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Goethe und wir

Es sei ferne von uns, den ganzen Goethe für uns in Anspruch nehmen und mit einigen Formeln erschöpfen zu wollen. Goethe war gewiß nicht Demokrat, noch weniger Revolutionär. Er hat freilich die Französische Revolution vorgeahnt, sah schon acht Jahre vorher, daß die »moralische und politische Welt mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniert sei«, bekannte später, »daß irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung«, und war sich nach seinem bekannten Ausspruch bei der Kanonade von Valmy bewußt, daß »von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehe«. Aber »es lag nun einmal in seiner Natur, er wollte lieber eine Ungerechtigkeit begehen als Unordnung ertragen«, und so erregte ihm, dem Verkünder des Entwicklungsgedankens in der Geschichte wie in der Natur, gewaltsamer Umsturz den äußersten Widerwillen: »Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider.« Er war Aristokrat in einem hohen Sinne dieses Wortes – dabei aber ein Freund des Volkes, »der Klasse von Menschen, die man die niedere nennt, die aber gewiß vor Gott die höchste ist«. Ein späterer Dichter hat mit deutlicher Anspielung auf Goethe gesagt:

»Vor euren hohen Idealen
Sind wir gemein in Schmerz und Lust;
Es schlägt mit jedes Winzers Qualen
Und jedem Weber unsere Brust.«

Wie eine vorweggenommene Antwort darauf klingt es, wenn Goethe am 6. März 1779 an Frau vom Stein schreibt: »Hier will das Drama gar nicht fort, es ist verflucht, der König von Tauris soll reden, als wenn kein Strumpfwirker in Apolda hungerte.«

Aber in einem viel tieferen Sinne als dem einer gefühlsmäßigen Sympathie für das Volk dürfen wir mit den hier vorgetragenen Gedanken den großen Namen Goethes in Verbindung bringen, und es gewährt eine letzte Beruhigung und tiefe Befriedigung, wenn sich eine Erkenntnis auch vor dem Antlitz des größten deutschen Menschen zu behaupten vermag, wenn sich gar zeigen läßt, daß Goethes Augen freundlich auf ihr geruht haben. Für die von uns gewonnene Erkenntnis kann dargetan werden, daß sie dem letzten Worte von Goethes Greisenweisheit entspricht, das er uns in den zweiten Teilen des »Wilhelm Meister« und des »Faust« hinterlassen hat. Da sehen wir ihn hinausgewachsen über den individualistischen Gedanken seiner Jugend und seiner Zeit und ganz erfüllt von der Idee einer überpersönlichen Arbeits- und Werkgemeinschaft.

Es ist der Grundgedanke des »Wilhelm Meister«, daß der sich niemals findet, der sich in sich selber sucht, daß nur, wer handelnd sich der Welt gibt, sich von der Welt zurückempfängt. Dahin zielen die über Goethes ganzes Lebenswerk absichtsvoll ausgestreuten Bemerkungen über die Unfruchtbarkeit, ja Verderblichkeit unmittelbarer Beschäftigung mit dem eigenen Selbst, von denen wir nur die eine hier anführen: »Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachtung niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages.« Nicht »Erkenne dich!« sollte es heißen, sondern »Erprobe dich!« Wenn die Wanderjahre den Untertitel führen »Die Entsagenden«, so soll damit vornehmlich eben dieses gesagt sein: daß nur durch den Verzicht auf die zärtliche Pflege des eigenen Selbst, nur durch die selbstvergessene Hingabe an eine begrenzte Sache und eine übergeordnete Gemeinschaft der bewußte Besitz und Genuß eines zum Ganzen gewordenen Selbst erreicht werden kann. Sachlichkeit, klar und frisch wie Quellwasser, ist Goethes Forderung, »Objektivität«. »Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle fortschreitenden Epochen eine objektive Richtung«, sagt er einmal zu Eckermann, »jedes tüchtige Bestreben wendet sich aus dem Innern heraus auf die Welt.« Nun gehört das Gefühl nur einem jeden selber, mit seiner Tätigkeit aber gehört er der Welt, mit seinem Bewußtsein macht er die Welt sich zugehörig. Je älter Goethe wird, um so ferner rückt er seinem Worte: »Gefühl ist alles!« Nun ist ihm Bewußtsein alles, alles Tat. Seinem Lieblingswort: »Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle«, fügt er in einem Gespräch mit Riemer den Satz hinzu: »er habe sich nur Bewußtsein gewünscht«. Zu unzähligen Malen aber hat Goethe sich zum tätigen Leben bekannt, am nachdrücklichsten dort, wo er noch das Leben zu eng für die Aufgaben des Lebens findet und einen weiteren Raum für seine Taten heischt. Er sagt einmal zu Eckermann: »Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt nur aus dem Begriff der Tätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht weiter auszuhalten vermag.«

Auf Tat, Arbeit, Werk, auf Tüchtigkeit zu einem bestimmten Beruf, nicht mehr auf Persönlichkeit und allgemeine Bildung, ist die Erziehung in der Pädagogischen Provinz der »Wanderjahre« eingestellt – und gerade deshalb lehnt sie im äußeren und inneren Sinne jede »Uniform« ab, steht sie im Zeichen mannigfaltigster Individualisierung. »Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung.« – »Es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten; wohl dem, der es begreift, für sich und andere in diesem Sinne wirkt. Mach ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen wird.« –»Nur alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte zusammengenommen die Welt.« Die Pädagogische Provinz stellt sich deshalb als eine großartige Arbeits-, ja Produktionsschule dar – und darum auch als eine Gemeinschaftsschule. Die dritte und höchste der Grußformen in der Pädagogischen Provinz ist ein Sinnbild der Arbeitsgemeinschaft und Kameradschaft: »Nun steht er strack und kühn, nicht etwa selbstisch vereinzelt; nur in Verbindung mit seinesgleichen macht er Fronte gegen die Welt.« Die gemeinschaftsbildende, arbeitsbeflügelnde Kraft des Chorgesanges wird kräftig betont, der Gedanke einer Gemeinschaftskultur scharf umrissen. Von den Künstlern der Pädagogischen Provinz heißt es, »es scheine, als wenn keiner aus eigener Macht und Gewalt etwas leiste, sondern als wenn ein geheimer Geist sie alle durch und durch belebte, nach einem einzigen großen Ziele hinleitend«, und scharfe Worte fallen gegen das Halbvermögen, das unter dem Vorwande unbezwinglicher Originalität seine beschränkte Besonderheit an die Stelle des unbedingten Ganzen setzen möchte. Die Pädagogische Provinz trägt schließlich auch den Charakter der weltlichen Schule. Die drei Grußformen leiten den Zögling sanft von kindlichem Himmels- und Jenseitsglauben zu heiter gefaßtem Einverständnis mit der Erde in Freude und Schmerz, schließlich zu kameradschaftlicher Tatbereitschaft, die gegen die Welt Fronte macht, und in dem Heiligtum der Pädagogischen Provinz wird die jüdische Religion als eine unter den anderen heidnischen dargestellt, der Kern des Christentums in der Weisheit des Lebens Jesu, nicht in dem Mysterium seines Leidens und Todes gesucht und dieses dem Zöglinge nur »ausstattungsweise in die Welt mitgegeben, damit er wisse, wo er dergleichen zu finden hat, wenn ein solches Bedürfnis sich in ihm regen sollte«.

Die gleichen Züge wie die Pädagogische Provinz trägt der Bund der Wanderer, dem sie zur Vorbereitung dient. Bei der Schilderung dieses seines Ideals eines Gemeinwesens hat Goethe die politischen Tagesfragen seiner Zeit, die formalen Rechtsfragen des Liberalismus einfach überflogen; er stellte bereits die sozialen Fragen des nachfolgenden Zeitalters: Kopfarbeit und Handarbeit, Handwerk und Maschine. Der Wandererbund ist ein auf planvolle Arbeitsteilung und Arbeitsvereinigung gegründetes Gemeinwesen. Jede gesellschaftliche Arbeit genießt die gleiche Achtung, die Handwerke werden als »strenge Künste« den freien Künsten gleichgestellt, ja vorgezogen, dem Titelhelden absichtsvoll das damals wenig geachtete, meist dem Barbierberuf verbundene Geschäft des Chirurgen zugewiesen, dessen Name schon an das Handwerk erinnert. Die Sittenlehre des Bundes ist ganz auf die Arbeit gerichtet: Mäßigung im Willkürlichen, Emsigkeit im Notwendigen, größter Respekt für die Zeit als für die höchste Gabe Gottes und der Natur. Hinzuzufügen wäre Kameradschaft; denn »was der Mensch auch ergreife und handhabe, der einzelne ist sich nicht hinreichend, Gesellschaft bleibt eines wackeren Mannes höchstes Bedürfnis«. Wieder findet Gemeinschaft im Chorgesang kräftigen Ausdruck, so daß man sich an Nietzsches Gedanken erinnert fühlt, »den Staat auf die Musik zu gründen«.

In Werkfreude und Gemeinsinn kommt Wilhelms Schweifen, kommt Fausts Ungestüm endlich zur Ruhe. Auf freiem Grund mit freiem Volk zu stehen, ist Fausts letzte Sehnsucht, und seine Leidenschaft verleiht auch dem ruhigen Gemeinsinn Feuer der Leidenschaft in der wundervollen Wortprägung »Gemeindrang«.

In naher Beziehung zu dem Weltbunde der Wanderer steht Goethes gleichartige Idee der Weltliteratur. Weltliteratur ist ihm nicht einfach die Summe der Werke der getrennten Völker, sondern der Inbegriff lebendiger Beziehungen zwischen den immer mehr sich verbindenden Nationen, die Internationale der Kultur. Auch er will nicht die graue Internationale, sondern die einzelnen Nationen als schwingende Saiten an der Lyra der Menschheit. »Die Besonderheiten einer jeden muß man kennen lernen«, schreibt er an Carlyle, »um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren«. »Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läßt, bei der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstvolle sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit gehört.« So gehört Goethe selber gerade als Extrakt und Essenz deutschesten Wesens der ganzen Menschheit an.

Man müßte ein neues Buch schreiben, wollte man zeigen, wie sich auch Goethes Religiosität der Auffassung dieser Blätter einfügt. Es sei daran genug, zwei Verse anzuführen, die scheinbar einander widersprechen, in Wahrheit sich wundersam ergänzen zu jenem »Ja über die Welt trotz alledem«. Im Diwan heißt es:

Dann zuletzt ist unerläßlich,
daß der Dichter manches hasse;
was unleidlich ist und häßlich,
nicht wie Schönes leben lasse.

Aber im Faust singt Lynkeus der Türmer:

Ihr glücklichen Augen,
was je ihr gesehn,
es sei, wie es wolle,
es war doch so schön.

So war der Kranz, den am 28. August 1920 Arbeiterjugend am Fuße des Doppelstandbildes in Weimar niederlegte, Sinnbild und Gelübde inneren Zusammengehörens. Auf gut goethisch seien diese Ausführungen geschlossen:

»Und so fortan!«


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