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Ökonomie und Ideologie

»Ideologische Betrachtungen« anzustellen, wird manchem rechtgläubigen Anhänger der materialistischen Geschichtsauffassung als ein müßiges Unterfangen erscheinen. Erwecken doch zugespitzte Darstellungen dieser Lehre den Anschein, als mache die ökonomische Geschichtsauffassung die Ideologie, wie sie sich in Recht, Staat, Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Religion darstellt, zu einem rein zwangsläufigen Ausdruck der jeweiligen Wirtschaftsverhältnisse ohne Eigenbedeutung und Eigengesetzlichkeit, zu einer Illusion, die es nicht zu pflegen, sondern durch den Aufweis ihrer wirtschaftlichen Ursachen zu zerstören gelte.

Daß dies der wahre Sinn der ökonomischen Geschichtstheorie nicht ist, ist oft dargetan worden. Schon wenn Karl Marx das Ideelle als »das im Menschenkopfe umgesetzte Materielle« bezeichnet, kann diese »Umsetzung« nicht anders verstanden werden als dahin, daß das Materielle in neue, aus der materiellen Grundlage nicht ableitbare Kulturformen eingefügt und so in eine neue Daseinsweise überführt werde. Und Friedrich Engels hat in einem berühmten Briefe betont, daß Marx und er diese »formelle Seite über der inhaltlichen vernachlässigt« hätten.

In der Tat wird, indem das Materielle sich in den von ihm unabhängigen, festen Formen der einzelnen Kulturgebiete ideologisch auswirkt, eine Eigengesetzlichkeit ins Werk gesetzt, vermöge deren das Ideologische – nach Engels Wort – nun auf »seine eigene Ursache zurückwirken« kann. Ein Beispiel bietet die Freiheitsideologie des aufsteigenden Bürgertums. Die Freiheit, die sie »meinte«, war nur die Ellbogenfreiheit des werdenden Kapitals. Diese Ellbogenfreiheit wurde jedoch umgesetzt in die ideologische »Form Rechtens«, d. h. aber: die Gleichheits- und Allgemeinheitsform der Gerechtigkeit. Und so wurde aus dem Freiheitsbedürfnis des werdenden Kapitals, indem es sich in die Rechtsform umsetzte, die staatsbürgerliche Freiheit, die gleiche Freiheit für alle – mithin auch die Koalitionsfreiheit für die Arbeitnehmerschaft im Kampf gegen das Kapital. Die Ideologie wirkte auf ihre eigene materielle Ursache, die Macht der Bourgeoisie, ändernd zurück!

Aber nicht nur Kulturformen, auch Kulturideale gewinnen unversehens Einfluß auf die ökonomischen Machtverhältnisse, aus denen sie entsprungen sind, und auf die politischen Bewegungen, die den ökonomischen Machtverhältnissen zum Ausdruck dienen. Jede politische Bewegung ist soziologisch genötigt, eine Ideologie hervorzubringen. Wäre auch eine Partei ursprünglich nur durch das Interesse ihrer Anhänger zusammengeführt worden, sie wäre doch sofort gezwungen, ihr Sonderinteresse als auch im Interesse der Allgemeinheit gelegen zum mindesten vorzugeben. Diese Behauptung, in dem eigenen Interesse zugleich einem Allgemeininteresse zu dienen, ist das Wesen jeder Parteiideologie. Mag aber auch eine solche Parteiideologie zunächst nichts als das berückende Gewand sein, mit dem das Interesse seine Blöße deckt: mit soziologischer Zwangsläufigkeit wird sie sehr bald mehr. Die Ideologie einer Partei wendet sich ja nicht nur kämpfend gegen den Gegner, sondern auch werbend an neu zu gewinnende Anhänger. Um die Kerntruppe, die durch ein Interesse an diese Partei gebunden ist, schart sich ein immer weiterer Kreis von Parteimitgliedern, deren Parteizugehörigkeit nicht durch das Interesse, sondern durch die Idee der Partei bestimmt wird, die deshalb auf die folgerichtige und restlose Durchführung der Idee auch auf Kosten des Interesses dringen und so die Partei an die Idee binden, die sie ihrerseits an die Partei gebunden hat.

Noch auf eine andere Weise wächst die Idee über das Interesse hinaus. Auch die Armeen des Parteikampfes müssen, um nicht überflügelt zu werden, ihre ideelle Front breiter und breiter strecken. Der Wettbewerb der Parteien nötigt jede von ihnen, über alle Fragen des öffentlichen Lebens eine programmatische Ansicht zu haben, auch über solche, die mit ihrem ursprünglichen Interesse nur in sehr lockerem oder gar keinem Zusammenhange stehen. So nimmt ein Parteiprogramm immer mehr Forderungen in sich auf, die nur noch ideologisch motiviert, nicht mehr soziologisch bedingt sind.

Sei immerhin wie der Wunsch der Vater des Gedankens so das Interesse die Mutter der Idee: wie andere Mütter vermag auch das Interesse nicht zu verhindern, daß seine Tochter heranwächst, mündig wird und ihr eigenes Leben führt. In dem Augenblick, da das Interesse sich auf die Idee beruft, liefert es sich seinerseits der Logik dieser Idee aus, die sich nunmehr nach ihrem eigenen Gesetze weiterentfaltet, möglicherweise auch gegen das Interesse, das sie in seine Dienste gerufen hat. Das Interesse kann sich der Idee nicht bedienen, ohne seinerseits der Idee dienstbar zu werden. Das Interesse, ohne es zu wollen, wird mit soziologischer Notwendigkeit zum Vehikel der Idee. Und so erweist sich der historische Materialismus letzten Endes als eine Form des Idealismus, gewiß nicht als ein subjektiver Idealismus idealer Motive, wohl aber als ein objektiver Idealismus sieghafter Ideen, die auch sehr unideale Motive in ihren Dienst zu zwingen vermögen – »das ist die List der Vernunft zu nennen, daß sie die Leidenschaften für sich wirken läßt« (Hegel). Der Marxismus verleugnet in keiner Weise seine Abkunft von Hegel. Eine soziale Bewegung kann deshalb auf doppelte Weise verständlich werden: einerseits geschichtsmaterialistisch aus den Klasseninteressen, die sich der Ideologie bedienen, andererseits aber auch, und mit gleichem Recht, geschichtsphilosophisch aus den Ideen, welche ihrerseits die Klasseninteressen zu ihrer Durchsetzung in ihren Dienst zu zwingen wissen. Neben der materialistischen Erklärung darf die idealistische Deutung der Geschichte ihren Platz in Anspruch nehmen.

Das Verhältnis der Ökonomie zur Ideologie findet sein genaues und belehrendes Widerspiel in dem Verhältnis der Sexualität zur Erotik. Man mag dartun, daß alle Erotik nur »sublimierte Sexualität« sei, man wird dennoch die Erotik nicht in Sexualität zurückverwandeln, nicht auf den Zauberschleier verzichten wollen, den die Erotik um die groben Tatsachen der Sexualität webt, auf die Formung, die die Sexualität durch die Erotik erfährt. Das Spiel der Ideologien um die Ökonomie ist, wie das Spiel der Erotik mit der Sexualität, in Wahrheit nicht nur Spiel, sondern wirklichste und wirksamste Wirklichkeit.


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