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4. Die Sprache.

»So ist die Begabung des Menschen, so seine Umstände, seine Geschichte, daß Sprache überall und ausnahmslos sein Besitztum geworden. Und so wie die Sprache allen Menschen eigen, ist sie auch ein Vorrecht der Menschheit: nur der Mensch besitzt Sprache.« ( Herder.) Und er besitzt sie in nicht wesentlich verschiedenem Grade. Jedes Volk kann jedes anderen Volkes Sprache lernen. Wir sehen täglich Beispiele von vollkommener Bemeisterung fremder Sprachen. Und darin sind keineswegs die Kulturvölker den Naturvölkern unbedingt überlegen. Viele höher gestellte Waganda sprechen Kisuaheli, einige arabisch; zahlreiche Wanyamwesi haben dieselbe Sprache gelernt. In den Handelsplätzen der afrikanischen Westküste gibt es genug Neger, die zwei- und selbst dreisprachig sind; und in den Indianerschulen Kanadas erstaunt die Missionare nichts so sehr als die leichte Bemeisterung des Englischen und Französischen durch die indianische Jugend.

Die Sprachmittel, die Laute ebenso wie die sie begleitenden Gebärden, sind über die ganze Erde hin einander sehr ähnlich, und nicht sehr weit geht der innere Aufbau der Sprachen auseinander. Man kann sagen, die menschliche Sprache ist nur eine an der Wurzel, die sie tief in die Seele des Menschen treibt; doch ist sie in sehr viele, sehr verschiedene Aste und Zweige auseinander gegangen. Zahllose Sprachen, die in jedem Grade voneinander abweichen: Dialekte, Schwester- oder Tochtersprachen, selbständige Sprachstämme, erfüllen mit wechselnden Tönen die Hütten und Haine der Menschen. Einige Völker können sich untereinander noch annähernd verständigen; einige Sprachen, die einander nicht so nahe stehen, zeigen doch bei oberflächlicher Betrachtung Ähnlichkeit, bei anderen liegen die Ähnlichkeiten so tief, daß nur noch die Wissenschaft dahin vordringt. Eine große Zahl von Sprachen endlich ist anscheinend völlig verschieden, nicht bloß in den Wörtern, sondern in der Struktur, den Beziehungen, die sie ausdrücken, den Redeteilen, die sie unterscheiden. Dabei gehen diese Unterschiede keineswegs Hand in Hand mit geistigen Verschiedenheiten der Sprecher. Individuen von jeder Abart der Begabung gebrauchen denselben Dialekt, und Seelen derselben Begabung und Richtung können sich nicht verständigen. Auch mit geographischen Verschiedenheiten stimmen sie nicht überein, und oft auch nicht mit Rassenunterschieden. Um wieviel steht nicht der englisch redende Neger dem Engländer ferner als der Chinese dem sprachlich tief verschiedenen Mikronesier! Die Bedeutung der Sprache für die Völkerforschung muß ganz wo anders als in dem auf Sprachverwandtschaft beruhenden Nachweise der Völkerverwandtschaft gesucht werden. Die Sprache wird immer in erster Linie als die Vorbedingung aller Kulturarbeit der Menschheit erscheinen. Sie kann das erste und wichtigste, ja das entscheidende Werkzeug des Menschen genannt werden. Sie ist aber auch so veränderlich wie ein Werkzeug. Ein Wort kann im Laufe der Jahrhunderte sehr verschiedene Bedeutungen annehmen, ganz verschwinden, durch andere, eigens ersonnene oder einer anderen Sprache entnommene ersetzt werden. Sie wird abgelegt wie ein Werkzeug und wieder aufgenommen. Nicht bloß einzelne verlieren ihre Muttersprache, wie der in Australien mit zwölf Jahren zum Naturmenschen gewordene Franzose Narcisse Pelletier, oder die Akka Mianis, die, im Knabenalter nach Italien gebracht, ihre Muttersprache nach wenigen Jahren gänzlich vergessen hatten: ganze Völker legen eine Sprache ab und nehmen eine andere an, wie man ein Kleid an- und ablegt. Es gibt gewisse Kulturerrungenschaften, die dauerhafter sind als die Sprache, z. B. die Kenntnis der Viehzucht. Wenn die Vergleichung der Religionsformen uns beständig darauf führt, daß sich die Namen ändern, während die Sache bleibt, so liegt hierin ein guter Beweis für den höheren Grad von Veränderlichkeit der Sprache im Vergleich zu anderen ethnographischen Merkmalen. Wir würden bei diesem für den Kenner des Völkerlebens so selbstverständlichen Punkte nicht zu verweilen wagen, wenn nicht noch immerfort die linguistischen Klassifikationen mit den anthropologisch-ethnographischen vermischt würden. Hat doch selbst eine sprachwissenschaftliche Autorität wie Lepsius es notwendig befunden, gegen die Auffassung zu protestieren, daß sich Völker und Sprachen nach Abstammung und Zusammengehörigkeit decken, wie noch immer in viel zu hohem Grade vorausgesetzt zu werden pflege. Es versteht sich, daß im Lichte einer solchen tieferen Betrachtung Begriffe wie indogermanische Rasse, semitische Rasse, Banturasse nicht bloß wertlos, sondern ganz verwerflich sind, weil sie irre führen, und daß, so unberechenbar groß Wert und Einfluß der Sprachen als erste Stütze und Stab in der geistigen Entfaltung der Menschheit gewesen sein mögen, ihre Bedeutung für die Nachweisung innerer Unterschiede der Menschheit ungemein gering ist. Während das wilde Jägervolk der Buschmänner eine fein gebaute, reiche Sprache spricht, finden wir die nach entwickelungstheoretischen Ansichten einfachste Sprache, die flexionslose chinesische mit ihren 450 wie Steine eines Geduldspieles aneinander zu setzenden und wieder aufzulösenden und dabei immer unverändert, eigentlich unorganisch bleibenden Wurzelwörtern, bei dem Volke, das die höchste und dauerndste Kultur Asiens entwickelt hat. Man kann unter diesen Verhältnissen wohl einen Stammbaum der Sprachen aufrichten, darf uns aber nicht glauben machen wollen, daß damit für den Stammbaum dieser Menschheit irgend etwas gewonnen sei, wo wir die niedrigst organisierte Sprache von einem der höchsten Völker und eine höchst organisierte von einem der niedrigsten gesprochen finden.

Die Universalität der Sprache ist das einfache Resultat der Thatsache, daß alle Teile der Menschheit lange genug existieren, um die Keime ihrer Sprachfähigkeit bis zu dem Grade zu entfalten, wo wir sie als Sprache bezeichnen. Nicht bloß Haeckels Alali ist lange, lange in die Vergessenheit hinabgestiegen; auch alle, die unvollkommen redend, lallend, nach ihm kamen, sind nicht mehr. Aber die Universalität reicht hier weiter: die Unterschiede der Organisationshöhe sind in den heutigen Sprachen gering. Die Sprache ähnelt hierin gewissen universellen Künsten oder Werkzeugen, die bei Naturvölkern nicht schlechter sind als bei den Kulturträgern. Ist es nicht mit der Universalität der Religionsbegriffe, der Kunsttriebe, der einfachen Geräte ähnlich bestellt? Zu Grunde liegt der Sprache der Trieb zur Mitteilung; sie ist daher nicht das Produkt des einzelnen Menschen in der Gesellschaft und in der Geschichte. Für und durch Mitteilung erwerben wir unsere ersten Kenntnisse, sie entwickelt und bereichert die Sprache, sie schafft ihre Einheit, indem sie das Wuchern der dialektischen Abänderungen beschränkt. Wir sprechen, um verstanden zu werden, wir hören und lernen, um zu verstehen, wir sprechen, wie es verständlich ist, wie andere, nicht wie wir es brauchen. Insofern zeigt die Sprache am deutlichsten und allgemeinsten die folgenreiche, das Individuelle einschränkende Wirkung des Lebens in der Gesellschaft.

Alle Sprachen der Gegenwart sind alt an sich oder stammen aus alten Geschlechtern, alle tragen die Spuren geschichtlicher Entwickelung, sie sind alle sehr weit entfernt von dem ersten Ursprung, und für ihre Deutung hat die Sprachforschung die Wauwau-Theorie beiseite gelegt. Von dem beweglichen Munde des lebenden Menschen getragen und der Seele, dem Ausgangspunkt der Lebensäußerungen, nahe bleibend, trägt die Sprache das Merkmal des Lebens: beständige Veränderung. Überlebt sie auch die Geschlechter derer, die sie sprachen, so lebt sie doch mit ihnen und erfährt Veränderungen. Und endlich stirbt sie auch. Das Altägyptische starb noch früher als die ägyptische Kultur, das Altgriechische überlebte nicht lange die selbständige Existenz des Griechenvolkes, mit Rom fiel das Lateinische. Die drei Sprachen, die hier genannt wurden, sind nicht kinderlos gestorben, sie leben im Koptischen, Neugriechischen und in den romanischen Tochtersprachen fort. Seltener sind Sprachen kinderlos gestorben, wie das Gotische.

Daneben geht im Leben jeder Sprache ein allmähliches Absterben und Sicherneuern in mancherlei Formen vor sich. Wörter veralten, kommen außer Gebrauch oder leben nur noch im Munde von Priestern und Dichtern. Man hat nachgewiesen, daß seit 1611 in der englischen Sprache 388 Wörter veraltet sind. Dazu kommen zahlreiche Änderungen der Aussprache, der Rechtschreibung und des Sinnes. Alte Redensarten, noch fortgebraucht, nachdem ihr Sinn längst unverständlich geworden, sind in dem gedankenarmen Leben der Naturvölker häufig. So ruft im Kampfe der herausfordernde Fidschianer seinem Gegner zu: » Sai tava! Sai tava! Ka yau mai ka yavia a bure!« (»Schneid' zu, schneid' zu, der Tempel empfängt«); aber niemand kennt den Sinn dieser Worte, die jedermann für sehr alt hält. Wie anderseits mit neuen Dingen neue Wörter und Wendungen in die Sprache eingeführt werden oder besser sich einführen, hat das Zeitalter der Eisenbahnen und Dampfschiffe gezeigt: die Sprachen aller zivilisierten Völker sind dadurch mit Hunderten von neuen Wörtern bereichert worden. Die Asandeh behaupten, daß viele Wörter, die bei ihren Voreltern gebräuchlich gewesen, derzeit nicht mehr in Übung wären. Junker glaubt überhaupt an eine rasche Umbildung der afrikanischen Sprachen, und Lepsius legt wenig Wert auf ihren Wortschatz, bezeichnet selbst ihren syntaktischen Gebrauch als auffallend veränderlich. Veränderungen sind in ungeschriebenen Sprachen natürlich größer als dort, wo die Schrift gewissermaßen versteinernd auf die Sprache wirkt. Und wenn wir der Behauptung der Sprachgelehrten recht geben müssen, daß das Leben der Sprache nicht in den Schriftsprachen, sondern in den Dialekten pulsiere, und daß in den Dialekten die Keime neuer Sprachbildungen schlummern, so verstehen wir, wie man endlich in den Sprachen ebenso variable Organismen sehen mag wie in den Pflanzen oder Tieren. Während die Schrift danach strebt, eine bestimmte Sprache zu fixieren, hat der reichere, weitere Verkehr der Schriftvölker zugleich die Tendenz, das Verbreitungsgebiet eines Dialektes, einer Sprache zu erweitern. Man kann behaupten, daß die schriftlosen Völker nur Dialekte sprechen, während Sprachen nur von Schriftvölkern getragen werden. Wo liegt aber die Grenze zwischen Dialekt und Sprache? Unter Sprache versteht man heute einen Dialekt, der durch die Schrift fixiert, durch den Verkehr weit verbreitet ist. Die Litteratursprache ist überhaupt eine mehr künstliche als natürliche Form der Rede. Dialekte erscheinen uns als ärmere, weniger bestimmt festgestellte und geregelte, daher der Veränderung, selbst der Willkür mehr ausgesetzte, somit untergeordnete Sprachen. Aber so erscheinen sie uns nur, solange wir sie mit Schriftsprachen vergleichen. Welcher unter den 300 Stämmen des vielsprachigen Kolchis, derentwegen die Römer nach Plinius 130 Dolmetschen brauchten, sprach eine Sprache, und welcher einen Dialekt? Auf dieser Stufe werden bloß Dialekte gesprochen, jeder Stamm hat den seinen; und wenn man dem Neugriechischen 70 Dialekte zugesprochen hat, kommen uns die der Kolchier gar nicht mehr so erstaunlich vor. Was Sprachen erzeugt und was Dialekte erhält, zeigt sehr gut der Vergleich der weiten Verbreitung des Birmanischen in den dicht bevölkerten, verkehrsreichen Ländern Birma, Pegu und Arakan mit der viel beschränkteren der Sprachen in den hart danebenliegenden Bergländern des oberen Irawadigebietes, wo Gordon in der Gegend von Manipur allein 12 Dialekte sammelte, wo oft 30 oder 40 Familien einen eigenen, anderen Familien unverständlichen Dialekt sprechen. An diesem Maßstabe sind die so häufigen Angaben von übermäßig großer Zahl der Sprachen bei kleinen Völkern zu messen. Die Mannigfaltigkeit der von den Buschmännern gesprochenen Dialekte, die Verschiedenheiten selbst unter nur durch Hügelketten oder Flußläufe voneinander getrennten Gruppen aufweisen, führt Moffat ausschließlich auf den Kulturzustand zurück, der keinen gemeinsamen Mittelpunkt, keine gemeinsamen Interessen, kurz nichts von dem besitzt oder erzeugt, was zur Befestigung des Sprachgebrauches beizutragen vermöchte. Es ist interessant, zu sehen, wie die Sprache der »Betschuanen-Buschmänner«, der Balala, die als ein Pariastamm mit und unter den Betschuanen leben, ein sehr verändertes und von Stamm zu Stamm mannigfaltige Eigentümlichkeiten zeigendes Idiom ist, während die Betschuanen, ihre Herren, in öffentlichen Beratungen und häufigen Gesprächen, Gesängen etc. ihr Sitschuana rein erhalten und rein fortpflanzen.

Aber doch muß man sich hüten, den Sprachgebrauch zu unterschätzen, der auch eine konservative Macht ist, und eine allzu leichte Flüssigkeit der Sprachformen ohne Kritik anzunehmen. Durch Schweinfurth wissen wir, daß Djur und Bellana trotz der räumlichen Trennung die Schilluksprache fast unverändert behalten haben. Diese sind durch die ganze Breite der Bongo von den Djur, diese wieder weit von den Schilluk getrennt. Man erwäge die geringen Unterschiede der entlegensten Bantudialekte! Wir können nur grobe Fehler der Beobachtung annehmen, wenn sich S. F. Waldeck, wie er aus der Gegend von Palenque an Jomard schrieb, 1833 eines Wörterverzeichnisses nicht mehr bedienen konnte, das erst nach 1820 angelegt worden war.

Immerhin wird man es aber als Regel festhalten können, daß, je größer ein Volk, je inniger sein Verkehr, je fester ausgebildet seine soziale Gliederung, je einheitlicher seine Gebräuche und Anschauungen sind, desto unveränderlicher seine Sprache ist. Reden in öffentlichen Versammlungen, Volksgesänge, nationale Gesetzesregeln, Orakel üben in geringerem Maße denselben Einfluß wie die Schrift. Sie setzen dem natürlichen Auseinanderfließen in die unzähligen Bäche der Dialekte Schranken und geben Sprachbildungen Dauer, die sich ohne diese äußeren Einflüsse nur eines vorübergehenden Daseins erfreut hätten.

Diese Thatsachen zeigen klar, wo wir den wahren, den wesentlichen Unterschied der Entwickelungshöhe der Sprachen zu suchen haben. Dauerndes Wachstum erhöht den Wert, wie der Kultur, so der Sprache. Diejenige Sprache wird die höchste Stufe der Entwickelung erreicht haben, deren Mittel jeglichem Ausdruck gewachsen sind, ohne durch Überfülle in Unklarheit zu führen, die den konkreten wie den abstrakten Begriffen die vollständigsten, verständlichsten, kürzesten Ausdrucksmittel bietet. Und hieraus würde weiter folgen, daß ein durchgehender Parallelismus zwischen Sprach- und Kulturentwickelung walte, indem die höchste Kultur die reichsten Mittel sprachlichen Ausdruckes braucht und schafft. Unbeschadet der Unterschiede des Sprachbaues werden also die Träger der höchsten Kulturen Sprachen sprechen, die den Namen vorzüglicher Werkzeuge verdienen. Unter vorzüglichen Werkzeugen verstehen wir hier aber nicht solche, die aufs beste den Zweck erreichen, wofür sie bestimmt sind; denn für die einfachen Bedürfnisse der Australier reichen ihre Sprachen gerade in ihrer Armut vollkommen aus. Wir betrachten vielmehr die Sprachen als besondere Organismen mit eigener Entwickelung. Wie wir in der Klasse der mechanischen Werkzeuge dem Pfluge einen höheren Rang anweisen als der Hacke, wiewohl diese einfachen Bedürfnissen ebenso genügt wie jener größeren Ansprüchen, so gelten uns auch die ebenso biegsamen wie fest gegliederten, ebenso klaren wie reichen Sprachen der indogermanischen Familie mehr als die ärmeren Idiome der Bantufamilie.

Ist die Sprache eines Volkes ein Maßstab seiner Kulturhöhe, so darf doch nur mit Vorsicht aus ihrer Entwickelung auf diese geschlossen werden; denn die Sprache ist nur Eine Äußerung unter vielen und hat ihr eigenes Leben. Am wenigsten sollte die sprachliche Behandlung bestimmter Begriffe zu solchem Maßstab gemacht werden. Zählen und Rechnen sind sicherlich sehr wichtige Dinge, von deren Ausbildung ein großer Teil der geistigen und damit der Kulturentwickelung der Völker abhängig ist. Aber angesichts der angeblichen Unfähigkeit vieler Naturvölker, umfassendere Zahlen als 3 oder 5 zu denken, muß doch ganz allgemein darauf aufmerksam gemacht werden, daß die Unzulänglichkeit eines Werkzeugs nicht eine entsprechende Unfähigkeit der bewegenden Hand voraussetzen läßt. Hier wiederholt man uns beständig: die Sprachen dieser Völker enthalten keine Zahlwörter über 3, also zählen diese Völker nicht höher als 3. Bleek hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Schluß ebenso berechtigt wäre wie der Schluß, daß die französischen Zahlwörter dix-sept oder quatre-vingt die Unfähigkeit der Franzosen anzeigen, über 10 oder 20 hinaus zu zählen. Uns selbst fehlt ein besonderes Wort für 10.000, wie es die griechische besaß, für 100.000 (Lak) und 10 Millionen (Kror), wie sie indische Sprachen besitzen. Die Nubier, die nur bis 20 in ihrer Sprache zählen, gebrauchen für die höheren Zahlbegriffe arabische Wörter, aber 100 nennen sie wieder mit dem nubischen Worte imil. Genau dasselbe gilt von den Farbenbezeichnungen, deren Armut bei vielen Naturvölkern und Völkern des Altertums man unbedenklich auf entsprechende Armut der Empfindung zurückführte. Man ging hier von der unbewiesenen Annahme aus, daß der Ausdruck genau der Empfindung, in diesem Falle die Zahl der Farbenbezeichnungen genau der Zahl der verschiedenen Farbenabstufungen entspreche, die hinter der Netzhaut zur Reproduktion im Bewußtsein gelangen. So falsch diese Voraussetzung ist, so lehrreich ist für die Erkenntnis des wahren Wesens der Sprache die Einsicht, wie gerade in den Farbenbezeichnungen manche übrigens rohe Naturvölker einen ganz ungewöhnlichen Reichtum aufweisen. Reichtum und Armut, beide entspringen der Unreife. Ebenso oft wie derselbe Name für verschiedene Farben vorkommt, werden die verschiedensten Namen auf dieselbe Farbe angewendet. Es ist dies also ein Reichtum der Verworrenheit und kein Zeichen hoher Entwickelung. Auf die Art der Entstehung dieses übergroßen Reichtums wirft die Thatsache ein Licht, daß jene afrikanischen Neger, die, wie Hereró, Dinka und Genossen, die Viehzucht mit Leidenschaft betreiben, die größt denkbare Auswahl von Wörtern für die Braunen, Isabellfarbenen, Weißen, Schecken etc. in ihren Herden besitzen. Der Hereró macht sich kein Gewissen daraus, die Farbe der Wiese und des Himmels mit demselben Worte zu benennen; aber er würde es als einen großen Beweis geistiger Unfähigkeit betrachten, wenn jemand die leichten Abstufungen des Brauns verschiedener Kühe in Ein Wort zusammenfaßte. Bei den Samojeden hat man 11-12 Bezeichnungen für die verschiedenen Grau und Braun der Renntiere feststellen können. Ähnlich hoch ist die nautische Terminologie der Malayen und Polynesier entwickelt. Hart daneben besteht aber die durch Trägheit bedingte größte Sterilität. Nicht bloß Naturvölker begnügen sich mit Einem Worte für verschiedene Farben, die sie nicht näher angehen; sondern auch auf höheren Stufen kommt diese Unfruchtbarkeit in der Sprachbildung zur Geltung. Der mitteldeutsche Bauer faßt häufig violett unter braun, der Japaner blau unter grün.

Das Bedürfnis entscheidet über den Sprachreichtum. Für die zivilisiertesten unter den heutigen Völkern Europas hat man in der Regel aufgestellt, daß ihre durchschnittlich gebildeten Männer nur einen ganz kleinen Teil aus dem Wortschatz ihrer Sprachen wirklich gebrauchen. Die englische Sprache erhebt den Anspruch, 100.000 Wörter zu besitzen, ein englischer Feldarbeiter kommt jedoch in der Regel mit 300 aus. Wo höher zivilisierte Völker mit niedriger stehenden zusammentreffen, wird die Sprache dieser leicht der Verarmung anheimfallen, weil sie eine Menge von Wörtern aus jener herübernimmt. Dann läßt aber ihre Verarmung keinen Schluß zu auf die Kulturhöhe. Ein gutes Beispiel ist das stark mit Arabisch versetzte Nubische. Für Sonne, Mond und Sterne haben die Nubier besondere Wörter, aber die Zeitbezeichnungen Jahr, Monat, Tag, Stunde entlehnen sie aus dem Arabischen; Wasser, Meer, Fluß ist ihnen alles essi, aber der Nil heißt Tossi. Für alle einheimischen zahmen und wilden Tiere haben sie eigene Wörter, und arabische für alles, was Hausbau und Schiffahrt betrifft. Geist, Gott, Sklave, die Verwandtschaftsbegriffe, die Teile der Körpers, die Waffen, die Feldfrüchte, und was zur Brotbereitung gehört, haben nubische Namen; dagegen sind Diener, Freund, Feind, Tempel, beten, glauben, lesen arabisch. Die Metalle benennen sie alle arabisch, mit Ausnahme des Eisens. »Reich sind sie auf berberisch, arm auf arabisch!«

Wie sehr gerade Sprachmischungen Sprachen bereichern und vor allem zweckmäßiger machen, lehrt wohl am besten unter den europäischen Sprachen das Englische, das ziemlich ebenso viele Wörter germanischer als romanischer Abstammung umschließt. Viele der vielgeschmähten Fremdwörter sind doch unentbehrlich. Man denke an die Neupflanzungen und Aufpfropfungen, die im Garten jeder afrikanischen, polynesischen, amerikanischen Sprache vorgenommen werden mußten, um den Missionaren die Verdolmetschung auch nur der einfachsten biblischen Geschichte und der Grundschriften des Christentums möglich zu machen. In jedem Missionsgebiet hat vor allem die Verdolmetschung von »Gott« ihre schwere, an Irrtümern reiche Geschichte.

Wir sehen von der schweren Notwendigkeit ab, die sich den von Natur Sprachlosen auferlegt, erinnern nur an die interessante Thatsache, daß in Kasembes Reich Livingstone einen Taubstummen fand, der ganz dieselben Zeichen machte wie ungeschulte Leute seiner Art in Europa. Es ist selbstverständlich, daß die Zeichen- und Mienensprache um so eher zum Gebrauch einlädt, je ärmer und einfacher die eigentliche Sprache ist, je weniger mannigfaltig und abstrakt die Ideen sind, denen sie Ausdruck zu leihen hat. Durch den häufigen Gebrauch kann auch diese Art von Sprache zu einer Vollkommenheit gebracht werden, wovon wir, die immer Tausende von Wörtern bereit haben, uns keine Vorstellung zu machen vermögen. In die einfachsten Winke und Gebärden legen kulturarme Völker viel mehr, als wir zu thun pflegen. Zu einem wahren »Signalsystem« ist die Gebärdensprache bei den findigen und zugleich schweigsamen Indianern entwickelt. Mallery hat in seinem großen Werke über die Zeichen- und Gebärdensprache der Indianer eine Reihe von Hauptzeichen gegeben, aus deren Kombination die mannigfaltigsten Sätze gebildet werden können. Hierher gehören auch Feuer- und Rauchsignale, die Pfeifsprache von Gomera, worin sich die Hirten auf weite Entfernungen unterhalten, Bestellungen machen u. s. w., und Ähnliches. Amerikanische Indianer tragen oft einen vollständigen Maßstab mit verschiedenen Unterabteilungen auf einen Arm tättowiert. Dies führt uns bereits auf die Rudimente der Schrift hin.

Bei allen Völkern der Erde finden wir die einfachen Mittel zur Fixierung der Begriffe, die sich entweder in der Bilderschrift oder in der Zeichenschrift als naheliegende Erfindungen darbieten. Sind doch beide selbst der jüngeren Jugend aller Völker vertraut. Unsere Knaben bedienen sich einer Bilderschrift, indem sie einem mißliebigen Kameraden einen Eselskopf an die Thür seines Hauses zeichnen. Erwachsene aber, denen eine höhere Form der Schrift fremd ist, vermögen mit Bildern, die sie aneinander reihen, viel mehr als vereinzelte Begriffe auszudrücken. Indem diesen Versinnlichungen durch Übereinkunft ein konventioneller Charakter aufgeprägt wird, der sie weiten Kreisen verständlich macht, erwachsen sie zur Bilderschrift. Die Zeichen können dabei nur einem durch Übereinkunft bestimmten Zweck dienen, wie z. B. die Eigentumszeichen einfach die Thatsache aussprechen, daß der Gegenstand, dem sie aufgemalt oder eingeschnitten werden, den und den bestimmten Mann zum Eigentümer hat. Mancherlei Zeichen, die unter dem ornamentalen Charakter, den sie oft annehmen, und der sie der Kunst näher bringt, kaum zu erkennen sind, mögen aus derartigen Eigentumsmarken hervorgegangen sein oder die Verdeutlichung eines Begriffs zum Zwecke haben, wie ein nach einer Richtung gehender Fuß, eine deutende Hand den Weg zeigt. Dann stehen sie aber schon an der Grenze, wo ihre Aneinanderreihung zu einer höheren Entwickelungsstufe führt. Alle höheren Schriften sind aus Bilderschriften hervorgegangen. Diese Abstammung ist erkennbar in der mexikanischen und ägyptischen Hieroglyphenschrift vorhanden, in der chinesischen verwischt. Spuren sind aber noch überall zu erkennen. Selbst in der Keilschrift findet man Anklänge an die Bilderschrift, aus der sie entsprungen ist. In der ägyptischen Hieroglyphenschrift bezeichnet ein Ochs, ein Stern den Gegenstand, daneben aber auch schon in den ältesten, bis auf 3000 v. Chr. zurückgehenden Inschriften zugleich bestimmte Laute. Ähnlich waren in der mexikanischen Bilderschrift Sachzeichen und Lautzeichen gemischt. Eine einsilbige Sprache, wie das Chinesische, die mit einer und derselben Silbe verschiedene Wörter bezeichnet, macht von freilich kaum mehr kenntlichen Sachzeichen Gebrauch, um die phonetischen Silbenzeichen zu bestimmen. Die Japaner machten dagegen für ihre mehrsilbige, der phonetischen Schreibung zugänglichere Sprache eine eigentlich phonetische Schrift aus den chinesischen Buchstaben zurecht. In entschiedenerer Weise thaten dasselbe die Phöniker, indem sie die überflüssigen Sachzeichen der Ägypter fallen ließen und nur die zum Schreiben der Laute notwendigsten Hieroglyphen herübernahmen. Die phönikischen Namen der Buchstaben finden sich bei den Griechen und gingen in alle abendländischen »Alphabete« über. So erwuchs aus offenbar mannigfaltigen Anfängen der Bilderschrift an nur einer Stelle der Erde eins der vorzüglichsten Werkzeuge des menschlichen Denkens, die gelenkigste, allen Sprachen anzupassende, in der Entwickelung zu Telegraphen- und Stenographenschrift die höchsten Möglichkeiten des gedrängten Gedankenausdrucks erreichende Buchstabenschrift. Der Menschheit war damit ein für ihre Fortentwickelung außerordentlich bedeutsamer Schritt gelungen; denn indem die Schrift die Tradition befestigte und sicherte, befestigte und sicherte sie die Kultur selbst, in deren Wesen wir den auf Tradition begründeten Zusammenhang der Geschlechter als den lebendigen, sagen wir seelenhaften Kern gefunden haben.


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