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Sozialismus und Religion

Vgl. Paul Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart; Carl Mennicke, Der Sozialismus als Bewegung und Aufgabe, 1926; Eduard Heimann, Der Sozialismus als sittliche Idee (Archiv für Sozialwissenschaft, Bd. 52), 1924, S. 154 ff.); Paul Göhre, Der unbekannte Gott, 1919; Ludo M. Hartmann, Christentum und Sozialismus, 3. Aufl., 1916; Gerda Soecknick, Religiöser Sozialismus der neueren Zeit, 1926; Paul Piechowski, Proletarischer Glaube, 1927.

Nach dem berühmten Worte des Erfurter Programms der SPD ist Religion »Privatsache«. Das will sagen: sie ist weder Staats- noch Parteisache. Aber Sozialismus wäre keine Weltanschauung, wenn er nicht zur Religion Stellung nähme, positiv oder negativ. Und so bedeutet die Absage der sozialistischen Partei, Religion als ein Politikum zu betrachten, keineswegs den Verzicht sozialistischer Weltanschauung, sich auch mit der Religion auseinanderzusetzen.

Sozialismus und Christentum zeigen auf den ersten Blick Züge naher Verwandtschaft. Wie der Sozialismus, ist in seinem Ursprung das Christentum eine Bewegung der Armen und Unterdrückten. Wie der Sozialismus, muß es Verfolgung und Märtyrertum erdulden. Christentum wie Sozialismus sind voll des Glaubens an die Sendung der Armen im Gegensatz zu den Reichen. Beide beherrscht der Gedanke der Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, die das Christentum freilich vorwiegend nur als Gleichheit im Tode und vor Gott auffaßt. Beiden ist die Forderung der Brüderlichkeit gemeinsam. Das Urchristentum zieht wie der Sozialismus aus dieser Brüderlichkeit die Folgerung der Gütergemeinschaft, die für das Christentum freilich nur eine Gemeinschaft des Konsums, nicht der Produktion bedeutet. Beide erstrecken die Forderung der Brüderlichkeit auf die ganze Menschheit, beide verwerfen die Gewalt und verheißen Friede auf Erden. Kein Zweifel: hätte es in der Welt niemals ein Christentum gegeben, so gäbe es auch keinen Sozialismus.

Dennoch überwiegen bei näherem Zusehen die Unterschiede. Das Kernwort sozialistischer Ethik heißt Solidarität, das Kernwort christlicher Ethik Nächstenliebe. Schon das Wort Nächstenliebe zeigt es: das Christentum sieht nur die sittliche Nachwirkung, das unmittelbare Verhältnis von Mensch zu Mensch, nicht die soziale Fernwirkung jeder Handlung in der Gesellschaft auf die Gesellschaft und auch ihre entferntesten Glieder. Die christliche Ethik konnte diese soziale Fernwirkung jedes Handelns gar nicht ins Auge fassen; denn sie war die Ethik einer weit weniger entwickelten und verflochtenen Wirtschaft als der unsern. Sie war die Ethik eines ökonomischen Zustandes, bei dem sich die wirtschaftliche Verbundenheit auf die Menschen beschränkte, die in persönlichen Beziehungen miteinander standen, auf den einzelnen und seine Nachbarschaft. Heute ist der Kreis der wirtschaftlich Verbundenen so groß wie die ganze bürgerliche Gesellschaft, und sich durch die soziale Fernwirkung jedes Handelns auf die Vielen, auf die Unbekannten, auf das soziale Ganze bestimmen zu lassen, gerade das ist das Wesen moderner Sozialsittlichkeit – nicht Caritas, sondern Solidarität. Man mag diese Solidarität als eine Fortbildung christlicher Nächstenliebe im Hinblick auf verwickelter gewordene wirtschaftliche Verhältnisse betrachten. Aber sie unterscheidet sich von der überkommenen christlichen Ethik in ihrer psychologischen Struktur wesentlich, vor allem durch ihren intellektuellen Einschlag. Nächstenliebe mag auch in Gestalt der Güte einfältiger Herzen möglich sein, soziale Sittlichkeit setzt mit Notwendigkeit soziales Wissen voraus, Wissen eben um jene Fernwirkungen, die jede unserer Handlungsweisen an einem noch so fernen Punkte der Gesellschaft auf noch so entfernte andere auszuüben vermag. Deshalb ist in einer verwickelten Gesellschaft höchste Güte nur in Verbindung mit höchster Klugheit möglich: erst für sie kommt jenes christliche Wort voll zur Geltung: »Seid ohne Falsch wie die Tauben und klug wie die Schlangen.« Neben diesem intellektuellen Einschlag ist für die Sozialethik ihre institutionelle Auswirkung kennzeichnend. Nächstenliebe lebt und wirkt in Gesinnung und Handeln, Solidarität verkörpert sich in Institutionen. Diese sozialethischen Institutionen haben sich weit schneller entwickelt als das sozialethische Bewußtsein. Der Mensch ist nicht besser geworden, die Institutionen sind bei weitem besser geworden. Sie können freilich nicht dauernd leben, wenn nicht das sozialethische Bewußtsein die vorauseilenden Institutionen immer wieder einholt und ausfüllt. Institutionelle und persönliche Sozialethik fordern einander.

Aber wenn wir die christliche Ethik in den bisherigen Ausführungen an moderner Sozialethik maßen, also auch in ihr selber eine, nur noch nicht voll ausgebildete, Sozialethik erblickten, verkannten wir ihr Wesen durchaus. Soziale Probleme liegen in Wahrheit ganz fern außerhalb ihres Gesichtskreises, ganz tief unter ihrem Standpunkt. Glaube man doch ja nicht, daß in dem Jesusworte: »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!« die erste Hälfte des Satzes anders als im Tone gleichgültiger Ironie gesprochen wurde: Gebt meinetwegen auch dem Kaiser was des Kaisers ist, wenn ihr nur Gott gebt, was Gottes ist – allein auf dem Nachsatz liegt der Ton. In dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberge schiebt Güte und Gnade mit einer großen Handbewegung die Frage nach Recht und Gerechtigkeit weit von sich. In dem für den ersten Eindruck anstößigsten unter allen Gleichnissen Jesu, dem Gleichnis vom ungerechten Haushalter, wird das Unrecht des Haushalters so wenig als Unrecht betont, daß es als ein Gleichnis für das Verhalten des Christen zu geistigen Werten unbefangen verwandt wird: »Und der Herr lobte den ungerechten Haushalter, daß er klüglich getan habe«; ganz nebenher dem eigentlichen Sinne des Gleichnisses kommt in um so befremdlicherer Selbstverständlichkeit der Gedanke zum Ausdruck: Wie auch euer gerechter Mammon in Wahrheit ungerechter Mammon ist, so ist auch noch euer Recht vor Gott Unrecht. In die letzte Tiefe dieser Anschauung aber führt das erschütternde Wort, die unerhörteste Umwertung aller Werte, die je geschah: Widerstrebet nicht dem Bösen, streitet nicht um den Rock, gebt auch noch den Mantel, bietet selbst die Wange dem Backenstreich dar! Das ganze objektive Ethos des Rechts, der Gerechtigkeit und der Einrichtungen, die davon getragen werden, also Staat, Volk, Recht, Arbeit, Werk, Kultur, alles das besteht für die urchristliche Ethik nicht. »Vor Gott« gibt es nur den einzelnen Menschen und seine Seele. In furchtbarer Einsamkeit führt die letzte Zwiesprache über das verliehene Pfund Auge in Auge mit Gott jeder einzelne Mensch für sich. Christentum ist radikaler Individualismus. Ein solcher letztendiger Individualismus hat neben aller Sozialethik seinen vollgültigen Platz, freilich auf einer ganz anderen Ebene der vielgeschichteten Menschenseele, hat so gut seine Wurzel im menschlichen Erlebnis wie die Sozialethik die ihre, in dem Erlebnis nämlich des gebärenden Weibes und des sterbenden Menschen. Für sie gibt es keine Gemeinschaft, sie sind herausgerissen aus jeder Gemeinschaft, furchtbar einsam auch dann noch, wenn ihre Nächsten ihnen die Hände halten, für sie gibt es nichts als die Seele und den Abgrund der Ewigkeit, in den sie zu stürzen in Gefahr sind.

Aber auch die individualistische Ethik der Seelenreinheit ist noch Vorhof, nicht Tempel. Sittenlehre ist noch nicht Religion, Religion weiß nichts von Sollen und Schuld, von Gut und Böse. Das Wesen der Religion liegt beschlossen in zwei Worten, einem aus dem Alten und einem aus dem Neuen Testament, dem Worte, mit dem die Schöpfungsgeschichte schließt: »Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut«, und dem Worte des Neuen Testamentes: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Guten dienen.« Für das religiöse Bewußtsein ist »alles gut«, Religion läßt ihre Sonne scheinen über Gerechte und Ungerechte, spricht über alle Dinge ihr Ja und Amen, letzten Endes und trotz alledem. Um aber zu zeigen, daß Religion das unerläßliche Schlußstück alles Denkens und Handelns ist, ist es geboten, alle Reiche des Denkbaren zu durchwandern, an alle Pforten des Erkennens anzuklopfen mit der Frage, die der Inbegriff aller Lebensfragen ist: mit der Frage nach dem unvergänglichen Sinn unseres vergänglichen Lebens, mit der Frage: Warum leben wir, da wir doch sterben müssen?

Wir betreten zuförderst das wilde und bunte Reich der Natur. Aber nicht lange, und es ist uns zumute wie dem Ritter Walther von der Vogelweide in jenem erschütternden Altersgedicht:

Die Welt ist außen lieblich, weiß, grün und rot,
Doch innen schwarzer Farbe, finster wie der Tod.

Alle Farbigkeit der Natur wird von der Wissenschaft an ihrem letzten Ende verwandelt in ein farbloses Netz von blinden Gesetzen, in ein unentwirrbares Räderwerk von Ursachen und Wirkungen, unmenschlich und erbarmungslos. Mit erstarrter Maske lächelt Natur über unser Weh, unser Glück, blind gegen unseren Wert. Gleichmütig läßt sie die ehernen Räder ihrer Gesetze über uns hingehen, Krankheit, Schmerz und Tod. Wir tragen ein kleines Abbild der großen Welt bei uns in metallener Kapsel: unsere Taschenuhr. Ein jeder von uns hat einmal, aus dem Schlafe aufgeschreckt, in der Stille der Nacht gebannt auf das immer lautere, immer härtere Ticktack dieser Uhr gehorcht, auf diesen unaufhaltsamen Tropfenfall der Zeit in den Abgrund der Ewigkeit, auf dieses erbarmungslose Versickern der uns tropfenweise zugemessenen Lebensfrist. Das steigende Gefühl des Grauens, das wir dabei empfanden, das Gefühl der Sinnlosigkeit, der Blindheit gegen Zweck und Wert ist es, mit dem die Natur uns letzten Endes entläßt. Denn Natur weiß von keinem Wert, Natur hat keinen Zweck – wir setzten ihr ihn denn!

So wird der Blick von dem, was außer uns ist, nach innen zurückgelenkt. Wir finden ein Vermögen in uns, das sich stark genug dünkt, sich der Gesetzmäßigkeit der Natur zu entziehen, der Natur das Ideal, dem Sein das Sollen entgegenzusetzen. Ein Reich der Ideale, der Werte, der Zwecke tut sich vor uns auf, eine Welt von Aufgaben. Das Dreigestirn des Guten, des Wahren, des Schönen geht über unserem Leben auf und nimmt unser Denken, Wollen, Fühlen gefangen. Hatte die Natur uns zu tatloser, wertblinder Betrachtung aufgefordert, so ruft das Ideal uns auf zur wertverwirklichenden Tat.

Und nun packt unser schöpferischer Wille die Natur und zwingt sie in den Dienst des Ideals. Die Gesetze der Natur, eben noch unsere Herren, müssen sich in unsren Dienst bequemen. Die Leidenschaften der Menschen werden unter Gesetze neuer Art, menschengeschaffene, wertbeseelte Gesetze, gebeugt. Aber Technik und Zivilisation, Sitte, Recht und Staat sind nur Vorstufen noch erhabenerer Menschenwerke. Mit ihrer Hilfe, unter ihrem Schutz beginnt die Fleischwerdung der Ideale selber: das Wahre sucht Gestalt in der Wissenschaft, das Schöne wird sichtbar und leibhaft in der Kunst, und das Gute baut sich in dem Gewissen der einzelnen und in den Anstalten des Gemeinwesens einen vielgliedrigen Körper. Auf der breiten Grundlage der Technik und Zivilisation steigt Stufe um Stufe der gewaltige Pyramidenbau der Kultur.

Aber wäre unsere Sehnsucht nach Sinn damit gestillt? Gerade auf der Höhe der Kultur reckt sich auch der Weltschmerz zu seiner schmerzlichsten Höhe. Da er alle Gebiete des Wissens durchmessen, spürt Faust erst recht den Schmerz, »daß wir nichts wissen können«. Zwischen allen Sinnbildern und Werkzeugen menschlicher Erkenntnis schickt Dürers Melancholie in trostloser Schwermut den Blick ins Leere. Aus jenem Bildnis Rembrandts starrt uns unter der vollendeten Kunstpracht des Goldhelms nur um so hoffnungsloser die Verzweiflung einer edlen Leidenschaft an. Auf Michelangelos Mediceergräbern entschlummert am Abend die Trostlosigkeit und erwacht am Morgen die Hoffnungslosigkeit, lehnt sich der Tag mächtig-ohnmächtig gegen das Geschick auf und verleiht die Nacht als einziges Glück bleiernen Schlaf. In aussichtsloser Zirkelbewegung, in Fortschritten, die nur durch Rückschritte erkauft werden können, in unendlich kleiner Annäherung an ein unendlich fernes Ideal, in verzweiflungsvoller Danaidenarbeit bleibt die Kultur ihrem Ziele immer gleich fern. Das tiefe Grauen, das die Natur letzten Endes in uns hinterläßt, das hohe Ungenügen, mit dem sich das Ideal ihr entgegenstellt, und die abgründige Verzweiflung, mit der allabendlich der Arbeitstag der Kultur endet, wäre also der ganze Ertrag unserer bisherigen Wanderung, und dem Sinn unseres Lebens sind wir an ihrem Ende noch ebenso fern wie zu ihrem Beginn.

Aber wir sind noch nicht ganz an ihrem Ende. Immer wieder weckt ein strahlender Frühlingsmorgen mit der in unberührter Unschuld glänzenden Natur auch uns zu einem vergangenheitslos neuen Lebensanfang, immer wieder legt ein tröstlicher Herbstabend seine mütterlich sanften Hände auf alles Leid und alle Schuld, immer wieder einmal bekennen wir in Ergriffenheit: der Mensch ist doch gut, die Welt ist doch gut – letzten Endes und trotz alledem. Und dies erscheint uns als das Wunder aller Wunder: daß wir Leid und Schuld, Wahn und Ungestalt des Lebens bis auf den Grund durchschauen – und dennoch leben, ja, froh sein können:

Ich lebe und weiß nicht, warum,
ich sterbe und weiß nicht, wann,
ich fahre und weiß nicht, wohin:
mich wundert, daß ich so fröhlich bin.

Diese Fröhlichkeit aber, diese Bejahung des Lebens trotz alledem ist Religion, auch, vielleicht gerade auch dann, wenn sie nichts von Gott und Jenseits, von Bibel und Bekenntnis, von Priester und Kirche weiß. Freilich: diese Fröhlichkeit darf niemals ein Dauerzustand werden, sonst würde sie zu einem satten Behagen, in dem aller Schwung des Ideals und alle Kritik an der Welt, alle Kampfes- und Werkfreude unterginge. Dann würde sie in Wahrheit »Opium für das Volk« und die »Aufhebung der Religion als des illusorischen Glückes des Volkes zur Forderung seines wirklichen Glückes« (Marx). Aber Religion ist nicht ein Kloster, in das man eintritt, um nie wieder herauszukommen, sondern eine Wegkapelle, in der man zu kurzer Rast seinen Wanderstecken an die Mauer lehnt. Religion muß immer wieder von neuem erworben werden, immer wieder müssen wir uns zurückgeworfen sehen in das Ungenügen des Ideals an der Natur, in seine Verzweiflung an der Kultur, um immer von neuem für Augenblicke in der Religion Zuflucht und Erlösung zu finden und dann wiederum den Weg durch die Welt anzutreten. Aber dieser Kreislauf ist nicht ein fruchtloser Umweg. Eine tiefe Freudigkeit, ein letztendiger Optimismus teilt sich von der Religion aus auch den anderen Reichen mit; nicht jener leichtfertige und oberflächliche Optimismus, der Leid und Schuld nicht sehen will, sondern ein Optimismus trotz alledem. Nun steht der Mensch der Natur nicht mehr mit der Angst eines in ihr Gefangenen, sondern mit der überlegenen Heiterkeit des Betrachtenden gegenüber, nun erscheint das Ideal nicht mehr in unerreichbarer Höhe über der Natur, sondern als ihre eingeborene Bestimmung, nun zeigt sich die Kultur nicht mehr nur als ein nie vollendbares Werk, sondern als eine in jedem Augenblicke beglückende Arbeit. Und so ist Religion recht eigentlich das, was das Weiterleben erst möglich macht, und deshalb wohnt, noch so unbewußt, jedem Leben Religion inne: daß jemand lebt, beweist, daß Religion in ihm ist. Religion ist die Antwort auf jene Frage: Warum leben wir, da wir doch sterben müssen?

Wenn dennoch im Proletariat so wenig bewußte, sich zu sich selbst bekennende Religiosität lebt, so ist das nicht sowohl zurückzuführen darauf, daß das Übermaß des Elends den Durchbruch zu jener letzten »Bejahung des Lebens trotz alledem« unmöglich machte, vielmehr darauf, daß äußeres Elend die innere Not – Sündenbewußtsein und Erlösungsbedürfnis, welche noch immer die mächtigsten unter den Antrieben zur Religion waren – gar nicht zu Worte kommen läßt. An wem von der Gesellschaft so schwer gesündigt wird wie an dem Proletarier, der ist über der übermächtigen Sünde der Gesellschaft gar nicht fähig, auch die eigene, dem Menschentum eingeborene Sündigkeit zu fühlen, der kann sich gar nicht als schuldig fühlen, sondern nur als das Opfer fremder Schuld, der fühlt sich mit Recht aufgerufen zum Kampf gegen das Unrecht, und nicht zur Demut vor der Gnade. Die Stunde der Religion hat erst dann geschlagen, wenn Unrecht und Elend weggeräumt und der Weg zur eigenen Seele auch für den Proletarier frei geworden ist.

Will man aber Kronzeugen für die Vereinbarkeit tiefer Religiosität mit echtem Sozialismus, so nehme man das schöne Lebensbild zur Hand, das Macdonald seiner verstorbenen Gattin Margaret Ethel Macdonald gewidmet hat: »Ihr Leben«, so erzählt er, »war eine einzige Handlung christlichen Gottesdienstes, der erst zu seiner endlichen Größe anwuchs, nachdem sie den Weg der individuellen Religion verlassen und den der großen Sühne der Menschheit durch den Sozialismus betreten hatte.›Mein Sozialismus erwächst ganz aus meiner Religion‹, ist eine der letzten Eintragungen ihres Tagebuchs.« Und an anderer Stelle: »Die Ehrfurcht, in der sie lebte, wurde mit den Jahren immer feierlicher, doch, wenn feierlich gestimmt, war sie nie düster. Sie war wirklich die sonnigste der Optimistinnen, aber immer war ein Beben in ihrer Freude.« Dieser fröhliche, metaphysische Leichtsinn, das geheime Beben darin und die tiefe Feierlichkeit in seinem Hintergrunde – schöner kann man die Religiosität nicht zum Ausdruck bringen, die wir meinen.

Will man noch andere Kronzeugen? Ich weiß eine Frau, eine schroffe Kämpferin, die schrieb aus jahrelanger Gefangenschaft an eine Freundin:

»Sie fragen in Ihrer Karte:›Warum ist alles so?‹ Sie Kind, ›so‹ ist eben das Leben seit jeher, alles gehört dazu: Leid und Trennung und Sehnsucht. Man muß es immer mit allem nehmen und alles schön und gut finden. Ich tue es wenigstens so. Nicht durch ausgeklügelte Weisheit, sondern einfach so aus meiner Natur. Ich fühle instinktiv, daß das die einzige richtige Art ist, das Leben zu nehmen, und fühle mich deshalb wirklich glücklich in jeder Lage. Ich möchte auch nichts aus meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war und ist. Wenn ich Sie doch zu dieser Lebensauffassung bringen könnte!«

Und ein andermal sagt dieselbe Frau:

»Wie merkwürdig das ist, daß ich ständig in einem freudigen Rausch lebe ohne jeden besonderen Grund. Da liege ich still allein, gewickelt in diese vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit des Winters – und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen, unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem Leben, wie wenn ich irgendein zauberhaftes Geheimnis wüßte, das alles Böse und Traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück wandelt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude, finde nichts und muß wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das Geheimnis ist nichts anderes als das Leben selbst. In solchen Augenblicken denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen Zauberschlüssel mitteilen, damit Sie immer und in allen Lagen das Schöne und das Freudige des Lebens wahrnehmen, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine bunte Wiese gehen. Ich denke ja nicht daran, Sie mit Aszetentum, mit eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen Sinnesfreuden. Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche innere Heiterkeit geben, daß Sie in einem sternbestickten Mantel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen, Trivialen und Beängstigenden schützt.«

Die Schreiberin dieser Briefe hieß Rosa Luxemburg, jener Zauberschlüssel und sternbestickte Mantel ist nichts anderes als das, was uns Religion heißt. »Gott« aber und »Jenseits« sind nicht Religion, sondern Theologie und oft nicht einmal gute Theologie.


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