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11. Familie und Gesellschaft.

Jeder Schritt zu höherer Entwickelung ist an Vergesellschaftung gebunden. Das Linnésche Animal sociale ist historisch berechtigt, die natürlichste Gesellschaft ist aber die Familie. Von ihr allein konnte die Entwickelung alles gesellschaftlichen und staatlichen Lebens ausgehen. Wenn es eine Vereinigung mehrerer gab vor der Familie, so war es eine Herde, aber kein Staat. Die Stabilität, die jeder politischen Gestaltung von Entwickelungsfähigkeit zukommen muß, ist erst gegeben mit der Familie. Mit ihrer Entwickelung geht die aller höheren Kultur zu Grunde liegende Sicherung der wirtschaftlichen Güter Hand in Hand.

Die Basis der Familie ist das Geschlechtsverhältnis im gemeinsamen Hausstand, in dem die Kinder aufgezogen werden. Innerhalb dieser weiten Grenzen ist die Ehe bei allen Völkern zu finden. Wo man den Mangel der Ehe behauptet hat, hat sie sich später überall, auch bei den proletarierhaftesten Wald- und Wüstennomaden, herausgestellt. Wiewohl die Vielweiberei außerordentlich verbreitet und bis zur Aufnahme von Tausenden von Weibern ausgedehnt ist und gelegentlich auch Vielmännerei vorkommt, beginnt doch in der Regel die Gründung der Familie mit der Verbindung Eines Weibes mit Einem Manne. Ein Weib bleibt auch das im Range erste, und seine Kinder haben in der Regel das Erstgeburtsrecht.

Die Ehe strebt, dem stärksten, durch die Kulturfortschritte noch kaum geminderten Triebe Zügel anzulegen, die auf allen Stufen und in allen Zuständen immer wieder gelockert oder gar zerrissen, dann in neuen Formen wieder geknüpft werden. Eine ungeheure Mannigfaltigkeit der Abwandlungen liegt daher zwischen den bestehenden Formen der Paarungsehe und jenen Resten älterer Formen, die man der Gruppenehe zuweist. Doch sind sie alle Variationen über dasselbe Problem: Mann und Weib zu dauernder Vereinigung zu verbinden.

Es gibt kleinere Gruppen in jedem größeren Gemeinwesen, denen die Ehe unmöglich oder verboten ist. Enthaltsamkeit als religiöse Pflicht nimmt keine großen räumlichen Dimensionen an, aber in allen Teilen der Erde finden wir die Ehelosigkeit als den Gipfel der Vollendung kriegerischer und priesterlicher Organisationen aufgefaßt. In viel höherem Maße hemmt aber die ungleiche Zahl der Geschlechter die natürliche Entwickelung der Familie. Der mit der Sklaverei oft verbundene Weiberraub, der Kindermord, die Kriege und Wanderungen der Männer schaffen oft eine Mehrzahl von Weibern. Aus unseren Verhältnissen heraus, die auf der Gleichheit der Zahl der beiden Geschlechter beruhen, sind uns Zustände schwer verständlich, wo doppelt und dreimal soviel Weiber als Männer vorkommen. Und doch gibt es nicht bloß in Uganda (nach Felkin) zwei Männer auf sieben Weiber, sondern auch im halbzivilisierten Paraguay zählte man nach langen Kriegsjahren 1883 unter 345,000 Bewohnern zwei Drittel Weiber. Die Folge ist eine Hypertrophie des weiblichen Elements in den Familien, die nächste Ursache der Luxusehe, der Polygamie. Seltener tritt uns auf tieferen Stufen der Männerüberfluß entgegen, den die Kultur in den Einwanderungsgebieten und jungen Ländern kennt; wir finden ihn bei Sklaven, Ausgewanderten, an Handelsmittelpunkten. Die Vielmännerei (Polyandrie), die einst als eine besonders tiefe, alte Art der Familie betrachtet wurde, hat sich bei näherem Zusehen als eine Entwickelung aus zersetzten oder abnormen Verhältnissen ergeben. Die geringe Zahl der Weiber unter den eingeführten Arbeitern Fidschis hat eine wahre Polyandrie entstehen lassen, und unter denselben Verhältnissen ist sie bei einer Dinka-Sklavenkolonie im Lega-Lande aufgetreten. In Tibet und bei den Nair Indiens kann Ein Mann in mehrere Ehegruppen eintreten.

Unabhängig von diesen Auswüchsen der Ehe, wo doch immer das Weib dem Manne folgt, der ihr Herr und der Herr ihrer Kinder und ihres Erwerbes ist, steht jene ebensowohl in mono- als polygamischer Gestalt mögliche Eheform, wo der Mann in die Gemeinschaft des Weibes eintritt, der dann seine Kinder gehören. Hier gilt mit einem Worte das Mutterrecht, das den festen Punkt aller Verwandtschaftsverhältnisse, die Zugehörigkeit der Kinder zur Mutter, zum Eckstein der Familie und der Gesellschaft macht. Als Herodot bei den Lykiern die Sitte fand, daß die Kinder den Namen der Mutter annahmen, und daß der Stammbaum in der weiblichen Linie geführt ward, meinte er, dieses Volk sei allen anderen unähnlich. Nun wissen wir aber, daß diese Sitte, bewußt und vollständig oder nur in Spuren geübt, bei vielen Völkern wiederkehrt. Das Kind kann dem mütterlichen Stamme so fest angehören, daß bei Stammesfehden Vater und Sohn auf verschiedenen Seiten fechten. Die Vererbung der Häuptlingschaft in der mütterlichen Linie hat sich bei Völkern aller Rassen erhalten. Man ist geneigt, darin den Rest einer älteren Form der Ehe zu sehen, vielleicht einen Übergang zur Gruppenehe, weil sie die untrügliche Sicherheit des Ursprunges der Kinder nur in der Zugehörigkeit der Mutter sucht, den Vater also gleichsam ignoriert. Es ist auch sicher, daß, wo das Mutterrecht herrscht, zwar bei weitem noch keine Weibergemeinschaft entsteht, aber die Weiber, die durch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe dem Manne der anderen allein zugänglich sind, zu diesem doch sämtlich in einem viel näheren Verhältnis als die stehen, die ihm immer unzugänglich sein werden. Der Mann tritt dabei in den Stamm, sogar in das Haus seines Weibes ein, und eine ganze Reihe von teilweise sonderbaren Sitten führt darauf zurück, daß er in ihm trotz des Ehebandes als ein Fremdling angesehen wird. Tylor hat durch seine statistischen Zusammenstellungen nachgewiesen, daß die seltsamen Gebräuche der Vermeidung und Ignorierung zwischen dem Ehemanne und seines Weibes Eltern, besonders der Schwiegermutter, fast nur dort vorkommen, wo jener in die Familie seines Weibes eintritt. Und diese lästigen Gebote gehören zu den zwingendsten. Ein Australier weist mit Entrüstung die Zumutung zurück, den Namen seiner Schwiegermutter auszusprechen. Als John Tanner, der adoptierte Odschibwä, von einem befreundeten Assiniboin in dessen Hütte mitgenommen wurde, sah er, daß zwei Alte, Schwiegervater und Schwiegermutter, ihre Gesichter verhüllten, bis dieser vorüber war. Ja, es vermeiden die einen die Spuren, die die anderen im Sande des Strandes hinterlassen. Die Sitte, daß der Vater nach dem Kinde genannt wird – so wie Moffat »Mariens Vater« hieß – findet sich ebenfalls dort, wo der Mann in die Familie der Frau übergesiedelt ist. Man erklärt sie aus derselben Ignorierung; diese hört erst auf, wenn ein Kind ein Band zwischen der Familie und ihm herstellt. Auch die nachsichtige Erziehung, die der Vater seinem Sprößling angedeihen läßt, könnte auf denselben Grund hindeuten: die Kinder gehören nicht ihm, sondern der Mutter und ihrem Stamme. Als Rest der bevorrechteten Stellung der weiblichen Seite erscheint auch die australische Vorschrift (bei den Kurnai), daß von gewissem Wildbret der Gatte den Schwiegereltern bestimmte Teile zuzuweisen hat. Man darf aber nicht in jedem unbedeutenden Gebrauch, z. B. darin, daß das Haus der Braut die Hochzeit feiert, matriarchalische Spuren finden.

Wir finden den Übergang aus diesem System zum Vaterrecht anscheinend spontan sich herausbilden, wo der Vater Besitztümer mit eigener Kraft erwirbt, die naturgemäß ihm zugehören. Durch räumliche Absonderung kann dann ein Mittelpunkt zur Ausbreitung der neuen Familie entstehen. Powell erzählt, daß ein Indianerstamm mit Mutterrecht, der in einer Zeit der Not mit seinen Weibern fortwanderte, im neuen Sitze Begründer einer patriarchalischen Familie wurde. Bei der Neigung, das vom Vater allein oder mit den Kindern geklärte Land vom Muttererbrecht auszunehmen, muß es z. B. geschehen, daß Siedelungen auf Neuland vollständig dem Vatererbrecht verfallen; das bewegliche Eigentum neigt ohnehin dazu. Die Wartung der Herden fordert am meisten harte Arbeit; folgerichtig ist das patriarchalische System bei den Hirtenvölkern zur höchsten Entwickelung gediehen, und wohl mag die Einführung der Viehzucht in das Erwerbsleben der Menschen einen großen Anteil an der weiteren Verbreitung dieses Systems genommen haben.

Eng mit der Ehe nach Mutterrecht verknüpft, ragt eine merkwürdige Sitte in unsere Zeit hinein: die Exogamie. Manche Stämme verbieten ihren jungen Männern die Heirat eines Mädchens aus ihrer Mitte, zwingen sie also, aus einem anderen Stamme zu heiraten. So feste gesetzliche Gestalt nimmt diese merkwürdige Sitte an, daß viele Stämme in Australien, Melanesien, Afrika, Amerika ihre eigenen »Weiberstämme« haben, aus denen sie immer wieder heiraten. Bis zu den brahmanischen Indern hinauf zieht sich die Exogamie, als Aberglaube findet sie sich auch noch bei den Chinesen; und so tief geht sie, daß selbst die Sprache eines Volkes nach väterlicher und mütterlicher Herstammung getrennt sein kann: nach L. Adam ist das Karibische eine Mischsprache, die väterlicherseits vom Galibi, mütterlicherseits vom Arauaki stammt. Die Bilinguität besteht darin, daß Männer wie Frauen gewisse Formen und Wörter nur im Gespräche unter ihresgleichen verwenden; auf dem neutralen Gebiete ist aber der arauakische Einfluß der Mütter überwiegend. Die Zweiteilung nimmt räumliche Gestalt an, wo sich ein Dorf in zwei exogamische Hälften teilt oder wo zwei exogamische Dörfer oder Stämme nebeneinander wohnen, die, sich vervielfältigend, gleichsam eine zweizählige Gesellschaft bilden. In weiten Gebieten, selbst in dem von fremden Einflüssen berührten Malayischen Archipel, steht die Stammesgliederung unter diesem Gesetz, dessen Strenge noch über die Ehe hinausreicht. Eine Volkshälfte, die die Heirat ihrer Mitglieder verbietet, ist ebenso abgeneigt, anderweitigen geschlechtlichen Verkehr unter ihnen zu dulden; er gilt als Blutschande und wird mit dem Tode des Mannes bestraft. So die Dieyerie Australiens. Die so viel besprochene exogamische Gruppenehe der Mount Gambier-Australier, wo innerhalb der beiden Stammeshälften Kroki und Kumike die Vermischung streng verboten, zwischen beiden aber so weit gestattet ist, daß man sagen kann, die beiden Gruppen seien als solche verheiratet, erscheint uns als eine proletarische Verlotterung. Merkwürdige Spuren vergangener oder nur in Bruchstücken erhaltener Zustände liegen in den Verwandtschaftssystemen der verschiedensten Völker zu Tage; sie kommen zwar alle unter irgend einer mono- oder polygamischen Form vor, lassen aber deutlich erkennen, daß es einst noch andere Ehen gab, und zwar nicht als beschränkte Sonderbarkeiten, sondern in weiter Verbreitung. Morgan lehrte zuerst in den Irokesen ein Volk kennen, das zwar schon im Zeichen der »Paarungsehe« stand, aber die Spuren eines früheren Systems in den Benennungen der Verwandtschaftsgrade erkennen ließ. Der Irokese nannte damals noch die Kinder seiner Brüder Söhne und Töchter, diese ihn Vater; dagegen nannte er Neffen und Nichten die Kinder seiner Schwester, sie ihn Onkel. Diese Beobachtung führte ihn zur Aufstellung der Regel: die Familie schreitet in dem Maße von einer niederen zu einer höheren Form vor, als sich die Gesellschaft von niederer zu höherer Stufe entwickelt; die Verwandtschaftssysteme dagegen registrieren nur in langen Zwischenräumen die Fortschritte und erfahren nur gründliche Veränderungen, wenn sich die Familie gründlich geändert hat. Es schien also möglich, in den Namen Spuren älterer Verwandtschaftssysteme zu finden, wovon vielleicht nichts mehr wirklich vorhanden war. Man hat die alten Verwandtschaftsnamen der Hawaiier aus ein dem irokesischen ähnliches, aber in der Verwendung der Namen für Kinder und Geschwister noch breiteres System zurückführen wollen, da dort alle Sprößlinge der Geschwister von diesen Kinder genannt werden, während sie sich untereinander Schwestern und Brüder nennen. Auf Hawaii gab es noch in diesem Jahrhundert diese Art der Gruppenehe, wo Schwestern die gemeinsamen Frauen ihrer Männer (Punalua) und Brüder die gemeinsamen Männer ihrer Frauen waren. Eine ähnliche Ehe dürften die alten Briten gehabt haben. Aber darüber hinaus führen keine Erfahrungen. Alle Versuche, die regellose Geschlechtsgemeinschaft nachzuweisen, sind als mißlungen zu betrachten.

Ebensowenig allgemein wie der väterliche Stammbaum ist das Vorrecht des Erstgeborenen. Ist es bei den meisten Völkern sehr stark ausgeprägt, so daß selbst die alternden Eltern dem ältesten Sohne gehorchen, während seine Geschwister wie Sklaven für ihn arbeiten müssen, so besteht doch ebenso das Vorrecht des Jüngstgeborenen; hier könnte man eine Bevorzugung der Interessen der Mutter und des Hauses sehen, da diese beiden den meisten Gewinn von der Herrschaft des jüngsten, am längsten in ihrer Hut verbleibenden Kindes ziehen können. Die » patria potestas« ist überall, wo das Familienband nicht sehr gelockert ist, schon einfach nach dem Rechte des Stärkeren sehr beträchtlich. Kinder lassen sich in Afrika ruhig von ihrem Vater verkaufen. Gerade bei den Negern ist dann aber auch wieder die Kindesliebe schön entwickelt, und diese angeblich tiefstehenden Völker haben manchmal ein durch väterliche Gewalt und kindliche Liebe ungemein fest gekittetes, schönes Familienleben.

Auch in der Form der Eheschließung sind manche Spuren älterer Zustände bis in die Gegenwart herein zu verfolgen. Ein Geschenk, das der Gründer einer Familie dem Schwiegervater darreicht, stempelt heute den Eheschluß bei den meisten Völkern zum Kaufe, der Spuren von Brautraub nicht ausschließt. Der Kauf der Frau findet häufig schon statt, wenn sie noch ein Kind, mitunter schon, wenn sie noch im Mutterleibe ist. Es kommt zwar öfters vor, daß auch die Neigung des Mädchens mit in Betracht gezogen wird; aber die unbeschränkte Verfügung der Eltern ist die Regel. Der Freier gibt seinen Wunsch meistens durch ein Geschenk zu erkennen, das er den Eltern seiner Erkornen darbringt. Annahme oder Nichtannahme entscheidet über sein Gesuch. Zwischenpersonen als Werber sind üblich. Auch ist die Probeehe häufig zu finden: bei günstigem Ausgange werden nach Verabreichung von Geschenken an das Mädchen der Hüttenbau und die Einrichtung des Hausstandes vorgenommen, danach erfolgt die Morgengabe an die Eltern der Braut. Die Vermählung wird darauf durch den Priester oder die Eltern oder die Großmütter der beiden jungen Leute oder, wenn diese fehlen, durch andere ältere Verwandte vollzogen. Die Feierlichkeit umschließt symbolische Andeutungen des Verlustes der Freiheit der Braut, des Verlassens des Elternhauses, des zu erwartenden Kindersegens etc., besteht aber hauptsächlich aus Lustbarkeiten. Das religiöse Element ist häufig ganz ausgeschlossen; wo es aber erscheint, tritt es als Anrufung der Ahnenseelen auf, denen fortdauernde Teilnahme an den Dingen der Familie überall zugemutet wird. Blutsverwandtschaft gilt bei den meisten Völkern als Ehehindernis: doch übernimmt der Erbsohn oft die Weiber seines Vaters. Leicht, wie die Schließung dieser Ehebündnisse, pflegt auch die Lösung zu sein, deren größtes Hindernis gewöhnlich nur in der Schwierigkeit liegt, den Kaufpreis zurückzuerhalten. Je größere Ausdehnung die Vielweiberei nimmt, desto lockerer wird natürlich das eheliche Verhältnis. Wir begegnen Zuständen der Zersetzung, die die weitestgehende Kulturfäulnis nicht erreicht. Nicht mit Unrecht hat man von den Polynesiern gesagt, daß der großen Lockerheit ihrer Familienbande eine Rolle in ihren Wanderungen zuzuschreiben sei. Von vielen gilt, was Cook von dem Vater eines neuseeländischen Knaben sagte, der diesen ohne Hoffnung auf Wiederkehr verlassen wollte: »Er würde sich mit größerer Bewegung von seinem Hunde getrennt haben.« Ebenso förderte den Sklavenhandel die Leichtigkeit, womit sich so manches Band zwischen Mann und Weib, Eltern und Kindern löste; auch die Adoption zerreißt den natürlichen Zusammenhang zu gunsten eines unnatürlichen tyrannischen Gesetzes.

Der Weiberraub wird als einziges Mittel zur Gewinnung von Frauen, zur Gründung von Familien heute nicht mehr geübt, wiewohl bei Kriegen wilder Völker oft nur die jüngeren Weiber verschont und als Beute, wie einst Andromache, in die Häuser der Sieger geführt werden. Aber Sagen wie die vom Raub der Sabinerinnen oder vom Raub der Töchter Schilos durch Benjamins Leute sprechen deutlich aus, daß es einst anders war; und eine ganze Reihe von sonderbaren Sitten erklärt sich nur aus dem herkömmlichen Widerwillen, die Tochter, Schwester, Stammesgenossin ziehen zu sehen. Und wenn sich noch heute bei Arabern, Südslawen und anderen die Braut den Anschein gibt, als folge sie nur dem Zwange, nicht dem eigenen Triebe, oder wenn den Hochzeitszug ein Gefecht zwischen den Leuten der Braut und des Bräutigams verschönt, das in der Wegnahme der Braut gipfelt, so haben wir darin offenbar Spuren eines einst anders gearteten Zustandes. Dabei spinnt die Symbolik ihre Ranken um so launenhafter, je wesenloser der Gebrauch geworden. In einem Teile Ost-Melanesiens erwarten die Knaben des Dorfes die Verwandten der Braut, die in des Bräutigams Dorf zum Mahle gekommen sind, und beschießen sie in unschädlicher Weise mit Pfeilen. Oder zum Scheingefecht erheben sich die Leute der Braut und des Bräutigams erst nach dem Hochzeitsmahl. Nicht bloß hat der Bräutigam die Braut zu kaufen, sondern diese muß ihren freien Abzug erkaufen.

Entgegen der Auffassung, daß ein Vergleich der verschiedenen Eheformen eine große Entwickelung, etwas wie einen Stammbaum, erkennen lasse, wo eine fortschreitende Verengerung des zuerst den ganzen Stamm umfassenden Vermischungskreises durch Ausschließung näherer, dann fernerer Verwandten stattfinde, bis nur noch ein Paar übrigbleibe, sehen wir in den Eheformen verschiedene Versuche, dem schwierigsten, praktisch überhaupt nicht rein auflösbaren sozialen Problem gerecht zu werden. Dem Motiv der Zuchtwahl durch Zurückdrängung der schwächenden Inzucht zu gunsten der die Rasse kräftigenden Kreuzung wird in dieser Entwickelungstheorie echt darwinistisch ein unberechtigter Einfluß beigemessen: seine Erkennung mußte bei den nicht viehzüchtenden Naturvölkern sehr fern liegen. Wir meinen hier eher einem der Fälle von konsequenter, verfeinernder Entwickelung einer beschränkten Ideengruppe gegenüberzustehen, wovon die Ethnographie der Naturvölker so manche Beispiele liefert. Was wir von Entwickelung über allen Zweifel deutlich in der Ehe wahrnehmen, das ist die Zunahme der Innigkeit mit wachsender Ausbildung des Individuums und die fester kittende Vervielfältigung der Berührungspunkte der Geschlechter mit steigender Kultur.

Das Weib nimmt in der primitiven Gesellschaft eine Stellung ein, die ganz ebenso voller Widersprüche ist wie bei den höchstzivilisierten Völkern. Nur treten hier als natürliche Folge seiner Schwäche die Ungerechtigkeiten oder Unbilligkeiten unverhüllter hervor. Die Polygamie erklärt nicht vollkommen seine niedere Stellung. Auch wo Monogamie verbreitet ist, die, wenn auch niemals ausnahmlos und noch weniger als Gebot, bei Negern und Malayen, Indianern und Hyperboreern vorkommt, ist es Gebrauch, daß die Weiber in gesonderten Abteilungen der Häuser wohnen, in der Regel nicht mit dem Manne aus Einer Schüssel essen, in jeder Beziehung erst nach ihm kommen. Die höhere Kultur hat wohl, indem sie die rohen Instinkte, die Gewaltthätigkeit und Ungerechtigkeit besonders beim Manne milderte, die Stellung des Weibes verbessert, gleichzeitig ihm aber mit der Ehre der Arbeit eine Grundlage festerer Stellung in der Gesellschaft entzogen. Hat nicht dieselbe Kultur, indem sie eine Arbeitsteilung begünstigte, die dem Weibe die leichtere, beschränktere, an Ehren minder reiche Arbeit zuwies, sie von Krieg, Fehde, Jagd ausschloß, es noch ungünstiger gestellt, als die Natur es beabsichtigte? Wir finden, wenn wir die Kulturstufen von oben hinabsteigen, das Weib auf den unteren dem Manne körperlich und gemütlich ähnlicher werden. Könnte nicht einst die Macht- oder vielmehr Kraftfrage etwas anders gestanden haben? Auf den niederen Kulturstufen hielt es nicht schwer, dem Weibe eine herrschende Stellung zuzueignen. Wir erinnern an die einflußreichen weiblichen Priesterinnen bei den Malayen, an die Häufigkeit weiblicher Herrscherinnen in Afrika und Amerika, an die weiblichen Truppen, die in Dahomey stärker und waffenkundiger als die männlichen sind. Despoten haben vielfach, wie noch jetzt der König von Siam, ihre Leibgarde aus Frauen gebildet, da sie der Treue weiblicher Sklaven sicherer zu sein glaubten.

Hat die Natur selbst dem Weibe Elemente von Schwäche in seine Körperorganisation gelegt, die durch die Kultur nur noch entwickelt werden konnten, so ist doch unstreitig die Thatsache des Gebärens und des Kinderaufziehens ein Grund der Stärke, der immer groß dastehen wird. Wenn die Kinder der Mutter gehören, und wenn nach exogamischer Sitte der Mann in das Haus der Frau eintritt, so ruht mit Besitz und Zukunft des Stammes auch der größere Einfluß auf der weiblichen Seite. Das hindert nicht, daß die Not des Lebens immer noch schwerer auf sie als auf die stärkeren Männer fällt; aber doch mochte nicht selten eintreten, was Arthur Wright von den Seneka-Irokesen sagt: »Die Weiber waren eine große Macht in den Clans und auch sonst. Gelegentlich mochten sie wohl einen Häuptling absetzen und zum gemeinen Krieger degradieren.« Die mannigfaltigen Formen der Gynäkokratie, auch die doppelte Spitze, männliche und weibliche, des Staates, wie wir sie in Lunda und spurenweise in Unyoro finden, deuten eine einst höhere Stellung des Weibes an.

Die Mutterliebe ist ein zu natürliches Gefühl, als daß ihre Äußerungen der Belege bedürften; aber auch die Zärtlichkeit der Väter für ihre Sprößlinge wird oft hervorgehoben. Es gibt viele Fälle von Roheit; das sind Ausnahmen. Alle tiefergehenden Beobachter sind einig in dem Lobe des friedsamen und hilfreichen Zusammenlebens der Hausgenossen bei unzersetzten Naturvölkern, das auf dem Hintergrund dunkler, mit der Geringschätzung des Lebens zusammenhängender Gewohnheiten doppelt eindrucksvoll wirkt. Das salomonische Wort: »Wer sein Kind lieb hat, der züchtiget es bei Zeiten«, findet bei den Naturvölkern durchaus keine Bewährung. Viel eher sind es die Kinder, die die Erwachsenen tyrannisieren. Aber sogar die Kinder streiten und zanken selten untereinander. Nansen schildert, wie groß die Gutartigkeit bei den Eskimo auf allen Seiten ist, und möchte die Ruhe und Friedlichkeit des Familienlebens auf die Gewohnheit des nahen Beisammenseins vor allem der Mütter und Kinder zurückführen. Die erziehende Wirkung dieser festgeschlossenen Kreise auf jedes ihrer Mitglieder ist oft unterschätzt worden. Aber bei manchen Naturvölkern bewegt sich das Leben in festen Formen sicherer als bei höchstgebildeten. Die Ehrfurcht vor Älteren, der Gehorsam gegen Höhergestellte, die Bereitwilligkeit der Unterordnung, die apathische Ruhe, die ihre Überlegenheit, nicht die geistige aber die der Sitte, auch gegenüber den unerwartetsten Erscheinungen bewahrt, imponieren oft den Europäern. Die kalte, gemessene Rothaut der Indianergeschichten ist das Produkt dieser festgegliederten Gesellschaft.

Das Wort Familie hat schon in seinem römischen Ursprung den weiteren Sinn der Hausgenossenschaft, indem es auch die Sklaven des Hauses mit umfaßt. Es bedeutet also Gesellschaft. Bei den Völkern verschiedener Kulturstufen hat es noch reicheren Inhalt. Die Familie erweitert sich durch Zusammenhaltung von Generationen Blutsverwandter und Aufnahme Fremder im Sklavenstand zu einem großen Element der Gesellschaft. Wir finden bei den slawischen Völkern die Hausgenossenschaft (Zádruga, Befreundung, oder Bradstro, Brüderschaft), die mehrere Generationen der Nachkommen eines Vaters und ihre Frauen in Gemeinsamkeit des Besitzes und der Arbeit unter einem Haupte, das nicht immer das älteste sein muß, umfaßt. Ihre Spuren treten bei alten Deutschen und Kelten auf, wir haben sie aber in Indien, im Kaukasus, bei den Kabylen und bei vielen Völkern Afrikas und Ozeaniens. Wir stehen also hier in der Familie und der Gesellschaft. Die Familie hält ihre Glieder über die Zwecke der Ehe hinaus zusammen und schafft damit einen großen, festen Elementarorganismus der Gesellschaft. Am ausgesprochensten ist dieses Bestreben in der Gesellschaft des Mutterrechts und der Exogamie, wo die scharfe Sonderung nach Blutsverwandtschaft den ganzen Stamm in zwei große Hälften teilt, die zugleich Familie und Gesellschaft sind. Den Besitz halbieren sie, Einzelbesitz ist nicht vorhanden; also hält außer der Verwandtschaft auch der Besitz diese Gesellschaft zusammen. Zu politischen Zwecken verbinden sich einige Familienstämme zu Gruppen, die man den Phratrien der alten Griechen vergleichen kann; mehrere solche Gruppen bilden die höchste politische Einheit, die wir kurzweg Stamm nennen.

Frühe kommt ein weiterer Anlaß der Schichtung durch Sklaverei und Leibeigenschaft hinzu. Der älteste Anlaß zu Sklaverei ist der zwangsweise Eintritt von Fremden in die Gesellschaft, die in den meisten Fällen Kriegsgefangene sein werden. Die Kriegsgefangenen zu Sklaven zu machen, wenn man sie nicht töten mag, ist eine heute weitverbreitete Sitte, die nur bei den höchstzivilisierten Nationen aufgegeben ist. Die Masai in Ostafrika, Hirten, die von Herden einer bestimmten Größe leben und weder Arbeit noch Nahrung genug für Sklaven haben, töten ihre Gefangenen; ihre Nachbarn, die Ackerbau und Handel treibenden Wakamba, können Sklaven gebrauchen, töten sie also nicht; die Wanjamwesi, ein drittes Nachbarvolk, haben durch rege Verbindung mit den Arabern an der Küste guten Absatz für Sklaven, sie führen also Krieg, um Sklaven zu erwerben. Das sind drei Zustände von typischer Bedeutung. Der nach unten nivellierende Zug der primitiven Gesellschaft zeigt sich nirgends stärker als in der vergleichsweise freien Stellung, deren sich die Sklaven erfreuen. Hat man für Sklaven keine Arbeit, so sind doch Sklavinnen stets begehrt, und ihre Nachkommenschaft bildet eine tiefere Schicht in der Gesellschaft. Man kauft aber auch Sklaven zu Menschenopfern: in Zentralafrika ruft der Tod eines Häuptlings immer eine starke Nachfrage hervor. Wo diese Schichtung einmal anerkannt ist, wie bei allen nichtchristlichen Völkern der ganzen Erde, da bietet sie sich als willkommenes Mittel der Sühnung dar. Der Verlust der Freiheit ist das äußerste Opfer, das der Gläubiger seinem Schuldner, der Verletzte seinem Beschädiger abfordern kann. Eine bizarre Ausnahme nur ist es, wenn bei den Eweern den zahlungsunfähigen Schuldner die Todesstrafe trifft. Zwischen der Schuldsklaverei aber und der Freiheit des Herrn liegt die Abhängigkeit aller derer, die aus Armut fast zu Sklaven geworden sind, während ihnen die Form der Freiheit blieb. Auf diese findet der Satz keine Anwendung, daß die endliche Aufhebung der Sklaverei der Schaffung beweglicher Werte durch Arbeit, d. h. des Kapitals, zu verdanken, und daß das Kapital die Schwester der Freiheit sei.

Es ist ein großer Unterschied zwischen der Sklaverei als innerer Einrichtung eines Volkes und als Mittel zur Bereithaltung von Waren für den Handel. Wenn Araber und andere Sklavenhalter ihre Sklaven gut behandeln, so liegt die Ursache darin, daß beide, Herr und Sklave, an der allgemeinen Indolenz teilnehmen. Solange keine großen kulturlichen Rangunterschiede bestehen, wird seine Arbeitskraft wenig in Anspruch genommen; aber mit dem Fortschritt der Gesellschaft vermehren sich die Bedürfnisse, sein Los wird härter. Das Los des Sklaven wird überhaupt nicht besser mit dem allgemeinen Fortschritt der Gesittung. Der Abstand vom Herrn und Sklaven vergrößert sich in dem Maße, als die Gewinnsucht zunimmt; »und so kann man keine Besserung in der Lage des Sklaven erwarten, wenn nicht der Sklavenhalter zur Barbarei zurückkehrt oder darin verharrt« ( Livingstone). Sehen wir nach Afrika, so haben unter allen Waren Frauen und Sklaven die nächste Beziehung zu den Bedürfnissen und Wünschen des Negers. Ihre Domäne ist groß. Was nicht Handel, Krieg und Jagd betrifft, ist Sache der Frauen und Sklaven. Beide sind beliebtester Gegenstand des Handels, wichtigster Maßstab des Besitzes, beste Kapitalanlage. Vorzüglich sind sie die leichtest zu beschaffende Ware zum Eintausch begehrter Güter, denen gerade Afrika einst nichts als Elfenbein an die Seite stellen konnte.

 

Wenn Menschen Kapital werden, dann streben sie, gleich dem Kapital zu wachsen; denn der Wunsch, Sklaven zu besitzen, wird ebenso unersättlich wie jeder andere Trieb nach Besitz und Reichtum. Darin liegt die große Gefahr dieser Einrichtung. Übermäßige Sklaverei gehört zu den staatzerstörenden Thatsachen: sie war das im alten Rom, ist es im heutigen Afrika und manchen Teilen Amerikas. Sie zerklüftet das Volk, von dem ein immer wachsender Anteil in die Sklaverei fällt, sie fördert Krieg, Verwüstung, Tyrannei, Menschenopfer und Menschenfresserei. Es wird als Vorteil des kräftigen Eroberervolkes der Fan in Westafrika hervorgehoben, daß sie keine Sklaven haben, die ihre kriegerische Kraft lähmen könnten. Das letzte Ergebnis ist dann die Menschenleere und absolute Schwächung weiter Gebiete. Nimmt man mit P. Bauer an, daß vor dem Bartle Frereschen Vertrag (1873) jährlich 65,000 Sklaven in Sansibar eingeführt wurden, so sind etwa 10,000 ihrer Heimat entzogen worden, wenn man die unterwegs Entflohenen und Zurückgelassenen hinzurechnet.

Den Sklaven nahe verwandt sind jene niedrig geachteten und niedrig gehaltenen Bevölkerungsteile, die wie scharf abgesonderte, tiefere Schichten das herrschende Volk unterlagern. Fast jedes zu höherer Entwickelung vorgeschrittene Volk Asiens und Afrikas umschließt solche. Da nicht immer ethnische Unterschiede vorhanden sind, wird die soziale Differenz um so schärfer festgehalten und führt häufig genug selbst wieder zu Sonderungen innerhalb dieser niederen Klassen. In Südarabien unterscheidet man in einigen Teilen vier, in anderen zwei Klassen Parias, wovon die einen geborene, die anderen durch unreine Gewerbe erniedrigte sind. Die Kastensonderungen Indiens zeigen dieselben Verschiedenheiten, denn in den niedersten Kasten finden wir teils durch ihren Ursprung, teils durch ihre Beschäftigung Degradierte. Beides fließt in unseren Zigeunern, in den Jeta Japans u. a. zusammen; und es ist interessant und traurig zugleich, wie in Nordamerika zahlreiche Reste der indianischen Bevölkerung auf ein ganz ähnliches Niveau herabgesunken sind. Hier ist das Eindringen eines fremden Volkes die Ursache der Erniedrigung. Eine besondere Form solcher Ungleichheit ist die Unterwerfung ganzer Völker unter eine erobernde, ausbeutende Schar. In einigen Teilen der Sahara betrachten die Araber und Tibbu gewisse Oasen samt deren Bewohnern als ihr Eigentum, Sie erscheinen dort zur Ernte, um ihren Tribut einzutreiben, d. h. zu plündern und zu rauben, und überlassen in der Zwischenzeit die Unterworfenen ihrem Elend und ihrer Pflicht, für sie zu pflanzen. Mit der Zeit kann aus dieser Schichtung eine Assimilation hervorgehen, der sich allerdings die Familie als Verwandtschaftsgruppe durch Ablehnung der »Mesalliancen« spröde gegenüberzustellen sucht. Aber sie vermag auch durch Einfügung wirtschaftlicher Motive und räumliche Auseinanderlegung zu einer dauernden, so scharfen Sonderung zu führen, daß die Jäger der zentralafrikanischen Wälder, die sogenannten Zwerge, als eine besondere »soziale Rasse« neben ihren ackerbauenden Herren und Schützern erscheinen.

Durch ein besonderes Stammessymbol, das sich zum Schutzgeist erhebt ( Totem der Indianer und Atua der Polynesier), verknüpft sich auch die Stammesgliederung mit dem Reiche des Übersinnlichen. Von den Stämmen Samoas erhielten die Atua die Schaufel, Aana die Lanze, Latuamasanga den Wedel, Monono das Fischernetz durch den Gott Pili zuerteilt. Insbesondere sind den Göttern Tiere, mit Vorliebe Reptilien, Fische, Vögel, heilig, und der Stammesangehörige trägt das Zeichen tättowiert als Wappen an sich, das ihn nicht bloß kenntlich macht und klassifiziert, sondern auch schützt und besonders deshalb in Ehren steht. Bei Indianern und Australiern finden wir den Einfluß des Totem auf die Namengebung. Schon G. Forster macht darauf aufmerksam, daß Personennamen der Polynesier oft von Tieren hergenommen sind, und vergleicht dies der entsprechenden Sitte nordamerikanischer Indianer. Ein Häuptling der Tahitier hieß Otu, der Reiher, einer der Markesaner Honu, Schildkröte. Fast sicher sind dies Clan-Namen, wie wir ihnen auch bei den Stämmen afrikanischer Völker, den Betschuanen, Aschanti u. a., begegnen. Das Verhältnis zu dem Stammessymbol ist sehr verschieden. Bald wird es gefürchtet, bald verehrt und geschont. Es gibt Stämme, bei denen der Tod auf der Verletzung des Stammessymbols steht. Aber in Aurora (Banks-Inseln) vermeidet eine »Veve«, die den Tintenfisch zum Wappentier besitzt, keineswegs ihn zu essen, sondern glaubt vielmehr bei seinem Fang von besonderem Glück begleitet zu sein. Auch gleichbenannte Totems verschiedener Stämme leisten sich gegenseitig Hilfe; und gerade im Totemsystem liegt ein Grund des festen Zusammenhalts entlegener Stämme.

Eine besondere Gliederung durchsetzt die Gesellschaft in den Geheimbünden, die den Unterschied Wissender und Ausgeschlossener hervorrufen. Sie sind natürlich gegeben in einer an offenen großen Motiven der Standesgliederung Mangel leidenden Gesellschaft. Sie ziehen künstliche Grenzen, tragen Masken, deren Sinn nur ihnen bekannt ist. umgeben sich mit religiösen Formen, bemächtigen sich wichtiger Funktionen, wie der Weihen beim Übergang ins Mannesalter und der Ahndung von Rechtsverletzungen, wobei Ursache und Wirkung gleicherweise an die Feme erinnern. Ein Teil der Aufgaben der Geheimbünde und sonstigen Vereinigungen liegt immer in der Hochhaltung der Tradition. Wenn andere Organe dafür fehlen, werden ihre Glieder systematisch darin ausgebildet.

Es gibt kein kommunistisches Volk, aber so viel Kommunismus in den Einrichtungen der Naturvölker, daß seine Bekämpfung oft wichtiger als die Einführung des Christentums erschien. Zu voreilig haben wohl die Missionare in dem Kommunismus, der den Einzelnen nicht zwingt, seine ganze Kraft in seine Arbeit einzusetzen, den Grund übler Charaktereigenschaften (in Samoa des den Müßiggang erheiternden Intrigierens) gesucht. Man kennt Einrichtungen, die mit Bewußtsein auf die Verhinderung allzu starker Kapitalanhäufung gerichtet sind. Entschieden haben sie in Polynesien günstig gewirkt, wo sie die schädliche rasche Aufnahme europäischer Waren erschwerten. Die Besitzverhältnisse zeigen einen ebenso natürlichen Zusammenhang mit den Einrichtungen der Familie wie der Gesellschaft: so wie neben oder über den Resten der Gruppenehe die Einzelehe besteht, so finden wir den Einzelbesitz neben den Spuren des Gemeinbesitzes. Das Glied einer Familiengemeinschaft, die das gemeinsame Land mit vereinten Kräften bearbeitet und den Ertrag verteilt, macht ein Stück Land urbar: dieses ist sein nach eignem Recht zu vererbendes Eigentum. Ein Boot ist gemeinsamer, Waffen oder Angelhaken sind persönlicher Besitz. Besonders bei nomadisierenden und daher dünn wohnenden Naturvölkern ist der Eigentumsbegriff nicht nach allen Richtungen hin gleich entwickelt. Was dem Europäer bei den Hirtenvölkern Afrikas und den Jägern Nordamerikas sofort deutlich macht, daß er sich nicht mehr im Zwange europäischer Kultur befindet, ist das Totliegen der Eigentumsrechte in gewissen Richtungen. Sie pflegen bis zum Geize an ihren Herden zu halten, während sie auf dem Grundbesitz nur so weit bestehen, als er zur Weide notwendig ist. Viele respektieren das Eigentum in verschlossenen Truhen, während das frei liegende vogelfrei ist. Ist mein Zugvieh vom Reisen müde, so wird ausgespannt, wo ich will; ich lasse meine Ochsen weiden, wo ich Gras für sie gefunden zu haben meine, mit dem nächsten Holze koche ich mir meine Mahlzeit, ohne irgend jemand darum zu fragen, und auch ohne daß irgend jemand es für einen Eingriff in seine Rechte, für eine Schmälerung seines Besitztums hielte. Gefällt mir nun der Ort, wo ich ausgespannt habe, finde ich dort etwas, was mich besonders anzieht, eine reichlich fließende Quelle, ein gutes Weidefeld ein fruchtbares Stück Gartenland, so kann ich ja dort bleiben, solange ich will, kann mir auch ein Haus bauen, so groß und so weit ich will. Allerdings muß ich, wenn ich mich an einem bestimmten Orte niederlasse, gestatten, daß auch andere die Quelle wasserreich und das Weidefeld üppig finden, daß auch sie mit ihren Herden ankommen, und muß mich mit ihnen über die Benutzung auseinandersetzen. »Die Praxis der Hereró, einem einen Platz trotz alles Kommunismus zu verleiden, besteht meistens darin, daß sie so viele Herden und Viehposten an den Wohnort des mißliebigen Einwanderers heranbringen, bis dieser der vielfachen Störungen überdrüssig wird und, weil der Ort faktisch verwüstet ist, den Platz räumen muß.« ( Büttner.) Ganz im Gegensatz hierzu werden im dicht bevölkerten Gebiet des oberen Nil die Seen und Weiher ebenso als wertvolles Eigentum respektiert wie bei uns Ackerländer und Weinberge; denn sie liefern im Überfluß Fische und Lotoskörner, fast die einzige Nahrung dieser Fischervölker. Die büffeljagenden Indianer auf den nordamerikanischen Prärien hielten sich an bestimmte natürliche Grenzmarken. Die Betschuanen zollen noch heute den Buschmännern von ihrem Jagdertrage, angeblich, weil diese die älteren Eigentümer des Jagdgrundes sind. Dieselben Hereró, von deren unentwickeltem Eigentumssinn eben ein Beispiel gegeben wurde, hüten sich sehr, dies Eigentum an Fremde förmlich abzutreten; ein vollständiger Verzicht auf die Benutzung des Landes ist ihnen undenkbar. Aus dem Stammesbesitz geht die besonders in Afrika verbreitete Auffassung hervor, daß der Stammeshäuptling Besitzer alles Bodens ist; daher zahlen ihm die Glieder des Stammes für Nutznießung nach Übereinkunft Steuern.

Wir lesen schon bei Spaniern des 16. Jahrhunderts, daß kein Indianer frei über Land verfügte, sondern nur unter Zustimmung seines Stammes. In Ozeanien scheint sich der Übergang der einen Eigentumsform in die andere unter unseren Augen zu vollziehen und zwar, gerade wie im Vordringen des weißen Settlers auf Indianerboden, auf Grund der Arbeit des Lichtens und des Anbaues. Die Jagd schafft nur Stammeseigentum; und selbst die Australier und Eskimo, von denen einer auf ein paar hundert Quadratmeilen kommt, nehmen stamm- oder familienweise gewisse Landstriche für sich in Anspruch und betrachten den als Feind, der ohne Erlaubnis diese ihre Gebiete betritt oder benutzt. Die in der Regel auf niederen Stufen dünne Bevölkerung wird meistens hinreichenden Spielraum lassen; aber es liegt auf der Hand, daß eine Familie, die sich von der Jagd nährt, mehr Boden braucht als eine den Acker bauende, und ebenso, daß die nomadisierenden Hirten weitere Flächen beanspruchen müssen als ansässige Viehzüchter. Die ererbte Abneigung der Indianer gegen die Zerteilung ihrer Länder in Einzelbesitztümer, überhaupt gegen den Verkauf überflüssigen Landes, hat viel zur Erschwerung ihrer Stellung zu den Weißen beigetragen.

Die besitzschaffende Wirkung der Arbeit bleibt nicht bei der Einzäunung einer Waldrodung stehen. Je nachdem die Arbeit aber am Boden haftet oder nur leicht darüber hingeht, ist sie grundverschieden in Bezug auf ihre Ergebnisse. Jagd, Fischerei, nomadisches Hirtenleben schaffen meist nur rasch vergänglichen Besitz, der nicht die Quelle faßt und schont, woraus er schöpft. Im Ackerbau liegt dagegen Befestigung, Vertiefung, die nicht am wenigsten mächtig dadurch wirkt, daß sie auch andere Zweige menschlicher Thätigkeit zur Stetigkeit erzieht. Es ruht auf dieser stetigen Arbeit und der Anhäufung ihrer Früchte alle höhere Entwickelung der Kräfte der Menschheit. Gerade auf tieferen Stufen der Kulturentwickelung ist die Ansammlung des Reichtums eine Sache von der größten Wichtigkeit; denn ohne Reichtum gibt es keine Muße, ohne Muße keine Veredelung der Lebensformen, keinen geistigen Fortschritt. Erst bei einem erheblichen und dauernden Überschuß der Erzeugung über den Verbrauch entsteht ein Überschuß an Besitz, der sich nach den Gesetzen der Wirtschaftslehre selber vermehrt und das Aufkommen einer intelligenten Klasse ermöglicht. Ein ganz armes Volk entwickelt keine Kultur. Nun werden aber im Schutze der Kultur mehr Menschen geboren und erhalten, als Raum auf dem Boden ist, den das Volk bewohnt. Je rascher dieses Mißverhältnis wächst, desto größer wird die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen, zwischen Reichen und Armen. In heißen Ländern, wo der Mensch weniger Nahrung bedarf und doch die Produktion leichter ist als in kalten, wird die Bevölkerung rascher zunehmen. Der Menschen werden viele, der Arbeit ist wenig; darum sind die Arbeitslöhne abnorm gering, das Leben ärmlich, das Elend groß. In den kälteren Zonen braucht der Mensch kräftigere Nahrung, das Land erzeugt nicht soviel Nahrung wie dort, ernährt nicht soviel Menschen, der einzelne muß mehr arbeiten: die Folge ist mehr Leistung und höherer Lohn. Die Beziehung zwischen angestrengterer Arbeit und höherem Lohne ist geeignet, den Unterschied zwischen Arbeitenden und Besitzenden zu verringern, während umgekehrt die Indolenz der Tropenbewohner diesen Unterschied, wo er sich einmal entwickelt hat, ins Ungeheure steigert. In Ländern wie Europa sehen wir die günstigen Wirkungen des Bodens und Klimas übertroffen von der ausgezeichneten Disposition der arbeitenden Menschen, deren Thatkraft einen sichereren Fortschritt der Kultur gewährleistet als der Reichtum der Natur. Die Naturkraft ist ihrem Wesen nach bei aller Großartigkeit begrenzt und stationär, die geistige Kraft des Menschen ist unerschöpflich. Der beste Boden wird zuletzt erschöpft, während an die Stelle einer erschöpften Menschengeneration immer neue voll Jugendkraft treten. Auf dieser Grundlage ward die Kultur der Bewohner gemäßigter Zonen die entwickelungsfähigste von allen. Diese Kraft aber mußte in langsamer, beständiger Arbeit entwickelt werden; und die Kulturentwickelung ist besonders auch eine fortschreitende Erziehung aller zur Arbeit.

Zweifellos muß jeder Mensch arbeiten, um zu leben; allein er kann elend leben, um wenig arbeiten zu müssen. Der Naturmensch leistet, im ganzen genommen, oft ein nicht geringeres Maß von Arbeit als der Kulturmensch, aber er leistet sie nicht in regelmäßiger Weise, sondern gewissermaßen sprungweise und launenhaft. Das Leben des Buschmanns ist Wechsel zwischen Jagd, die ihn oft tagelang mit aller Mühe den Herden folgen läßt, dann Aufzehrung des Erjagten und zum Schluß Faulenzen, bis die Not zu neuer Anstrengung zwingt. Die angespannte regelmäßige Arbeit, das ist es, was der Naturmensch scheut; daher ein Zug unbezwinglicher Apathie in seiner Physiognomie: ein untrügliches Unterscheidungsmerkmal des echten vom falschen Indianer. Daher scheut er auch das Erlernen eines Handwerks. Der Handelstrieb des Negers, den die Thatsache illustriert, daß nahezu ein Fünftel der Bevölkerung Sierra Leones aus Krämern besteht, wurzelt gutenteils in der gleichen Abneigung.

Die Menschenfresserei, die in jedem Teil der Erde gefunden wird und einst noch verbreiteter war (auch Europa birgt prähistorische Reste und Überlieferungen, die darauf deuten), ist nicht eine Eigentümlichkeit der niedrigsten Kulturstufen und nicht eine Erscheinung von nur einer Ursache. Völker wie die Mangbattu, Batta, Maori gehören zu den höchsten ihres Kreises. Aber sie sind reich an Menschen und stehen nicht hoch genug, um vom Menschenüberfluß einen guten Gebrauch, z. B. durch Steigerung der wirtschaftlichen Produktion, machen zu können. Menschenleben sind bei ihnen wohlfeil. Nun setzt die Menschenfresserei Menschen voraus, die gefressen werden können; wir finden sie also in dichten Bevölkerungen oder dort, wo ein Volk die Macht hat, sich reichliche Sklaven zu verschaffen. Bei den Sandeh oder Bangala gibt es mehr Sklaven, als zur Arbeit nötig sind: es herrscht Überfluß an Fleisch. Dazu kommt die scharfe Absonderung von Volk gegen Volk, die den Fremden als Feind erscheinen und jede Verwendung, auch die zur Nahrung, als erlaubt gelten ließ. Innerhalb eines abgeschlossenen Familienstammes oder einer Gruppe solcher Stämme wird die Menschenfresserei ebenso undenkbar gewesen sein wie die Blutschande. Wenn sich die Menschenfresserei noch in den letzten Jahrzehnten gleichsam durch Ansteckung auf Inseln der Salomon-Gruppe ausgebreitet hat, so ist das eine Thatsache derselben Art wie die in demselben Gebiet aus gleicher Richtung geschehene Lockerung der gesellschaftlichen Ordnung. Da dort die Träger beider Umgestaltungen die Polynesier sind, ist an einem tieferen Zusammenhang kaum zu zweifeln; ebenso ist die auffallend ungleiche, lückenvolle Verbreitung der Menschenfresserei, die schon vor den rasch ihr entgegenwirkenden christlichen und mohammedanischen Einflüssen bestand, mit ihr zu verbinden. Weitere Motive: Die Rachsucht verzehrt den Feind. Der Neid will seine guten Eigenschaften gewinnen. Die Idee einer lebenslänglichen Gefangenschaft kann einem Volk nicht kommen, dessen lockere Bauart Gefängnisse unmöglich macht; und die Todesstrafen nehmen wuchernd überhand. Außerdem liegt der Menschenfresserei nahe der ganze Komplex kannibalischer Sitten, der in erster Linie die Menschenopfer, dann der rituellen Verwendungen von Teilen menschlicher Körper bei Weihen und Zaubereien und endlich die Bewahrung menschlicher Reste und ihre Verwendung umfaßt. Es liegt in dem Spiel mit menschlichem Fleisch und Bein schon die Überwindung eines natürlichen Abscheus. Die Menschenfresserei war doch auf den Gesellschaftsinseln noch nicht überwunden, wenn ein Häuptling bei festlicher Gelegenheit ein Menschenauge verschlang. Aus Völkernamen Schlüsse auf Menschenfresserei ziehen, wäre nicht immer richtig, denn sie wird vielen Völkern schimpfweise nachgesagt. Menschenfresserei aus Not, die ja auch bei Europäern vorkommt, ist bei Völkern, die alle paar Jahre eine Hungerzeit durchmachen oder dauernd, wie viele Stämme der Australier oder Arktiker, unter schwierigen Ernährungsverhältnissen leiden, ganz selbstverständlich und nur zu erwähnen, weil sie zur Erhaltung und Ausbreitung der Sitte beiträgt.


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