauer in ihrem Herzen. Sie, meine Herren Deputierten, haben einst beschlossen, dass die Ehren einer Bestattung im Panthéon erst zwanzig Jahre nach erfolgtem Tode dem jeweils Würdigen zuerkannt werden sollen, und fraglos ist dieser Beschluss ein Akt der Weisheit gewesen. Wohl aber wird es nun ein Akt der Gerechtigkeit sein, wenn Sie jetzt erklären, dass auch Marat sich diese Ehren, die man den Grossen zuerkennt, verdient hat. Sie werden durch eine solche Erklärung die allererste Rate tilgen von dem, was Sie diesem leuchtenden Blutzeugen der Freiheit schulden. Mag er getrost erst nach jener Frist ins Panthéon übergeführt werden – sein Andenken wird um so mehr an Glanz gewinnen, je weiter es die öffentliche Meinung und das Urteil der Nachwelt hinter sich gelassen hat. Die Verleumder werden dann verschwunden sein, die üblen Nachreden werden dann der Wahrheit Platz gemacht haben, und eine heller blinkende nationale Gerechtigkeit wird ihn an seinen Beleidigern rächen. Die Manen dieses französischen Cato werden nicht beleidigt werden durch ehrenvollen Aufschub, und das Herz aller wahren 28 Republikaner wird ihm schon vorher ein um so dauerhafteres und glanzvolleres Panthéon errichten.«

So schwungvoll redet an der Barre des Konvents der Sprecher der Sektion »Panthéon«, und das, was ausserdem die Cordeliers, die »Männer vom zehnten August« und die vom »Contrat sociale« erklären, schickt wahrlich keinen geringeren Phrasenschwall in den heissen Saal. Gleichzeitig aber tun die eben erwähnten und als besonders gesinnungstüchtig bekannten »Männer vom zehnten August« noch ein übriges und verlangen einen »Kopfpreis für alle im Ausland befindlichen Bourbonen«, zumindest aber verlangen sie die sofortige Hinrichtung der Königin und natürlich auch die der übrigen, nach Louis' Tode noch gefangengehaltenen königlichen Familie.

Paris, mit einem Worte, ist nicht berauscht, es ist – das Wort sei gestattet – besoffen von jenem Fusel, der »Maratismus« heisst und in diesen Tagen die ganze Stadt in ein grosses Irrenhaus verwandelt. Die Männer der Kommune defilieren, unrasiert zum Zeichen der Trauer und in bekümmertem Schweigen, mit ihrem Maire Pache durch den Konventsaal. An seiner Barre erscheinen alle Augenblicke schwangere Weiber, die für den Fall, dass sie einen Sohn tragen, schon jetzt für diesen Sohn den Vornamen »Marat« verlangen; und zwölf Jahre später, als die Kompassnadel längst anders zeigt, wird die kaiserliche Regierung 29 ein Dekret erlassen müssen, das dann allen diesen unglücklichen »Marats« gestattet, sich wieder zu entmaratisieren.

Andere Damen erscheinen und verlangen schreiend, dass man den Schulkindern statt der Evangelien sofort die Werke Jean Paul Marats vorlese, eine Schöne bringt dem Jakobinerklub, der doch nun eigentlich mit wichtigeren Dingen beschäftigt ist, einen Halbedelstein, der zufällig, durch ein seltsames Spiel der Natur, mit seiner Maserung die Züge des Toten wiedergibt: der Präsident hält es für klug, die junge Dame zu umarmen und ihr »die Ehren der Sitzung widerfahren zu lassen«. Vom Präsidenten umarmt wird auch Laurent Bas, der ja, wie wir sahen, als Setzer an Marats Zeitung während des Mordes im Nebenzimmer weilte und der nun, um Bericht zu erstatten, vom Jakobinerklub vorgeladen wird. Im Konvent aber versichert unter Tränenströmen der Abgeordnete Bentabolle, dass »Marat bettelarm gestorben sei und nur Schulden hinterlassen habe«. Gesinnungstüchtige Kollegen verlangen, dass man seine ganze bescheidene Habe als Reliquie aufkaufe, während der ältere Robespierre, dem dieser ganze Marat-Taumel keineswegs recht ist, den letztgenannten Antrag auf den Aufkauf von Marats Druckerpressen beschränkt wissen will. Ein Deputierter stellt dem Konvent die Erwägung anheim, ob diese Bluttat nicht 30 einen Racheakt für die inzwischen in Orléans stattgehabte Hinrichtung der Bourbon-MörderDer Abgeordnete Léonard Bourbon war in Orléans, wo er in politischer Mission weilte, versehentlich von einem Posten verwundet worden, als er ziemlich betrunken von einem Gelage heimkehrte und auf Anruf nicht stehenblieb. Bourbon war dadurch das Opfer eines Versehens, trotzdem wurde hinter der Tat ein Komplott gesucht und der Täter selbst nebst acht Kameraden erschossen. Uebrigens im roten Hemd der Vatermörder. Soviel Ehrfurcht umgab damals einen betrunkenen Abgeordneten und mit ihm den ganzen Parlamentarismus. vermuten lasse, ein anderer hat in einem Café gestern einen Kollegen von der Rechten dieses Hauses belauscht, wie er sofort nach Bekanntwerden der Mordtat äusserte, »so wie Marat, so werde es demnächst der gesamten Linken ergehen«. Leider aber weiss das ehrenwerte Mitglied, das dieses furchtbare Wort gehört haben will, nicht mehr genau, wie der betreffende Kollege aussah.

Und weiter dreht sich das Karussell des Wahnsinns. Da ist ein anderer Abgeordneter, und er will die Aeusserung gehört haben, »dass Marats Schicksal auf alle Deputierten warte, die im Januar für des Königs Tod gestimmt hätten« . . . er selbst, der Sprecher, war beim Königsprozess leider nicht in Paris, steht jetzt aber, ein aufrechter Mann, auf der Rednertribüne und erklärt mit schallender Stimme, dass er, wäre er im Konvent zugegen gewesen, selbstverständlich ebenfalls für den Tod des Tyrannen gestimmt 31 hätte. Der Konvent hat inzwischen, schon am Sonntag, David zum Sonderkommissar für die Bestattung des Toten ernannt, David ist gegangen, hat, wie wir wissen, den Neugierigen das Mordzimmer geöffnet. Gegenwärtig ist er mit dem Bilde beschäftigt, mit dem er im Staatsauftrag den Toten darstellen soll, bei der Arbeit aber entwirft er bereits grossartige Pläne für ein pompöses »Castrum doloris«, auf dem Paris noch einmal, ehe für immer der Sarg sich schliesst, seinen Götzen Marat sehen soll. In allen drei Korporationen – in Konvent, Kommune und Klub – beschäftigt man sich mit den Plänen für die Bestattung. Dass Marat, der mittellose Volksfreund, auf Staatskosten zu Grabe geleitet werden soll, ist eine Selbstverständlichkeit, die gar nicht zur Debatte steht, unschlüssig ist man sich eben nur über den Ort seines Grabes. Die Cordeliers haben dafür den Garten bei ihrer Kirche zur Verfügung gestellt, »wo doch der grosse Gesetzgeber so oft im Kreise seiner Schüler geweilt habe«. Die Jakobiner verlangen, wenn sie schon nicht den ganzen Marat haben können, für sich wenigstens Marats einbalsamiertes Herz und sind sehr traurig darüber, dass auch diese kostbare Reliquie, die der Doktor Deschamps in eine aus den königlichen Sammlungen requirierte kostbare Achatvase gebettet hat, inzwischen von den Cordeliers mit Beschlag belegt worden ist. Verzückte erklettern die Tribüne 32 und rezitieren in letzter Ekstase auf den Toten Gedichte eigenen Fabrikates, ein begeisterter Kollege verlangt, dass man den nunmehr einbalsamierten Marat im offenen Sarge durch das ganze Frankreich fahre und ihn in jeder Gemeinde öffentlich ausstelle – dieser Ekstatiker kann erst durch den Hinweis zur Ruhe gebracht werden, dass bei Durchführung dieses Projektes Marat Aussicht habe, immerhin in etwa sechs Jahren wieder nach Paris und in sein endgültiges Grab heimzukehren. Die Frage nach dem Ort dieses Grabes bleibt durch zwei Tage umstritten, immer wieder und immer stürmischer wird von den Hébertisten die sofortige Panthéonisierung verlangt. Gallig und verärgert sitzt bei diesen Reden auf seinem Platz der ältere Robespierre, duldet schon jetzt neben sich nur ungern tote oder lebendige Götzen, steht endlich auf und gibt zu bedenken, dass im Panthéon Marats Sarg neben den dort noch immer stehenden des Verräters MirabeauBei den Vorbereitungen zum Königsprozess hatte es sich herausgestellt, dass der im April 1791 verstorbene und bis zu seinem Tode allgemein als Revolutionär verehrte Graf Mirabeau tatsächlich, sehr nach seiner innersten geheimen Ueberzeugung, die Sache des wankenden Königtums gestützt hatte. Dass der Hof Mirabeaus sehr beträchtliche Schulden bezahlt hatte, war in diesem Falle kein Akt der Bestechung: Mirabeau sah die kommende Feuersbrunst und suchte sie rechtzeitig zu löschen. Uebrigens wurden seine Gebeine, um Marats Sarg Platz zu machen, tatsächlich aus dem Panthéon entfernt und bei Nacht an unbekanntem Ort bestattet. zu stehen kommen würde . . .

33 Worauf man denn kurzer Hand beschliesst, Mirabeau zu gegebener Zeit aus dem Panthéon zu entfernen, Marat aber wirklich und endgültig dort beizusetzen. Robespierre, der Marat und seine verfolgungswahnsinnigen Polypragmasien nie recht hat leiden können, packt wütend seine Akten zusammen, weiss aber, dass einstweilen gegen diese Marat-Psychose nicht aufzukommen ist. Sein Bruder Augustin aber, damals übrigens ziemlich eng befreundet mit einem jungen unbekannten Artillerieleutnant namens Napoleon Bonaparte, schreibt an diesem Tage seinem Bekannten Antoine Bruissart, »dass man nun aufatmen könne, weil die Republik gestern, am ersten Tage nach dem Mord, in schwerer Gefahr geschwebt habe, jetzt aber, da die Täterin eine gewesene Aristokratin sei, von Marats Tode erheblich profitieren könne«.

Inzwischen ist im Garten der Cordeliers (mit einigen Schwierigkeiten, da der Leichnam rasch verfällt) die Einbalsamierung beendet, Deschamps wird später von den berechneten sechstausend Livres nur eintausendfünfhundert und vom Innenminister einen unwirschen Bescheid empfangen, »dass die Ehre, einen solchen Toten betreut zu haben, die Differenz reichlich aufwiege«. David hat von dem Toten ein idealisiertes Bild gemalt und ihn dann, da der Radikalismus mit diesem Leichnam nun einmal politische Geschäfte 34 zu machen wünscht, auf einem »Castrum doloris« in der Cordelierskirche aufbahren lassen.Die in ihren Memoiren nicht unbedingt zuverlässige Marquise de Créquy berichtet über die beispiellose Roheit, mit der David dieses »Castrum doloris« vorbereitete, unwiedergebbare Einzelheiten. Sie behauptet sogar, es sei wegen des Zustandes der Leiche der wirkliche Marat gar nicht gezeigt worden, und es sei für den obenerwähnten Handkuss unter all den Blumen nur ein aus der Morgue herbeigeholter Arm sichtbar gewesen, der darin durch eine unvorsichtige Berührung zum allgemeinen Entsetzen zu Boden gefallen sei.
    Im übrigen sind die zeitgenössischen Berichte über dieses »Castrum doloris« widerspruchsvoll und wirr. Cabanes, dem wir ein ausserordentlich interessantes Werk über Marat verdanken, übernimmt die Berichte der Créquy sogar für die erst 1794 erfolgte endgültige Beisetzung Marats im Panthéon. Fraglos zu Unrecht. Selbst David dürfte es nicht gewagt haben, den Toten nach dreizehnmonatiger Grabesruhe den Parisern noch einmal auf einem Paradebette vorzuführen.
Wenn man den ein wenig phantastisch klingenden Berichten glauben darf, auf einer vierzig Fuss hohen Estrade und im übrigen ganz im Davidschen Stil. Nämlich unter einem trikoloren Baldachin, im blutigen Hemd, mit entblösster Todeswunde und mit einer Eichenblattkrone auf dem Haupt. Weinend defiliert die Pariser Armut vorüber und küsst die Hand des Toten. Obwohl, den penetranten Geruch zu verdecken, allenthalben schon Räucherpfannen brennen müssen.

Das Begräbnis, das ursprünglich auf den siebzehnten anberaumt war und für das gleichfalls David als Kommissar bestellt ist, musste denn auch um volle vierundzwanzig Stunden auf den sechzehnten Juli 35 vorverlegt werden. Einstweilen übrigens wird man Marat, um wenigstens dem Scheine nach das obenerwähnte Gesetz zu erfüllen, provisorisch im alten Cordeliersgarten in einem zu diesem Zweck erbauten Mausoleum beisetzen. Da aber der Weg von der Kirche, in der der Tote aufgebahrt liegt, bis zu diesem Garten allzu kurz ist, und da dieser Leichenzug auch politischen Zwecken zu dienen hat, so veranstaltet man, nach Davids Programm, mit dem Sarkophag einen Umzug, der durch alle Gassen der Innenstadt führt und volle sieben Stunden dauert. Einen Umzug, bei dem zwölf Männer, flankiert von weissgekleideten Mädchen mit Zypressenzweigen, den Leichenwagen ziehen, hinter dem dann in einem Kondukt, wie Paris ihn kaum je sah, der Konvent, die Behörden, die Sektionen, die Zünfte, die unterschiedlichen Korporationen, die Abordnungen aus der Provinz, und nicht zuletzt Tausende und aber Tausende ehrlich trauernder und klagender Menschen folgen. Alle fünf Minuten dröhnt dazu ein Kanonenschuss, und wenn dieser Trauerzug, in dem man auch die Badewanne des Toten mitschlepptDiese Badewanne, die nach den Schilderungen von Augenzeugen wie ein grosser Stiefel aussah und mithin den Körper des Badenden bedeckte, wird um 1860 von dem Diplomaten d'Ildeville, der sich für alle Marat-Reliquien interessierte, in einem Kloster in Morbihan ausfindig gemacht, dem sie von einem nicht minder maratbegeisterten Fräulein von St. Hilaire geschenkt worden war. Später wird sie vom Museum Grévin aufgekauft, geht aber, was bei einem Museumsstück eigentlich schwer verständlich ist, wieder in Privatbesitz über und wird noch 1908 bei einem im Quartier latin wohnenden Trödler gesehen. Seither ist sie verschollen., von Zeit zu 36 Zeit haltmacht, dann klingen Trauerhymnen, und dann spenden immer von neuem Redner ihre Libationen von Pathos und Ueberschwang. So wird es denn Mitternacht, bis man wieder am Ausgangspunkt, der Cordelierskirche, angelangt ist. Dort aber, angesichts des offenen Grabes, folgen auf die Ansprache des Konventspräsidenten noch zwanzig Redner, und jeder von ihnen gelobt dem Toten blutige Rache: »Ja, Marat, wir werden deine männliche Energie nachahmen . . . ja, wir werden die Verräter zermalmen mit der Wucht des Gesetzes . . . ja, deinen Tod werden wir rächen kraft des Mutes, kraft des Hasses, kraft unserer republikanischen Tugenden. Wir schwören's bei deinem blutigen Leibe, wir schwören's bei dem Dolch, der deine Brust durchbohrte . . . ja, wir schwören es.«

So im Chorus jener Zwanzig der Sprecher der Sektion »Republik«, und damit sei von diesen rhetorischen Leistungen immerhin eine Probe gegeben. Die Werke des Toten werden in einer besonderen Nebenkammer des Mausoleums feierlich aufgestapelt, der Stein, der den Eingang verschliesst, erhält die 37 Inschrift: »Hier ruht Marat, Freund des Volkes, erschlagen von des Volkes Feinden.« Die Kasseoletten brennen bis in die Morgendämmerung hinein, die Menge, die sich verwaist fühlt, klagt noch, als schon die Vögel erwachen.

Sie klagt noch sehr viel länger, und eigentlich kann man sagen, dass sie noch ein volles Jahr irrsinnig ist in ihrem Marat-Kult. In den folgenden Tagen, als die Erregung um den inzwischen in Gang gekommenen Prozess der Mörderin hohe Wogen schlägt, verlangt im Konvent ein Deputierter die öffentliche Ausstellung des Mordmessers, ein zweiter beschwert sich nachhaltig darüber, dass die Bilder der Attentäterin. die nun allenthalben verbreitet werden, sie viel zu vorteilhaft darstellen – er fordert ein förmliches Herstellungsverbot für diese Bilder. Ein dritter Patriot aber leistet sich im Cordeliersklub den Salto, dass er zur Diskussion die Frage stellt, ob »die Natur, um Wesen wie Marat zu schaffen, wirklich Jahrtausende benötige«. Was ein anderes Mitglied wieder zu der Feststellung veranlasst, »dass Marat, just wie Jesus, die Aristokraten, die Pfaffen, die Reichen und diesen ganzen Aussatz der Gesellschaft gehasst habe, dass er auch, just wie Jesus, ein dürftiges Leben führte und wie Jesus zart und menschlich war«. Da diese Ejakulation nicht genügt, um alle Hysterie zu entleeren, beginnt ein anderes Mitglied in vollkommener 38 Verzückung plötzlich in den Saal »Herz Jesu . . . Herz Marats« zu schreien, was dann freilich gleich einen vierten auf die Rednerkanzel ruft: »Marat lässt sich mit Jesus nun wirklich nicht vergleichen. Jesus trat für die Könige ein, Marat war tapfer genug, sie zu erwürgen. Nein, kein Wort weiter über Jesus, das sind einfach Dummheiten.« Als am achtzehnten Juli Marats einbalsamiertes Herz in den Cordeliersgarten gebracht wird, marschiert Militär aller Waffengattungen, marschieren bekränzte Jünglinge und Jungfrauen, Kinder mit dem nationalen Erziehungsbuche, Männer mit den Tafeln der Menschenrechte, Männer mit den Büsten Marats und Lepelletiers, Männer mit den Büsten der Freiheit, der Gleichheit und der Gerechtigkeit und endlich Männer mit den verwaisten Druckpressen des Toten mit im Zuge. Am neunzehnten August, beim Fest der Tricoteusen, schleppt man wieder einmal seine Badewanne, sein Bett, seinen Schreibtisch durch die Strassen, setzt dann alle diese Dinge nieder auf dem Karussellplatz, wo bald ein Marat-Obelisk mit ständig danebenstehender Schildwache errichtet werden wird. Eingezogen wird dieser Posten erst, als man im bitter strengen Winter 1793/94 einen von den unglückseligen Soldaten erfroren auffindet, vorderhand aber denkt Frankreich gar nicht daran, irgend etwas zu unterlassen, was auf eine Ehrung Marats hinauskommt. 39 Nicht weniger als dreissig Städte haben ihren Namen entweder in »Marat« umgeändert oder gebeten, dem bisherigen Namen den Namen des neuen Märtyrers anhängen zu dürfen, erwachsene und sonst ganz vernünftige Männer tun ein gleiches, ja späterhin, unter dem Kaiserreiche, gibt es böse Lästerzungen, die da behaupten, es habe der kaiserliche Schwager und Vizekönig Murat zeitweilig statt des »u« ein »a« vor dem »r« seines Namens geführt. Im Herbst 1793 nimmt der revolutionäre Kalender unter den Heiligen einen neu kanonisierten »Saint-Marat« auf, die Schulbuben müssen das Kreuz schlagen, wenn sie seinen Namen nennen. Marats Büste prangt nun im Konvent und in allen Tochtergesellschaften des Jakobinerklubs, sein Bild hängt in jeder Schule. Es gibt eine schwunghaft gehende Industrie, die sich ganz auf die Herstellung von Marat-Bildern konzentriert hat, es gibt eine noch schwunghaftere von Marat-Büsten, und als der Bedarf an gipsernen Marats schier nicht mehr zu decken ist, erlebt Paris eines Tages eine Invasion von italienischen Dutzendbildhauern, die mit der sicheren Witterung für die gute Konjunktur von Lucca in hellen Haufen kommen und fortan als Marat-Spezialisten sich die Taschen füllen. Man trinkt seinen Kaffee nur noch aus Marat-Tassen, man trägt Marat-Frisuren, Marat-Berlocken, Marat-Ringe, Marat-Broschen. Busennadeln, Tabatieren, Uhrdeckel und sogar die 40 Uhrzeiger zeigen sein Bild, man schnäuzt sich in Taschentücher, auf deren Kattun in feuerroter Jakobinermütze sein Antlitz prangt.

Bis auf weiteres spielen die Theater nur noch Marat-Stücke; ein Schaustellerehepaar, das auf seiner Marionettenbühne Charlotte Corday nicht unsympathisch genug zeigt, wird brevi manu guillotiniert. Die Klubs halten während eines Jahres sozusagen in Permanenz Marat-Feiern ab, Tenöre singen in ihren Konzerten Marat-Kantaten, geschäftstüchtige Dichter begeistern sich zu Ergüssen wie diesem hier . . .

»Amis que notre compleinte
Retentisse avec éclat
Ne formons tous qu'une plainte
Sur la perte de Marat.

Le coup qui perce notre âme
A jamais d'un vif regret
Part de la main d'une femme
Abandonnée au forfait.
Satan créa cette femme,
On y voit en chaque trait
Du tentateur le portrait.«

Gassenhauer von unendlicher Länge besingen im Stil der Jahrmarktsmusiken die Mordtat, alle Leierkästen spielen die Melodien, alle Welt singt diese eher komisch als eben erschütternd wirkenden Verse . . . 41

»A cets mots la tigresse
Voyant Marat dans son bain
Lui plonge un poignard au sein,
Oh, quelle scélératesse!
Elle lui perça le coeur,
Ah pour nous quelle douleur!«

Es vergeht nun kaum ein Tag, ohne dass in der Provinz irgendeine Korporation mit solchem Singsang und solchen Rezitationen eine Trauerfeier abhielte, und noch kurz vor dem Vendémiaire, ja selbst in den Revolutionen von 1830, 1848 und in der Pariser Kommune von 1870, geisterten wie Gespenster dieses tollen Jahres 1793 »Marat-Kompagnien«, formiert von der Pariser Armut, durch die Gassen der City.

Es mag genug damit sein. Später erst werden wir sehen, wie es so kommen konnte und musste – vorderhand aber wollen wir nur zuschauen, wie die Geschichte es zu Ende führte.

Unerklärlicherweise hatte ja diese Marat-Begeisterung, obwohl Marat doch immerhin als Hormon des Terrors anzusehen ist, den Terror selbst und Robespierres Sturz überdauert. Tatsächlich ist er ja noch im Herbst 1794, drei Monate nach dem Thermidor, aus seinem Grabe bei den Cordeliers gestiegen und ist unter den Klängen Méhulscher Musik im Panthéon beigesetzt worden neben Voltaire und Jean 42 Jacques Rousseau und all den übrigen Grossen dieser Nation Frankreich . . .

Im Februar 1795 aber, keine neunzehn Monate nach seiner Ermordung und keine fünf nach seiner »Panthéonisierung«, wird seine Büste aus dem Sitzungssaale des Konvents, sein Denkmal von der Place Caroussel, seine Leiche schliesslich aus dem Panthéon entferntUebrigens zusammen mit der Lepelletiers. Unerklärlicherweise hat sich von Marats Angehörigen, unter denen doch zumindest seine Schwester ängstlich des toten Bruders Andenken hütete, niemand um den Toten gekümmert. So wurde denn der in einem Holzkasten eingeschlossene Bleisarg durch den Kommissar der Sektion Panthéon, Parot, entfernt und in Gegenwart von einigen Zeugen auf dem Friedhof Sainte Généviève beigesetzt. Der Platz ist heute überbaut. Die Ruhestätte Marats ist somit nicht mehr festzustellen..

Arbeiter, Studenten, Kleinbürger, die gestern noch Marat-Ringe und Marat-Busennadeln getragen haben, fertigen eine lebensgrosse Marat-Puppe, stopfen ihr, in Anspielung auf die angeblichen RevolutionsgeschäfteDie entsprechenden Gerüchte gingen zurück auf ein Pamphlet, das Marat vorwarf, er habe unter dem Decknamen »Deschamps« üble Terrainspekulationen betrieben und, zusammen mit Henriot und Robespierre (!), in einem in der Nähe von Charenton gelegenen Hause Orgien gefeiert.
    Es war abwegiges Gerede, wie es hinter jedem Revolutionär jedweder Richtung laut wird. Marat ist so bettelarm gestorben, wie er, wenigstens in seinen letzten sieben Jahren, gelebt hat. Angesichts seiner Physis aber wird Robespierre, der Marat zudem nie hat leiden können, in der Ideenverbindung mit »Orgien« fast zur komischen Figur. Ernster zu nehmen sind andere Gerüchte, die Marat der geheimen Zuneigung zum Königtum verdächtigen. Eine Betätigung in diesem Sinne ist natürlich undenkbar, auch ist die Behauptung, die zurückgekehrten Bourbonen hätten Albertine Marat eine Jahrespension gezahlt, falsch – hier liegt eine Verwechselung mit Robespierres Schwester vor, die, aus völlig ungeklärten Gründen, eine solche Pension sogar noch von Louis Philippe erhielt. Wir wollen aber nicht vergessen, dass Marat noch 1788 Anhänger der Monarchie war und dass er noch während des Königsprozesses zur Sache sehr seltsame, weiter unten erwähnte Aeusserungen getan hat.
Marats, Bündel 43 entwerteter Banknoten in die Taschen, tragen sie unter lauten Schmähreden durch die Strassen, verbrennen sie im Hofe des seit dem Thermidor geschlossenen Jakobinerklubs . . .

Und tragen die Asche in einem Nachttopf zur grossen Kloake der Rue Montmartre und werfen sie unter Hohnrufen hinab.

»Voilà ton Panthéon, Marat!« Dies sind, in gedrängtester Kürze, die Ereignisse.

Nie hat in so schauriger Hast die Geschichte auf solche Trunkenheit solch Erwachen folgen lassen.

 


 


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