Fritz Reck-Malleczewen
Charlotte Corday
Fritz Reck-Malleczewen

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Einsame Jugend

Das selbständige Gewissen ist
Sonne deinem Sittentag.

                                Goethe.

Sterben Stände und Geschlechter mit weit zurückreichender grosser Vergangenheit aus, so erscheinen, als solle Ruhm und Name letztmalig aufleuchten, in den letzten Generationen, wenn die Männer schon müde geworden sind, noch einmal die grossen Weiber – fast immer lässt diese seltsame Erscheinung sich beobachten.

Die Nordwestecke Frankreichs anderseits, dem Nordmeer und seinen kimmerischen Nebeln schon verhaftet, weist dem Bretonen wie dem Normannen eine Sonderstellung an unter den Franzosen. Das, was hier oben Land und Leute bestimmt, ist ja nicht mehr der Sonnenglast und der Kreideboden der Provence, es ist nicht mehr die attische Weinseligkeit der Mittelmeerküste und nicht das räsonierende Lärmen des Gascogners. Es ist eben schon die Salzluft des Nordmeeres, es ist mit Piraten- und Entdeckerlegende schon die Welt des Wikingers, befruchtet und mannigfach beeindruckt durch das benachbarte Flandern. Die so oft nebelerfüllten Strassen Rouens wissen eben nichts mehr von den Lichtkatarakten der Marseiller 116 Cannebière, sie beobachten, wie die der niederdeutschen Hansestädte, den Passanten insgeheim durch blitzblank geputzte Spionspiegel und verbieten ihm den Eintritt durch schwere messinggebuckelte Türen – just wie in Lübeck, Bremen und Emden. Sie riechen, diese Gassen, nicht nach Wein, sondern nach Porter und schwerem Stout, schwer ist auch der Menschenschlag, knochig und breit, wie jene massigen Rosse, die man in der benachbarten Perche züchtet.

Sie gelten als prozess- und händelsüchtig, diese Menschen, und das Gewerbe der Advokaten soll gut gedeihen dort oben. »Ungestraft ist man nicht Normanne«, sagt der Franzose südlicherer Breite von diesen Menschen und vermisst bei ihnen das leichte Hinweggleiten über die Klippen der Bedächtigkeit und der Käuzigkeit. Es ist wohl noch Gallien und das Land des Vercingetorix. Aber es ist auch schon Jan Barth und Taillefer und Robert Guiscard. Dies also wäre die Landschaft, die sie gebar und die an ihrem Teil wohl auch ihr Schicksal bestimmt hat.

»Die Ronceraye«, Geburtshaus der Corday

Die »Ronceraye«, von der hier bald zu hören sein wird, ist eine kleine, etwas jämmerliche Domäne, die dicht bei Saint Saturnin im Departement Orne gelegen ist. Die Familie Corday aber, deren einer ziemlich verarmter Ast dortselbst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wohnt, ist unausdenklich alt, gehört dem 117 Uradel dieser Landschaft an, und es fochten ihre Männer schon unter Robert Guiscard in Süditalien. Der namensgebende Sitz – eigentlich wohl mehr nur eine namensgebende Feldparzelle – liegt nicht weit von Argenton, die Familie selbst führt im Wappen über dem blauen von drei goldenen Winkelsparren durchmessenen Schild eine Grafenkrone. Seit 1720 führt die Familie – ich weiss nicht kraft welcher königlichen Ordonnanz – den zusätzlichen Namen d'Armont, nennt sich also volltönend Corday d'Armont, und ist belastet mit schwerwiegender Legende und schwerwiegendem Bluterbe. Ueber die Familie Gautier d'Anthieux nämlich, mit der um 1760 Jacques-François Corday d'Armont sich ehelich verbunden hat, führen seine Kinder ihr Blut zurück auf schottische, wenn auch etwas sagenhafte Könige, und von einer weiter zurückliegenden Heirat her haben sie einen wenn auch nicht königlichen, so doch ruhmvollen und geschichtlich besser beglaubigten Blutstrom empfangen: Adrien de Corday nämlich, der um die Wende vom siebzehnten zum achtzehnten Jahrhundert lebte, hat eine leibhaftige Grossnichte Corneilles geheiratet. Corneilles Grossnichte in vierter Geschlechterfolge aber ist jenes Corday-Mädchen, das, nach Héberts »Père Duchèsne« »eine Hure der nach der Normandie geflüchteten 118 Girondisten«, im Juli 1793 auszog, um Jean Paul Marat zu ermorden.

Kommt nun unter ihren Ahnen auch ein Mann mit dem stolzen Titel »trésorier de France« . . . Schatzmeister von Frankreich, vor, so sind die Cordays jetzt, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, mangels jedweden Tresors alles andere denn »trésoriers«. Sie sind vielmehr bettelarm, sie bewohnen die besagte Ronceraye, die nicht viel mehr als eine grosse Bauernhütte darstellt und – zum Sterben zuviel und zum Unterhalt einer Familie gar zu wenig – im Jahr einen Ertrag von ganzen fünfzehnhundert Livres abwirft.

»Heute, am 28. Juli, wurde durch den unterzeichneten Geistlichen getauft Anne Marie Charlotte, gebürtig aus der rechtmässigen Ehe des Herrn Jacques-François Corday d'Armont mit der Edelfrau Marie-Jacqueline Gautier, seiner Gattin. Paten: Herr Jean-Baptiste-Alexis de Gautier, Herr von Mesnival, Françoise Marie-Anne Levaillant de Corday.«

Das Dokument ist noch erhalten, die Welt, die es enthüllt, ist altfränkisch, aber sie ist eben ungetrübter und reinlicher als die der Rue école médicine, ist eine durch die Landschaft und ein altes Geschlecht halbwegs gesicherte Welt. Freilich, man ist arm, und früh 119 fallen Schatten auf diese Jugend. Ausser dieser kleinen Anne-Marie Charlotte haben Jacques-François und Marie-Jacqueline Corday immerhin noch zwei Söhne und zwei TöchterVon den beiden Brüdern, die unter erheblichen Geldopfern der Eltern Offiziere wurden und 1792 als Royalisten auswanderten, wurde der eine 1795 bei der unglückseligen Kapitulation von Quiberon durch die Truppen der Republik erschossen. Uebrigens zusammen mit einem Bruder seines Vaters, so dass die Familie in jenen Tagen zwei, in den zwei Jahren 1793 bis 1795 aber, Charlotte eingerechnet, durch Hinrichtung drei Mitglieder verlor. Lediglich ein Bruder des Vaters hat den Namen bis tief in das 19. Jahrhundert vererbt. Der durch Charlotte und ihre Geschwister repräsentierte jüngere Zweig ist ausgestorben.. Das Leben auf dem halbverfallenen Hof ist dürftig und hart. Es ist so dürftig, dass der Vater Corday nach einer kleinbürgerlich und sentimental parfümierten Legende die Schublade mit seinem Gelde grundsätzlich offen lässt, damit die Kinder sich von der Schnelligkeit überzeugen, mit der dieses Geld zusammenschmilzt: ein unnötig umständliches Verfahren, da die Kinder die Armut der Eltern ja wohl auch ohne solche Pädagogik bemerkt haben dürften. Später, um 1840, gibt es in jener Gegend noch sehr alte Leute, die sich der kleinen Charlotte erinnern, wie sie im Leinenkittel und mit einem selbstgeflochtenen Kranz im Haar über die Felder der Ronceraye lief, mit Blumen spielte, bei einem Quell einschlief, bei dem ihr Lieblingsplatz gewesen sein mag.

120 Das ist alles, was wir aus dieser Zeit wissen. Um 1772 verlassen die Eltern die Ronceraye, um in der Nähe von Mesnil-Imbert ein geräumiges Haus zu beziehen, das fortan innerhalb der Familie den fraglos überschwenglichen Namen »Schloss« führt und heute noch steht. Erinnerungsstücke birgt es heute, nachdem es mehrfach den Besitzer gewechselt hat, nicht mehr, lediglich das von Charlotte benützte Zimmer wurde zu Anfang dieses Jahrhunderts gezeigt, nachdem ihr immerhin mit blauseidenen Vorhängen ausgestattetes Mädchenbett von ihrem Biographen Vatel aufgekauft und dem Versailler Museum geschenkt worden ist.

Es dürften, da Kinder vor dem zehnten Lebensjahr von den wirtschaftlichen Umständen des Elternhauses kaum Kenntnis zu nehmen pflegen, glückhafte Zeiten gewesen sein für die Geschwister. In der Nähe liegt Schloss Glattigny, das dem älteren Corday-Zweige gehört, der Verkehr zwischen beiden Häusern ist lebhaft. Die Kinder hüben und drüben verständigen sich durch Hornsignale, wenn sie sich zu gemeinsamen Spielen auf den Grenzrainen treffen wollen, für Charlotte hält man sogar stets ein Zimmer bereit auf Glattigny.

Gleichwohl, der Generalbass des Lebens ist auf Dürftigkeit und Kummer gestimmt. Um 1775 ist es so weit, dass die Eltern, die nun zwei Söhne auf der 121 Militärschule haben, die restliche Familie nicht mehr beisammenhalten können und die kleinen Mädchen auf die unterschiedlichen Verwandten verteilen. Die kleine Charlotte kommt zu Onkel Amadeus Corday, der als Abbé in Viques bei Falaise lebt, dort durch seine Mildtätigkeit bekannt ist, späterhin der Republik standhaft den Eid der »konstitutionellen Priester« verweigert und um 1825 hochbetagt und als Hüter aller Erinnerungen stirbt, die die Familie der »berühmten Charlotte« bewahrt. Aus dieser Zeit stammen die ersten persönlicheren Daten ihres Lebens.

Sie ist damals noch nicht zehn Jahre alt, ist frühreif und wissbegierig, ist ein kleiner Cherub mit grossen brennenden Augen und einem leidenschaftlichen Unterscheidungsvermögen für Recht und Unrecht, mit einer noch leidenschaftlicheren Hinneigung zu allem, was Selbstverleugnung, Selbstbeherrschung und Heroismus bedeutet. Der Onkel hat sie schreiben und lesen gelehrt, und der erste Gebrauch, den sie von dieser Fertigkeit macht, ist die Lektüre einer schönen alten Corneille-Ausgabe, die der Ohm als Vermächtnis des grossen Ahnen in hohen Ehren hält. Da also sitzt das Kind, liest mit brennenden Augen von altrömischer Tugend und vom Ruhmeskranz, der den Selbstlosen winkt. Besucht sie die Eltern, so bewährt sie sich als Helferin der damals schon kränkelnden Mutter. Als sie in jenen Jahren Caen besucht 122 und auf der Strasse höchst unglücklich zu Fall kommt, findet eine Bekannte das arg verletzte und blutüberströmte Kind ohne ein Wort der Klage. »Man musste es schon erraten, wenn sie unterwegs etwas litt«, berichtet später die mit den Cordays befreundete Frau von Marmonne.

Unheil bricht herein. Der Vater, persönlich ein rechtlicher und weitherziger Mann, hat sich mit seinen Schwägern Gautier entzweit, er hadert mit ihnen um ein Rechtsgut, er zieht, um besser seinen Prozess führen zu können, um 1781 nach Caen und bezieht dort mit seinem Weib und der ältesten Tochter Jacqueline eine höchst dürftige Wohnung. Kummer lastet auf dem Hause. In Caen stirbt die seit jeher kränkliche Jacqueline, in Caen stirbt in ihrem sechsten Wochenbett auch die Mutter und nimmt das Neugeborene mit sich ins Grab. Die Familie zerfällt. Der Vater prozessiert. Er wird, nach Jahren, seinen Prozess gewinnen, wird aber ein verbitterter und einsamer Mann geworden sein. Hart ist diese Jugendzeit. –

Um diese Zeit, um 1782, scheint ihr Aufenthalt in Viques geendet zu haben, und der Vater musste nun wohl auch an die endgültige Unterbringung der beiden ihm verbliebenen unmündigen Töchter denken.

Die Abtei zur Heiligen Dreifaltigkeit in Caen ist nicht eigentlich ein Kloster strenger Observanz – 123 eher ist sie als vornehmes Damenstift eine Zufluchts- und Versorgungsstätte des normannischen Adels. Der König aber hat das Recht, nach seiner Wahl fünf junge Fräulein aus verarmtem Gauadel hier unterzubringen, der König erinnert sich gnädigst der Cordays und gewährt zwei von seinen Freistellen den beiden verwaisten Corday-Schwestern, Charlotte und Eleonore. Charlotte dürfte damals fünfzehn Jahre alt gewesen sein.

Trotz seiner fast achthundertjährigen Vergangenheit ist es nicht eben streng, dieses Kloster. Es gestattet den Insassen jedwede schöngeistige Betätigung, es verschliesst sich auch keineswegs den Berührungen mit der grossen Welt, mit dem Hof, mit dem Adel der Nachbarschaft und den vornehmen Offizieren des in Caen liegenden Regiments »Bourbon«. Am allerwenigsten verbietet es den Damen die Beschäftigung mit dem Ding, das man damals »Philosophie« nennt und das ja wohl im wesentlichen auf eine durch guten Geschmack gebändigte Libertinage des Geistes hinauskommt: man sieht das alles keineswegs ungern, obwohl es doch eigentlich schon die Pulvermine unter der alten feudalen Welt bedeutet. Die Aebtissin oder Oberin dieses Konviktes ist (wir werden ihrem Namen noch in anderer Ideenverbindung begegnen!) ein Fräulein von Belzunce, die Koadjutorin ein Fräulein von Pontécoulant; ausserdem aber gibt es da noch 124 eine ältere Nonne, die Charlotte de Lauvagny heisst, als Lehrerin der beiden Corday-Schwestern fungiert und von ihnen gemeinhin »Tante Lotte« genannt wird. »Tante Lotte« verdanken wir wichtige Einzelheiten, die uns aus diesen Klosterzeiten überkommen sind. –

Es ist etwas Seltsames um diese französische Jugend von 1789. Die Formen des Rokoko samt allem Gestrigen in die Hölle verdammend, hadert sie leidenschaftlich mit der alten Generation, sehnt sich nach Bewährung und heldischem Einsatz, weiss aber noch nicht, wohin die Strasse ihrer Revolution sie führt. Sie weiss nicht, dass morgen schon aus den berühmten Menschenrechten das Recht des Banksaldos, aus dem Bastillesturm ein Triumph des Grossbürgertums und aus der grossen Zeitwende samt Rousseau und Enzyklopädismus ein simpler Wechsel geworden sein wird, bei dem der französische Mensch für den feudalen ja nur den noch viel härteren bourgeoisen Zwingherrn eintauscht.

Nein, davon ahnt jene Jugend noch nichts. Noch ist alles rein und gut, noch ist man gläubig, tapfer und unendlich opferfreudig. Dass damals auch unter dem Jungadel der Republikaner anzutreffen war, ergab sich, da der Protest gegen das Rokoko naturgemäss auch auf die Staatsform zielte, von selbst. Dass man seine Heldenideale, seine Legende, seine Namen und 125 selbst seine Frauenmoden aus dem antiken Rom herbezog, ergab sich nicht nur daraus, dass Rom nun einmal das klassische Beispiel einer tugendhaften Republik war – es ergab sich auch daraus, dass der junge Mensch von 1789 nach der Zerstörung der in tausend Jahren herangewachsenen Gesellschafts- und Lebensformen zunächst vor einem Trümmerfeld stand und auf die ferne Vergangenheit zurückgreifen musste.

Was aber diese seltsame und beinahe unheimliche Todesbereitschaft des jungen Menschen von damals angeht, so ergab sie sich aus diesem antiken Beispiel ebenso wie aus dem frühzeitig gewitterten Blutdampf der bevorstehenden, durch ein Vierteljahrhundert tobenden Revolutionskriege. Es ist ein erschütterndes Bild: selten war eine Generation so umschimmert vom Nimbus des Ephebentodes, selten pflog eine solch vertrauten Umgang mit dem fackelsenkenden Genius. Wem dies alles unverständlich ist, der vergisst, dass eine so ungeheuerliche Umwälzung auch das Seelenleben der Jugend nicht unberührt lassen konnte, wer sie gar überspannt schilt, soll nicht vergessen, dass eben diese Jugend jene berühmten Generale gestellt hat, die fünfzehn Jahre später Napoleons eisernen Schwadronen voranflogen. –

Was Charlotte Corday angeht, so ist sie durchaus ein Kind der eben geschilderten Generation, und jedes zu diesem Thema gesagte Wort gilt auch für sie. Im 126 Kloster, dem sie bis zu dessen 1790 erfolgter Auflösung nahezu acht Jahre angehört, gilt sie als störrisch, verschlossen und hochmütig, und erscheint doch allen, die tiefer zu sehen vermögen, unendlich liebenswert. Sie ist nun voll erblüht, gross, kräftig, urgesund und bei allem von unbeschreiblicher Anmut. Ob sie nur Zögling der Nonnen blieb oder zeitweilig Novizin und als solche eingekleidet war, lässt sich heute nicht klären. Eine auf uns gekommene Legende behauptet aber, sie habe zeitweilig Karmeliterin werden wollen, und der erste Brief, den wir von ihrer Hand besitzen, dreht sich um die Suche nach einer passenden Schutzpatronin für ein Patenkind und erzählt in diesem Zusammenhang der Mutter ausführlich das Leben und das Martyrium der Heiligen Aglae. »Das also, gnädige Frau, wäre die Schutzpatronin für meine kleine Kusine, der ich nur ein gleiches Ende wünschen kann« . . . In den Ohren des heutigen Menschen immerhin ein seltsamer Wunsch für einen Täufling, und fast ist es so, als höre man auch in solchem Satz schon die Fittiche des Todesengels rauschen.

Noch ist es für sie die Zeit der inneren Auseinandersetzungen und Klärungen. Wir hören von einer etwas schwärmerischen Freundschaft zu zwei Altersgenossinnen, die Forbin d'Oppède und die Faudoas heissen, wir hören, wie das bei jungen Mädchen wohl nicht anders sein kann, von schwärmerischen 127 Treueschwüren, und wir hören bald auch von den ersten Auseinandersetzungen zwischen der Welt, aus der sie kam, und jener, die nun in ihr aufstieg. Sie liest damals viel, liest Voltaire und Rousseau, liest den Tacitus, liest von neuem den grossen Ahnherrn Corneille und vor allem den Plutarch – anderseits ist das einzige aus ihrem Besitz auf uns überkommene Buch eine weisspergamentene und mit Goldblumen verzierte Ausgabe des Ignatius von LoyolaNach ihrem Schafottode liess die Pariser Anklagebehörde durch den Journalisten Fabre d'Eglantine die nichtswürdige Behauptung verbreiten, sie habe im Kloster »keineswegs nur den Plutarch, sondern auch schlüpfrige Romane, die ›Liaisons dangereuses‹ und ›Faublas et Héloise‹ gelesen«. Es war, wie wir sehen werden, der einzige Versuch planmässiger Verunglimpfung nicht. Nie brach solch Versuch elender zusammen als dieser.. »Gekauft um drei Livres, Corday d'Armont, Sainte Trinité de Caen« steht, von ihrer Hand geschrieben, auf dem Innendeckel.

Buch aus dem Nachlass Charlottes mit ihrem Namenszug

Um 1788 ist sie Sekretärin der Aebtissin; ein von ihr auftragsgemäss und in einer etwas seltsamen Orthographie an einen Pariser Lieferanten des Klosters gerichteter Brief dreht sich, ausserordentlich nüchtern, um einen zu honorierenden Wechsel, um ein Angebot von Fensterscheiben, um – nicht ohne eine gewisse Komik für solchen Klosterbrief – »das Bett des Herrn Marquis«, das die Frau Aebtissin, die in diesem Jahr auf keinen Fall Schulden machen will, 128 heuer noch nicht bestellt. Diese Frau Aebtissin ist aber nicht mehr die Gräfin Belzunce, die im Jahr zuvor verstorben ist, es ist vielmehr nun Frau Doulcet de Pontécoulant. Ihr Neffe, Gustaphe Doulcet de Pontécoulant, der in der Normandie Verwaltungsbeamter ist und mit den jungen Damen des Klosters in aller Form verkehren darf, wird einige Jahre später von Charlottes Hand ein ganz anderes Schreiben erhalten, das seinen Ruhm bei der Nachwelt keineswegs erhöhen wird. –

So steht es mit ihr zu Beginn der Revolution, kurz vor der Auflösung des Klosters. Innerlich ist bei ihr damals, um 1790, die oben angedeutete Entwicklung schon vollzogen, und fortan ist sie umgeben von jener glasklaren und schon etwas eisigen Luft, in der sie, bei all ihrem Liebreiz, gleichsam unnahbar erscheint für alle menschlichen Wünsche: kühl und verständig bis zur Nüchternheit, aber versengt von den Ideen der Hingabe an die Nation, an die hochgeschwungenen Lebensbahnen des Plutarch, an jenen antikisierten Begriff der »Tugend«, die bei ihr im wesentlichen eine Tugend der ständigen Todesbereitschaft war. Dass sie »Republikanerin schon vor der Revolution« gewesen sei, wird sie später vor Gericht mit gutem Grunde behaupten dürfen, und immer sind es die grossen Figuren der Römerwelt – Brutus, Cinna, die Gracchenmutter – die nun neben ihr 129 wandeln. »Sie lebte«, so berichtet später jene der Familie befreundete Frau von Marmonne, »mehr in ihren Gedanken als in Aeusserungen, sie war ausserordentlich schweigsam, und oft, wenn man sie anredete, schien sie aus Träumen aufzufahren. Man kann wohl sagen, dass dann ihr Geist aus unbekannten Fernen wieder zurückkehrte. Liess sie sich aber durch das Gesprächsthema oder durch Fragen wirklich einmal fortreissen, dann gab sie sich um so mehr hin und überraschte uns alle durch den kühnen Bogen ihrer Gedanken und durch die vielfachen Berufungen auf die Helden des Altertums.« So weit die Marmonne. »Diese altrömische Republik mit all ihren Tugenden, ihrer Hingabe und all ihren heldischen Taten könnten die Franzosen ja doch nicht verwirklichen; unsere Nation wäre dazu zu leichtfüssig. Sie müsste von neuem geboren werden, sie müsste in dieser leuchtenden Vergangenheit die Ueberlieferung des Wahren, Schönen und Grossen wiederfinden und endlich einmal die Frivolitäten hinter sich lassen, die über die Völker Zersetzung und Entartung bringen.« So weit, zu diesem Thema, Charlotte selbst. Welch Urteil über das nun zu Ende gehende Rokoko, welch eisiges Urteil im Munde einer Achtzehnjährigen . . .

Dass man ihr nach ihrem Tode bei ihrer oft gepriesenen Schönheit Liebesgeschichten andichtete, versteht sich unter Franzosen nahezu von selbst . . . »wir 130 schätzen nun einmal keine Tragödie ohne Liebe«, äussert sich zu diesem Kapitel die Marmonne. Geht man aber diesen Legenden nach, so löst sich in der beinahe unirdischen Atmosphäre ihres kurzen Lebens alles in nichts auf. Da hat man eine entsprechende Theorie an den Namen des im Sommer 1793 nach Caen geflüchteten Girondisten Barbaroux geknüpft, und wir müssen feststellen, dass sie mit diesem »Antinous der Gironde«, der damals, nebenbei gesagt, schon ein Antinous mit Bauch und Gichtbeschwerden war, allenfalls eine halbe Stunde zusammengewesen ist. Da wird ihr ein phantastischer Liebhaber namens Franquelin angedichtet, und wir wissen heute mit Sicherheit, dass dieser Franquelin niemals existiert hat . . . da berichtet gar der sonst sehr zuverlässige Chéron de Villiers, der mit Charlottes Jugendfreundin Fougeron de Fayot, der späteren Frau von Riboulet, verwandt war, von einer Schauergeschichte, nach der man im Sarge eines früh verstorbenen, später aus irgendeinem Grunde auf einen anderen Friedhof überführten jungen Mannes (den Namen verschweigt Chéron de Villiers aus Rücksicht auf die Familie) in einer Blechbüchse ein ganzes Bündel glühender, an Charlotte gerichteter Liebesbriefe vorgefunden hat.

Sollte nun dahinter mehr als eine phantastische Fabel stecken, so soll doch daran festgehalten werden, 131 dass Liebesbriefe schon mancher Jüngling geschrieben hat, ohne dass die Empfängerin antwortete, und weit wichtiger als alle diese auf Klatsch und müssige Kombination hinauskommenden Geschichten sind zwei andere Hypothesen. Die eine geht den vom Caenner Mob im August 1789 grausam ermordeten Major Henry de Belzunce vom Caenner Garnisonsregiment »Bourbon« an, die andere den gleichfalls in Caen lebenden späteren Generalprokurator de Bougon-Langrais. Die eine stützt sich unter anderem auf einen an den Sicherheitsausschuss geschriebenen Brief des Anklägers im Cordey-Prozess, Fouquier-Tinville, die zweite fusst unter anderem auf der immerhin beachtlichen Tatsache, dass Charlotte in dem berühmten, kurz vor ihrer Hinrichtung an Barbaroux gerichteten Brief dem Empfänger Grüsse für Bougon aufträgt.

Was zunächst die auch heute noch von manchen französischen Autoren hartnäckig verfochtene »Belzunce-Theorie« angeht, so hat Fouquier-Tinville in dem eben erwähnten amtlichen Schreiben behauptet, die (damals schon hingerichtete!) Charlotte sei die Geliebte Belzunces, und es sei auf diese Weise Marats Ermordung lediglich ein Akt der Rache für die Ermordung Belzunces gewesen. Nun hat Fouquier-Tinville, wie wir schon bei der ihr gleichfalls vorgeworfenen »schlüpfrigen Lektüre« gesehen haben, aus den naheliegenden Gründen der politischen Propaganda 132 manches behauptet, was ein paar Tage später sozusagen in Zunder und Asche zerfiel, und einzuwenden wäre sofort, dass zwischen der Ermordung Belzunces und derjenigen Marats immerhin vier volle Jahre verstrichen sind und dass eine verliebte Frau, der man grausam den Liebsten erschlug, nicht vier Jahre mit ihrer Rache zu warten pflegt. Einzuwenden wäre sofort, dass sie (vergleiche den oben erwähnten Geschäftsbrief) nicht sechs Wochen nach des Geliebten Ermordung so seelenruhig mit dem Pariser Kaufmann Alain über einlaufende Wechsel und über die Lieferung von Fensterscheiben korrespondiert haben kann, und dass endlich Marats »Ami du Peuple« für diesen Mord nun wirklich nicht verantwortlich ist. Einfach, weil der Major de Belzunce am 12. August 1789 ermordet wurde, die erste Nummer des »Ami du Peuple« aber erst am 12. September des gleichen Jahres erschien. Ferner: es hat sich ja, wie wir mit einigem Abscheu noch sehen werden, der uns bereits bekannte Maler und Konventsdeputierte David nach Charlottens Hinrichtung den bündigen Beweis geholt, dass sie weder Belzunces noch eines anderen Mannes Geliebte gewesen war, und es sprechen zudem so viel »Indizienbeweise« gegen diese Belzunce-Angelegenheit, dass wir Fouquier-Tinvilles Brief getrost beiseitelegen dürfen.

133 Eine wichtigere Eideshelferin hat diese »Belzunce-Hypothese« (natürlich nicht im Sinne eines wirklichen Liebesverhältnisses, sondern im Sinne eines Verlöbnisses!) in besagter Frau von Riboulet gefunden, die einerseits Charlottens Jugendfreundin, anderseits Chéron de Villiers Grossmutter gewesen ist und diesem an sich recht zuverlässigen Enkel über die Corday alles ihr irgendwie Bekannte erzählt hat. Nach Frau von Riboulet aber habe jene Frau von Belzunce, Charlottens Aebtissin, zwischen ihr und dem jungen Major ein förmliches Verlöbnis zustande gebracht, Charlotte habe also an Marat den Bräutigam gerächt, und Frau von Riboulet habe noch nach sechzig Jahren feuchte Augen bekommen, sowie diese Angelegenheit zur Sprache gekommen sei. –

Es ist nun mehr als wahrscheinlich, dass Charlotte den sehr gut aussehenden, sehr eleganten und sehr hochmütigen jungen Offizier gekannt hat, wie sie alle jungen Edelleute Caens gekannt haben dürfte. Anderseits war dieser Major gar kein »Neffe« der Aebtissin, sondern entstammte einer ganz anderen Linie und war mit der Aebtissin gar nicht verwandt. Die Aebtissin kann ein Verlöbnis auch gar nicht zustande gebracht haben, weil sie ein volles Jahr, ehe aus einer weitabgelegenen Garnison nach Caen der Major de Belzunce versetzt worden war, das Zeitliche gesegnet hatte. Hat Frau von Riboulet sich aber in einer 134 so wichtigen Sache getäuscht, hat ihr Enkel Chéron de Villiers es gar fertigbekommen, die nach den Regimentsakten für den 12. August 1789 unerschütterlich feststehende Ermordung des Majors auf das Jahr 1793 zu verlegen, so ist wirklich nicht einzusehen, weswegen sie beide, Grossmutter und Enkel, sich nicht auch in anderen Dingen getäuscht haben sollen. Frau von Marmonne, die ja schliesslich ebenfalls Charlottens Jugendfreundin gewesen ist, hat ein solches Verlöbnis mit diesem Manne, der ja nicht viel mehr als ein eleganter Hohlkopf war, empört abgestritten, und von Charlotte selbst wissen wir, dass sie sich über ihn und seine Modetorheiten stets lustig gemacht hat. Endlich hat sie in ihrem letzten vor der Hinrichtung geschriebenen Brief als einzigen Grund ihrer Tat ihre heisse Vaterlandsliebe angegeben. Dürfen wir ihr aber eine Tugend zubilligen, so ist es nun einmal die der Wahrhaftigkeit. Es wäre wirklich ein Beginnen der Sentimentalität, zugunsten einer rosaroten Liebesgeschichte diese »Belzunce-Hypothese« noch länger stützen zu wollen. –

Weit ernster ist die andere, die sich an den Namen des Generalprokurators Bougon-Langrais knüpft. Wir wissen von ihm, dass er Charlotte gekannt hat und mit ihr Bücher austauschte, wir wissen, dass er ein kluger Mann von vornehmer Haltung war, wir besitzen sogar noch einen Pass. »Taille de 5 pieds, 135 3 pouces, cheveux blonds, nez gros, aquilain«, so wird er dort beschrieben. Er war im Jahre 1791 Sekretär des Generalprokurators in Caen, er nahm zwei Jahre später diesen Posten selbst ein. Er war ein Mann von hohem Geist und von glühender Vaterlandsliebe. Charlottens Biograph Vatel behauptet von ihm, dass, »wenn überhaupt ein Mann, so nur dieser der ihrer Wahl gewesen sein könne«. Vatel behauptet aber noch mehr. Er behauptet nämlich, es müsse irgendwo der Briefwechsel der beiden liegen, und in der Tat weisen mehrere Spuren auf einen solchen Briefwechsel hin. Der Chef der Caenner Zivilverwaltung, Mesnil, berichtet nämlich von etwa zwanzig Briefen, die Bougon-Langrais ihm als eigenhändige Briefe Charlottens gezeigt habe, fügt aber gleich hinzu, dass in diesen Blättern ausschliesslich von politischen und literarischen Dingen die Rede gewesen sei. 1868 soll in London bei der Versteigerung der Nottinghamschen Autographensammlung an einen unbekannten Erwerber auch ein Brief der Corday veräussert worden sein, und wir werden gut tun, uns darauf gefasst zu machen, dass in der Tat einmal ein solcher Briefwechsel zutage kommt. Nachdenklich stimmt auch der Brief, den der im Februar 1794 im Zuge der Schreckenszeit hingerichtete Bougon-Langrais unmittelbar vor seiner Guillotinierung an seine Mutter geschrieben hat . . . 136

»Oh, Charlotte Cordais (sic!) . . . oh, mein edler Freund! Unaufhörlich beschäftigt mich das Andenken an Dich, erwarte Du mich nun, ich will Dich wiedersehen! Der Wunsch, Dich zu rächen, hat bis heute mein Leben ausgefüllt, ich glaube diesem heiligen Wunsche Genüge getan zu haben und sterbe Deiner würdig . . .«

Das ist, zusammen mit der Tatsache, dass ja auch Charlotte in ihrem letzten Briefe Bougons gedenkt, immerhin etwas. Es ist aber nicht eben viel! Es beweist wohl, dass die beiden befreundet, es beweist aber mit keinem Wort, dass sie ein Liebespaar waren. Es mag wohl sein, dass sie diesen Mann, der sich freilich weich und ein wenig sentimental gibt, auf die Dauer hätte lieben können – wir besitzen aber nun einmal keinen einzigen Beweis für die Tatsache, dass dieser Prozess der Zuneigung bei ihr wirklich ausgereift ist. Sie war kein Mensch, der leicht die Pforte zum Innersten erschloss, sie war, wie ein Caenner Handwerker von ihr erzählt hat, »ein schönes, stolzes Mädchen, das nicht Lieder trällerte und selten lachte«, und wie eiskühl sie auf poetische Huldigungen im Stil der Zeit reagierte, verrät ihr an einen Salonpoeten unbekannten Namens gerichteter Brief aus dem Ende der achtziger Jahre . . .

»Ich kann, mein Herr, meine Erkenntlichkeit für das kleine Gedicht, das Sie der ›Vielgeliebten‹ 137 gewidmet haben, nur durch die Mitteilung ausdrücken, dass es seinem anonymen Verfasser Beifall und Lob eingebracht hat. Nur mit Mühe habe ich erfahren können, wem ich zu danken habe. Sie hätten Ihre Gefühle nicht besser ausdrücken können als durch diese reizenden Verse. So bitte ich, von meiner Dankbarkeit überzeugt zu sein, unter deren Ausdruck ich bin des Verfassers

ergebenste und gehorsamste
Dienerin

Corday.«

Das ist, bei aller Artigkeit der Form, kühl genug, und am Schluss jenes lakonische, den Vornamen vermeidende »Corday«Uebrigens unterschreibt sie dort, wo sie sich des Vornamens überhaupt bedient, meist mit »Marie Corday«. Wir dürfen annehmen, dass dies ihr Rufname war., dem wir hier nicht zum letzten Male begegnen, klingt nachgerade so, als würde vor der Nase dieses verliebten Gelegenheitsdichters eine Tür zugeschlagen. Frau von Marmonne hat sich ziemlich eingehend über diese Seite ihres Wesens geäussert: »Kein Mann machte Eindruck auf sie, ich kann wohl behaupten, dass ihr nichts so fern lag wie der Gedanke an eine Heirat. Sie hat mehrere angemessene Anträge ausgeschlagen und mehrfach geäussert, nie heiraten zu wollen. War es nun geistiger Hochmut, 138 der sich auflehnte gegen die Unterwerfung unter einen geistig unterlegenen Mann, war es jungfräuliches Aufbegehren? Ich weiss es nicht. Ich weiss auf Grund vertraulicher Gespräche eben nur, dass keiner sich rühmen konnte, ihr gefallen und einen Platz in ihrem Herzen eingenommen zu haben.« Das ist gewiss eindeutig, und es erledigt sich damit wohl auch die mit dem Namen des unglücklichen Bougon verknüpfte Hypothese, und wir selbst stehen vor der Frage, ob sie am Ende so etwas wie ein Mannweib . . . eine »Virago« war.

Ich glaube es nicht, ich glaube, es lässt sich eine ganz andere Deutung für sie finden. Dass sie von einer gewissen Koketterie und von weiblicher Eitelkeit nicht frei war, hat sie später, wie wir noch sehen werden, im Kerker bewiesen, als sie so energisch darauf bestand, zu guter Letzt noch porträtiert zu werden, und zu einer »Virago« hätte auch wohl nicht jener unbeschreibliche Liebreiz und jene Anmut gepasst, die die Zeitgenossen ihr nachrühmen. Wohl hat sie sich zur Marmonne dahin geäussert, »dass sie nie auf ihre Freiheit verzichten und dass auf ihrer Briefadresse nie das Wort ›Frau‹ stehen werde«, aber – hat das nicht, ehe der richtige Freier kam, so manches junge Mädchen gesagt? Ein so bedeutendes und leidenschaftliches Geschöpf hatte schliesslich einen Anspruch darauf, diesen »richtigen Freier« zu 139 erwarten, und dass sie so umgeben war mit solchem Panzer der Herbheit und der Strenge, teilt sie mit jener Jeanne d'Arc, deren überliefertem Bilde sie in nicht wenigen Zügen gleicht. Besessen von dem Ziel letzter heldischer Grösse, müssen sie beide zunächst sich panzern vor allen menschlichen Wünschen, und der Freier, der schliesslich das Visier ihnen zurückschlägt, heisst bei beiden der Tod. Sind sie aber deswegen nicht Weiber gewesen – alle beide? –

Im Jahre 1790 verfügt die Regierung die Auflösung der Klöster, und die Insassinnen werden in alle Winde zerstreut. Die Vermögensverhältnisse hatten sich inzwischen kraft des halbwegs günstigen Prozessausganges gebessert, und es lag somit nahe, dass Charlotte zunächst in das Haus des Vaters zurückkehrte, der inzwischen, da ihn in Caen ja nichts mehr hielt, seinen Wohnsitz wieder nach Mesnil-Imbert verlegt hatte. Wir wissen von diesem Aufenthalt, der immerhin länger als ein Jahr gewährt haben mag, nicht eben viel, werden aber nicht sehr fehlgehen, wenn wir den Grund für seine plötzliche Beendigung und Charlottens plötzliche Uebersiedlung in das Haus einer kaum gekannten und nur sehr weitläufig mit ihr verwandten Dame in einem ernsthaften Zusammenprall zwischen den beiderseitigen Welten von Vater und Tochter suchen. Man kann nun keineswegs sagen, dass Corday, der Vater, bei allem Royalismus ein 140 fanatischer und verbohrter Anhänger des Gestern gewesen wäre; zwei Broschüren, die er über juristische und verwaltungstechnische Fragen veröffentlicht hat, lassen immerhin auf einen selbständigen und gelockerten Geist schliessen . . .

Wohl aber war er, wie ja seine Prozessfreudigkeit beweist, ein unbeugsamer und käuzischer Mann, ein Utopist und Projektmacher, und schon diese Eigenschaften scheinen den Vater der Tochter bei ihrem kühlen Blick für Tatsachen entfremdet zu haben. Sie las gerade in jener Zeit viel, las Perlets und Gorsas über ganz Frankreich verbreitete Zeitungen, las Crevier, Rollin, Rousseau und des Abbé Raynal »Philosophische und politische Geschichte der Niederlassungen und des Handels der Europäer in beiden Indien«, und weiterhin befestigte sich das, was sie schon früher ihr »Republikanertum« genannt hatte . . .

»Deine und ArmontsDes Vaters. Vorwürfe quälen mich sehr. Du, Teuerste, und Deine Umgebung, Ihr seid Royalisten. Ich meinerseits verachte den König nicht gerade – das Gegenteil ist der Fall, ich verachte ihn schon deswegen nicht, weil seine Absichten die besten sind. Mit guten Absichten aber ist die Hölle selbst gepflastert, und das 141 Unheil, das durch Louis XVI. gekommen ist, ist denn doch allzu gross, um mir nicht die Augen zu öffnen. Dabei scheint mir, dass er, wofern er nur gewollt hätte, einer der glücklichsten Monarchen geworden wäre – Herr über ein Volk, das ihn liebt und das glücklich gewesen wäre, hätte es beim Könige nur einigen Widerstand gegen die üblen Anschläge des Adels bemerkt. Denn schliesslich ist es doch nun einmal Tatsache, dass der Adel nichts von jener Freiheit wissen will, durch die allein ein Volk frei und glücklich sein kann. Statt dessen sehen wir den König sich den Ratschlägen aller guten Patrioten verschliessen . . . ach, und wieviel Unglück hat es deswegen schon gegeben! Noch grösseres aber steht uns bevor, und Illusionen dürfen wir uns nicht hingeben! Erinnere Dich aber, Teuerste, was sich in Rom unter Tarquinius begeben hat! Nicht der König war Ursache jener Revolution, es war vielmehr sein Neffe. Genau so ist's in Frankreich: des Königs Freunde werden ihn verderben, weil der König eben nicht den Mut hat, sich ihren üblen Ratschlägen zu verschliessen. Alles, was wir heute erleben, spricht dafür und sagt uns, dass wir auf ein furchtbares Unglück losmarschieren. Wie also willst Du, dass man Louis noch lieben soll? Er wird beklagt, und ich 142 selbst beklage ihn von Herzen, glaube aber nun einmal nicht, dass solch ein König fähig ist, sein Volk zu beglücken – da hast Du meine innersten Gedanken. Höre also auf, Liebste, mich mit Vorwürfen zu überhäufen, deren Ungerechtigkeit Du einsehen musst, da meine Erkenntnisse sich doch auf gute Gründe stützen. Ebensowenig verdiene ich alle die harten Worte, die d'ArmontGemeint ist auch hier der Vater. mir gegeben hat. Wenn ich die Meinung meiner Verwandten und Freunde nicht teile, so liegt das nicht an meinem Widerspruchsgeist, es geschieht vielmehr, weil ich das Gegenteil von dem kommen sehe, was sie denken. Sage meinem Vater doch, dass er mich nicht für eine überhebliche Tochter halten soll, versichere ihn meines Respektes und sage ihm, dass ich ihn liebe, wie es ja meine Pflicht ist. Heute nichts mehr davon.

Ich quäle mich mit Sorgen und mit Erinnerungen ab und kann Dich nur umarmen.

Marie.«

Wir wissen nicht, an wen dieser im Jahre 1791 geschriebene Brief gerichtet ist, wir wissen aber oder ahnen doch wenigstens, was Vater und Tochter einander entfremdet hat. Was Frau von Bretteville-Gonville, geborene Lecoutelier-Bonnebos, angeht, so war 143 sie, wie gesagt, eine den Cordays recht entfernt verwandte und sehr begüterte Dame, die in Caen ein grosses und festes, unter dem Namen »Grand Manoir« allbekanntes Haus bewohnte, angesichts ihres erheblichen Wohlstandes ständig Anschläge befürchtete und sich des plötzlichen Erscheinens einer nie oder vor langen Jahren flüchtig einmal gesehenen Nichte zuerst kaum freuen konnte.

»Sie ist so schweigsam und eingesponnen in ihre Gedanken, ich fürchte mich vor ihr und denke immer, sie bereitet ein Verbrechen vor«, das soll diese »Tante Bretteville« gesagt haben, als sie, von einer Reise heimkehrend, diese Nichte bei sich vorgefunden hatte. Nach kurzer Zeit hatte sie sich freilich an Charlotte gewöhnt und empfand nun um so wärmer für sie. Und so begannen diese letzten beiden Jahre, die dieses junge Leben noch von seiner Katastrophe trennten. –

Das »Grand Manoir« war unter seinem moosbewachsenen Steildach ein gotisches, ein wenig düsteres, ein wenig feuchtes Haus, in dessen Erdgeschoss eine noch zu erwähnende Tischlerfamilie hauste, während den beiden Damen die oberen Stockwerke vorbehalten blieben. Zwei Jahre hat sie hier gelebt und von hier aus jene Pariser Reise angetreten, von der sie nicht mehr zurückkehren sollte. Oft hat der Tischler Lunel sie mit ihren Büchern am Hofbrunnen 144 sitzen oder am Fenster zeichnen gesehen, oft hörte man auch von ihrem Eckzimmer her ihr Klavier.

Es sind in diesem kurzen und jäh abgebrochenen Leben trotz des schon grollenden Gewitters die beiden lichtesten Jahre. Der Vater kann ihr nun hin und wieder Geld zukommen lassen, sie verfügt wohl auch über Mittel, die von der reichen Bretteville ihr zufliessen, das Leben ist aufgelockerter, heiterer, als es je war. Freilich, was bedeuten ihr die Geldmittel und was bedeutet ihr die Zerstreuung! »Sie war nun sehr gross und sehr schön geworden«, berichtet von ihr die Marmonne, die damals noch ein Fräulein von Levaillant und Charlottens Freundin war, »ihre vielleicht etwas kräftige Gestalt entbehrte nicht des Adels. Uebrigens beschäftigte sie sich mit ihrer Erscheinung sehr wenig und dachte nicht im entferntesten daran, ihre Reize zur Geltung zu bringen. Als Frau von Bretteville ihr mehrere Kleider schenkte, erschien sie noch viel vorteilhafter, obwohl sie auf ihre Toilette nur sehr wenig Sorgfalt verwandte. Ihre Haut war von blendender Weisse, sie hatte die Opaleszenz der Milch, das Inkarnat der Rose und sah aus, als flösse ihr Blut durch die Adern eines Lilienblattes. Uebrigens errötete sie leicht und wurde dadurch noch reizender. Ein leicht verschleierter Blick und das ein wenig vorspringende Kinn taten ihrem Charme und dem Adel ihrer Erscheinung keinen Abbruch, und nie 145 ward eine berückendere Menschenstimme gehört als die ihre . . . nie sah man eine engelhaftere Erscheinung.« Leider hält sie sich nicht gut und verspricht, wenn die Bretteville sie entsprechend vermahnt, wohl Besserung, verfällt aber immer wieder in ihren alten Fehler. Gern aber lässt sie es sich gefallen, dass die Marmonne, die sichtlich stolz auf eine so schöne Freundin ist, vor festlichen Gelegenheiten um ihre Garderobe bemüht ist oder ihr durch das volle, auf die Schultern herabhängende Haar ein Band flicht. –

Der Kreis, in dem Frau von Bretteville und mit ihr Charlotte damals verkehren, ist streng legitimistisch und durchaus »altes Regime«. Es verkehrt dort Frau von LevaillantIch lasse hier den von französischen Autoren geführten Streit, ob die Levaillants de facto »Loyer« geheissen haben, als unwesentlich beiseite. nebst beiden Töchtern, von denen die eine die spätere Frau von Marmonne ist, es gibt da eine Madame de Mâlifatre und eine Marquise Beaumont, und vor allem ist da ein alter Rittmeister von Faudoas mit seiner Tochter Eleonore, die später, kurz nach Charlottens Tod, ebenso wie ihr Vater auf der Guillotine enden wird.

Es ist somit eigentlich ein Doppelleben, das sie im Hause der Bretteville führt. Unendlich einsam mit ihrer Lektüre, ihren Interessen und ihren Ideen, lebt sie in ihrer todesnahen Traumwelt antiker Heroen, 146 verbrennt sich jetzt, im zweiten und dritten Jahre der Revolution, an den Feuern der Zeit und liest erstmalig in den girondistischen Blättern, die sie sich hält, die Namen der grossen Tageshelden Vergniaud, Barbaroux, Isnard und Pétion . . .

Anderseits aber sind die Menschen, mit denen sie im Hause der Bretteville umgeht, allesamt echte »Ci-Devants« und »Ultraroyalisten«, Emigranten sozusagen, die nicht emigriert waren. Charlottes »Republikanertum« hat nichts zu tun mit dem entsprechenden Begriff moderner Demokratien – es ist ja eben nur jene gelockerte aristokratische Welt, in der damals die Mirabeau, Lafayette und auch Washington leben. Es ist jene glühend patriotische und höchst optimistische Gedankenwelt, die sich auf die Vernunft der Nation verlässt, vom Mob aber stillschweigend erwartet, dass dieser Mob sich stille verhält und »oben« eine erwählte Schar von Notablen, nötigenfalls sogar mit einem sorgfältig entmachteten König als »erblichen Repräsentanten der Nation«, duldet. Man mag heute über diese Welt und ihren Optimismus just so lächeln, wie das Rokoko einst über das gotische Königtum gelächelt hat – wir wollen aber nicht vergessen, dass auch hinter diesen Ideen einst blühendes junges Leben, Gläubigkeit und Todesmut gestanden hat. Sie war damals dreiundzwanzig Jahre alt und hatte ein Recht darauf, mit aller Leidenschaftlichkeit, ja selbst mit 147 aller Masslosigkeit der Jugend ihre Welt gegen die Alten zu verteidigen. Und wer ihr eben diese Masslosigkeit vorhält, soll daran denken, dass sie zwei Jahre später auszog, den grossen Holofernes des Sansculottismus mitten in des Sansculottismus' Hauptstadt zu erschlagen. Kühne Taten aber setzen immer eine gewisse Monomanie voraus. Man soll von dem, der sie hinterher tut, nicht die Abgeklärtheit des alternden Goethe verlangen. –

Es konnte so, wie die Dinge im Hause der Bretteville lagen, nicht gut ausgehen, und es ging auch nicht gut aus. Einen ärgerlichen Zwischenfall, der von der Nachwelt vielleicht ein wenig aufgebauscht worden ist, hat es bereits mit einem General de la Rue gegeben, mit dem sie, inmitten einer bei Tisch geführten politischen Debatte, heftig aneinander gerät. Unerquickliche Szenen aber ergeben sich fortan um so leichter, je mehr die Revolution auch die bislang noch halbwegs friedliche Normandie beunruhigt und je häufiger allerlei Zwischenfälle auch diesem erlesenen Kreis Themen für peinliche Auseinandersetzungen liefern. Während sie in ihren heroischen Träumen das Gebrüll des französischen Pöbels sozusagen in die bronzene Sprache der antiken Rom übersetzt, bereitet sich in ihrer adligen Umgebung ein Teil der männlichen Jugend – ihr Bruder François und ein den Levaillants verwandter Herr von Tournelis – zur 148 Emigration vor, träumt auch von »militärischen Spaziergängen nach Paris« und leichter Bändigung des Pöbels und benützt die Zeit vor der Abreise zu allerlei Provokationen. Als in Caen der »konstitutionelle« Bischof Fauchet einzieht und unten auf der Strasse das Volk ihn mit dem vorschriftsmässigen »Vive la nation« begrüsst, wollen die beiden jungen Herren, Corday und Tournelis, aus den Fenstern des Grand Manoir das verpönte »Vive le roi« herabrufen, und da das mit einiger Wahrscheinlichkeit zu Krawallszenen und möglicherweise zur Verwüstung des ganzen Brettevilleschen Hauses geführt hätte, so nimmt Charlotte den jungen Tournelis höchst resolut am Handgelenk und zerrt ihn ins Zimmer zurück, um ihn dort energisch zurechtzuweisen. Unmittelbar darauf aber platzen die Geister noch heftiger aufeinander. Frau von Bretteville nämlich gibt den beiden scheidenden Emigranten und ihrer gesamten Verwandtschaft ein Abschiedsessen, sie hofft im stillen, vorher noch eine Verlobung Charlottens mit dem jungen Tournelis zustande zu bringen. Sie ist enttäuscht über das abweisende Schweigen ihrer wieder einmal mit ganz anderen Dingen beschäftigten Nichte, und sie ist später doppelt traurig über den hässlichen Zwischenfall, der dieses letzte Beisammensein stört und den die Marmonne als Augenzeugin uns anschaulich geschildert hat . . .

149 »Nie werde ich dieses Abschiedsessen vergessen können! Es war der Michaelistag 1791, Charlotte in einem der ihr von ihrer Tante geschenkten schönen Kleider blendete geradezu in ihrer Schönheit. Ich hatte sie ankleiden helfen, ich sehe sie noch vor mir in ihrem rosa und weiss gestreiften Taffetkleid – entzückend kam ihr schöner Wuchs in dieser Robe zur Geltung. Ein rosenfarbenes Band hielt das Haar zusammen und stimmte prachtvoll zu ihrem Teint, der heute in der Aufregung über das Zusammentreffen mit ihrem Vater und der ganzen übrigen Familie noch rosenfarbener war: sie war an diesem Tage wirklich von idealer Schönheit. –

Das Essen selbst verlief zuerst durchaus heiter. Man war voller Hoffnung, unsere zukünftigen Emigranten glaubten nur an eine kurze kriegerische Promenade und wollten im Winter, wenn alles vorbei wäre, wieder in Paris sein. Charlotte freilich machte sich darüber lustig und verglich sie mit Don Quichote, der da hoffte, Dulcinea zu finden und doch nur eine alte Vettel vorfand. So lachte und schwatzte man, und alles ging gut, bis das Königshoch kam . . .

Nach altem Brauch erhoben wir uns alle, mit Ausnahme Charlottes, die sitzen blieb und auch ihr Glas auf dem Tisch beliess. ›Die Gesundheit des Königs‹, hiess es zum zweiten Mal, und sie verharrte in ihrer schweigenden Haltung. Der alte Corday runzelte die 150 Stirn und senkte mit allen Zeichen der Unzufriedenheit den Blick, meine Mutter berührte leicht ihren Arm, um sie zum Aufstehen zu ermuntern, erreichte es aber nur, dass Charlotte sie mit ihrem bekannten ruhigen und sanften Blick anschaute, sich aber nicht erhob. ›Wie‹, sagte meine Mutter, ›du willst wirklich nicht auf die Gesundheit eines so guten und tugendhaften Königs trinken?‹ ›Ich habe‹, antwortete sie mit ihrer sanften Stimme, die immer wie eine Tonharmonie klang, ›ich habe selbst an seine Tugend geglaubt. Ein schwacher König aber kann kein guter König sein und kann seines Volkes Unheil nicht verhüten.‹

Tiefes Schweigen folgte dieser Antwort. Ich war wütend, und meine Mutter konnte ihre üble Laune kaum verhehlen. Kurz darauf nimmt die alte Levaillant die junge Standesgenossin ins Gebet: ›Liebes Kind, bist du am Ende Republikanerin?‹ fragt die alte Dame und erhält in der bekannten sanften, aber eben sehr entschiedenen Art die Antwort: ›Ach, ich wäre es wohl, wenn nur die Franzosen einer Republik würdig wären‹.« So steht es mit ihr an der Jahreswende von 1791 auf 1792, als Mirabeau seinem Titanenkampf gegen den heraufziehenden Sansculottismus erlegen ist und am Horizont sich schon die spukhaften Schatten des Schreckens abzeichnen.

151 Sie vereinsamt in dem bevorstehenden Winter noch mehr. Eine Familie nach der anderen – die Faudoas, die Levaillants – siedelt in das weit ruhigere Rouen über, auch die alte Frau von Bretteville wäre nebst Charlotte dorthin gefolgt, hätte man nicht auf dem Wege dorthin eine Schiffbrücke passieren müssen, vor der die alte Dame sich fürchtete und die möglicherweise gerade beim Passieren gebrochen und ins Meer hinausgetrieben wäre . . .

Ein paar Monate später wird auch der Vater, der auf der Strasse belästigt worden ist, in das abgelegene Argentan übersiedeln, und so vereinsamt sie denn samt der alten käuzischen Dame, unter deren Dach sie wohnt. Sie korrespondiert nun mit ihren Freundinnen, die wichtigsten der spärlichen Briefe, die wir von ihrer Hand besitzen, stammen aus dieser Zeit. Die spätere Frau von Marmonne hat die Pocken überstanden und erhält einen dieser Briefe . . . einen Brief, der naturgemäss eine Menge bedeutungslosen Geplauders enthält, stellenweise aber desto tiefer beeindruckt durch gewichtiges Urteil und kühne Prophetie. »Mein Bruder ist nun vor wenigen Tagen abgereist, um die Zahl der irrenden Ritter zu vermehren . . . möglicherweise treffen sie Don Quichotes Windmühlen auf ihrem Wege. Ich kann mir nicht denken, wie unsere guten Aristokraten es tun, dass man einen Siegeszug erleben wird, ohne gekämpft zu haben. Und welches 152 Los erwartet uns dann? Ein entsetzlicher Despotismus! Wenn man sich nämlich jetzt daran macht, aufs neue das Volk zu ketten, so heisst das ja nur, aus der Scylla in die Charybdis geraten, und in jedem Falle werden wir zu leiden haben.

Alles ist hier ruhig, trotz des Karnevals, von dem man nichts merkt, Masken sind verboten. Gott befohlen, liebes Herz.«

Das ist mehr als Illusionslosigkeit – es ist eine Prophetie, die das Scheitern der Emigration und mindestens die zeitlich ja noch fernere Diktatur Robespierres voraussagt. Wenn man heute das damalige Europa belächelt, das anfangs 1792 die Revolution noch immer als grossstädtische Zusammenrottung, die Revolutionsheere als Räuberbande und den bevorstehenden ersten Koalitionskrieg als Bagatelle ansah, so soll man nicht vergessen, dass diesem Irrtum damals samt allen europäischen Kabinetten die ganze gebildete Welt und die Gesellschaft aller Nationen zum Opfer gefallen ist, und dass jeder, der anders dachte, unendlich allein dastand. Der Scharfblick dieses in seiner Gedankenwelt vereinsamten und in seiner Einsamkeit seinem Schicksal entgegenreifenden Mädchens ist bewundernswert und schaurig zugleich: was sich damals in ihrer Entwicklung vollzieht, ist ja, gemessen am Lebenslauf anderer junger Mädchen, abwegig, unnatürlich, durchaus und schon jetzt 153 gestimmt auf heldisches Los und Tragödie. Es gibt in diesen Briefen kein harmloses Geplauder mehr, kaum noch einen Platz für eine Erkundigung nach dem Ergehen der Freunde. Tiefe Schwermut ist allenthalben, Todesahnung und gelegentlich sogar ein flüchtiges Wort der Bitterkeit über das eigene unabänderliche und zwangsläufig dem Leben sich versagende Los. Im April 1792, als es in dem Caen benachbarten Dorfe Verson wegen eines den Verfassungseid verweigernden Priesters zu schweren Unruhen gekommen ist und sie dieserhalb erneut an die Levaillant-Marmonne schreibt, klingt dieses Motiv der Ahnung und der Todesnähe zum erstenmal in voller Deutlichkeit an . . .

». . . Heute reisen die letzten anständigen Menschen nach Rouen, und wir bleiben allein zurück . . . Ich würde mich in jeder Hinsicht glücklich schätzen, wenn wir in Eurer Nähe wohnten. Man stirbt nur einmal, und was mich das Schreckliche unserer Lage ertragen lässt, das ist der Gedanke, dass niemand durch meinen Tod etwas verlieren wird. Es sei denn, dass Du meiner zärtlichen Freundschaft einen Wert beimisst . . . Kein Wort verliere ich darüber, wie sehr ich Dich liebe. Denn eben das solltest Du wissen, ohne dass ich darüber immer das nämliche rede.«

Das schreibt sie im Mai 1792. Sie ist damals strahlend schön und begehrenswert, noch ist Marats Name 154 für sie kaum mehr als ein leeres Wort. Noch lebt der König, noch der Bruder und alle die Freunde, die zwei Jahre später mit ihr im langen Zug der blutigen Schemen wandeln sollten . . .

Noch war im Herzen der Menschen Hoffnung.

Von Hoffnung war in ihrem Herzen nichts. Es wohnte dort zur Zeit, noch vor dem Erkennen einer tödlichen Aufgabe, nur das Vorgefühl des Schicksals, das da kommen musste. Unabänderlich, unausweichlich.

Es gibt schöne, lebensvolle und urgesunde Menschen, die bleiben mit all ihrer prangenden Jugend doch allein, weil eben jeder weiss, dass neben ihnen immer der dunkle Genius wandelt. Und sie selbst wissen, dass ihr Weg nicht lange währen kann.

Kein Makel haftet ihnen an – sie können lachen wie andere und scheinen stark und lebenstüchtig. Und sind doch gezeichnet in ihrer Einsamkeit.

Manchmal aber werden sie sich dieser Einsamkeit bewusst, und dann schauen sie voller Bitterkeit auf die Blumen, die rechts und links von ihrem Pfade wachsen – für andere.

»Man stirbt nur einmal, und was mich alles leicht ertragen lässt, das ist der Gedanke, dass niemand durch meinen Tod etwas verlieren wird.«

Sie war noch nicht vierundzwanzig Jahre alt, als sie diese Worte niederschrieb.

 


 

Aufbruch

Die Revolution, die mit Tuileriensturm, Septembermorden und der Hinrichtung des Königs in den nächsten zwölf Monaten den ersten Blutregen über Frankreich niedergehen liess, ist gerade mit dem kleinen Kreis, der im Salon der Bretteville verkehrt hatte, nicht eben glimpflich verfahren. Am wenigsten mit den Faudoas. Was nämlich diesen alten »Chef d'escadron« angeht, so ist er in den gleichen Tagen, in denen Charlotte ihrer Freundin Levaillant-Marmonne den eben zitierten Brief geschrieben hatte, nach Paris geeilt, um sich dem seit dem Frühjahr 1792 unmittelbar und leiblich bedrohten König zur Verfügung zu stellen. Dem Blutbad des Tuileriensturms ist er entkommen, wird aber bald darauf mit seiner Schwester, der Marquise Beaurepaire, und seiner achtzehnjährigen Tochter Eleonore, Charlottes Freundin, aufgegriffen und zum Tode verurteiltDie Faudoas sterben auf der Guillotine freilich erst im Juni 1794, also fast ein Jahr nach Charlottes Tode, übrigens in beispielloser Standhaftigkeit. Immerhin hat schon die Verhaftung der Freunde einen tiefen Eindruck auf sie gemacht.. Dies ist das Schicksal der Faudoas.

158 Ein anderes Mitglied jenes Kreises, der Abbé de Fougeron, Bruder der späteren Frau von Riboulet, verweigert den allen Priestern abverlangten Verfassungseid und zahlt gleichfalls mit dem Leben, ein Oheim, der ehemalige Gardekapitän Delphin Boussaton, rettet es mit genauer Not, indem er nach England flüchtet. In alle Winde ist der kleine Kreis verstreut, fast jeder ist Misshandlungen, Konfiskationen, Denunziation oder Verhaftung ausgesetzt gewesen. So also sah jene Revolution aus, die sie sich in ihren Mädchenträumen als Aufbruch freier, staats- und gesetzesbewusster Bürger vorgestellt hatte.

Die Briefe, die wir zur Zeit von ihrer Hand besitzen, sind an sich spärlich, sie verlassen uns ausserdem gerade für jene sechs Monate zwischen Tuileriensturm und Königsmord – gerade also für eine Zeit, in der sie in ihrer Korrespondenz mit ihren Freundinnen die Schrecken der Zeit sicherlich registriert hat. So können wir also nur vermuten, dass es an der Seite der ängstlichen Bretteville ein qualvolles Zusehen und, kraft der Ereignisse, eine tagtägliche Demütigung war, und erst im Januar 1793, nach der Hinrichtung des Königs, finden wir sie wieder in einem Brief, den sie an Rose de Fougeron richtete und den Chéron de Villiers im Nachlasse dieser seiner Grossmutter gefunden hat . . . 159

»Du kennst, gute Rose, die schreckliche Nachricht, und vor Empörung beben wohl unser beider Herzen! So ist Frankreich denn diesen Elenden ausgeliefert, die schon so viel Unheil angerichtet haben, und Gott allein weiss, wie es enden soll! Ich kenne Deine Gefühle, und so kann ich Dir ja wohl offen sagen, was ich denke.

Ich zittere vor Schrecken und Empörung. Die Zukunft, die man nach solchen Ereignissen noch erwarten kann, birgt alle erdenklichen Greuel. Fast bin ich nun so weit, dass ich die beneide, die den Staub des Vaterlandes von ihren Füssen geschüttelt haben – so tief verzweifle ich an jener Ruhe, die ich einst für Frankreich erhoffte und die nun entschwunden ist. Alle, die uns die Freiheit versprachen, haben diese Freiheit erwürgt, alle sind sie elende Henker. Ja, weinen wir nur über unseres armen Frankreichs Geschick.

Ich weiss Dich sowieso unglücklich genug und mag nicht durch Aufzählung unserer Leiden von neuem Deine Tränen fliessen lassen. Alle meine Freunde werden verfolgt, meine Tante ist jeder Art von Intrige und Anfeindung ausgesetzt, seit es bekannt ist, dass sie DelphinDer obenerwähnte Gardehauptmann Boussaton de Bellisle. bei seiner Reise 160 nach England Unterschlupf gewährt hat. Könnte ich's, ich hielte es ebenso wie er, so aber hält Gott mich hier fest und hält für uns ein anderes Geschick bereit.

Der Kapitände Riboulet, Roses späterer Gatte. ist gestern von Evreux hier durchgekommen. Er ist ein liebenswerter Mann, Dir sehr zugetan. Wo er im Augenblick ist, weiss ich nicht, siehst Du ihn aber, so erinnere ihn doch daran, dass er mir einen Empfehlungsbrief des Herrn de VeygouxKein anderer als der von Napoleon noch auf St. Helena betrauerte Held von Marengo, Desaix, der mit seinem vollen Namen Desaix de Veygoux hiess und damals noch Adjutant des königlichen Marschalls Broglie war. für meinen Bruder versprochen hat. Gern werde ich bei guter Gelegenheit ihm seinen Dienst vergelten. Wir hier sind in der Gewalt von Banditen jedweder Spielart, sie lassen niemanden in Frieden, und man würde diese Republik verabscheuen, wüsste man nicht, dass die Missetaten der Menschen nicht in den Himmel wachsen.

Beklage Du mich nach diesem schrecklichen Schlage, von dem die Welt bebt, beklage mich, wie ich Dich beklage. Es gibt kein edelmütiges Herz, das nun nicht blutige Tränen weinte . . .

Marie de Corday.«

161 »Es wachsen die Freveltaten der Menschen nicht in den Himmel, und es ist Gott, der uns hier für ein anderes Schicksal bestimmt.« Welches Ahnen um das eigene Schicksal, und welche Prophetie, zu der das so tatendurstige und in Hause der kränkelnden Bretteville doch so tatenlose Mädchen nun heranreift! Vor allem aber – welch unbarmherziges Erwachen aus ihren Römerträumen und welch furchtbare Enttäuschung! Es kann natürlich keine Rede davon sein, dass ihr deswegen jene Traumwelt antiker Heroen zerstört war – ein Mensch ihrer Charakterstärke verwirft von heute auf morgen nicht seine Ideale, und wir werden ja bald sehen, dass die grossen Heldengestalten des Plutarch sie noch umgaben, als neben ihr schon der Henker stand . . .

Wohl aber sahen ihre Augen, die ja die hellblickenden eines in gesundem Blut gezeugten Landkindes waren, noch etwas anderes, und sie sahen etwas, was wir selbst erst heute erkannt haben: dass diese Revolution nicht auf einen Umbau des Staates, sondern auf die Austilgung des ganzen alten, adeligen, bürgerlichen oder bäuerlichen Frankreich hinauskam . . .

Dass es um die Ausrottung eines Menschentyps von bestimmtem Blut und bestimmter leiblicher und seelischer Haltung ging und dass das, was da aufstieg, ein neuer und bislang unbekannter Schlag, wo nicht eine 162 bislang unbeachtet oder unterirdisch gebliebene Rasse war.

Zum erstenmal sah sie das singende und lachende Leben Alt-Frankreichs bedroht von Machtanspruch der aus dem Boden gekrochenen Termiten, zum erstenmal sah sie am Horizont in voller Deutlichkeit jene Tyrannei, mit der der Steinhaufen Paris das weite offene Land bedrohte. Dass sie damals schon an Marat, dessen eigentlicher Aufstieg ja erst im Frühjahr 1793 begann, gedacht hat, ist nicht anzunehmen. Zunächst war am Himmel nur die Donnerwolke der Pariser Ochlokratie zu sehen, während der grosse Donnerer Jean Paul Marat vorerst unsichtbar im Gewölke thronte. Dass sie kurz nach dem eben zitierten Brief hinter dem ganzen Schreckenstheater auch den Regisseur witterte, dafür sprechen zwei Begebenheiten aus dem April 1793: erstens nämlich hat sie damals ihren ursprünglich auf Argentan lautenden Pass für Paris visieren lassen. Zum zweiten findet damals die Bretteville in Charlottes Bibel von Charlottes Hand im Buch Judith den Vers angestrichen: »Und Judith schmückte sich mit Spangen und Geschmeide und legte all ihren Schmuck an, und es gab ihr Gott der Herr die Gnade, dass sie so lieblich anzusehen war.« Das war, wohlgemerkt, drei Monate nach dem eben zitierten Brief und just zu der gleichen Zeit, als Marat mit seinen Brandartikeln, seiner 163 sensationellen Verhaftung und seiner noch sensationelleren Freilassung die Oeffentlichkeit und auch die von ihr gelesenen Girondistenblätter alarmierte. Gern will ich zugeben, dass sie damals schon gegen ihn Partei nahm und dass er ihr in ihren Judithträumen schon damals als der grosse Holofernes erschienen sein mag. Der eigentliche Entschluss, nach Paris zu fahren und ihn zu töten, ist offenbar in aller Klarheit erst zwei Monate später entstanden.

Der Juli erst brachte ihr das schicksalbestimmende Ereignis, als nach Caen achtzehn von den zweiunddreissig beim Girondesturz verhafteten Deputierten kamen, nachdem ihnen die Flucht aus Paris gelungen war. Sie hatten aus der Katastrophe des letzten Maitages nicht viel mehr als das nackte Leben gerettet, sie kamen nun in der Absicht, die Normandie und den ganzen konservativen Westen Frankreichs gegen das in Paris verbliebene jakobinische Rumpfparlament auszuspielen und diese abseitigeren Landstriche zum Sammelbecken einer gegen Paris in Marsch zu setzenden gegenrevolutionären Armee zu machen. Es waren die Girondisten Bergoing, Boukedoux, Buzot, Duchâtel, de Cussy, Gorsas, Guadet, Kervélégan, Larrivière, Lesage, Louvet, Meillan, Mallevant, Pétion, Salles, Valady und Lanjuinais, nebst ihrem Oberhaupt Barbaroux. Es waren Männer von Lebensart, Kultur und edler persönlicher Haltung. Charles 164 Barbaroux aber, ehedem Marats Schüler in der Optik, entstammte einer angesehenen Marseiller Familie und war von Hause aus bekannt mit den Forbin d'Oppède, von denen, wie wir uns erinnern werden, Alexandrine Forbin d'Oppède Charlotte in der Abtei als Freundin nähergetreten war. Ehedem ein schlanker und feuriger Mann, hatte Barbaroux in der Revolution sich rasch verbraucht. Geistig rege war er noch immer, und noch immer mochte ihn jene eigentümliche Aura umgeben, die ihm einst den Beinamen eines »Antinous der Gironde« eingetragen hatte. Sein Körper aber war gealtert und fett geworden, eine vorzeitige Gicht hinderte ihn bei Schritt und Tritt, und zum Liebhaber einer jungen Athene eignete er sich nun wirklich nicht mehr. Uebrigens waren alle achtzehn Herren vorzügliche Redner, und ihre zahlreichen gegen den Pariser Rumpfkonvent, gegen Robespierre und Marat gerichteten Proklamationen sind Meisterstücke politischer Beredsamkeit. Ihr Hauptquartier schlugen sie in der Intendanz auf, in deren weiter Halle zwei Steinpyramiden das Standbild Ludwigs XV. bewachen. Diese Intendanz lag und liegt an der Karmeliterstrasse. Von dort bis zum Grand Manoir, Rue St. Jean No. 148, waren es keine zweihundert Schritte. –

Was gelten diese Männer als politische Persönlichkeiten, und wie stehen sie, die zwei Monate später 165 das Revolutionstribunal und die Pariser öffentliche Meinung als Auftraggeber Charlottes bei Marats Ermordung angesprochen haben, in der Geschichte da?

Es ist zunächst zuzugeben, dass uns heute, inmitten einer neuen Weltenwende, der »girondistische Mensch«, ungeachtet des Girondesturzes vom 31. Mai 1793, als der eigentliche Nutzniesser der grossen Revolution und des von ihr ausgelösten Wirtschaftsliberalismus gelten muss. Es ist zuzugeben, dass er es war, für den Napoleon Austerlitz und Jena geschlagen hat, es ist zu bedenken, dass er bei Belle-Alliance nur militärisch geschlagen worden ist, dass er aber während des folgenden 19. Jahrhunderts die alten Ständestaaten Mitteleuropas ideologisch unterminieren und dass er aus dem grossen Weltkrieg hervorgehen konnte als der eigentliche Triumphator und scheinbare Neuordner einer ganzen Welt.

Es ist aber eben nicht zu vergessen, dass dieser heute mit Fug und Recht bitter kritisierte »girondistische Mensch« erst der Sohn oder gar der Enkel der Girondisten von 1793 ist. Es ist richtig, dass sie beide abstammen von jenem Urvater, der da Rationalismus heisst. Es ist richtig, dass sie beide längst abgenabelt sind von grossen Mutterkuchen der Irrationale, und es soll zugegeben werden, dass der ihnen vorschwebende Staat nicht mehr ein Reich mit Städten, 166 sondern nur noch eine Grossstadt mit einem Anhängsel von plattem Land sein konnte.

Es ist aber auch nicht zu vergessen, dass dieses im Jahre 1793 nördlich der Alpen ja noch unerprobte System dem damaligen Girondisten noch als ein hohes, mit Selbstlosigkeit und Todesbereitschaft gehütetes Ideal dort erschien, wo es seinem eigenen Enkel zum wirtschaftlichen Zweckverband wird. Im Munde der Enkel erscheint uns selbst das französische »Vive la nation« als ein Tarnungsmittel, hinter dem ein arriviertes Grossbürgertum seinen Machtanspruch auf den Staat verbirgt – im Munde der Gironde von 1793 klingt es noch ehern und stolz und todesfreudig wie einst das »Civis romanus sum« der Antike. Der Urbourgeois der Zolaschen Romane fürchtet nichts so sehr wie den Tod, der Girondist von 1793 aber hat in den Begriffen Vaterland und Nation den Ersatz für die gestorbenen gotischen Götter gefunden und ist für diese Begriffe in unnachahmlicher Würde gestorben. Ich erwähnte schon, dass die Vergniaud, Lasource, Ducos, Brissot und alle die übrigen in Paris verbliebenen Girondisten ihre letzte Nacht vor der Hinrichtung singend und in sokratischer Heiterkeit verbrachten, und in diesem Sinne ist ihre stoische Haltung so echt und so gross wie die der Charlotte Corday selbst. Ob sie freilich im Auftrag dieser 167 Männer gehandelt hat, ist ein Problem, das wir noch werden untersuchen müssen.

Charlottes Biograph Vatel hat uns einen Fingerzeig dafür gegeben, was sie in jenen Frühlingswochen des Jahres 1793, als die achtzehn Girondisten Caen betraten, beschäftigte. Vatel nämlich zitiert einen kurz nach Marats Ermordung von unbekannter Hand nach London geschriebenen Brief, nach dem sie sich gerade damals in ihrem Widerwillen gegen alles müssige Zuschauen und in ihrem verletzten Gerechtigkeitsgefühl all der Internierten, der Verfolgten und natürlich auch der ehemaligen und nun drangsalierten Mitschwestern aus dem Damenstift angenommen hat, und es passt diese damals von unbefangener Hand niedergeschriebene Behauptung ausgezeichnet zu dem, was wir heute wissen. Alexandrine Forbin d'Oppède nämlich, ihre alte Mitschwester aus der Abtei, war nach dem Noviziat Nonne in Troyes geworden, war nach der Aufhebung der Klöster in die Schweiz gereist, lebte dort in bitterer Not und verlangte von dort aus vergeblich die ihr nach dem Gesetz zustehende Pension: wir wissen aus den Papieren des französischen Innenministeriums, dass diese Stelle schon im Januar die Akten eingefordert hatte, ohne dass die Angelegenheit deswegen vom Fleck gekommen wäre.

168 Wir wissen nun, dass der erste der drei Gänge, die Charlotte in die Intendanz zu den dortselbst . . . man darf wohl sagen ›residierenden‹ Girondisten getan hat, der Angelegenheit Alexandrine Forbin gegolten hat. Jede erotische Ausdeutung dieser Besuche verflüchtigt sich sehr bald, wenn man Ursache und Verlauf genauer betrachtet. Sie hat, nach eigener Prozessaussage, nur girondistische Blätter gelesen, sie las jetzt, wie wir wissen, mit weit geöffnetem Auge die gegen Robespierre und Marat gerichteten Manifeste der Achtzehn, und dass deren altrömisches Republikanertum mit allen catonischen Tugenden ihr diese Männer als die geeignetsten Fürsprecher erscheinen liess, liegt wahrhaftig nahe. Es bedarf also, schon auf den ersten Blick, keiner rosaroten Liebesgeschichte, um diese drei Gänge auf die Intendanz von Caen zu erklären. Um so weniger übrigens, als wir wissen, dass sie zumindest bei dem ersten und dritten, wahrscheinlich aber auch bei dem zweiten, in allen Ehren von dem Diener der Bretteville, Leclère, begleitet war.

Wir kennen den Verlauf dieser Unterredungen genau. Die erste findet im grossen Saale der Intendanz statt, wo Barbaroux eben mit Guadet und Meillan konferiert. Da sie sich nur bei Barbaroux, dem Führer der Achtzehn, hat melden lassen, erheben als wohlerzogene Männer sich die letztgenannten 169 beiden Herren und lassen ihren Freund Barbaroux mit der schönen Bittstellerin allein. Das Weitere verläuft dann so, dass Barbaroux sich die Angelegenheit Forbin kurz vortragen lässt, sich Notizen macht und zur Sache bereitwilligst einen Brief an seinen in Paris verbliebenen Gesinnungsgenossen und Freund Lauze-Duperret und dessen Intervention beim Minister verspricht. Charlotte bittet er, in acht oder zehn Tagen Duperrets Antwort sich in der Intendanz zu holen, und damit ist die Unterredung, die fünf oder sechs Minuten gedauert hat, zu Ende. Hier erst stossen wir auf ein dunkles und zur Stunde nicht völlig geklärtes Rätsel.

In der Tat ist sie nach etwa zehn Tagen, also etwa am 30. Juni, wiedergekommen, erfährt, dass Duperrets Antwort ausgebliebenDer Brief hat Duperret nie erreicht. Eigentlich erscheint ja wohl Barbaroux' Annahme, es werde unter den bekannten Umständen ein von Caen aus an einen Girondisten gerichteter Brief den Empfänger erreichen, beinahe naiv. ist, und überrascht nun Barbaroux mit dem erstmalig in dieser Stunde ausgesprochenen Entschluss, nach Paris zu fahren und selbst beim Minister vorzusprechen. Alle Aussagen, die wir kennen, bestätigen diese Tatsache.

Wir kommen also zu dem zwingenden Schluss, dass in diesen Tagen ihr Mordplan gereift war, und wir werden wohl oder übel zu untersuchen haben, wie 170 er so plötzlich entstehen konnte und ob wir eine Anstiftung durch dritte zu vermuten haben. Die Möglichkeit, dass sie ihren Entschluss als Freundin eines der Girondisten oder gar als Geliebte des Barbaroux fasste, erledigt sich sehr rasch, weil sich ja das Zusammensein mit allen diesen Männern auf wenige Minuten reduziert; weil ein Mädchen ihrer Herbheit in so kurzer Zeit kaum zu gewinnen war, weil gerade Barbaroux als Mann kaum ihren Idealen entsprochen hat, weil endlich ihr an ihn kurz vor der Hinrichtung geschriebener Brief in allen persönlichen Dingen zwischen Schreiberin und Empfänger den weitesten Abstand legt und auch nicht mit einem einzigen Wort die persönliche Note der liebenden Frau anklingen lässt.

Die zweite Möglichkeit aber – dass sie nämlich auch ohne gleichzeitige Liebesgeschichte im Auftrage dieser Männer gehandelt hat, erscheint nicht weniger abwegig. Sie ist, wie wir sehen werden, auf der Intendanz dreimal, und jedesmal für kurze Zeit erschienen, und kein bislang bekanntgewordenes Zeugnis hat, obwohl in Caen nach der Mordtat an Zeugenvernehmungen wirklich das Menschenmögliche geleistet wurde, diese Zahl ihrer Besuche erhöhen oder den Girondisten Besuche im Grand Manoir nachweisen können. Seit wann aber schmiedet man derartige Komplotte von solcher Tragweite in flüchtiger 171 Unterredung, seit wann beauftragt man mit ihrer Durchführung eine unbekannte junge Dame, von der man nicht einmal weiss, ob sie zur Tat den erforderlichen physischen Mut mitbringt?

Wir wissen anderseits, dass Barbaroux, wie wir noch hören werden, geradezu entsetzt gewesen ist, als er bei der zweiten Unterredung von ihrer bevorstehenden Pariser Reise hörte – wir wissen, dass er zunächst alles getan hat, ihr den unglücklichen Plan auszureden. Wir wissen aber sonst von diesen zehn Tagen nichts, und wir kommen zu dem Schluss, dass sie in dieser Zeit so einsam wie je war und dass in dieser tödlichen Einsamkeit urplötzlich alles in ihr ausreifte. –

In jener todesnahen Einsamkeit, in der sie mit ihren geliebten Schemen seit jeher gelebt hatte. Im jähen Durchbrechen der Tatenlosigkeit und in jener schauerlichen Automatie, mit der die Weltgeschichte, wenn sie sich zur gewaltsamen Operation erst einmal entschlossen hat, über Nacht auch ihr Werkzeug sich schmiedet. Dass Charlotte gerade auf Marat und nicht auf einen anderen Montagnard . . . Robespierre, Danton oder Chabot verfiel, erscheint dabei weit weniger seltsam als dass sie, die bislang so wohlbehütete junge Dame, überhaupt so blitzartig zu einer Tat sich entschloss, die, in der Auswirkung für sie, beinahe auf einen Selbstmord hinauskam. Was Marat anbetrifft, 172 so hatte er in den letzten Monaten sich selbst zum Hahn auf dem Kirchturm gemacht, die girondistischen Zeitungen, die sie las, nannten ihn täglich, nannten ihn sozusagen in jedem Artikel den Vater aller Sünde und den Verderber Frankreichs. Und sie selbst hat später bei ihrer Vernehmung ja angegeben, dass sie durch die Zeitungslektüre seit dem Girondesturz auf ihn aufmerksam geworden war. –

Dass sie aber so urplötzlich, nach vierjährigem Zusehen und vierjähriger Tatenlosigkeit, in eigenster Initiative und gewissermassen von heute auf morgen zur Tat sich entschloss, bleibt, wie man die Dinge auch betrachtet, umwittert von einem grossen Geheimnis der Seele, und man mag alles – ihre Erinnerung an so viele gemordete Freunde, ihre pathetischen Freiheitsideale und selbst ihre geheime Todessehnsucht – übereinander kopieren: man gewinnt von diesen zehn Tagen genau so wenig ein klares Bild wie von jener geheimnisvollen Wandlung, die ein Jahr später sich in der Seele des Pariser Massenmenschen vollzieht und die Katastrophe des zehnten Thermidor auslöst. Es gibt eben in der Geschichte eine ganze Reihe solcher Wandlungen, die wir Nachgeborenen nur durch einen Hinweis auf ihre schaurige und erbarmungslose Teleologie zu erklären vermögen. Der widersinnigen Tatsache, dass ein an Leib und Seele Gezeichneter wie Jean Paul Marat Herr über 173 Frankreich zu werden drohte, konnte diese Geschichte in ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit wohl eine Weile zusehen und in Caen ihr späteres Werkzeug hindämmern lassen in scheinbarer Passivität. Ist aber die kosmische Stunde gekommen, so fährt der Entschluss in die Seele des »Mediums« wie der Blitz, und erst später, nach vollzogener Tat, denkt die Umgebung solchen Menschenkindes zurück an die eigentliche Aura der Todesbereitschaft und der Entrücktheit, von der es immer umgeben war. Geträumt wie diese hat auch ihre Schwester im Geist, die Jeanne d'Arc hiess. Und über Nacht und aus unbekannter Höhe war eines Tages auch auf sie das Feuer des Entschlusses gefallen, und sie war ausgezogen, Frankreich zu retten und zu sterben. –

Wir gewinnen den Faden der Geschichte in dem Augenblick wieder, wo sie zum zweitenmal bei Barbaroux auf der Intendanz erscheint, um Lauze Duperrets Antwort abzuholen. Das geschieht am 30. Juni oder am 1. Juli und zeitigt zunächst eine Enttäuschung. Die Antwort Duperrets ist, nachdem offenbar die Polizei Barbaroux' in Sachen Forbin geschriebenen Brief abgefangen hat, nicht eingetroffen, und da dem so ist, überrascht diese junge schöne Besucherin Barbaroux mit dem Entschluss, selbst nach Paris zu fahren und in Sachen Forbin beim Minister selbst vorzusprechen.

174 Barbaroux ist entsetzt und beteuert, es werde solches Erscheinen im Ministerium alles verderben, und nur mit Mühe kann er sie zu einem anderen Vorhaben bestimmen: soll nämlich schon durchaus nach Paris gereist werden, so soll sie wenigstens nicht persönlich beim Minister vorsprechen. Es soll vielmehr an ihrer Stelle Duperret dorthin gehen, für den Barbaroux ihr einen Brief mitgeben wird. Dies ist Barbaroux' Vorschlag, und sie willigt ein und stellt lediglich eine Bedingung: als Gegenleistung nämlich will sie nun alle Aufträge ausführen, die Barbaroux und seine Leute für Paris und die dortigen Gesinnungsgenossen haben sollten. Das verlangt sie, und das wird ihr auch gewährt. Barbaroux ist einverstanden und verspricht, ihr demnächst ein ganzes Briefpaket für diese Pariser Freunde auszuhändigen. Und damit ist auch diese zweite Unterredung beendet.

Von dieser Stunde an lassen sich, nicht zuletzt kraft der nach dem Morde in Caen gewonnenen Untersuchungsprotokolle, ihre Spuren immer deutlicher verfolgen. Sie weiss nun, wohin ihr Weg führt, und weiss auch, dass sie von dieser Reise nie zurückkehren wird. Am 5. oder 6. Juni erscheint sie in dem Caen benachbarten Verson bei ihrer Tante Gautier, trifft sie gerade beim Lüften junger Erbsschoten, und es kommt hier, in der Küche, zu einer hochdramatischen 175 Szene. Da der Gautier das aufgeregte und verstörte Wesen der Nichte auffällt, schickt sie die anwesende Köchin fort. Als sie dann aber in die Nichte dringt, greift Charlotte in letzter Erregung in die Schüssel mit den Erbsen, greift eine Handvoll und schleudert sie zur Erde . . .

Umarmt stürmisch die alte Frau und läuft, ohne mit einem Wort ihr Benehmen zu erklären, davon.

Das hat sich am fünften oder, wahrscheinlicher, am sechsten Juli vollzogen, und weder die Geliebte Barbaroux' noch die Teilhaberin eines girondistischen Komplottes hätte Zeit verloren mit solchem Tantenbesuch. In der diesem Tage folgenden Nacht hört man sie lange auf ihrem Klavier leidenschaftliche Akkorde greifen und hört sie noch stundenlang auf und ab gehen. Eine Bedienerin trifft sie in ihrem Zimmer an, als sie im Kamin Briefe verbrennt.

Am Sonntag, dem siebenten, sieht man sie bei der Parade, die der General Wimpffen, übrigens in Anwesenheit der Girondisten, über die Nationalgarde abhält, und nach dem Morde erzählen sich aufmerksame Beobachter, es hätten ihre Augen sich mit Tränen gefüllt, als Wimpffen für die in Evreux sich sammelnde gegenrevolutionäre Armee Freiwillige aufrief und nur siebzehn Mann vortraten. Wichtiger erscheint eine Szene, die der damals fünfzehnjährige Charles Lunel, der Sohn des im Erdgeschoss des 176 Grand Manoir hausenden Tischlers, an die sechzig Jahre später Chéron de Villiers mitgeteilt hat, und an die Lunel der Sohn sich noch als alter Mann und zu einer Zeit erinnert, als der dritte Napoleon Kaiser der Franzosen ist und am politischen Horizont sich schon die Schatten der deutsch-französischen Auseinandersetzung von 1871 abheben . . .

Danach also wäre sie an jenem Sonntagvormittag bei Lunels gerade mit Kartenspiel beschäftigten Eltern erschienen, hätte mit Lunel dem Vater ein ziemlich bewegtes politisches Gespräch begonnen, mehrfach Marats Namen erwähnt und, die Faust ballend, dieses Gespräch mit dem leidenschaftlichen Ausruf beendet, »er sei vorerst noch nicht der König von Frankreich, dieser Marat«. Auch bei der Bretteville fällt an diesem Vormittag die Bemerkung, dass sie, Charlotte, »Frankreich und alle ihre Lieben bitterlich beklage, da ja niemand sicher sein könne, solange Marat lebe«.

Am Nachmittag aber erscheint sie auf der Intendanz, um den für Lauze Duperret bestimmten Brief abzuholen, und es spricht nicht weiter für ein zwischen ihr und den Girondisten vereinbartes Komplott, dass Barbaroux diesen ihr doch zugesagten Brief zur Stunde noch gar nicht geschrieben hat . . .

Dass er fatalerweise sich jetzt erst dieser Briefangelegenheit erinnert und dass ihm nichts anderes übrigbleibt, als sich zu entschuldigen und den Brief 177 für den nächsten Tag zuzusagen. Gibt es aber ein Beweismittel, das gegen diese hohle und auch von ernsthaften Historikern aufgegriffene Hypothese von einer Liebschaft Barbaroux–Charlotte verwendet werden kann, so ist es gerade dieser letzte Besuch auf der Intendanz von Caen. Ein Liebespaar nämlich hätte vor solcher Reise ja wohl das Bedürfnis nach Alleinsein gehabt – gerade aber dieses dritte und letzte Zusammentreffen der beiden vollzieht sich im grossen Salon der Intendanz in Gegenwart der übrigen Girondisten, und noch später erinnert sich Louvet »dieser Person voll Süssigkeit und Stolz«, die damals, übrigens auch dieses Mal begleitet von ihrem Diener, eingetreten sei. Von dem recht unpersönlichen Gespräch, das sich an die Erörterung des bewussten Duperret-Briefes anschliesst, kennen wir ziemlich charakteristische Einzelheiten: Als Pétion in französischer Artigkeit ihr Elogen sagt und sie »notre belle aristocrate« nennt, fährt sie ihm über den Mund. »Sie kennen mich noch nicht, Bürger Pétion, ich sehe aber den Tag kommen, wo Sie wissen werden, wer ich bin.« So spricht kein verliebtes junges Ding. So spricht eine Frau, die ihre Leidenschaft dafür verbraucht, um mit starker Hand selbst einzugreifen in die Dinge der Männer. –

Der so lange versprochene Brief, den Barbaroux endlich an diesem Nachmittag schreibt, ist uns 178 erhalten, liegt heute im Pariser Nationalarchiv, hat seinerzeit im Corday-Prozess die Untersuchungsbehörde passiert und trägt je einen VermerkVermerk von Duperrets Hand: »Je certifie, que c'est la lettre de Barbaroux.«
    Chabot fügt am Briefschluss hinzu: »Ne varietur.«
des Empfängers Duperret und des Jakobiners Chabot, der sich ja in seiner Eigenschaft als Mitglied des Sicherheitsausschusses, wie wir schon sahen, eifrig an der Voruntersuchung beteiligt hat. Er ist trocken, sachlich und klingt recht unverfänglich, dieser Brief . . .

»Ich schicke Dir, lieber, guter Freund, einige DruckschriftenSie wurden, wie wir gleich hören werden, Charlotte nach Paris mitgegeben., die verbreitet werden sollen. Die von Sales über die Verfassung wird am meisten wirken, und ich werde Dir bei der ersten guten Gelegenheit eine entsprechende Menge von Exemplaren zusenden.

Ich schreibe Dir über Rouen, um Dich für eine Angelegenheit zu interessieren, die eine Mitbürgerin angeht. Es handelt sich darum, aus dem Ministerium des Innern Aktenstücke zu holen, die Du mir dann nach Caen schicken sollst. Die Ueberbringerin dieses Briefes ist selbst interessiert an der Sache, die mir selbst so gerecht erscheint, dass ich nicht gesäumt habe, meinerseits lebhaften Anteil daran zu nehmen. Leb wohl, 179 ich umarme und grüsse Deine Tochter und alle Freunde. Gib mir Nachricht über die Deinen. Hier geht alles gut, wir werden bald unter den Mauern von Paris erscheinen.

Caen, am siebenten Juli 1792,

        im zweiten Jahre der geeinten und unteilbaren Republik.«

Eine Unterschrift fehlt, und nur aus der Handschrift liess sich Barbaroux' Verfasserschaft entnehmen. Im übrigen zeugt auch dieser Brief gegen die Annahme eines Komplottes. Der Chef einer Verschwörung, an der Charlotte beteiligt war, hätte wissen müssen, dass sie nicht über Rouen reiste. Und wenn wir auch nicht das kleine Begleitzettelchen kennen, mit dem Barbaroux den Brief und die Druckschriften am Montag, dem achten Juli, ins Grand Manoir geschickt hat, so können wir doch gerade aus diesem Duperret-Briefe schliessen, dass ein geheimer und uns unbekannt gebliebener Parallelbrief an Duperret nicht geschrieben worden ist und dass der eben zitierte alles umfasst, was zwischen Barbaroux und Charlotte für diese Pariser Reise verabredet worden war. Hätte nämlich das eben zitierte Billett nur eine für die Augen der Pariser Polizei bestimmte Tarnung dargestellt – was hat den Schreiber dann wohl veranlasst, im diesem Tarnbriefe auch diese 180 gefährlichen, der Ueberbringerin mitgegebenen Druckschriften zu erwähnen?

Sie hat das gesamte Paket am Montagabend erhalten, sie hat Barbaroux' kleinen Begleitbrief verbrannt – unter den eben geschilderten Umständen kann er wirklich nicht mehr als einen Dank für die freundwillige Besorgung und ein paar belanglose Redensarten enthalten haben. Die Schnellpost Caen–Paris aber ging dreimal wöchentlich, am Dienstag, Donnerstag und Samstag, und so liess sie sich noch am Nachmittag des Montags einen Platz reservieren und schaffte ihr unbedeutendes Gepäck zum Posthof. Es gibt in jenen Tagen in Caen keinen Sterblichen, dem dieses starke und in ihrem tödlichen Vorhaben so unsäglich vereinsamte Geschöpf auch nur eine Silbe über den Zweck ihrer Pariser Reise mitteilt. –

Einen Pass hat sie sich schon im April, ehe der Girondesturz ihr diesen Marat als den grossen Verderber Frankreichs erscheinen liess, besorgt – damals mag der Ueberdruss an der Enge der Landstadt und das erste vage Verlangen nach irgendeiner noch so bescheidenen Rolle auf der grossen Bühne des Vaterlandes ihr auch den ersten Gedanken nach Flucht aus der Untätigkeit und aus der Beschränktheit eingegeben haben. Hier folge das heute im Nationalarchiv liegende Dokument . . . 181

Vaterland – Freiheit – Gleichheit.
Departement Calvados.
Distrikt Caen.

 

Bitte um ungehinderte Passage für Marie Corday aus Mesnil-Imbert, jetzt wohnhaft zu Caen im Departement Calvados.

Alter: 24 Jahre.

Grösse: 5 Fuss, 1 Zoll.

Haare: Braun.

Augen: Grau.

Stirn: Hoch.

Nase: Lang.

Mund: Mittelmässig.

Kinn: Rund, mit Grübchen.

Gesichtsform: Oval.

Ausgestellt zu Caen, 8. April 1793, im 2. Jahre der Republik, durch Fissez I., städtischen Beamten.

   Ausgeliefert:
Héni, Schreiber.

Unterzeichnet:
Marie Corday.

Vermerk auf der Rückseite: Visiert für eine Reise nach Paris im Rathause zu Caen.

Caen, 23. April 1793.

gez.:              
Enguellard,        
Städtischer Beamter.

182 Das Visum vom 23. April ist jedenfalls der wichtigste Bestandteil des ganzen Dokumentes. Ist nämlich der Plan zu einer in Paris zu verübenden Gewalttat in voller Schärfe nicht erst, wie oben angenommen, in den letzten zehn Junitagen, sondern schon im April entworfen: gäbe es dann einen schlüssigeren Beweis gegen die Hypothese von einer Anstiftung durch diese Girondisten, die im April ja als wohlbestallte Deputierte in Paris sassen, Caen nie betreten und, anfangs April wenigstens, eine Hoffnung auf eine gütliche Einigung mit den Jakobinern noch nicht aufgegeben hatten?

Dieser in der gesamten Literatur befremdlicherweise noch nie erhobene Einwand erhellt die ganze Unsinnigkeit eines girondistischen Mordanschlages gegen Marat. Hat sie aber den Entschluss zu dieser das eigene Leben vernichtenden Opfertat wirklich schon im April gefasst, so hat sie eben nicht zehn Tage, sondern fast drei volle Monate geschwiegen. Und dann haben wir eben noch mehr Grund, die Charaktergrösse einer Frau zu bewundern, deren Seelenstärke die von drei Männern aufwog. –

Das grosse Schweigen aber umgibt sie bis zur letzten Minute wie ein Königsmantel. Kein andeutendes Wort fällt, als sie Frau von Mâlifatre, der letzten Angehörigen des in alle Winde versprengten Faudoas-Kreises, ihren Abschiedsbesuch macht, und die 183 tabische und seit einiger Zeit an ihren Rollstuhl gefesselte Frau von Bretteville erhält, als sie sie aufsucht, nur die lakonische Auskunft, dass sie nach Argenton zum Vater reise.

Der noch ausstehende Abschied von dem alten Corday kommt notwendigerweise auf ein schriftliches Lebewohl hinaus.

»Ich schulde Ihnen, teuerster Papa, Gehorsam, und reise nun doch ohne Ihre Erlaubnis und reise sogar, ohne Sie gesehen zu haben, weil der Schmerz allzu gross wäre. Ich gehe nach England, weil ich daran verzweifele, in Frankreich in Glück und Frieden leben zu können. Ich gebe diesen Brief in der Stunde meiner Abreise zur Post, und wenn Sie ihn erhalten, bin ich schon ausser Landes. Der Himmel versagt uns nun einmal das Glück des Zusammenlebens, wie er manches andere uns versagt hat. Er wird über unserem Vaterlande vielleicht gnädiger walten als über uns.

Leben Sie wohl, mein lieber Papa, umarmen Sie an meiner Statt meine Schwester und vergessen Sie mich nicht.

Am neunten Juli.

Corday«

Das ist einerseits die alte strenge, im Verkehr zwischen Eltern und Kindern vorgeschriebene Form 184 und ist anderseits mit dieser vorgeschützten Englandreise eine unvermeidliche Notlüge. Das lakonische, den vertrauten Vornamen auch hier vermeidende »Corday« aber steht auch unter diesem letzten Brief der Tochter, es klingt unwiderruflich wie das Zuschlagen einer schweren Tür, durch die ein Kind für immer fortgegangen ist von dem vereinsamenden Vater. Und so ist sie selbst in der Stunde, da sie diesen Brief aufgibt, fertig mit ihrem jungen Leben.

Gezeichnet vom Leben, obwohl sie hinfort, wie wir sehen werden, in ihrem Handeln selbst etwas von der stählernen Unerbittlichkeit des Todesengels hat. Am nächsten Morgen noch ordnet sie ihre Bücher und ordnet peinlich ihr Mädchenzimmer. Dann nimmt sie einen ihre eigenen Zeichnungen enthaltenden Karton und steigt langsam die Treppe des Grand Manoir herab. Auf der letzten Stufe sitzt gerade der junge Lunel, und als sie ihn bemerkt, bleibt sie stehen und umarmt und küsst den schönen Knaben, der mit seinen fünfzehn Jahren den Kuss einer schönen Frau schon zu vermerken weiss und späterhin wohl das einzige Wesen ist, das eines Kusses dieser jungen Minerva sich rühmen darf . . .

»Nimm die Schachtel, sie ist für dich. Umarme mich und werde mir ein kluger Junge.«

Es sind die letzten Worte, die ein Einwohner ihrer Jugendstadt aus ihrem Munde gehört und vermerkt 185 hat. Als um zehn Uhr vormittags die sechs Pferde der grossen Pariser Eilpost anzogen, mochte in Paris Jean Paul Marat in seinem Tagebuch gerade jenen schon zitierten Satz eingetragen haben, in dem er spöttisch und bitter von dem baldigen Eintreffen der Girondisten spricht.

Er war in diesem Augenblick eigentlich schon ein toter Mann.

 


 


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