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5. Die Religion.

Die Erforschung des religiösen Lebens und Denkens der Naturvölker ist schwer. Sie geben nur zaudernd und dann vielleicht unvollständig oder mit der Absicht, zu täuschen, Auskunft über ihre Vorstellungen vom Höchsten. Religiöse Ideen von monotheistischer Klarheit und Einfachheit sind bei Naturvölkern gar nicht vorhanden. Nicht nur bewegt sich das gesamte Gedankenleben dieser Völker träumerisch-unbestimmt in Bildern, ist vielfach inkonsequent und zusammenhangslos, sondern es fehlt auch das sichere, fortbildende Weitergeben der Gedanken von einer Generation zur anderen, das ein organisches Wachstum von dem Denken der Vorwelt zu dem der Jetztwelt schafft. Was aber von religiösen Ideen vorhanden ist, das ist oft nur wenigen Älteren eines Volkes bekannt, die es eifersüchtig hüten. Und selbst, wo dies nicht zutrifft, ist bei der Scheu vor dem Preisgeben der religiösen Geheimnisse höchstens Verstümmeltes oder ein Bruchstück zu erfahren.

Deswegen muß man sich auch hüten, zu gering von den religiösen Ahnungen und Vorstellungen der Naturvölker zu denken. Darin werden sie immer umfassend sein, daß alles nicht auf die unmittelbar praktischen Zwecke des Lebens gerichtete geistige Regen und Streben in ihnen zum Ausdruck kommt, daß ihre Religion Philosophie, Wissenschaft, historische Tradition, Poesie zugleich ist. Es bleibt in ihr unter allen Umständen viel zu vermuten, viel zu suchen. Aber auch im eigentlichen Religiösen darf man nicht von der Ansicht ausgehen, daß sich alles, was in den Tiefen vorhanden, auch gleich an der Oberfläche zeigen müsse. Die ungerechtesten Beurteilungen, innerer Widersprüche voll, entfließen diesem Vorurteil. »Völlige Religionslosigkeit, wahrer Atheismus ist wohl das Ergebnis einer aushöhlenden, gemütsabstumpfenden Überkultur, niemals aber die Wirkung roher Unkultur. Bei dieser bleibt auch in der tiefsten Verkommenheit immer noch das Religionsbedürfnis, dem ein Religionsvermögen entspricht, möge sich dieses auch noch so fehlerhaft und verworren betätigen.« ( V. von Strauß.)

Die Ethnographie kennt keine religionslosen Völker, sondern nur verschieden hohe Entwickelung religiöser Ideen, die bei einigen wie im Keime oder, besser, wie in einer Verpuppung klein und unscheinbar liegen, während sie bei anderen einen herrlichen Reichtum von Mythen und Sagen entfaltet haben. Wir dürfen aber auch in den Unvollkommenheiten nicht immer Urzustände sehen wollen. Erinnern wir uns doch an die ins Unkenntliche gehenden Verkümmerungen großer religiöser Gedanken in dem abessinischen oder Thomaschristentum, dem mongolischen Buddhismus und sudanesischen Islam. Die Propagationskraft religiöser Ideen ist ebenso groß wie die Sicherheit, daß sie da verkümmern werden, wo sie vereinzelt, losgelöst von dem organischen Zusammenhang mit einer großen lebendigen Mythologie oder einem geistgetränkten Lehrgebäude in die Wüstenei des materiellen Lebens der Naturvölker hinausgeworfen werden. Schon heute findet man verschlechterte Stücke christlicher Vorstellungen in den indianischen und polynesischen Mythen, mohammedanischer in den malayischen und afrikanischen; ahnten wir nicht die Geschichte ihrer Verpflanzung, sie würden als Beweise erscheinen, daß dort die Keime des Monotheismus lägen. Auch die Dichtungen der Naturvölker erwecken an manchen Stellen den Verdacht, daß irgend ein Zweig europäischer Märchen, Fabeln etc. dort zufällig zu Boden gefallen sei und mit der Vermehrungskraft, die diesen Gebilden der Phantasie eigen ist, sogleich in der fremden Erde Ausläufer getrieben habe. Max Müller hat in einer Anzeige von Callaways » Nursery tales of the Zulus« (1866) den tieferen Gedanken daran geknüpft, daß sie ebenso wie unsere Volkssagen u. s. w., wenigstens soweit sie von Geistern, Feen und Riesen handeln, auf eine entlegene Zivilisation oder wenigstens auf einen lange fortdauernden Wachstumsprozeß deuten. »Wie die Anomalien der Sprache, zeigen sie gerade durch ihre Eigenart, daß es eine Epoche gab, wo sich das heute Regel- oder Sinnlose mit einem bestimmten Zwecke und gesetzmäßig bildete.«

An der Unvollkommenheit des Ausdrucks darf nicht die Tiefe des Gedankens gemessen werden. Bei der Betrachtung einer Mythologie wie der polynesischen muß wohl beachtet werden, daß dieses formenreiche Sagengewebe oft weniger einem klaren Sprechen als vielmehr dem Stammeln eines Kindes gleicht, wobei man mehr zu achten hat auf das Was als auf das Wie. Oft genügt ja dem spielenden Denken dieser Völker ein Gleichklang oder Anklang zur Anknüpfung weitreichender Gedankenfäden. Dieselbe Anschauung eines übersinnlichen Verhältnisses wird sich viel eindrucksvoller in der Pergamenthandschrift eines griechischen Dichters als in der mündlichen Überlieferung eines polynesischen oder afrikanischen Priesters oder Zauberers darstellen. Sucht man aber die verständlicheren Sätze aus dem Stammeln des Naturmenschen heraus, so gewinnt man ein Bild, das im Wesen nicht viel jenem poetisch geschmückteren nachsteht. Vergleichen wir doch einmal eine hawaiische Hades-Sage mit entsprechenden Sagen der Griechen: Ein Häuptling, der über den Tod seiner Frau untröstlich war, erhielt auf seine Bitten von seinem Priester den Gott der Häuptlinge als Führer in Milus Reich. Beide wanderten bis an der Welt Ende, wo sie an einen Baum gelangten, der sich spaltete; auf ihm glitten sie in die Tiefe hinab. Der Gott verbarg sich dort hinter einem Felsen und ließ den Häuptling, den er vorher mit einem stinkenden Öl eingeschmiert hatte, allein vorausgehen. Im Palast Milus angelangt, fand er dessen Hof mit einer großen Menge von Akua (Geistern) angefüllt, die so vertieft in ihre Spiele waren, daß er sich unbemerkt unter sie mischen konnte. Als sie ihn aber bemerkten, hielten sie ihn für eine neuangekommene Seele und höhnten ihn als stinkenden Geist wegen seines zu langen Verweilens beim verwesenden Körper. Als nun nach allerlei Spielen ein neues ausgedacht werden sollte, da schlug der Häuptling vor, daß sich alle die Augen ausreißen und diese auf einen Haufen zusammenwerfen sollten. Jeder war rasch dabei, doch der Häuptling merkte wohl, wohin Milus Augen fielen, ergriff sie im Fluge und verbarg sie in seinem Kokosbecher. Da nun alle blind waren, gelang es ihm, nach dem Reiche Wakeas zu gelangen, das Milus Scharen nicht betreten dürfen. Nach längerem Verhandeln mit dem unter Wakeas Schutz stehenden Häuptling erlangte Milu seine Augen nur dadurch wieder, daß er die Seele der Häuptlingsfrau losgab; sie kehrte nach der Erde zurück und ward mit dem Körper wieder vereinigt.

Die Religion hängt überall mit dem tiefen Kausalitätsbedürfnis des Menschen zusammen, das für jedes Geschehen eine Ursache oder einen Urheber erspähen will. Ihre tiefsten Wurzeln berühren sich also mit der Wissenschaft und sind mit dem Naturgefühl tief verschlungen. Agathias sagt von den Alemannen, daß sie Bäume und Bäche, Berge und Thäler verehren; wir dürfen kühnlich die Allbeseelung, die dieser Verehrung zu Grunde liegt, für die ganze Menschheit annehmen. Diesem Bedürfnis kommt sehr passend die Neigung entgegen, alle Naturerscheinungen in höherem Grade zu beleben oder selbst zu vermenschlichen, indem man ihnen eine Seele beilegt, die einmal ihre eigenen Bewegungen und Veränderungen, dann aber auch ihre Beziehungen zur näheren und ferneren Umgebung leitet. Die Dajaken legen der Pflanze eine Seele wie dem Menschen bei: verfault der Reis, so ist seine Seele ganz weg; aber er kann, der Leiche gestreut, ins Jenseits folgen, dort wieder körperlich werden und zur Nahrung dienen. Eine falsche Anwendung des Gesetzes von Ursache und Wirkung führt dazu, Beziehungen zwischen diesen Seelen und der des Menschen anzunehmen, die diese selbst zuletzt in ein dichtes Netz von Kausalitätsfäden einspinnen. Oft wird die Geschichte des Kosa-Häuptlings erzählt, der starb, nachdem er kurz vorher ein Stück eines gestrandeten Ankers hatte abbrechen lassen; von der Zeit an wurde diesem Anker Ehrfurcht erwiesen. So knüpfen sich tausend Fäden, deren keiner vergessen wird; und in diesem Netz der Tradition zappelt der naive Sohn der Natur wie die Fliege im Spinnengewebe und verwickelt sich mit jedem Versuche, den wahren Faden zu finden, immer mehr. Wörtlich fängt sich die Seele: Eine Schnur, woran mehrere offene Schlingen befestigt sind, wird im Laube versteckt; sieht sie zufällig der, dem sie bestimmt ist, so wähnt er seine Seele darin gefangen, grämt sich und stirbt: das ist auf den Banks-Inseln ein angeblich probates Mittel, um jemand aus der Welt zu schaffen. Daher die Angst vor den Phantomen seiner Einbildungskraft, einer der bezeichnendsten Züge des Naturmenschen, der mehr als gut sein Thun und Treiben beherrscht. Wenn Melanesier gefragt wurden, wer sie seien, antworteten sie: »Menschen«, um auszusprechen, daß sie nicht Geister oder Gespenster seien ( Codrington). Der Naturmensch fürchtet sich mehr vor der Nacht als ein schlecht erzogenes Kind. Felkin schreibt vom oberen Nil: »Bei Nacht wollen die Eingeborenen aus Furcht vor wilden Tieren und dem schlimmen Einfluß des Mondes durchaus nicht marschieren. Indessen fühlen sie sich die ganze Hälfte des Jahres hindurch auch bei Tage nicht ganz wohl und suchen sich im beständigen Gefühl ihrer Bedrohtheit durch unsichtbare Mächte wenigstens dadurch einigermaßen zu sichern, daß sie die allgemein menschliche Anschauung von Unglückstagen ins Unsinnige ausdehnen. Hier sind nur Montag, Donnerstag und Samstag gute Reisetage; Mittwoch ist weder besonders gut noch schlecht, aber Sonntag, Dienstag und Freitag sind Unglückstage.« Besitzen nicht für die Wahl glücklicher Tage selbst die Diebe auf Java ihre silberne uhrenartige Zeigerscheibe, die kalenderartig die beste Zeit für Einbrüche oder Räubereien zeigt? Die weißen Leute werden wie alles Ungewohnte, Neue in diesen Aberglauben fast unvermeidlich hineingezogen. Manche traurige Episode in der Entdeckungsgeschichte des dunkeln Erdteils erklärt sich durch diese Verbindung, die in dem gespensterschwangeren Geiste des Negers ganz natürlich ist. Drastisch schildert Livingstone in seinen »Missionsreisen« die Angst, die er, als erster Weißer, den Negern einjagte; er, der beste Freund, den sie je unter den Weißen gehabt haben! Nicht minder sind auch die Dinge, die der weiße Mann besitzt oder benutzt, sogleich in die Sphäre des Wunderwirkenden, Fetischhaften erhoben. Die Westafrikaner halten namentlich beschriebenes Papier für einen Fetisch: es ist für sie bares Hexenwerk. Als Buchholz einen schwerverwundeten Kranken verband, war ihm ein Stückchen Papier aus der Tasche gefallen, ohne daß er es merkte. Als er später den Kranken besuchen wollte, fand er ihn ausquartiert, weil das Haus bezaubert sei; ihm aber wurde das Stückchen Papier feierlichst wieder übergeben. An dem Begräbnistag einer Bakwirifrau wurde er durch einen von den Negern abgesandten Boten in besonderer Ansprache dringend gebeten, auf seinen Spaziergängen doch nicht Papierstückchen zu verstreuen, weil sie sonst diese Wege und Orte meiden müßten. Als Chapman Letschulatebes Stadt am Ngami besuchte, war die Sterblichkeit an Fiebern sehr stark, und der Häuptling war in großer Angst und Aufregung über den »überall umherwandelnden Tod«. Er zeigte sich fast nie außer seiner Hütte, ließ seine Weiber und Kinder zahlreichen Waschungen unterwerfen und hielt seine Doktoren in beständiger Arbeit, indem er unaufhörlich mit Kräuterabkochungen seine Schwelle besprengen ließ. Die Angehörigen von Verstorbenen wurden langwierigen Reinigungsprozessen unterworfen, ehe ihnen gestattet ward, sich der Gemeinschaft der anderen wieder anzuschließen.

So durchweht ein beseelender Hauch nicht nur die Natur, sondern alle Dinge. Und es ist in jeder Handlung, selbst im Schmuck der Menschen und in den Ornamenten der Dinge viel mehr geistiger Gehalt und Zweck, als wir wähnen. Es paßt daher auf alle Religionen auf niederer Stufe das Wort Vielgötterei. Durchgehend zeigt sich eine Tendenz zur Vervielfältigung der Vorstellungen; dem unklaren Geist, aus dem sich dies alles gebiert, ist mit der Zeit das Götterschaffen lieb und leicht geworden. Wo die Masse der Edlen als halbe oder ganze Götter angestaunt wurde, wo die Seelen nicht nur fortlebten, sondern mit der Welt hienieden in inniger Berührung blieben, wo jede Familie ihren eigenen Schutzgeist in Tier- oder anderer Gestalt besaß, da mußten Götter und Götzen sprossen und blühen und den ganzen Geist in ein Dickicht phantastischer Erdichtungen verwandeln. Wir wollen darin nicht bloß Niedriges, Angstgeborenes sehen. Im Beseelen liegt etwas Beseligendes, was auf höheren Stufen Poesie und Philosophie erstreben.

Wo liegen die Quellen, denen Geister und Gespenster in Millionen unaufhörlich entsteigen? Die eingreifendste Änderung in den Menschen selbst oder ihren nächsten Verhältnissen rufen Krankheit, Schlaf und Tod hervor. Nicht die Furcht vor der Natur tritt uns als der erste Grund des Aberglaubens entgegen, sondern die vor dem Tode und vor den Toten. Das Geschäft der Schamanen, Medizinmänner, Koradschi, und wie diese Zauberer sonst heißen mögen, ist in erster Linie überall das Aufsuchen von Todes- und Krankheitsursachen und dann der Verkehr mit den Geistern der Verstorbenen, die von den Angehörigen mit tiefer Scheu, oft mit Angst und Reue betrachtet werden.

Hieraus geht zunächst der Fetischglaube hervor, der auf den verworrensten Wegen Beziehungen zwischen den unzähligen Seelen und allen möglichen Dingen schafft, wo diese ihre Wohnung aufschlagen. Deutlich zeigt es sich hier, daß nicht die geraden Wege von dem Gegenstand der Außennatur zu der Seele des Menschen die Grundlinien primitiver Glaubenssysteme bilden – denn man würde vergeblich nach einem direkten Verhältnis zwischen deren Lehren und dem Maße der Größe und Wirksamkeit jener suchen –, sondern daß sich vielmehr die nach irgend welchen Stützen irgendwo in der Umgebung ängstlich umhersuchende Phantasie mit der Launenhaftigkeit, die zu den Äußerungen furchtsamer Aufregung gehört, an Gegenstände hängt, die dessen oft in hohem Grade unwürdig sind. Aber mit den übernatürlichen Wirkungen wird sozusagen ununterbrochen experimentiert. Man sucht nicht bloß neue Geister zu finden, indem man seltsam gestaltete Steine an einen Baum legt, um zu erproben, ob sie die Fruchtbarkeit mehren, sondern altbekannte werden auf die Probe gestellt, indem ihnen schlechtes, z. B. faules Fleisch hingeworfen wird. Warum verfallen alle Neger in Afrika mit Vorliebe auf Hörner, daß sich ihre Zauberer massenhaft damit behängen, daß ihre Erzpriester, d. h. ihre Könige, ihre gefürchteten Medizinen darin ausbewahren? Woher die fast komische Topfverehrung der Dajaken und Alfuren? Was es Auffallendes gibt, findet Raum in dem Wuste von Seltsamkeiten, die um Hals und Gürtel eines Kaffernzauberers herumhängen: durch ein merkwürdiges Zusammentreffen wurde der erste große Diamantenfund am Kap in dem Ledertäschchen am Halse eines Zauberers gemacht! Die Steinverehrung ist weitverbreitet, bezieht sich aber in der Regel auf große, anstehende Felsstücke. Fetisch kann jedoch in Afrika jeder Stein werden, der, in einen bunten Fetzen gewickelt, um den Hals gehängt wird. Bei den Musgu werden lange Stangen, bei den Sandeh unförmliche Klötze aus Holz mit Nägeln, am Kamerunberg Basaltsäulen zu Götzen. Man dürfte kaum einen Afrikaner finden, der nicht einen Fetisch anhängen hat, und da viele Wünsche, Tätigkeiten etc. ihre besonderen Fetische haben, ist mancher schwer mit solchen heilsamen Dingen beladen. So gibt es Amulette, die das Wasser kosten, ehe man es trinkt, und den Trinker vor gefährlichen Dingen darin warnen; denn böse Geister wählen gern dieses schillernde, schäumende, immer veränderliche Naß. Die Eskimowaffe trägt ihren kleinen Schutzgott am Bande. Nur eine Gradabstufung trennt davon die sogenannten Götzen, Abbilder Verstorbener, die man aus Holz geschnitzt, aus Metall geformt, aus Thon oder Asche geknetet in den Hütten und um die Gräber aufstellt. Beseelt sind beide; nur ist des Ahnenbildes Seele eine bestimmte, die einen bekannten Körper besaß, nun in diese Puppe übergegangen ist und oft noch Jahre den gewohnten Platz einnimmt, wie das des Schamanen der Golden, das an seinem alten Platze in der Jurte steht, bis es nach vielen Erinnerungsfeiern zerstört wird. Mit der Schaffung solcher sichtbaren Seelenabbilder ist auch schon die Gründung besonderer Stätten der Seelenverehrung in Form der Fetischhütten Afrikas, der tabuierten Stätten der Malayen und Polynesier, endlich der Tempel gegeben. Indem sie sich häufig an die Grabstätten, die Wohnstätten der Seelen Heimgegangener, anschließen, zeigen sie genau wie unsere Kirchhöfe, die um die Kirchen angelegt sind, unbewußt den engen Zusammenhang, der zwischen der Sorge für die Seelen der Toten und der Gottesverehrung waltet. Nur daß jene primitiven Tempel häufiger aus dem Kirchhof erwachsen, als dieser sich ihnen anlehnt. Mit einer ganzen Reihe von Holzidolen umgibt sich der nordasiatische Schamane, mit denen er sich während der Beschwörung unterhält, von denen er Rat erhält. Auch Tierbilder, besonders von Bären, gehören dazu. Seine Jurte ist ein wahres Seelenheim. Es bleibe dahingestellt, ob wir eine höhere Stufe in jenen Fetischhütten vor uns haben, wo Bilder und andere Verkörperungen fehlen. Man findet sie als echte Hütten in Afrika, als kleine Seelenhäuschen treten sie bei den Ozeaniern auf.

Die Begräbnisweisen aller Völker sind immer auch ein Stück Religion. Allen liegt der Gedanke zu Grunde, daß der Leichnam nicht sogleich von der Seele verlassen werde, oder daß er wenigstens eine gewisse Verbindung mit ihr behalte. Die Polynesier sprechen es deutlich aus, daß die Seele nach dem Tode einige Zeit in der Nähe des Grabes umherirre, bis sie endgültig in Milus oder Wakeas Reich hinabsteige. Bei Malayen und Nordwestamerikanern ist diese Vorstellung ebenso klar und scheint bei Ostasiaten durch. Daher wird vielfach der Leichnam einige Zeit hindurch unbegraben gelassen, bei den Indianern Chiriquis ein volles Jahr. Dann zeigt die weite Verbreitung der Grabmitgift und der mumienartigen Zurichtung der Leiche, der Kenntlichmachung des Grabhügels, der bei den Bongo den Charakter eines monumentalen Baues annimmt, der Gründung und Erhaltung wahrer Mausoleen bei Häuptlingen, wie wenig auch der »entseelte« Leichnam bloß ein Gegenstand geworden ist. Bei manchen Völkern wird die zeitweilige Rückkehr der Seele in ihr der Verwesung verfallenes Haus vorgesehen, deshalb eine Öffnung in der Gruft gelassen, von Zeit zu Zeit neue Speise und Trank neben den Leichnam gestellt oder in das Grab gegossen. Seine Seele kann auf ihren Wanderungen in alle anderen Menschen fahren, sie behexen, verderben oder zu ungeahnter Würde erheben. In Uganda wohnt in jedem Zauberer eine Königsseele; die gewöhnliche Seele, Musimu, kann aber in jeden fahren. Daß die Seele noch nicht ruht, wenn sie im Grabe angekommen ist, deutet der Kahn an, der auf den Grabhügel gestellt wird, und im Norden der Schlitten, worin die Leiche zur letzten Stätte geschleppt wurde. Aus diesem Kahn ging die schiffförmige Steinsetzung bei Nordgermanen hervor. Die zwangsweise Zurückzauberung der Seele in ihren Leichnam wird für ebenso möglich gehalten wie ihre Herauszauberung bei lebendigem Leibe und die Übertragung in irgend ein Tier; letztere ist eine mit Vorliebe geübte Spezialität afrikanischer Zauberer, überhaupt sieht die Phantasie bei der Annahme der Allbeseelung einer Seelenwanderung keine Schranken gezogen, wenn auch an die Tierwelt zuerst gedacht wird.

Zu den Gründen für die verehrungsvolle Behandlung der Leichen gesellt sich als starkes Motiv die Furcht. Die rasche Einhüllung, das Tragen an einer Stange, die Vermeidung der Thür, das rasche Einscharren weit von der Hütte sind alles, wenn nicht von Furcht eingegebene, so doch mit Furcht getränkte Handlungen. Seltsamerweise kommen gerade in dieser Beziehung die stärksten Widersprüche vor; denn während die Kaffern ihre Leichname oft einfach in den Wald tragen und den Hyänen übergeben, begraben sie andere in Steingräbern oder in ihren Gehöften, und im Kamerungebiet wird der Mann in seiner Hütte, das Weib aber am Wege begraben. Wenn die Hütte des Verstorben verlassen oder zerstört, sein Hausrat zertrümmert wird, ja oft sogar seine Sklaven und Herden getötet werden, selbst sein Name der Vergessenheit geweiht wird, so ist immer die Gespensterfurcht mit wirksam.

Das kurze und lückenhafte Denken der Naturvölker gestattet einen in so vielen Formen sich äußernden tiefen Glauben an die Beseelung des menschlichen Körpers, ohne daß sie sich darum genötigt sähen, sich über die Stätte, wo die Seelen verweilen, immer auch Rechenschaft abzulegen. Sicher verschafft aber jener Glaube der Idee von einem Jenseits bereitwilligere Aufnahme; und wenn sie bei Alteuropäern, Polynesiern und Indianern eine merkwürdige Ähnlichkeit aufweist, so mögen wir darin eher eine in anthropogeographischer als völkerpsychologischer Beziehung merkwürdige Thatsache der geographischen Verbreitung erblicken. Der vorhin erzählte Mythus von dem seelenraubenden hawaiischen Häuptling zeigt deutlich, wie weit die Ähnlichkeiten gehen. In den Grundzügen des Hinabsteigens, der Täuschung des Beherrschers der Unterwelt, der Eifersucht der übrigen Seelen findet Übereinstimmung über sehr viele Völker hin statt. Vorstellungen, denen als unmittelbaren Spiegelbildern der Wirklichkeit eine gewisse Notwendigkeit innewohnt, verhalten sich anders als die sich daran erst in zweiter oder späterer Reihe anknüpfenden Gedanken; diese werden immer besonders gründlich auf ihren Ursprung in höheren und ferneren Gedankenkreisen zu prüfen sein.

Was man Götzenbild nennt, ist ursprünglich nichts anderes als Denkmal des Verstorbenen, Ahnenbild. Seltener verkörpert man symbolisch die Seele, wie wenn ein hölzerner Vogel, der die Seele fortführt, bei der Erinnerungsfeier an Tote über dem Schamanen der Golden schwebt. Gewöhnlich gibt man den Menschen in seiner ganzen Wesenheit, wiewohl oft stärk schematisiert. Der Zusammenhang zwischen diesen Bildern und dem, was man Götzendienst zu nennen beliebt, naturgemäß abhängig von der Pietät, die man den Verstorbenen zollt, ist immer nur ein Teil der Religion. So erklärt sich die sonst unerklärliche Verschiedenheit, die gerade darin zwischen nahe verwandten Stämmen, z. B. auf Neuguinea herrscht: die Mafuresen haben eine große Zahl von Götzenbildern (Karowar), während es bei den Arfakern gar keine gibt. Nun verstehen wir auch die so innige Verbindung der Schädel- und Idolverehrung; denn der Schädel ist ein Totendenkmal. Je weiter die Erinnerung zurückweicht, um so unpersönlicher wird das Bild. In Tahiti, wo man Tii, persönliche Familienidole, von Tu, Volksidolen, unterschied, waren es die letzteren hauptsächlich, die durch Umwindung unsichtbar gemacht waren; auf ihren Raub gingen öfters Kriege zwischen den Stämmen hinaus.

Neben dem Tode wird das Leben, die Zeugung und die Geburt, als rätsel- und bedeutungsreichster Vorgang in übersinnliche Beziehungen eingesponnen. Der Augenblick der Zeugung wird mit Vorliebe auf Schnitz- und Bildwerken dargestellt, nicht selten auch der der Geburt; dabei bedeutet das Vorangehen der Füße eine besondere Beziehung zu den Mythen. Im neuen Leben liegt eine Bejahung, die den verderbenden Mächten entgegengesetzt wird. Der Phallus als Symbol des Schutzes gegen böse Mächte ist bei den verschiedensten Völkern gebräuchlich; und wir glauben daher nicht, daß man das Auftauchen phallischer Symbole bei den Maori mit Schmeltz zu deren dunkeln Mischungs-Elementen in Beziehung bringen müsse, weil jene bei den Melanesiern besonders hervorträten. Wird doch auch bei den allerverschiedensten Völkern die Geburt, der Eintritt der Reife, dieser ganz besonders, und die Verheiratung mit Zeremonien umgeben, die die hervortretende Bedeutung dieser Ereignisse versinnlichen sollen. Diesen Vorstellungen vom Fortleben ist nun auf höherer Stufe der Entwickelung noch ein weiteres, höheres Element zugewachsen in Gestalt der Lehre von Lohn und Strafe im Jenseits. Davon haben jedoch viele Völker keine Spur. Die Naturvölker machen wohl auch Sonderungen im jenseitigen Leben, aber keine moralischen, sondern soziale; so die Polynesier zwischen Milus und Wakeas Reich. Jenes ist das geräuschvolle, wo die Seelen der Niederen hausen, die sich mit Spiel und Geschrei vergnügen; hier hingegen herrschen Ruhe und Würde, den Häuptlingen entsprechend, deren Seelen hier wohnen. Die Walhalla ist nur für die mutigen und im Kampfe gefallenen Krieger; ebenso hat der indianische Krieger seinen bevorzugten Himmel. Es ist wesentlich, zu betonen, daß die Morallehren kein notwendiges erstes Ingrediens der Religion, sondern eine erst auf höheren Stufen erfolgende Zumischung sind.

Von Naturerscheinungen üben zwei Klassen die tiefste Wirkung aus das angeborene Gefühl der Unsicherheit aus; zu ihnen muß der Mensch irgend ein Verhältnis suchen. Angesichts mächtiger Bethätigungen der Naturgewalten vergleicht er sich mit der Gewalt und Majestät der Natur und gewinnt das Bewußtsein seiner Unterordnung. Von allen Seiten schränken ihn unzählige Hindernisse ein und hemmen seinen Willen. Sein Geist erschrickt vor dem Unendlichen und Unergründlichen und bemüht sich kaum noch um das Einzelne, woraus jene erhabene Größe besteht. Ein Berg in der Ebene ist sicherlich von Sagen umwoben; der dunkle Wald beherbergt Geister; Stürme, Erdbeben, Vulkanausbrüche wirken durch das Unerwartete und Betäubende ihres Hervorbrechens; die phantastischen Götzenbilder, wovon Wälder und Felder im Afrika der Neger wimmeln, sind wohl häufig Denkmäler von Blitzschlägen etc. Den tiefsten Eindruck hinterlassen die Erscheinungen des gestirnten Himmels durch die majestätische Ruhe und Regelmäßigkeit ihres Verlaufes. Das Dasein dieser seltsamen, von irdischen Dingen so weit abweichenden Erscheinungen, ihr Leuchten, ihre große Zahl übten notwendig einen Einfluß auf den Geist auch der ursprünglichsten Menschen aus. Alle, selbst Buschmänner und Australier, benennen Sternbilder. Die erwärmende Wirkung der Sonne mußte mit Dankgefühl empfunden werden, in kühleren Gegenden vielleicht mehr als in den Tropen; Mond und Sterne sind mit ihrer Erhellung doppelt willkommene Erscheinungen den Naturvölkern, bei ihrer Angst vor Gespenstern. Die Sorge, womit sie bei Mondfinsternissen den verfinsternden Geist wegzuzaubern suchen, die hohe Stelle, die dem Monde in den religiösen Vorstellungen und der Sage der Völker zuteil ward, sprechen dafür. Zu sagen: Die Sonne ist als Lichtspenderin von allen Nationen als ein göttliches Wesen, als die allgemeine Wohlthäterin verehrt worden, ist zu viel. Aber Sonnendienste sind weit verbreitet, am meisten bei Ackerbauern und in den höher entwickelten Vorstellungskreisen; auch auf der Zaubertrommel lappischer Schamanen strahlt ein Sonnenbild. Weitverbreitet sind Sagen, die an die verschiedenen Stellungen der Sonne zur Erde und den Wechsel der Jahreszeiten anknüpfen. Gemeinsam mit der Mutter Erde schafft die befruchtende Sonne alles Lebendige, auch die Sterne. Die Seelen abgeschiedener Helden ziehen der Abendsonne zu. An die Sonne schließt sich der Kultus des Feuers, das nicht erlöschen darf und unter Schwur entzündet wird. Der Japaner trägt mit Feierlichkeit am Neujahr Feuer in sein Haus, das unter Zeremonien im Tempel am bestimmten Tage durch Holzreiben entzündet ward. Ja, noch der Russe (im Kreise Tambow) trägt soviel Asche wie möglich und einige Steine aus dem alten Herde in das neue Haus über, weil es Glück bringt: ein Rest der Feuerübertragung.

Witterungserscheinungen drängen sich durch die Unmittelbarkeit ihrer Wirkungen auf. Tief greifen sie in das wirtschaftliche Gedeihen ein. Ihre darum begreifliche Rolle im Glauben oder Aberglauben des Menschen zeigt die Verbreitung der Regen- oder Sonnenscheinmacher, der Herbeiführer von Fruchtbarkeit. Darüber hinaus liegt das Gebiet der Erscheinungen, die nicht mehr oder selten in unmittelbare Beziehungen zum Menschen treten und daher von ihm nur beachtet werden, wenn sie sich ihm aufdrängen. Selbst der Naturmensch, das vorurteilsvollste Geschöpf menschlicher Gattung, der Mensch mit dem engsten Gesichtskreise, empfängt Eindruck vom Regenbogen, der Brücke zum Himmel, vom Rauschen des Meeres, vom Brausen des Waldes, vom Sprudeln der Quelle. Diese Erscheinungen werden in den Kreis abergläubischer Vorstellungen hineingezogen, die ihrerseits von näheren Ursachen hervorgerufen sind. Sind es Seelenbilder, die die Aino auf Vorgebirgen, wo schwerer Seegang herrscht, um glückliche Fahrt oder Fischfang bitten? Die Naturvölker kennen die Meteorsteinfälle, deren Erleben sie durch Überlieferung festgehalten haben; sie nennen die in der Erde liegenden Steinbeile Donnerkeile. Man schiebt den Kahn mit der Leiche in die Wellen, man belegt dunkle Wälder mit dem Tabu, man vermutet in jedem Bach einen Geist. Die Poesie verflicht hier mit der Religion ihre Wurzeln; und es erscheint die Frage höchst überflüssig, ob diese Völker Natursinn haben.

Es flechten sich aber auch soziale Motive hinein. Wir kennen die Rolle der Tiere als Symbole der sozialen Gruppen, als Totem. Der Schamane geht mit Tieren um wie mit seinesgleichen, setzt sich ein künstliches Hirschgeweih auf, trinkt Hundeblut aus hohler Tierfigur, läßt einen hölzernen hohlen Vogel über sich schweben, opfert dem Gotte des Flusses aus fischförmiger Schale. Die Giljaken halten zu Zauberzwecken, besonders bei Krankheiten, Bären, Stachelschweine und Schildkröten. Den fetten Bären essen sie alljährlich feierlich aus eigenen Holzschüsseln. Bezeichnenderweise sind Tier- und Pflanzensagen ein Hauptteil der Litteratur primitiver Völker. Tiere finden sogar eine Stelle am Grunde der Genealogien der Stämme und Häuptlinge. So weit sich die indische Gedankenwelt ausgebreitet hat, reicht der Glaube an Seelenwanderung, besonders auch an das Hervorgehen aus Affen; selbst Japan hatte einst seine heiligen Affen. Außerdem drängen sie sich durch Nutzen und Schaden unabweisbar auf. Den menschenfressenden Raubtieren fühlen sich menschenfressende Wilde verwandt. Der Schonung dieser Tiere (bei Malayen, auch bei den Joloffen Senegambiens werden Krokodile in heiligen Teichen gehegt) mag dann eine andere Wendung gegeben werden, so, wenn der Matabelekönig Lobengula Krokodile zu töten bei Todesstrafe verbietet: mit dem toten Krokodil könnte verderblicher Zauber geübt werden. Der Tierglaube kann dann gleichsam eine indirekte Form annehmen.

 

Die Frage nach dem Einen, dem Herrn des Himmels, dem Allschöpfer, dem Gott, ergibt sich nicht als die erste aus der Masse der religiösen Anschauungen; nur gelegentlich eröffnet sich auf ihn ein Ausblick, gleichsam durch Spalten nur des Götzendickichts. Um so weniger gewinnen wir eine klare Vorstellung von seinem Wesen, als aus verschiedenen Quellen die Bäche zusammenfließen, worin er sich spiegelt. Ohne Zweifel führt die Ahnenverehrung zu allmählicher Erhöhung hervorragender Gestalten über die Masse und bis in den Himmel. Solche Apotheosen kann man in Afrika wie in Ozeanien nachweisen; bei den Inka fingen sie schon bei Lebzeiten an. Durch die Versetzung in den Himmel erfüllt sich die Bedingung weitgreifender, überragender Einwirkung. Die Millionen Seelen Verstorbener müssen Herren haben, die sie leiten; und dazu sind die Herren hinieden auch im Jenseits am geeignetsten. Wenn es weiter zum Wesen eines Gottes gehört, daß er Verschiedenstes von Einem Punkte aus vollbringe, ohne an Ding und Ort der Handlung gefesselt zu sein, so muß er hinausgehoben werden. Die Schwäche der Erinnerung sorgt dafür, daß er seine Wurzeln im Irdischen zu verlieren, daß er zu schweben scheine. So wird die Masse der Seelen zu Geistern, im Abbilde zu Fetischen, wenige werden zu Stammesgöttern; aus diesen mögen dann durch Ausbreitung weithin anerkannte Götter hervorgehen: ein Gott der Welt aus Jehova. Die Schöpfung braucht mindestens einen ersten Menschen, darüber hinaus einen Gott, der im stande sei, zu schöpfen. Gewöhnlich ist der Himmel oder die Sonne zu solcher Würde berufen; dort leben die heiligen Urahnen, die nun mit dem Schöpfergott verwachsen. Und endlich fordert die Naturanschauung große, herrschende Geister für die großen Dinge, wie zahllose kleine für die kleinen. Ein Geist des Himmels, der zugleich Schöpfer ist, wird wohl der Erste sein. So strebt es also von verschiedenen Enden auf Ein hohes Wesen, Einen Gott, zu. Überall hören wir den Namen eines Höchsten nennen; aber nur leise und undeutlich. Häufig ist er wörtlich als Ältester zu fassen, der geistige Herr des Stammes, der Herrscher über die Seelen der Hinübergegangenen, der Schöpfer. Die auf die Ahnenverehrung hinweisende Thatsache, daß in einem Volke verschiedenen Geistern verschiedene Gruppen zugethan sind, die in Geheimbünden ihren Dienst treiben und oft ihre Geschlossenheit gewaltthätig ausnutzen, hindert natürlich die Herausbildung der Eingottheit, solange nicht eine die Mehrheit erhält. Rangordnung der Verehrung leitet nicht sicher; denn von Land zu Land wechselt der Name des als Höchster verehrten Gottes. Im engen Kreise der Gesellschafts-Inseln wurde als höchster Gott Rua auf Tahiti, Eimeo und Raiatea, Tane auf Huaheine, Tao auf Bolabola, Tu auf Maurua, Tangaroa oder Taraoa auf Tabuaemanu, Oro auf Tahaa verehrt. In Neuseeland tritt Rangi als Höchster im Himmel an die Spitze aller anderen Götter. Auf Hawaii tritt Tane als Kane in den Vordergrund, mit ihm die sonst nur in der Mythologie bedeutsamen Wakea und Maui sowie der Kriegsgott. Aber alle diese Höchsten konnten ihrer Verehrung fast ganz verlustig gehen zu gunsten einfach lokaler Ahnengötter. Nichts trug dazu so sehr bei als die Herausbildung von Verehrungsgruppen, die ihren Gott oder Geist streng für sich zu bewahren strebten. Mit ihrer Macht legten sie auch den Dienst ihres Gottes den Schwächeren auf. Wir hören dagegen von den Schilluk, daß der Niekam beinahe in jedem Dorfe einen Tempel oder ein Haus, selbst ganze Dörfer besaß, die dann von einer privilegierten, hochangesehenen Kaste, einer Art geistlichen Adels, bewohnt wurden. Diese erhielt einen Teil aller Beute; niemand wagte es, sich an ihren Kühen zu vergreifen, sei es auch nur, sie zu melken. Die Reichtümer des Häuptlings wurden im Gebiet des Niekam verborgen gehalten. In Abbeokuta bezeichnen Strohbüschel das Eigentum des Donnergottes Schango; es ist unverletzlich, und wer sich daran vergreift, verfällt der Rache der Schango-Priester. Gerade Schango ist eine lehrreiche Erscheinung: einige halten ihn für einen König, der bei seinen Lebzeiten sehr grausam gewesen, andere sagen, er sei ein nachgeborener, erst spät zur Unsterblichkeit aufgenommener Göttersprößling; bald ist er Urahn, bald aber Gefährte des Donnergottes und dann selbst Donnerer. Alles deutet auf eine spät in den Olymp aufgestiegene Seele eines Stammeshauptes.

Da die Verschiebungen und Verwechselungen der Namen bei Wiederkehr derselben Götter und göttlichen Funktionen eine beständige Quelle von Verwirrung selbst der Grundfäden der Mythologie bilden, besonders bei schriftlosen Völkern, so ist ihre Klarlegung nur durch Festhalten der sachlichen Unterlage, unter Absehen von aller Rangordnung zu erreichen. Es heißt das vielgestaltige, wandelbare Wesen des Mythus verkennen, wenn man in einer isolierten Thatsache, wie im Überleben des Urvaters des Menschengeschlechts, einen besonderen und höheren Charakterzug der amerikanischen Form des Sündflutmythus sehen will. Ein Streben auf Auslese und Erhöhung liegt tief im menschlichen Geist begründet; und es bedurfte nur der Mittel rascher Verbreitung über weite Gebiete unter Fernhaltung zersetzender Einflüsse, um eine Gottesidee über lokale Beschränkungen und Schwankungen zu erheben, wie die Verbreitung des Christentums und des Islam zeigen.

Das Verhältnis des Menschen zu einem persönlichen Wesen, das die Dinge zuhöchst bestimmt, und zu dem der Mensch in persönlicher Beziehung steht, hat sich nirgends in reiner Form ausgebildet, sondern immer nur gebrochen, unzulänglich und unter mannigfach fehlgreifender Gestaltung. Auch ist die Religion im Laufe ihrer Entfaltung nicht allein geblieben, sondern trat mehr und mehr in innige Verbindungen mit anderen Bestrebungen der menschlichen Seele, vor allem mit Regungen und Bedürfnissen des Gewissens. So erhielt sie die wichtigste Zufügung: das moralische Element. Dadurch erlangte die Religion einen höheren Einfluß auf die allgemeine Kultur. Während auf roheren Stufen der Religionsentwickelung der Mensch fast nur als der Fordernde auftritt, der an die Geister, Fetische etc. mit seinen Wünschen oder gar Befehlen herankommt, für deren Erfüllung sie ihre Opfer erhalten, wird nun das Geistige zur Macht, die, mit Lohn und Strafe ausgerüstet, über ihm waltet und nicht nur leitet, sondern auch zwingt. Diese durch manche Stufen zu verfolgende schärfere Herausbildung des moralischen Elements in der Religion geht Hand in Hand mit ihrer Läuterung von einer Masse von Elementen, die ohne tiefere innere Verwandtschaft mit ihr verbunden zu sein pflegen, wie denn auf niederen Stufen nicht bloß der Dienst des außermenschlichen Geistigen, sondern auch die Pflege des Geistes im Menschen, d. h. alle Anfänge von Wissenschaft, Kunst und Dichtung, Sache der Zauberer, Priester und dergleichen sind. So haben wir einen Punkt, den wir einem Sammelpunkt vieler wirren, gewundenen Pfade vergleichen möchten, die sich nun zu wenigen klaren, geraden Wegen vereinigen. Die mit vielen Erniedrigungen verknüpfte, aber endlich doch zur Höhe führende Verbindung der Religion mit dem bürgerlichen Gesetz befreit sie zugleich in zunehmendem Maße von der Verbindung mit allen geistigen Thätigkeiten, die sich selbständig als Kunst und Wissenschaft entwickeln sollen. Die Trennung bahnt sich an in der Verteilung der Priesterfunktionen des Zauberns, Heilens, Regenmachens, der Bildschnitzerei, des höfischen Gesanges etc. auf eine Anzahl von Personen, gelangt aber erst auf der Schwelle des Zeitalters der Kunst und Wissenschaft zur Vollendung. Die Geschichte zeigt uns die Dichtung, die Künste und die Wissenschaften in selbständiger Thätigkeit zuerst im alten Griechenland; in Ägypten waren sie alle noch an die Priesterkaste gebunden.

Die Verbindung der weltlichen und geistigen Mächte ist auf allen Stufen der heutigen Menschheit zu finden. Die Macht eines Häuptlings ist unvollkommen ohne Zaubermacht, die er selbst oder durch die engste Verbindung mit den Priestern ausübt: nur Kriegshäuptlinge mögen Ausnahmen machen. Schon hier muß der Dichter mit dem Fürsten gehn. Mißlingen der Regenmacherei kann das Ansehen eines Fürsten ganz vernichten; Beispiele von Sturz und Ermordung wegen Mißerfolges beim Zaubern bietet Afrika mehrfach. Auf der anderen Seite kann man sich kaum eine mächtigere Stütze der Tradition eines Herrscherhauses verstellen als die Ahnenverehrung, die aus jedem Inka Cuzcos einen Heiligen machte. Ozeanien zeigt uns eine Menge von Beispielen, daß Fürsten oder Kriegshelden in die erste Reihe der Götter traten. Die Erblichkeit der Macht wurde hierdurch wesentlich gestärkt. Wir erinnern uns hier einer Bemerkung P. Mérimées, daß zu der Bevorzugung der Etrusker durch die Römer vor anderen Italioten auch die Kenntnis der ältesten religiösen Überlieferungen und der Zeichendeutung beigetragen haben möge, wodurch sich die etruskische Aristokratie auszeichnete. Was der Gesellschaft und dem Staat gut ist, wird als gottgefällig bezeichnet: Geister, die mit dem Wohl der Familien, der Gesellschaften, der Staaten in Beziehung gesetzt werden, können nur wohlthätig sein. Mit dem Unveränderlichen des Gottesbedürfnisses verbinden sich die wandelbaren Forderungen der Moral, die tiefe und zum Teil edle Bedürfnisse der Gesellschaft befriedigt, indem sie die Ehrung des Alters, den Schutz der Ehe, der Kinder, aber auch des Eigentums (höchst egoistische Tabúgesetze) anbefiehlt. Damit ist die Vermischung der weltlichen und geistigen Interessen gegeben. Der mit dem Fürsten unter Einer Decke auf Volksverdummung hinarbeitende schlaue Priester der Aufklärung ist, besonders auf dieser Stufe, nicht bloß Fiktion. Ist der Häuptling ein heiliger Mann, so ist Verstoß gegen die Ordnung, an deren Spitze er steht, Sünde, und die Religion dient nun auch zu leichterer Bändigung der Störenfriede und Umstürzler.

Die Unterscheidung von Gut und Böse, die die mosaische Sage mit tiefem Gefühl in den Anfang der Menschwerdung setzt, muß sich auch auf anderem Wege früh und von selbst herausgebildet haben. Die Natur zeigt Schädliches und Nützliches; aus ihr geht durch Allbeseelung der Gegensatz in die Geisterwelt über. Das Gefühl des Dankes gegen den Guten wird stets von neuem hervorgerufen. Man muß ihn haben, muß ihn anflehen können. Und wenn alles Gute einer Ahnenseele zugeschrieben wird, ist damit eine mythische Verkörperung des Guten gegeben. Das Gute ist aber hier noch lange das dem Einzelnen, nicht der ganzen Gesellschaft Wohlthuende. Annäherung an diese Vorstellung ist es, wenn in Neupommern die Schöpfung aller guten Dinge, seien es Länder, Einrichtungen oder nur Fischfallen, einem einzigen Wesen, To Kabinana (weise), die aller übeln Dinge einem anderen, To Kovuvuru (ungeschickt?), zugeschrieben wird. Für die tiefe Kluft zwischen moralloser und mit Moral erfüllter Religion spricht die menschliche Schwäche der Himmelsbewohner. Warum sind die mythologischen Gestalten, die Götter, moralisch oft so verworfen, schlechter sogar als die sie anbetenden Menschen? Eine verkehrte Auffassung der Kraft und Gewalt, wodurch sie sich über die Masse erheben sollen, schafft ein falsches Ideal von Göttergröße. Dazu kommt das in der Mythologie behaglich sich ergehende fabulierende Element, das über die ganze Welt das andere falsche Ideal des schlauen, in Liebes-, Kriegs-, selbst Handelsabenteuern überlistenden Gottes verbreitet hat.

Im Priester wohnt körperlich die Geisterwelt, mit der er zu verkehren, die er zu bannen und beschwören hat. Seine Heranbildung ist die Vertreibung der gewöhnlichen Seele und der Einzug einer neuen; er eignet sich dazu am besten, wenn er geistig abweicht von der Menge, geisteskrank, fallsüchtig, zu Halluzinationen und lebhaften Träumen geneigt ist. Die Traditionen des Fetischpriestertums pflanzen sich durch Erziehung fort, die dafür passenden Jünglingen erteilt wird. Als Verwandlung aus einem Normalmenschen in einen zauberkräftigen Gebieter der Geister nimmt sie den Charakter des Wunderbaren, sogar einer Art von Seelenwanderung an. Wen der Fetisch liebt, den führt er weg in den Busch und begräbt ihn in dem Fetischhause, oftmals für eine lange Reihe von Jahren. Wenn der Entführte wieder zum Leben erwacht, beginnt er zu essen und zu trinken wie zuvor; aber sein Verstand ist weg, und der Fetischmann muß ihn erziehen und selbst in jeder Bewegung unterweisen wie das kleinste Kind. Anfänglich kann das nur durch den Stock geschehen; aber allmählich kehren die Sinne zurück, so daß sich mit ihm sprechen läßt, und nachdem seine Ausbildung vollendet ist, bringt ihn der Priester seinen Eltern zurück. Die würden ihn oft nicht wiedererkennen, wenn er ihnen nicht frühere Ereignisse ins Gedächtnis zurückführte.

Der Kern seiner Kunst liegt in dem Verkehr mit den Geistern der Abgeschiedenen, aber als Zauberer ist er das Gefäß alles Wissens, aller Erinnerungen und aller Ahnungen. Manche Europäer haben die Wirksamkeit seiner Kräuter- und Wurzelarzneien schätzen können. Der Stand der Zauberer ist eine höhere Stufe des ärztlichen Standes. Bleek behauptet von den Natalkaffern, daß ihre Doktoren sonst Tiere sezierten, daß aber einige in Kriegszeiten im geheimen auch Menschen seziert hätten. Dies steht vereinzelt. Jedenfalls begnügen sie sich ebensowenig wie ihre Kranken mit natürlichen Mitteln aus dem Pflanzen- und Tierreich, sondern wirken nach ihrer Meinung am tiefsten und sichersten durch Vermittelung übernatürlicher Kräfte, wodurch auch andere Übel als Krankheit, wie Liebesgram, Haß, Neid, ihre Heilung finden können. Die Hervorrufung von Sinnestäuschungen war den Priestern geläufig; indem sie solche ausführten, schufen sie nur von neuem Stützen des Glaubens. Die Geheimnisse der Suggestion, der Hypnose u. dgl. besaßen sie lange vor der Wissenschaft. Viel weiß das Volk selbst, aber das Beste hat eben der Zauberer als Geheimnis inne. Man bedenke die Macht in der bloßen Thatsache der Überlieferung. Oft ist ja die einzige Art der Geschichtskenntnis unter diesen Völkern die Überlieferung wichtiger Ereignisse, die sich heimlich unter den Priestern vererbt und die Rat Heischenden durch den Schein eines übernatürlichen Wissens überrascht. Dieses Wissen kann natürlich auch in den Dienst der Herrschenden, der Politik gestellt werden. Die Heiligung der Tradition hatte auch den Zweck der Befestigung; und in diesem Sinne kann man sagen: sie ersetzt die Schrift. Die Schrift und der Buchdruck haben den Priesterstand geschädigt. Die Kunst der Überlieferung wird also ganz besonders ausgebildet; es gehört dazu die Kenntnis überlieferter Zeichen und Bilder, auf höheren Stufen die Schreib- und Lesekunst, womöglich in besonderer Schrift, wie die der ägyptischen Priester. Besondere Priestersprachen kehren bei den verschiedensten Völkern der Erde wieder. Neben den Grundideen des Schamanentums finden sich überall ähnliche oder bis ins Kleine übereinstimmende Einzelheiten von zum Teil durchaus nicht selbstverständlicher Art. Pfeile, die zur Erlegung des entfliehenden »bösen Geistes« nach vollendeter Beschwörung abgeschossen werden, gehören am unteren Amur zum Zauberapparat, ebenso wie in Afrika, Amerika und Ozeanien.

Die Verwendung der Maske bei religiösen Zeremonien ist in allen Ländern polytheistischer Glaubensformen weit verbreitet; Tier- und Menschenmasken, Ungeheuer und komplizierte Kopfaufsätze, sie finden alle bei religiösen Handlungen ihre Verwendung. In China, Tibet, Indien, Ceylon, bei den alten Mexikanern und Peruanern kehren sie wieder, wie bei den Eskimo, Melanesiern und afrikanischen Negern. In Gräbern der Alëuten sind den Leichen Masken beigegeben, deren Züge komisch entstellt sind, so daß man geneigt ist, sie für Tanzmasken zu halten, die einst einem profanen Zwecke dienten und jetzt mit den ernsten Vorstellungen vom Leben und Wiederkehren nach dem Tode verbunden werden.

Die Vorbedeutungen setzen allein eine ganze Wissenschaft voraus. Ihre Menge ist so groß, daß sie alles durchwuchern und das Leben von allen Seiten her einengen. Hier nur einige Beispiele von den Kaffern: Das Milchessen bei Donner zieht den Blitz an. Wer Milch in einem fremden Krale ißt, wird dort ein Verbrechen begehen. Wer einen Habicht tötet, muß sterben. Wenn sich ein solcher Vogel in einem Krale niederläßt, ist es ein Zeichen von Unglück für den Besitzer. Hahnenschrei vor Mitternacht bedeutet Tod für Mensch oder Vieh. Der Schnurrbart eines Leoparden bringt dem, der unbewußt davon in seiner Speise genießt, Krankheit und Tod; wer ihn aber mit etwas von dem Fleische dieses Tieres genießt, wird mutig und hat Glück auf der Jagd. Wer in Dornen tritt, muß sie essen, um sich für das nächste Mal davor zu schützen. – Der schreckliche, weitverbreitete Glaube, daß kein irgendwie ungewöhnlicher Todesfall natürlich sein könne, erzeugt eine Menge von Zaubereien, die eine große Kenntnis von Persönlichkeiten und ihrem Einfluß voraussetzen. Die Gottesgerichte, in Afrika durch starke Gifte verschärft, sind von einem strengen Ritus umgeben, ebenso der Regenzauber, die Erneuerung des Feuers, die wiederkehrenden wichtigsten Abschnitte im Felde, Viehkral und auf der Jagd.

Dem raschesten Verfall sind stets die geistigen Elemente einer Kultur ausgesetzt. Da nun gerade diese die treibenden Kräfte in der Fortentwickelung sind, so erhellt allein daraus schon die große Neigung zum Stehenbleiben mit unvermeidlichem Rückgang. Die Geschichte der Religionen ist hier vor allem lehrreich. Fragen wir, in welchen Elementen das Christentum bei den Abessiniern und der Buddhismus bei den Mongolen die größten Umwandlungen erfahren hat, so lautet die Antwort: in den geistigsten. Alle Religionsstifter trugen höhere Ideale in sich als ihre Nachfolger, und die Geschichte der Religionen ist immer zuerst ein Herabsinken von einer Höhe, die reine Begeisterung erreicht hatte, und zu der spätere Reformatoren in großen Zwischenräumen sich und ihre Mitbekenner wieder zu erheben suchen. Im Monotheismus schmeckt man die Bitterkeit herber Lebenserfahrungen eines vorgeschritteneren Alters. Wer wundert sich, daß junge, naive Völker ihn nicht in seinem reinen Werte schätzen? Abstraktionen sind nicht für die Masse. Von der Dogmatik gilt dasselbe. Nicht der Reinheit der Dogmen gilt der Fanatismus der Menge, sondern der Ungestörtheit ihrer Glaubensgewohnheiten. Wie leicht bei der Ausbreitung über die Völker hin die tief verschiedenen Grundlagen der Religionen hinter den Formen verschwinden, lehrt nichts besser als die Gleichzeitigkeit der Buddha- und Brahmaverehrung in vielen Tempeln Birmas und Ceylons. Die Ruinen von Angkor Vât in Kambodscha sind ein einzig großartiges Zeugnis dieses Herabgestiegenseins zur Religionsmengung.

Der Verfall zeigt sich äußerlich im Zwiespalt von Form und Wesen. Hier bilden sich die ersten Risse. Darin arbeiten dann zersetzende äußere Einflüsse (Machtverringerung, Verarmung, Verlust der Unabhängigkeit, Schwinden an Zahl) zerstörend weiter. Die künstlerischen Fertigkeiten halten nicht Schritt mit der geistigen Schöpferkraft. Man vergleiche die geistigen Gebilde der polynesischen Mythologie mit ihren hölzernen oder steinernen Darstellungen! Der Geist verschäumt, ohne Schöpfungen zu hinterlassen, die seiner Kraft und Größe ganz entsprechen. Die Formen aber bleiben. Daher stehen so oft bei den sogenannten Naturvölkern die Formen, auch die unvollkommensten, höher als das Wesen; und darin liegt allein schon ein Heruntergestiegensein. Verstümmelten Spuren höherer Vorstellungen begegnen wir in fast allen Religionen, und zwar nicht bloß geistigen, sondern auch rein materiellen; wie jenen buddhistischen Kultgegenständen, die in den schamanistischen Apparat übergehen, wohin sie besonders der lebhafte Handel zwischen den sich bereichernden Schamanen und Chinesen bringt, oder den christlichen Kreuzen, die zu Tuckeys Zeit am unteren Kongo als Fetisch getragen wurden. Das Christentum war in einzelnen Begriffen den Missionaren vorausgeeilt. Als Dobrizhoffer Guarani am Empalado bekehren wollte, antwortete ihm ein alter Kazike: »Pater Priester, Ihr seid umsonst gekommen, wir brauchen keinen Pater Priester. Der heilige Thomas hat unserem Lande schon lange seinen Segen mitgeteilt.« Die Auffassung von einem Teufel, dem hervorragendsten bösen Geist, ist durch ungebildete Europäer lange vor dem Christentum verbreitet worden und hat zu der Annahme von »Teufelsanbetern« und eines Dualismus guter und böser Geister geführt. Was dagegen die teilweise auch verdächtigen Schöpfungs- und Sündflutsagen mit ihren merkwürdigen Anklängen an die Genesis betrifft, so sind sie zu allgemein verbreitet und zu tief mit der ganzen Mythologie verflochten, als daß wir ihnen einen so jungen und zufälligen Ursprung zuweisen könnten; davon gehört ein Teil dem Weltmythus an, dessen Ursprünge vor dem Christentum liegen.

 

Haben wir in der Religion vereinzelte Entwickelungen oder ein Gewebe mit hier dichteren, dort lockereren Maschen? In der Antwort liegt mehr, als jede Klassifikation bieten kann; ja man wird erst recht zu klassifizieren vermögen, wenn man sich klar geworden ist, was Gemeineigentum der Menschheit, was Sonderbesitz eines Volkes sei. Was wir hierüber zu sagen haben, schließt sich an das oben über den Gemeinbesitz der Menschheit Ausgesprochene ergänzend an.

Vor allem sind Seelenglaube und Ahnenverehrung allgemein menschlich: Bastian nennt sie Elementargedanken. Wie die Begräbnisgebräuche lehren, stimmen sie oft bis in Einzelheiten überein. Man könnte daraus eine allgemeine Seelenlehre der Naturvölker rekonstruieren. Darin passen chinesische und indianische, germanische und australische Fragmente wunderbar zusammen und bilden eine einheitliche und in den Grundzügen folgerichtige Lehre. Die Allbeseelung der Natur haben wir hieran sich anschließen sehen. Zwar hat sie verschiedene Gegenstände in Grönland und Fidschi zu beseelen; aber sie schöpft aus der gleichen Quelle gleich freigebig abergläubische Gebräuche von absoluter Gleichheit. Daher sind auch die Menschen, denen Macht über diese Dinge gegeben ist, so außerordentlich übereinstimmend geartet und gestellt. Der nordasiatische Schamane und der afrikanische Regenmacher, der amerikanische Medizinmann und der australische Zauberer sind im Wesen, im Zweck, zum Teil sogar in den Hilfsmitteln und Methoden gleich.

Alle Mythologie ist über die kleinen örtlichen Einflüsse, die einst mächtig in ihr gewesen sein müssen, hinausgewachsen. Wir meinen nicht, daß in der mythologischen Spiegelung regelmäßiger Naturerscheinungen im Volksgeist das Entscheidende nicht oft die kleine Abweichung nach einer oder der anderen Seite sei, die als Abweichung weit über das Maß ihrer Größe hinaus empfunden wird, wie die Verzerrungen der Sonne am Horizont; wir übersehen nicht, daß die hohe Blüte des Sonnendienstes in Peru mit auf der Sicherheit ruhte, in dem regen- und wolkenarmen Lande das strahlendste aller Himmelsgestirne fast jederzeit unverhüllt zu erblicken; wir vergessen auch nicht die Einflüsse geschichtlicher Thatsachen, wie sie uns in der Sage von dem Ursitz der Irokesen und Algonkin entgegentreten, worin sie nicht bloß ihre Heimat, sondern auch die Stätte sahen, woher gütige, weiße, bärtige Männer zu ihnen gekommen wären. Es kann hier dem einen Element mehr Gewicht beigelegt werden, dort dem anderen: die Hauptsache bleibt, daß sie durch gleiche Grundgedanken verbunden werden, die daraus das aufbauen, was wir Weltmythus nennen.

Der größte Zug des Weltmythus ist der Gegensatz von Himmel und Erde. Der Himmel tritt bald als solcher, bald als Sonne uns entgegen, oder die Sonne ist das Auge des Himmels; beide ersetzen einander: so, wenn bei den Südamerikanern an die Stelle des deutlichen Glaubens der Nordamerikaner an die Sonne als künftiges Heim der Seele der Glaube an den Himmel tritt. In der Schöpfung ist die Sonne die Gehilfin des Himmels. Die Erde steht beiden immer gleich gegenüber; ihre Geschöpfe sind untergeordnet; sie ist immer nur das Eine Weib, mit dem der Himmel alles zeugte, was ist, besonders die Menschen. Um Sonne, Blitz (Donnergott), Feuer, Vulkane und Erdbeben gruppiert sich auch die Vorstellung eines Schöpfungsgehilfen, der der Erde ebenso nahe kommt im Wandel der Sonne, im Zucken des Blitzes, im vulkanischen Ausbruch, wie der Himmel ihm ferne bleibt. Hephästos und Prometheus, Demiurg und bestrafter Feuerbringer, Beleber und Zerstörer, steht er im Mittelpunkt so manches Verehrungskreises, und der Himmel, der Allvater, tritt hinter ihm weit zurück. Die Maui-Mythen sind allgemein menschlich, nicht speziell polynesisch. Man könnte sie ebensogut nach Loki nennen, der auch ein gelähmter Unterirdischer ist, oder nach Daramulun, dem Donnergott südaustralischer Stämme, dessen Namen Ridley wörtlich übersetzt: »Bein auf einer Seite« oder »lahm«, oder nach dem hottentottischen Tsuigoab, dem »verwundeten Knie«. Alle Mythen, und so auch sie, dürfen nicht entsprechend ihrer bald größeren, bald geringeren, bald dichteren, bald lockeren Verbreitung zur Grundlage von Schlüssen gemacht werden, die sich nur auf beschränkte Stammesverhältnisse beziehen: es wird genügen, wenn die charakteristischen Eigenschaften der Figur wiederkehren. Maui ist an einem Gliede gelähmt wie Hephästos und wohnt in der Erde; wenn die Südafrikaner an einen lahmen Gott im Boden glauben, so ist er es; vervielfältigt tritt er uns sogar in einbeinigen Gnomen entgegen, die den in einer Höhle wohnenden Feuergott der Araukaner umtanzen. Die Wolkenschlange mit den Blitzen ist den Nahua die Schöpferin der Menschen, wie der Donnergott den Tarasco, wie der Ndengeh den Fidschianern; und dieser ist wieder eine Schlange, die mit dem Grund der Erde verwachsen ist, und deren Bewegungen Erdbeben erzeugen. Und diese Schlange ist endlich der endlos variierte heilige Drache Chinas und Japans.

Im Zusammenhang mit der Annahme vieler Völker, daß der im Osten wohnende Licht- und Himmelsgott ihr Schöpfer und Wohlthäter sei, verlegen sie ihren Ursitz nach Osten, wo die Mexikaner »Aztlan«, das Land der Helle, dichteten, und noch öfter das Land der Seelen in den Abendhimmel, wo ihnen die Inseln der Seligen im Golde der sinkenden Sonne auftauchen. In der Beschreibung der Wege, die die Seele zurückzulegen habe, ihrer Gefahren und Rettungen liegt eine Summe von Gemeinsamkeiten, die viel zu groß ist, als daß sie der Missionar mit der ganzen Energie seines Wollens von Volk zu Volk hätte tragen können. Wir erinnern an die hawaiische Erzählung von der Zurückholung einer Seele aus der Unterwelt, die oben erwähnt wurde.

Kaum eine Schöpfungssage gibt es, wo nicht ein Baum hervorsproßte, der Hesperidenbaum, die Esche Ygdrasil, der Baum des Paradieses. Er steht zwischen Himmel und Erde, die Götter steigen auf ihm herab, die Seelen finden dort den Weg in den Himmel, für sie wird er auch ein rauher Balken, worauf sie hinüberschwanken, die ganze Schöpfung endlich ist von ihm ausgegangen.

Diese ganze Mythologie, trümmerhaft und halb unverstanden zusammengefügt, mutet, wie sie vor uns steht, wie ein Bau aus alter Zeit und fremden Steinen an, worin sich die eigentlichen Götter der heutigen Menschen, die zurückkehrenden und umherwandernden Seelen der Verstorbenen, in tausend Formen umhertreiben, zu denen sie aber nur an wenigen Stellen eine innige verwandtschaftliche Beziehung gewinnen. Die Grundgedanken des Seelenglaubens, und was darum sich rankt, sind zu anderer Zeit und aus anderen Quellen über die Erde gewandert als die kosmogonischen Sagen, die Göttermythen und die Ausmalungen des Jenseits, jene wohl viel früher als diese. Beide zeigen in den entlegensten Gebieten die auffallendsten Übereinstimmungen; aber in jedem Gebiete sind sie zwei Gedankenwelten für sich, die sich nur an einigen Punkten inniger berühren, und zwischen die endlich noch Eigentümliches tritt, das man »freie Erfindung« oder mindestens »freie Variation« nennen könnte. Die Anschauung teilen wir nicht, daß jede Sitte, jeder Gebrauch dieser überlieferungslosen Völker an tiefen Wurzeln historischer Verbindungen hängen müsse. Manches wird spielend erzeugt: der Riambakult der Baluba ist nicht die einzige folgenreiche Eingebung einer Laune. Neben den großen Übereinstimmungen finden wir schließlich die kleinen, die jene erklären helfen, deren Reste, Wurzeln oder Sprossen sie sind.

Wie wir denselben Schutt- und Saatpflanzen begegnen in allen Teilen der Erde, wo Europäer Häuser gebaut und Äcker gepflügt haben, so sprießen einzelne, an sich wenig bedeutende abergläubische Gebräuche als Reste und Spuren allverbreiteter Gedanken hervor. Nicht nur der Glaube an den bösen Blick, sondern Hand und Hufeisen als Mittel gegen bösen Blick gehen durch Indien, Arabien, Nordafrika und Europa. Daß in Marokko Frauen Bällchen aus ihrem Haar bei Trauer oder nach Krankheiten an bestimmte Bäume aufhängen, ist eine Sitte, der wir als »Haaropfer« in den verschiedensten Formen in allen Teilen der Erde begegnen; sie bildet nur einen Teil eines Komplexes von Gebräuchen, die auf die Werthaltung, Verbergung oder Opferung von Abfällen des Körpers zielen. Dazu gehört auch die Beschneidung, eine der in der Verbreitung am meisten wechselnden Sitten. Sulu üben sie, Betschuanen nicht; man findet sie aus Neukaledonien und nicht auf den Loyalitätsinseln. Dann geht sie wieder in der besonderen Form der Zirkumzision durch die verschiedensten voneinander entlegenen Länder.

 

Um einen allgemeinen Überblick über die Verbreitung der verschiedenen Religionen zu erhalten, pflegt man sie in wenige große Gruppen zu teilen. Soll sich die Gruppierung auf die tiefstgehenden Unterschiede gründen, damit die Menschheit nicht in zufällige Stücke zerschlagen, sondern nach der wahren Höhe und Tiefe der Entwickelung ihrer Religionsbekenntnisse unterschieden werde, so dürfen nicht immer nur herkömmliche, äußerliche Momente in Betracht gezogen werden, wie Christentum, Heidentum, Monotheismus, Polytheismus. Überblickt man die religiöse Entwickelung der Menschheit im Zusammenhang mit ihrer Gesamtentwickelung, so erkennt man, daß die großen Marksteine der religiösen Entwickelung an anderen Stellen liegen. Der Monotheismus tritt selbst im Polytheismus der Götzendiener als ein natürliches Streben auf Schaffung Eines Höchsten hervor, und in die monotheistischen Bekenntnisse drängt sich ein Trieb auf Zerlegung des Einen, Fernen, in viele erreichbarere Heilige.

Wir finden am Grunde der religiösen Entwickelung der heutigen Menschheit:

I. Religionen ohne hohe Erhebung des Göttlichen über Menschliches und ohne starkes moralisches Element. Sie ruhen durchaus auf Seelen- und Gespensterglauben; Wahrsagung, Heilkunde, Regenzauber und anderer Aberglaube ist damit verbunden.

In einer Gruppe finden wir nur schwache Anknüpfung an die Naturerscheinungen, daher starke Neigung zum Fetischismus: viele Negervölker, Nordasiaten; in der anderen höhere Entwickelung kosmogonischer und mythologischer Vorstellungen zu ganzen Systemen: Ozeanier und Amerikaner.

II. Religionen, die das Göttliche hoch über die menschliche Sphäre erheben und sich von der Vermischung mit anderen geistigen Bestrebungen wissenschaftlicher, dichterischer Art etc. fortschreitend loslösen, dafür aber immer mehr das moralische Element zur Ausbildung bringen. In der Annahme künftigen Lebens mit Lohn und Strafe kehrt der Seelenglaube geläutert wieder.

Polytheismus oder Vielgötterei, die mehreren örtlich wechselnden Göttern eine herrschende Stellung einräumt, ohne ihnen selbst immer etwas sittlich Überragendes zuzuerkennen: Brahmanisten und Buddhagläubige, die vorchristlichen Europäer, die alten Amerikaner.

Monotheismus in verschiedenem Grade der Entwickelung, je nach Zahl und Bedeutung der zwischen dem Einen Gotte und den Menschen sich einschiebenden Gottesverwandten, Heiligen etc. Der einzige Gott erscheint in höchster moralischer Vollkommenheit: Juden, Christen, Mohammedaner.

Das Christentum legte im Beginn der innigen und vielfältigen Berührung mit außereuropäischen Völkern bald das Vorurteil ab, daß deren Seelen nicht zum Heil bestimmt seien; und die Missionare sind vom Anfang des 16. Jahrhunderts an die unvermeidliche Begleitung des Handels und der Eroberung, selbst des Sklavenhandels geworden. Nicht nur als eine Einrichtung religiösen Zweckes, sondern überhaupt als ein Wirken Fremder inmitten eines Volkes, von dessen Wesen jene oft sehr wenig wissen, in das sie aber kräftigst einzudringen streben, ist ethnographisch das Auftreten der Missionare bedeutungsvoll.

Die monotheistischen Religionen können sich zwar an eine so schwankende, unsichere Vorstellung wie die des Njambe oder Manitû nicht anschließen; in den meisten Fällen haben sie nicht einmal die Namen des höchsten Wesens, die sie vorfanden, für ihren Einen Gott benutzen können, weil die Mißverständnisse zu groß geworden wären. Aber in anderen Gedanken der Religionen der Naturvölker liegt die Möglichkeit des Anschlusses, ja fruchtbaren Weiterbauens auf dem Vorgefundenen Grunde zweifellos vor; sie zu betonen ist ebensowohl theoretisch für die Erkenntnis des vielverachteten Religionswesens der Naturvölker als praktisch für die Schätzung der Aussichten des Christentums von Wert. Der Gedanke des Fortlebens der Seelen Gestorbener, worin zugleich der eines Jenseits ruht, ist grundverwandt mit der christlichen Seelen- und Unsterblichkeitslehre. Die Pflege der Erinnerung an die Ahnenseelen widerspricht nicht dem Christentum; aber es muß Halt machen vor der Vergöttlichung der Ahnen: damit beginnt der Götzendienst. Das Christentum findet in den kosmogonischen Mythen der Naturvölker Grundzüge seiner eigenen Schöpfungslehre wieder, manchmal in auffallender Übereinstimmung; an die Demiurgen kann endlich die christliche Auffassung von Gottvater und Gottsohn anknüpfen.

Die Kluft öffnet sich erst, wenn wir an die Moralgesetze herantreten, diesen wesentlichen Bestandteil der christlichen Lehre. Die Missionare müssen trotz Abrahams Opfer den Menschenopfern und der Geringschätzung des Wertes des Lebens schroff gegenübertreten; und, was schwerer ist, sie müssen ihre Einwirkung auf die Moral ihrer Schüler viel weiter über das Gebiet des rein Weltlichen ausdehnen als die Heidenpriester. Ihr Christentum muß eine soziale und wirtschaftliche Seite haben und damit revolutionär wirken. Polygamie und Sklaverei bilden zwei große Steine des Anstoßes. Die Missionare suchen ihr Ziel durch Reform der wirtschaftlichen Existenz ihrer Lehrbefohlenen zu erreichen, gehen aber darin leicht zu weit, denn eine Überleitung aus einem ärmlichen, aber bequemen Zustand in einen besseren, aber anspruchsvolleren kann nur eine wirtschaftliche Revolution sein, die nicht Segen allein bringen kann, sondern auch Schaden stiften muß; und diesen früher als jenen. Die Existenz der Feuerländer kann dem europäischen Auge schrecklich, ihrem eigenen trefflich erscheinen. Der Missionar wird allerdings von der Auffassung ausgehen müssen, daß die höhere Kultur ohnehin zersetzend auf die Lebensverhältnisse der Heiden wirkt, und daß er durch die praktische Schulung seiner Lehrbefohlenen den Übergang zu mildern habe. Er soll aber nicht den Handwerker oder Kaufmann spielen. Das widerspricht dem mystischen Element, das in dem Priestertum der Naturvölker mitsamt einer Masse von Aberglauben gelegen ist. Man unterschätze dieses nicht, sondern erinnere sich an die in Afrika weitverbreiteten Entsagungsgelübde, die unter besonderen Zeremonien abgelegt und streng gehalten werden, oder an die körperliche und seelische Selbstzerstörung des in Krämpfen seine Seele aussendenden Schamanen. In der gesunden Verbindung von Entsagung und praktischer Arbeit liegen die Erfolge der missionierenden Mönchsorden. Was die deutschen Missionare bei den Hereró erzielt haben, hat zur Grundlage eine wirtschaftliche und soziale Entwickelung, die so, wie sie war, das Christentum aufnehmen konnte. Mehr als die gesprochene Lehre wirkt die That, die in der Haltung des Missionars und vor allem in der sicheren Ruhe erscheint, womit er die Dinge der Welt anschaut und behandelt. In den Wust des Aberglaubens kann endlich nur der Priester Bresche legen, der zugleich auch Arzt sein kann.

Die überall wiederkehrende Verbindung des Häuptlings- und Priestertums läßt nicht zweifeln, daß der Erfolg der Missionen auch von den politischen Verhältnissen und ihrer richtigen Würdigung abhängt. Wo sich die Missionare auf einen mächtigen Herrscher stützen können, wird die Lösung ihrer Aufgabe in den meisten Fällen geradezu erst möglich gemacht. Die mit so großen Hoffnungen gestiftete österreichische Mission in Gondokoró ging zu Grunde, ohne nennenswerte Spuren ihrer hingebenden Thätigkeit zu hinterlassen, hauptsächlich weil sie vollkommen auf sich selber stand. Dort war statt einer Regierung, die die politisch ganz zerfallene Bevölkerung der Bari im Zaume halten und ihren Besitz vor ihnen selber schützen konnte, eine ihrem Wesen und ihren Zwecken nach der Missionsthätigkeit entgegengesetzte Gesellschaft, nämlich die der Sklavenhändler. Ganz anders gestalteten sich die Ergebnisse, wo die Missionare auch nur geduldet von einem Häuptling ihre Wirksamkeit zu entfalten vermochten, wie Moffat bei Mosilikatse, oder wo sie sich des Schutzes mächtiger Häuptlinge erfreuten, wie Livingstone bei den Basuto-Makololo unter Setscheli und Sebituane, oder die Missionare der verschiedenen Konfessionen in Uganda unter Mtesa und Muanga, wo sie aber leider nicht vermocht haben, sich über den Parteien zu halten.

Aus alledem dürfte klar werden, daß die Mission nur nach eingehendem Studium der religiösen Anschauungen und weltlichen Einrichtungen der Naturvölker mit Aussicht auf Erfolg ans Werk gehen kann. Vielen Missionaren, die das gefühlt haben, verdankt die Völkerkunde höchst wertvolle Beiträge. Sehr häufig war es das unvermeidliche Studium der Sprachen, das tiefer in das Verständnis des Volkslebens einführte. Aber auch das, was am Christentum das Tiefe und Wesentliche ist, muß verstehen, wer es »Wilde« lehren soll. Am erfolglosesten sind immer ungebildete, zur richtigen Auffassung ihres eigenen Glaubens nicht befähigte Missionare gewesen, wie sie besonders England und Nordamerika in Masse ausgesandt haben, Leute ohne Liebe, die oft mehr Kaufleute oder politische Agenten als Diener des Christentums waren.

Zum Schluß sei noch hervorgehoben, daß die Einpflanzung eines neuen Glaubens immer zugleich eine kulturliche Umgestaltung bedeutet und nicht Sache einer Generation sein kann. Die Mission duldet keine Eile, sie darf sich nicht der Mühe scheuen, Sandkorn auf Sandkorn zu häufen, sie muß sich nicht verführen lassen, Gelegenheiten, die rascheren Fortschritt zu gestatten scheinen, begierig zu ergreifen und sich damit von ihrem wahren Ziele auch nur vorübergehend zu entfernen.

 

Neben dem Christentum missioniert der Islam als zweite, in manchen Beziehungen dem Verständnis tiefer stehender Völker mehr entgegenkommende Eingottlehre. Der Islam ist in Afrika und Asien im Vorschreiten begriffen. Er mag sich oberflächlich ausbreiten, wie in den Negerländern Afrikas, wo bei den For unter seinem Firnis der Glaube an einen Gott Mola und die Verehrung des Himmels erhalten bleibt und in Westafrika seine Priester einen unmerklichen Übergang zu den Fetischdienern bilden; aber endlich wurzelt er sich tiefer ein als das Christentum. Er bietet keine logischen Schwierigkeiten, und was er praktisch gebietet, dem ist mit einer gewissen lockeren Breite nachzuleben. Die Gestattung der Vielweiberei und der Sklaverei verleiht ihm eine unvergleichliche Überlegenheit gegenüber dem Christentum. Das Verbot der Vielweiberei schließt vom Christentum, so lange nicht eine tiefgehende Erneuerung der Sitte Platz gegriffen, alle jene Besitzenden aus, deren höhere gesellschaftliche Stellung durch nichts so sehr bezeichnet wird als durch die Möglichkeit, mehrere Frauen zu unterhalten, und die ihres Besitzes auch in keiner anderen Weise so froh werden wie darin. An dieser Satzung, die selbst die Missionare nicht immer schroff zu vertreten wagen, die im südlichen Uralgebiet noch in den letzten Jahren unter den Augen russischer Beamten Hunderte von Tataren dem Christentum wieder entsagen ließ, hängt ein großer Teil des Einflusses des Islam. Es kommt aber hinzu, daß sich der Islam überhaupt der Gesellschaft und dem Staateleben tieferstehender Völker besser anpaßt und mit einer Kultur verbunden ist, die diesen um so viel näher steht, als ihnen die Ursprungsstätte des Islam geographisch und klimatisch näher gelegen ist.

Noch nicht ein Drittel der Menschheit ist dem Christentum gewonnen. Man zählt 570 Millionen Eingottgläubige; davon bekennen 440 Millionen das Christentum. Unter den übrigen 900 Millionen Erdbewohnern bilden die Buddhisten mit 600 Millionen die größte, dem Christentum am schwersten zugängliche Masse. Wesentlich der Rest des niedersten Heidentums ist es, woraus die Mission, die heute über ziemlich 3000 ordinierte Männer gebietet, ihre Bekehrten gewonnen hat. Die sichtbarsten Erfolge sind in Ozeanien erreicht, wo eine ganze Anzahl von Inselgruppen dem Christentum gewonnen ist, das aus ihrer Mitte bereits Missionare nach den Nachbarinseln sendet. In Afrika steht Madagaskar fast ganz unter christlichem Einfluß; die Hottentotten und Hereró, die Leute von Liberia und Sierra Leone und zahlreiche Stämme in Angola, an der Goldküste, am unteren Niger sind Christen geworden. In Asien ist etwa der 400. Teil der Bevölkerung Indiens getauft worden; noch kleiner ist die Zahl im Verhältnis zur Volksmasse in China – 65,000! Dagegen umschließt der Indische Archipel eine größere Anzahl von Christengemeinden. In Amerika sind die Eskimo von Grönland und Labrador fast alle dem Christentum gewonnen, ebenso zahlreiche Indianer Nordamerikas und der größte Teil der Indianer und Neger Westindiens. In Süd- und Mittelamerika hat Kirche und Staat der Spanier schon seit dem Anfang des 16. Jahrhunderts an der Bekehrung der Indianer gearbeitet, in den zugänglichen Gebieten mit großem Erfolg.

Es liegt auf der Hand, daß die Mission vollkommen verkennt, wer ihre Erfolge in diesen paar Zahlen ausgedrückt sehen will. Man muß sie immer nur verbunden mit anderen Kulturkräften denken, auf die sie fördernd oder zügelnd wirkt. Als geistige Macht wirkt sie viel, was seinem Wesen nach geistig ist. »Das Evangelium setzt allmählich neue religiöse Anschauungen und sittliche Begriffe in Umlauf, die auch den heidnischen Teil des Volkes mit einer neuen geistigen Atmosphäre umgeben. Überall, wo die Mission festen Fuß gefaßt hat, bleibt das Heidentum nicht, was es war; es beginnt ein Durchsäuerungsprozeß, der mit dessen Auflösung und dem Sieg des Evangeliums endigt.« ( Warneck.) Und außerdem strahlt das hinausgetragene Glaubenslicht Wärme zurück.


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