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12. Der Staat.

Kein Volk ist ohne politische Organisation, mag sie so locker sein wie bei den Buschmännern, deren kleine, zu Jagd oder Raub sich zusammenschließende Trupps zeitweilig ohne Führer sind, oder wie bei anderen heruntergekommenen, versprengten Stämmen, bei denen oft nur Aberglaube und Gewohnheit die Stämme zusammenhalten. Was die Soziologen »Individualismus« nennen, hat man noch nirgends auf der Welt als Völkereigenschaft gefunden. Rasch bilden sich aus dem Zerfall alter Völker immer wieder neue. Stets ist dieser Prozeß im Gange: »Jeder einzelne Stamm ist gewissermaßen nur eine vorübergehende Erscheinung, er wird in der Folge entweder von einem anderen mächtigeren verschlungen, oder zerspaltet sich im glücklicheren Falle in mehrere kleinere Horden, wovon die eine hierin, die andere dorthin zieht, die nach einigen Generationen nichts mehr voneinander wissen.« ( Lichtenstein.) Diese politischen Veränderungen tragen stets den Charakter einer Umkristallisierung, nicht einer formlosen Zersetzung. Die Organisation ist nur selten von langer Dauer. Es gehört zu den Merkmalen des Kulturmenschen, daß er sich an den Druck der Gesetze gewöhnt, an deren Erfüllung er auch praktisch interessiert ist. Wenn sich aber bei Negern ein verhältnismäßig geordnetes Staatswesen begründet hat, thut sich an seinen Grenzen immer bald ein anderes Gemeinwesen auf, aus Angehörigen desselben Stammes, die die Ordnung nicht ertragen; und dieser gesetzlose Auswurf zieht oft aus der Freiheit von jedem gesetzlichen Bande und jeder Rücksicht auf Stammbeziehungen und selbst aus der Ächtung, die ihm die Kühnsten und die Besitzlosen von allen Nachbarstämmen zuführt, eine Kraft, die aus dem Räuberstamm ein Volk von Eroberern, Staatengründern und Herrschern machen kann. Raub und Eroberung gehen leicht ineinander über. In allen Ländern, deren Geschichte wir kennen, haben Räuberstämme eine geschichtlich bedeutsame Rolle gespielt.

Das meiste, was wir von der Geschichte der Naturvölker kennen, ist Kriegsgeschichte. Die erste Einführung der Gewehre, die unbedeutende Mächte in die Höhe schnellen ließ, bezeichnet den schärfsten Abschnitt in der Geschichte aller Negerstaaten. Was Wissmann von den Kioko sagt: »Mit ihnen kam das Gewehr und damit die Bildung mächtiger Reiche«, das gilt von allen. Ist nicht dieser beständige Kampf der Urzustand in niedrigster Erscheinung? Man kann hierauf antworten, daß bis heute ja auch unser Friede immer nur ein bewaffneter gewesen ist. Aber bei uns unterbrechen heftige Ausbrüche des Kampftriebes längere Ruhepausen, die durch die Kulturverhältnisse geboten sind; dort wird sehr oft ein unserem mittelalterlichen Faustrecht ähnlicher Zustand dauernd. Dabei darf aber hervorgehoben werden, daß es auch friedliche Völker und friedliebende Herrscher unter Naturvölkern gibt. Vergessen wir nicht, daß die blutigsten und verderblichsten Kriege der Naturvölker nicht die waren, die sie untereinander, sondern die, die sie mit den Europäern führten, und daß nichts Gewaltthätigkeit und Grausamkeit in so hohem Grade unter ihnen angefacht hat als der durch die Gewinnsucht höher zivilisierter Fremden angeregte Sklavenhandel mit seinem schauderhaften Gefolge von Sklavenjagden.

Aber dieser Kampfzustand schließt staatliche Ordnung nicht aus, sondern ruft sie hervor. Er ist nicht mehr bellum omnium contra omnes, sondern stellt vielmehr eine Entwickelungsphase des längst schon staatenbildenden Völkerlebens dar. Der wichtigste Schritt aus der Roheit zur Kultur ist die Loslösung der Einzelmenschen aus der gänzlichen oder zeitweiligen Vereinzelung oder Vereinsamung. Alles, was darauf hinwirkt, neben den Familien Gesellschaften zu schaffen, war von großartigster Wichtigkeit in den frühesten Stadien der Kulturentwickelung. Und hier bot die bedeutendsten Anregungen der Kampf mit der Natur im weitesten Sinne. Der Erwerb der Nahrung mochte in erster Linie Verbindungen schaffen in der gemeinsamen Jagd, noch mehr im gemeinsamen Fischfang. Bei diesem ist nicht der letzte Vorteil die Disziplinierung der Mannschaften, die sich in den größeren Fischerbooten einen Anführer wählen, dem unbedingt zu gehorchen ist, da vom Gehorsam jeglicher Erfolg abhängt. Die Regierung des Schiffes erleichtert dann die des Staates. Im Leben eines gewöhnlich völlig zu den Wilden gerechneten Volkes wie der Salomon-Insulaner ist unzweifelhaft das einzige kräftezusammenfassende Element die Schifffahrt. Der Ackerbauer wird wohl nie einen so großen Antrieb zur Vereinigung in sich empfinden, da er isoliert lebt. Allein auch er hat Motive der Zusammenschließung. Er hat ein Besitztum, und in diesem Besitztum steckt ein Kapital von Arbeit. Da diese Arbeit nicht wieder verrichtet zu werden braucht von dem, der dieses Besitztum erbt, so ergibt sich die Kontinuität des Besitzes und damit die Wichtigkeit der Blutsverwandtschaft von selbst. Wir finden zweitens mit dem Ackerbau die Tendenz zu dichterer Bevölkerung verknüpft. Indem nun diese Bevölkerung einander näher rückt, sich abgrenzt, erwirbt sie, wie jede Anzahl von Menschen, die auf demselben Fleck Erde lebt, gemeinsame Interessen, und es entstehen die kleinen, zwerghaften Ackerbaustaaten. Beim Hirten, beim Nomaden geht die Staatenbildung rascher vorwärts, in demselben Maße, als das Bedürfnis nach Zusammenschluß reger ist und weitere Räume umfaßt. Das liegt ja im Wesen seiner Beschäftigung. Während also hier sofort die Familie von größerer Wichtigkeit wird als dort, ist dagegen die Möglichkeit dichterer Bevölkerung ausgeschlossen. Aber der Besitz braucht hier größeren Schutz, und ihn gewährt der Zusammenschluß, zunächst der Familie. Es ist wirtschaftlich vernünftiger, wenn viele von einer großen Herde leben, als wenn diese Herde in viele Teile zerteilt wird. Eine Herde ist leicht zu zerstreuen, man muß sie mit Macht zusammenhalten. Es ist daher kein Zufall, daß nirgends die Familie zu so großer politischer Bedeutung gelangt wie bei den Nomaden. Das patriarchalische Element findet hier seine entschiedenste Ausprägung, und wie im Jägerstaat der Stärkste der Mittelpunkt ist, so wird es im Hirtenstaat der Älteste.

Man ist geneigt, dem Despotismus als einer im Vergleich zum Rechtsstaat niedrigeren Entwickelungsform ein sehr hohes Alter zuzuweisen, und glaubte einst die Anfänge staatlichen Lebens in seinen Formen sich bilden zu sehen. Dem widerspricht aber von vornherein die Thatsache, daß der Despotismus im Gegensatz zu dem gentilischen oder patriarchalischen Ausgangspunkt dieser Staatenbildungen steht. Der Familienstamm hat allerdings einen Leiter, meist den Ältesten; aber außerhalb der Kriegszüge ist dessen Macht fast Null: seine Überschätzung ist eine der häufigsten Quellen von politischen Fehlern der Weißen. Die nächsten Angehörigen des Häuptlings stehen ja nicht tief genug unter ihm, um unterschiedslos in der Masse der beherrschten Bevölkerung aufzugehen. Sie allein schon drängen auf einen mehr oligarchischen Charakter der Regierung hin. Der sogenannte »Hofstaat« afrikanischer oder altamerikanischer Fürsten ist wohl immer der Rat, der den Fürsten bei öffentlichen Anlässen umgibt. Die Willkürherrschaft, deren Spuren wir dennoch überall bei Völkern auf niederer Stufe begegnen, auch wo die Regierungsform republikanisch ist, hat ihren Grund nicht in der Stärke des Staates oder Häuptlings, sondern in der moralischen Schwäche des Einzelnen, der fast widerstandslos der über ihm waltenden Macht anheimfällt. Trotz der Tyrannei einzelner durchdringt ein demokratischer Zug die Staatseinrichtungen der Naturvölker. Vor allem konnte es nicht anders sein in einer Gesellschaft, die sich auf der blutsverwandten, gemeinbesitzenden Gens mit Mutterrecht aufbaute. Ohne Zweifel lag aber darin auch ein Grund der Rückständigkeit.

Eine mächtige Stärkung erfährt die Herrschermacht durch die Verbindung mit dem Priestertum. Neigung zur Theokratie ist allen Staatenbildungen eigen, und sehr oft übertrifft die Bedeutung des Priesters die des Regenten im Häuptling. Die schwachen Häuptlinge Melanesiens stellen das mystische Duk-Duk-System in ihre Dienste, um nicht ganz machtlos zu werden, und in Afrika gehört es zu den Funktionen des Häuptlings, durch Zauber sein Volk zu entsühnen, wenn es der Zorn überirdischer Mächte getroffen, ihm Vorteile jeder Art herbeizubeten und herbeizuzaubern; was nicht verhindert, daß ein im Besitz großer Fetische stehender Priester den Einfluß des Häuptlings in den Schatten stellt. Der Übertritt zum Christentum hat die Macht der einheimischen Häuptlinge fast immer zerstört, wenn sie nicht die Masse mit sich zu ziehen wußten. Aber gerade das religiöse Motiv hat sogar die Achtung vor Häuptlingskindern erhalten, die in die Sklaverei gefallen waren.

Mit der Zauberkraft verbindet sich zur Steigerung der Macht des Häuptlings das Monopol des Handels. Indem der Häuptling der Vermittler des Handels ist, bringt er alles in seine Hand, was seinen Unterthanen begehrenswert ist, und wird der Spender guter Gaben, der Erfüller der heißesten Wünsche. Dieses System findet in Afrika seine höchste Entwickelung, wo der reichste und freigebigste der beste unter den Häuptlingen ist. In ihm liegt sicherlich eine Quelle großer Macht und manchmal auch wohlthätiger Wirkungen. Denn gerade hier ist nicht zu übersehen, daß eine der hervortretendsten Anregungen zu Fortschritten oder, sagen wir vorsichtiger, zu Änderungen im Kulturbesitz eines Volkes im Willen hervorragender Einzelnen zu suchen ist. Wir finden aber auch Häuptlinge, die ihre Macht auf der Grundlage einer überragenden Kenntnis oder Fertigkeit befestigen. Der von Livingstone so anziehend geschilderte Manyema-Häuptling Moenekuß ließ seine Söhne eifrig das Schmiedehandwerk lernen, und der Namaqua-Häuptling Lamert war selbst der tüchtigste Schmied seines Volkes. Selbstverständlich ist es aber die Kriegskunst, deren Verständnis am höchsten bei einem Häuptling geschätzt wird. Salomonischer Weisheit der Rechtsprechung bedarf er vielfach nicht, weil die Schuldigen in allen schwereren Klagefällen durch Zauber ermittelt werden, und weil gewöhnlich in der Rechtsprechung der Volksrat mitwirkt. Wie indessen auch die Stellung der Häuptlinge sein mag, vergleichbar mit der aus dem Kulturreichtum eines europäischen Volkes hervorgehenden Macht ist sie niemals, und es wäre zu wünschen, daß die Reisebeschreiber mit mehr Diskretion Worte wie König, Palast u. dgl. verwendeten. Nur bei den Kriegshäuptlingen ist fürstlicher Prunk üblich; die anderen unterscheiden sich oft kaum von ihren Leuten.

Rechtssatzungen hat jedes Volk, und zwar schwanken sie bei den meisten Naturvölkern auf der Grenze der Selbsthilfe und des Abkaufs der Schuld. Von der Majestät des Gesetzes ist nicht die Rede, sondern von der Entschädigung des durch das Verbrechen zu Schaden Gebrachten. Im malayischen Recht gilt z. B. die Selbsthilfe überall bei Ertappung auf frischer That, wo selbst die Tötung des Diebes gestattet ist, während darüber hinaus der Abkauf, d. h. die Geldstrafe, geboten ist; ähnlich bei den Negervölkern. Der Gewaltthätigkeit ist überhaupt ein großer Raum gelassen, bei Niederen wie Höheren, und je nach der Abwehr, die sie findet, engt sie die Einzelsphären ein. Die Blutrache ist in verschiedenen Graden bei allen Naturvölkern zu finden. Sie erreicht eine fürchterliche Ausdehnung bei den Polynesiern und Melanesiern.

Die Kriege der Naturvölker sind oft viel weniger blutig als die unsrigen, und häufig arten sie zu Karikaturen des ernsthaften Kriegswesens aus. Der dadurch verursachte Menschenverlust ist indessen doch nicht zu unterschätzen, da lange gekriegt wird, und da die von Naturvölkern bewohnten Länder ohnehin nur geringe Menschenzahlen aufzuweisen haben. Th. Williams schätzt für die barbarischen Zeiten die Verluste an Menschenleben in den beständigen Kriegen der Fidschianer auf 1500-2000 im Jahr, »ohne die Witwen, die auf die Nachricht vom Tode ihres Gatten erwürgt wurden«. Diese Zahl reicht hin, zum Rückgang der Bevölkerung erheblich beizutragen. Das Feuergewehr hat die Kriege vermindert, weil es die Verluste vergrößerte. Aber zu diesem dauernden Kriege, den man als »kleinen Krieg« bezeichnen könnte, gesellen sich jene Katastrophen der Überfälle, wo große Zerstörungen von Menschenleben den elementaren Ausbruch kriegerischer Leidenschaft begleiten. Das letzte Ziel eines ernsten Krieges ist bei den Naturvölkern nicht die Besiegung, sondern die Ausrottung des Gegners. Kann man nicht die Männer erreichen, so wirft man sich auf Weiber und Kinder, besonders dort, wo die Menschenschädel mit abergläubischer Leidenschaft gesammelt werden, wie bei den kopfabschneidenden Dajaken Borneos und so vielen anderen. Zum Mord gesellt sich Raub, um ein Kriegselend zu schaffen, wie es die zivilisierten Völker kaum erdenken können. Den Gipfel dieser verheerenden Macht bildet aber freilich das Auftreten höher begabter oder mindestens besser organisierter Krieger- und Räuberhorden, die sich Übung in Mord und Grausamkeit erworben haben. Das Abhauen der Hände und Füße und das Abschneiden von Nase und Ohren sind gewöhnlich. Oft haben die Mißhandlungen den Nebenzweck, einen Gefangenen zu »zeichnen«. Dahin gehört auch das Tättowieren der Kriegsgefangenen.

Die Verluste an Leben und Gesundheit könnten einige Generationen des Friedens ausgleichen; aber was bleibt, das ist die tiefe moralische Nachwirkung. Es ist dies die Erschütterung alles Vertrauens in die Nebenmenschen und in die Wirksamkeit moralischer Mächte, der Friedensliebe und der Heiligkeit des verpfändeten Wortes. Ist die Politik der Kulturvölker nicht durch Treue und Vertrauen ausgezeichnet, so ist die der Naturvölker der Ausdruck der niedrigen Eigenschaften des Mißtrauens, der Untreue, der Rücksichtslosigkeit. Man sucht durch nichts anderes als durch Überlistung oder Schrecken zu wirken. Für die europäische Politik gegenüber den Naturvölkern hat dies den großen Vorteil gehabt, höchst selten einer starken Vereinigung eingeborener Kräfte gegenübertreten zu müssen. Das einzige sehr bemerkenswerte Beispiel ist die Allianz der »sechs Nationen« nordamerikanischer Indianer vom Stamme der Irokesen, die im 17. und 18. Jahrhundert den Europäern gefährlich wurde. Ein Versuch einer Verbindung, der sehr bedenklich hätte werden können, wurde nach dem sogenannten Sand-River-Vertrag von 1852 durch Griqua, Basuto, Baquena und andere Betschuanenstämme gemacht, kam aber nicht zur Vollendung; und die letzten Jahre haben zur Genüge wieder gezeigt, wie wenig doch die südafrikanischen Stämme mit ihrer Überzahl und ihrer zum Teil hervorragenden Kriegstüchtigkeit vermögen, weil ihnen das Vertrauen fehlt, das sie selbst zu einigen und ihren Bestrebungen Festigkeit zu geben im stande wäre.

Beständige Furcht und Unsicherheit der Eingeborenen ist ein notwendiges Resultat des häufigen Verrats ihrer Feinde. Es ist bezeichnend, daß die große Mehrzahl der Naturvölker sich so sehr über Waffen freut und nie ohne Waffen geht; und nichts charakterisiert besser den höheren Stand des staatlichen Lebens in Uganda, als daß dort Spazierstöcke an die Stelle der Waffen treten. Als auffallend wird es bemerkt, wenn keine Waffen getragen werden, wie es Finsch von den Leuten von Parsi Point in Neuguinea hervorhebt.

Die Sitte, Fremde, von denen der Aberglaube Unglück und Krankheit fürchtete, als Feinde zu behandeln, schiffbrüchig Angetriebene als »angeschwemmte Kokosnüsse« zu erschlagen, war sicherlich ein großes Hindernis der Ausbreitung. Wir hören aber, daß bei den Melanesiern die Frage erörtert wurde, ob dies erlaubt sei, und daß sich auch Fremde durch Heirat an einen neuen Ort fesselten. Gehörten sie einer nahen Insel oder Inselgruppe an, so wurden sie nicht ganz als Fremde behandelt, weil sie nicht unheimlich waren. Polynesier, die nicht selten nach den Banks-Inseln getrieben wurden, sind auf denselben freundlich aufgenommen worden. Wenn kaum eine der zahllosen Forschungsexpeditionen in Australien ihren Weg gemacht hat, ohne Bedrohungen oder Angriffe von den Eingeborenen zu erfahren, so sind die unwillkürlichen Verletzungen der Grenzen der Eingeborenengebiete nicht zu übersehen, denn noch heute gilt in Zentralaustralien unbefugtes Betreten eines fremden Gebietes als ein schweres Vergehen.

Wie in der Familie und Gesellschaft tritt uns also die Neigung zur schärfsten Absonderung auch der politischen Gebiete entgegen. Wer sollte nicht in diesem latenten Kriegszustande eine große Ursache des Zurückbleibens der Naturvölker erkennen? Die Größe der Kulturstaaten, die sich zu einer freien Höhe der Entwickelung hinaufgearbeitet haben, liegt darin, daß sie durch gegenseitige Anregung aufeinander wirken und so immer vollkommenere Erzeugnisse hervorbringen. Aber gerade die gegenseitige Anregung fehlt im dauernden Kriegszustande, die von innen und außen wirkenden Kulturmächte werden gleichmäßig geschwächt, und die Folge ist Stillstand, wenn nicht gar Rückgang.

Im Wesen der Staatenbildungen der Naturvölker liegt Unbestimmtheit der Grenze, die mit Absicht nicht als Linie gezogen, sondern als freier Raum von wechselnder Breite offen gehalten wird. Bis hinauf zu den Halbkulturstaaten sind die Grenzen mit Unsicherheit behaftet. Nicht der ganze Staat hängt mit der Bodenfläche fest zusammen, die er bedeckt, besonders nicht seine peripherischen Teile; nur der politische Mittelpunkt, das Wesentlichste des ganzen Gebildes, liegt fest. Von ihm aus läßt die den Staat zusammenhaltende Macht ihre Stärke gerade in den peripherischen Strichen in wechselndem Maße kund werden. Grenzpunkte und Grenzräume kennt man auf allen Stufen. Die Grenzräume werden frei gehalten, dienen wohl auch als gemeinsame Jagdgründe, aber sie dienen auch staatsfeindlichen Mächten, Desperados jeder Größe zur Wohnstätte; nicht selten nehmen neue Staatenbildungen von hier ihren Ausgang. Scharfe Grenzen bildeten sich am ehesten dort aus, wo die beiden so grundverschiedenen Kultur- und Lebensarten des Nomadismus und Ackerbaues aufeinander trafen. Hier werden den Steppenvölkern mit Notwendigkeit scharfe Grenzen gezogen, und die Kunst sucht nachzuhelfen, indem sie Grenzwälle und sogar Mauern baut. Die Steppengebiete sind die Länder der chinesischen Mauern, der Türken- und Kosakenwälle.

Leopold von Ranke hat es als einen Erfahrungssatz ausgesprochen, daß sich einer allgemeinen Geschichtsbetrachtung überhaupt anfangs nicht große Monarchien, sondern kleine Stammesbezirke oder staatenähnliche Genossenschaften darstellen. Dies zeigt die Geschichte aller großen Reiche; selbst das chinesische kann auf kleine Anfänge zurückgeführt werden. Freilich sind sie von geringer Dauer gewesen, mit einziger Ausnahme des römischen, und auch das chinesische hat Zeiten des Zerfalles durchgemacht. Am römischen Reiche haben die Völker gelernt, wie große Länder verwaltet werden müssen, um sie räumlich groß zu erhalten; denn seitdem hat die Geschichte so manche Reiche, die oft das römische an Größe noch überragten, sich erheben und durch Jahrhunderte sich erhalten sehen. Außer der Beherzigung geschichtlicher Lehren hat dazu ohne Frage die wachsende Zahl der Bevölkerungen und das damit zunehmende Gewicht ihrer materiellen Interessen beigetragen.

Es gibt aber tiefere Gründe für die Kleinheit ursprünglicher Staaten.

Die Familie und die Gesellschaft bilden bei den meisten Naturvölkern so große, häufig in eins zusammenfallende und so fest in sich geschlossene Vereinigungen, daß für den Staat nicht viel übrigbleibt. Der rasche Verfall der Reiche wird von dem zähen Leben der Stämme aufgewogen. Wenn jene zerfielen, erzeugten sich neue Reiche aus alten Stämmen. Die Familie von Blutsverwandten in ihrem gemeinsamen Langhaus oder Dorfe stellt zugleich eine politische Einheit dar, die sich von Zeit zu Zeit mit anderen ihresgleichen zusammenschließen kann, mit denen vielleicht entferntere Verwandtschaft sie verknüpft, die aber in sich befriedigt ruht, solange nicht eine von außen hereinwirkende Macht diese enge Befriedigung aufrüttelt. Das volkreiche Afrika der Neger umschließt keinen einzigen wirklichen Großstaat. Je größer dort ein Reich, desto kürzer war seine Dauer, desto lockerer sein Zusammenhang. Es bedarf der größeren Organisations- und Zusammenhaltskraft, wie sie uns in den Fulbe oder Wahuma entgegentritt, um Reiche wie Sokoto oder Uganda nicht bloß zu gründen, sondern auch, wenngleich mühselig, zu erhalten. Sogar die in kriegerischer Organisation so hochstehenden Sulu haben sich nie dauernd über ihre Naturgrenzen hinaus ausbreiten und dabei im Zusammenhang mit ihrem Lande bleiben können. Es fehlt ihnen der Plan und die Fähigkeit der friedlichen Organisation. Dieser Mangel eines festen inneren Zusammenhanges tritt uns selbst in den mohammedanischen Staaten des Sudan entgegen und ist nicht minder der Grund der Schwäche, an welcher die einheimischen Staaten Mittel- und Südamerikas zu Grunde gingen. Je näher man das wahre Wesen Altmexikos erkennt, desto weniger ist man geneigt, auf diesen lockeren Bund der Häuptlinge von Anahuac Namen wie Reich und Kaiser anzuwenden. Die Macht des Inka-Reiches wird ins Fabelhafte übertrieben. Man ist erstaunt, von dem vielgenannten und gefürchteten Stamme der Mandanen zu vernehmen, daß er nur 900-1000 Köpfe zählte. Im Malayischen Archipel scheint sich erst mit dem Eindringen des Islam die Staatenbildung über die Abgliederung von Dorfschaften erhoben zu haben. Klarheit und Bestimmtheit in Sachen der politischen Zusammengehörigkeit mangelten noch in unserer Zeit selbst den großen Mächten Süd- und Ostasiens, denn sie sind ein Vorrecht der höchsten Kulturstufe.

An die Stelle der Erweiterung Eines Staates tritt die Gründung neuer durch Auswanderung und Eroberung. Es ist die Vermehrung einer Zelle zum Zellenhaufen statt des Wachstums zum Organismus. Auffallend, wie oft dieselbe Sage oder Überlieferung in Afrika und anderwärts wiederkehrt! Ein Herrscher sendet einen Trupp Krieger aus, ein Land oder eine Stadt zu erobern; denen gelingt das nicht, sie lassen sich ruhig nieder und verheiraten sich mit den Töchtern derer, die sie unterwerfen wollten. So ist der Ursprung der Matabele, so angeblich der der naheverwandten Masitu, so werden Fulbe-Niederlassungen am unteren Niger erklärt, so chinesische Oasen in den Schan-Ländern. Man braucht nicht alle diese Überlieferungen zu glauben und kann doch darin einen Beweis zugleich für die große Rolle des Krieges in den Völkermischungen des Altertums und für die Schwierigkeit sehen, zusammenhängende Staaten zu gründen; an deren Stelle tritt die Loslösung von Kolonien in kriegerischer oder friedlicher Weise. Die Alfuren der östlichen Inseln des Malayischen Archipels haben bestimmte Regeln für die Verwaltung ihrer Kolonien, und die Koloniengründung muß im alten Polynesien ganz ebenso ein notwendiger Akt des Staatslebens gewesen sein wie einst in Hellas.

Weit zurück tritt natürlich bei Völkern auf niederer Stufe jene verkittende Kraft des Kampfes gegen Naturgefahren, deren Drohung die Gesamtheit eines Volkes zu gemeinsamer Abwehr verbindet. Eine stark vereinigende, die Schätzung gemeinsamer Interessen fördernde Macht wirkt günstig auf die Gesamtkultur. In den tief gelegenen Küstenstrecken der Nordsee in Deutschland und den Niederlanden wird durch die allgemeine Gefahr des Dammbruches und der Überschwemmung durch wütende Sturmfluten ein folgenreiches Zusammenstehen der Menschen hervorgerufen. Mit tiefem Sinne hat der Mythus den Kampf gegen diese Naturgewalten der vielköpfigen Hydren und der greulichen, vom Meere ans Land kriechenden Seeungeheuer mit der Erringung der höchsten Güter der Völker in Staatengründung und Kulturerwerb innig verbunden, bei keinem Volke mehr als dem chinesischen, das in seinem strom- und sumpfreichen Lande seinen dämmenden und austrocknenden Schem, Schun, Jao und dergleichen freilich mehr als genügende Arbeit darzubieten hatte. In Ägypten liegt eine derartige Wirkung der Sorge für die jährliche Bewässerung und Neuabgrenzung des Landes historisch offen.

Kulturfördernd müssen aber überhaupt gemeinsame Bedürfnisse wirken, die die Menschen aus der unfruchtbaren Isolierung herausreißen. Sie befestigen vor allem auch das Staatswesen, das die Leistungen zur Befriedigung dieser Bedürfnisse organisiert. Gemeinsame Beherrschung und gemeinsame Interessen schaffen Staaten. Zuerst kommt aber die Beherrschung. In fast allen Staaten außerhalb des europäischen Kulturkreises regieren eingedrungene Eroberer, Fremde. Das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit erzeugt sich erst später und bricht sich als staatenbildende Kraft Bahn, wenn die geistigen Interessen der Völker mit ins Gewicht fallen. In fast allen Ländern der Erde, die größere politische Einheiten darstellen, finden wir daher von je verschiedene Nationalitäten als thätige und leidende, erst über-, dann nebeneinander; nur in kleinen Staaten bildet ein einziger Stamm von Anfang an das ganze Volk.

 

Druck vom Bibliographischen Institut in Leipzig


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