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Die Kulturidee des Sozialismus

Zu diesem Abschnitt vgl. Victor Engelhardt, An der Wende des Zeitalters, 1925; und Hendrik de Man, Der Sozialismus als Kulturbewegung, 1926.

Wenn es noch eines anschaulichen Beweises dafür bedürfte, daß die Geistesverfassung durch die Wirtschaftsverfassung bedingt ist, so bietet ihn die Kultur des kapitalistischen Zeitalters. Die kapitalistische Kultur spiegelt Zug um Zug das Bild der kapitalistischen Wirtschaft wieder.

Wenn der Kapitalismus die Gesellschaft in Kapital und Arbeit auseinandersprengt, so spitzt er den wirtschaftlichen Gegensatz von Begüterten und Besitzlosen doch erst auf dem Gebiete der Kultur zu seiner vollen Schärfe zu: in dem Gegensatz zwischen Gebildeten und Ungebildeten. Eine Arbeitsteilung zwischen Hand- und Kopfarbeitern, Gelehrten und Ungelehrten hat es zu allen Zeiten gegeben, einen menschlichen Wertunterschied zwischen den Klassen der Gebildeten und der Ungebildeten zu begründen, blieb aber erst dem kapitalistischen Zeitalter vorbehalten. Bei dieser Unterscheidung kam dem Kapitalismus der Militarismus zu Hilfe, indem er eine haarscharfe Grenze zwischen Bildung und Unbildung zur Geltung brachte – das Einjährig-Freiwilligen-Zeugnis, die Befähigung zum Reserveoffizier. So verzichteten Kapitalismus und Militarismus trotz allen Redens von der Volksgemeinschaft zugunsten einer vermeintlichen Spitzenkultur bewußt auf die Kultur der breiten Volksmassen und damit auf die Kultur des Volksganzen.

Wie der Gegensatz von Kapital und Arbeit, so findet auch die kapitalistische Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Kultur ihr genaues Widerspiel. Mit dem Aufstieg des Kapitalismus begann jene Verselbständigung aller Kulturgebiete, die wir mit dem Namen Autonomie bezeichnen: Kunst für die Kunst, Wissenschaft nur um der Wahrheit willen, Pflicht aus Pflicht, Machtpolitik als Selbstzweck, Recht um des Rechtes willen (fiat iustitia pereat mundus), »Geschäft ist Geschäft«, und »im Geschäft hört die Gemütlichkeit auf« – d. h. für die Wirtschaft gilt nur der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit. Und innerhalb jedes Kulturgebiets setzte sich die Besonderung bis ins einzelnste fort. Daß der Mensch ein Ganzes ist und daß die Kultur ein Ganzes ist, und daß es gilt, dem ganzen Menschen eine ganze Kultur zu geben, gerät in Vergessenheit. Es gibt nur noch Kulturspezialisten, aber nicht mehr Kulturmenschen.

Wohl trieb gerade dieses Spezialistentum die Leistung ihrer Masse nach auf den höchsten Gipfel. Die kapitalistische Kultur zeigt den gleichen Weg zur Quantität wie die kapitalistische Wirtschaft. Der Aufhäufung der Warenmassen ohne Rücksicht auf die Absatzmöglichkeit entspricht eine ebenso ungeheure Aufhäufung von Wissensmassen ohne Rücksicht auf die Bildungsmöglichkeit. Alle Magazine der Kultur, die Bibliotheken, die Galerien, die Museen, sind übervoll. Unablässig sind geschäftige Kärrner tätig, Sack auf Sack, Kiste auf Kiste zu stapeln, aber vor diesen Speicherhäusern der Kultur steht kulturhungrig mit leeren Händen die Masse. Niemals vorher hat eine solche Spannung zwischen objektiver Kultur und persönlicher Bildung bestanden wie im Zeitalter des Kapitalismus, niemals ging ein verhältnismäßig so geringer Teil der Kulturarbeit in den Blutkreislauf des Volkes über. Auf dem Gebiete der Kultur wie auf dem Gebiete der Wirtschaft steht in schroffem Kontrast Überproduktion neben Massenarmut. Kulturell wie wirtschaftlich kann unter der Herrschaft des Kapitalismus die Masse bei vollen Scheuern verhungern.

Wie in der Rennbahn der kapitalistischen Wirtschaft wird auch in der Arena der kapitalistischen Kultur über die Produzenten die Geißel des Wettbewerbs geschwungen. Die Kultur übernimmt die Formen des Sports, der die kennzeichnende Kulturerscheinung des Zeitalters ist, die Sucht nach dem Rekord. Nicht mehr dem Werk gilt das Bemühen, sondern dem Vorsprung vor den Mitbewerbern. Man sucht nicht mehr schlicht und recht das Schöne und das Wahre, man sucht das Neue, das Interessante, das Niedagewesene. Die »jetzige geistige Pest, die Originalität«, mit Jakob Burckhardts Wort, bricht aus. Diese Zeit ist nicht mehr fähig, Stile hervorzubringen, welche die Menschen eines Zeitalters verbinden und lange Zeiträume überdauern, sondern nur Moden eines Tages, Manieren eines einzelnen Künstlers. An die Stelle der heiligen Geduld, die die Mutter aller großen Werke ist, tritt das Fieber, fertig zu werden. Nicht mehr Freude an Arbeit und Werk ist der Antrieb der Schaffenden, sondern der Ruhm des Namens. Vom Handwerk sondert sich hochmütig das Kunstgewerbe und vom Kunstgewerbe die Kunst. Der Künstler kommt in Gefahr, ein Geck zu werden mit dem Spiegel in der Hand, und das Kulturleben wird immer mehr ein Jahrmarkt der Eitelkeiten. Sichtbar stellt sich das Bild der kapitalistischen Kultur dar in einer modernen Villenkolonie: ein Schwarzwälder Bauernhaus neben einem Barockschlößchen, ein Florentiner Palast neben einer Ritterburg, jedes für sich vielleicht ganz hübsch, das Ganze ein scharfer Mißklang.

Den Schaffenden gegenüber aber steht nicht ein Volk, sondern nur ein Publikum, nicht durch Sitte geeint, sondern durch Mode getrennt. Die Mode ist eine kennzeichnende Erscheinungsform kapitalistischer Klassenkultur: in ihr sucht die höhere Klasse durch Besonderheiten der Kleidung und des Benehmens den Vorsprung vor der niederen zu gewinnen, um, wenn sie von der niederen Klasse nach kurzer Zeit eingeholt wird, sich einer neuen Mode zuzuwenden, in atemlosem, immer beschleunigtem Wettlauf. Auch der Kunstgeschmack wechselt nach der Mode. Dem Snobismus ist Kunst Sache ästhetisierender Feinschmeckerei, nicht mehr innerer Notwendigkeit und Verantwortung. Es herrscht eine allseitige Empfänglichkeit, das heißt aber eine völlige Gesinnungslosigkeit des geistigen Genusses. Man läßt sich vormittags von Nietzsche und nachmittags von Tolstoi erschüttern, genießt gleichermaßen an einem Theaterabend Gerhart Hauptmann und am nächsten Hofmannsthal, preist in einem Atemzuge George und Dehmel und geht mit gleichem Beifall in einer Galerie von Thoma zu Liebermann. Noch Goethe hatte ein scharfes Bewußtsein, meiden zu müssen, was ihm nicht angehörte, und hat bei aller Anerkennung ihrer Qualitäten Genies wie Kleist oder Jean Paul kräftig abgelehnt – jetzt aber taucht niemals auch nur die Frage auf: Darf ich dies schön finden und jenes zugleich? und: Wer bin ich, daß ich beides gleichermaßen genießen kann? Worauf freilich die Antwort leicht wäre: Ein leeres Gefäß, zur Aufnahme von allem bereit, aber keine Persönlichkeit. Und so versagt kapitalistische Kultur, die das Goethewort von der Persönlichkeit als höchstem Glück der Erdenkinder wie einen Wahlspruch im Munde führt, gerade dort, wo sie selber ihr Ziel sucht.

Es hat der kapitalistischen Kultur denn auch nicht an Selbstkritik gefehlt. Immer von neuem stellte man der »Gesellschaft« die »Gemeinschaft« von ehedem, der Zivilisation die Kultur gegenüber, beklagte man die »Mechanisierung der Kultur«, ja, verkündete man den »Untergang des Abendlandes« – der in Wahrheit nur der Todeskampf der kapitalistischen Kultur war.

Zur Zeit des ausgehenden Sozialistengesetzes schien es einen Augenblick, als solle schon jetzt aus der Zersetzung der kapitalistischen Kultur ein neues Zeitalter der Kultur hervorgehen. Es war die Zeit des Naturalismus, die Zeit, da Gerhart Hauptmann »Vor Sonnenaufgang« und die »Weber« über die Freie Volksbühne gehen ließ, da Arno Holz und Karl Henckell ihre lyrischen Feuerbrände ins Volk warfen, da Richard Dehmel jenes in allen Arbeiterherzen wiederklingende Lied vom Arbeitsmann sang: »Nur Zeit«, da Bölsche und Wille die neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse mit religiöser Inbrunst zum Weltgefühl vertieften, da die Brüder Hart, Peter Hille, Gustav Landauer in der Neuen Gemeinschaft eine kommunistische Lebensform zu verwirklichen suchten und, vielleicht die größte unter ihnen, Käthe Kollwitz, Elend und Empörung in monumentale Formensprache bannte. In der Arbeiterschaft ist noch heute aus diesem naturalistischen Zeitalter manches lebendig, im Bürgertum machte es bald jener nervös wechselnden Formenspielerei Platz, in der das sinkende Bürgertum sein Wesen unübertrefflich aussprach. Denn der Naturalismus war in Wahrheit noch kein Anfang sozialistischer Kultur. Seine soziologische Grundlage war nicht die aufsteigende Arbeiterklasse, sondern etwa der Kathedersozialismus und die nationalsoziale Bewegung Friedrich Naumanns. Sozialgesinnte Teile des Bürgertums hatten die Arbeiterschaft entdeckt, aber die Arbeiterschaft hatte sich noch nicht selbst entdeckt. Wohlmeinende Bürger zeigten gleichgültigen Bürgern die Tiefen des sozialen Lebens: Seht, so sieht es aus dort unten! Noch aber trat der Dichter nicht als Sprecher aus der Masse hervor, als einer von ihr: Da sind wir und das fordern wir! Das geschah erst im Expressionismus, erst in ihm gewann die Masse selbst Sprache. Deshalb ist er subjektiv und rednerisch, wie der Naturalismus objektiv und bildnerisch war. Man vergleiche etwa miteinander Gerhart Hauptmann und Ernst Toller, Heinrich Zille und George Grosz, Käthe Kollwitz und Frans Masereel.

Die Kultur der sozialistischen Arbeiterschaft aber war inzwischen die Kultur einer Sekte gewesen. Einer Sekte ist es eigen, vor allem ihre Lehre rein erhalten zu wollen. In einem wahren Reinheitsfanatismus hatte sich die sozialistische Arbeiterschaft abgesperrt gegen die »bürgerliche Kultur« und ihrerseits eine draußen kaum beachtete »sozialistische Wissenschaft« wie ein Heiligtum gehütet. Dann kam der Krieg, der Umschwung, der Aufstieg von der Sekte zur Regierungspartei. Die Gesellschaft wurde mit sozialistischen Gedanken durchdrungen – so sehr, daß heute beinahe jede Partei sozialistisch zu sein vorgibt, von den katholischen Sozialisten bis zu den »Nationalsozialisten«. Zugleich erschloß sich die Arbeiterschaft der bürgerlichen Kultur. Der Gegensatz zwischen Gebildeten und Ungebildeten wird dadurch, aber auch durch rein äußere Umstände, wie den Wegfall des Einjährig-Freiwilligen-Zeugnisses, durch neu eröffnete Aufstiegsmöglichkeiten, durch neue klassenverbindende Kulturtatsachen wie Sport und Kino verwischt. Der längst verblaßte Begriff der allgemeinen Bildung, der den Ausgangspunkt dieses Gegensatzes gebildet hatte, zerrinnt völlig. Gleichzeitig aber bildet sich zugleich mit der Demokratie zum erstenmal in Deutschland eine einheitliche Intellektuellenschicht, in der sich der Tagesschriftsteller, der Politiker, der Künstler, der Gelehrte begegnen, die bisher unbekümmert umeinander ein jeder seinen Weg gegangen waren. Es ist ein persönliches Verdienst Friedrich Eberts, die Bildung einer solchen Intellektuellenschicht gefördert zu haben. Erst die Republik hat nach einem Worte von Thomas Mann »die geistigen Spitzen der Nation sichtbar gemacht«, die bisher von Militär und Aristokratie verdeckt waren.

Aber nicht in diesem Ineinanderrinnen bürgerlicher und proletarischer Kultur sind die Keime einer sozialistischen Kultur zu finden. Sie müssen viel unmittelbarer in der soziologischen Tatsächlichkeit aufgewiesen werden. Veranschaulichen wir uns die neue Zeit in einer Reihe von Momentbildern! Die Fabrik. Die Mietskaserne. Das Gewerkschaftshaus. Die Versammlung. Die Kundgebung. Der Sport. Der Rundfunk. Das Kino. Der Boxkampf. Das Sechstagerennen. In diesen gewiß willkürlich herausgegriffenen Momentbildern ist dennoch ein gemeinsamer Zug: sie zeigen den einzelnen immer in der Masse – und damit ist vielleicht der Grundzug proletarischen Lebens aufgezeigt. Durch nichts wird die geistige Gestalt des Proletariers so geprägt wie durch die erschütternde Tatsache, daß er fast nie allein ist – nicht in der Arbeit, nicht in der Familie, nicht in seinen Vergnügungen. Und so kann auch die Kultur an den Proletarier als einzelnen unmittelbar überhaupt nicht herankommen, kann der einzelne veredelt werden nur durch die Veredelung der Masse, derer unauslösbar angehört. Proletarische Kultur, werdende sozialistische Kultur kann nur Kultur der Masse sein, veredelte Masse aber nennen wir Gemeinschaft.

Der Gedanke einer Gemeinschaftskultur entsprang zunächst in der Jugendbewegung – neben dem Sozialismus der stärksten geistigen Bewegung unserer Tage. Dieser Aufstand der Jugend bedeutet nicht, wie die Empörungen früherer Jugendgenerationen, einen Schrei nach Freiheit – eher das Gegenteil: die Abkehr von der Zügellosigkeit des Individualismus und die Hinwendung zur Gemeinschaft, also die Sehnsucht nach neuen Bindungen, Bindungen der Sitte, des Stils, der Kultur, der Kameradschaft, des Führertums und der Gefolgschaft. Gemeinschaft aber bleibt bloße Gemeinschaftsschwärmerei, wenn sie nicht Gemeinschaft einer gemeinsamen Sache, eines gemeinsamen Kampfes, einer gemeinsamen Arbeit ist. So mußte sich aus Mangel an einem Inhalt die bürgerliche Jugendbewegung in fruchtlosen Debatten über ihr eigenes Wesen auseinanderdiskutieren. Da aber, wo Jugendbewegung und Arbeiterbewegung sich kreuzten, entsprang der Quell neuen Lebens. Erst die Arbeiterjugend vermochte der neuen Lebensform der Jugendkultur auch einen neuen starken Inhalt zu geben. Und so ist es kein Zufall, daß der Geist der Jugendbewegung erst in der Arbeiterjugend seine Erfüllung fand.

Aber nicht nur Arbeiterjugend, Jungsozialisten, Kinderfreunde sind Träger werdender sozialistischer Kultur. Auch in kulturell viel anspruchsloseren Organisationen, in den Sänger-, Turner- und Sportorganisationen, in den Naturfreunden, im Reichsbanner ist sozialistische Kultur im Werden. Haben sie doch alle teil an der großen Aufgabe der Formung der Masse. Unter Masse sei hier ganz anschaulich irgendeine Menschenmenge verstanden, die auf einem Platze, auf einer Straße, in einem Saale versammelt ist. Masse in diesem Sinne war der individualistischen Kultur von ehedem ein Greuel. Wenn Masse sang, preßte der Individualist trotzig die Lippen zusammen. Wenn Masse in Schritt und Tritt marschierte, ging der Individualist geflissentlich außer Tritt. Masse ist der Untergang der Individualität in der Massensuggestion. Masse ist der Sündenfall, in dem die Persönlichkeit ihr Eigenleben aufgibt. Masse ist schlecht. Masse ist nur dazu da, in lauter Einzelpersönlichkeiten wieder aufgelöst zu werden. Der Sozialist antwortet: Gewiß, Masse ist nicht gut, Masse kann den einzelnen tief unter seinen Eigenwert hinabziehen; es gibt kein Verbrechen, das so abscheulich wäre, daß nicht unter dem Einfluß der Massenpsychologie auch harmlose Menschen es zu begehen imstande wären. Aber Masse kann den einzelnen auch hoch über sich selbst hinaustragen zu einem Enthusiasmus, zu einem Heroismus, dessen er als einzelner gar nicht fähig wäre. Masse ist nicht gut – auch der Mensch ist nicht gut. Aber Masse wie Mensch sind Rohstoff zu allem Guten. Und so gilt es nicht Auflösung, sondern Kultur der Masse. Man sagt, wir feiern zu viel. Aber eine junge Demokratie bedarf der Feier nicht anders als ein junger Mensch des Spiels: zu ihrer Formgebung. Wer erinnert sich nicht lächelnd und gerührt der vielfachen Zeugnisse schweizerisch-demokratischer Festfreude in Gottfried Kellers Werken? Auch wir haben in den wenigen Jahren der deutschen Demokratie bereits gelernt, Massenversammlungen, Massenkundgebungen, Massenfeiern eindrucksvoll für den Zuschauer und ergreifend für den Teilnehmer zu gestalten. In solchen Feiern gewann das Volk, von dem nach unserer Reichsverfassung die Staatsgewalt ausgeht, vor seinen Anzweiflern wie im eigenen Bewußtsein körperliche und geistige Gestalt.

Die feiernde Masse aber kann ein mächtiger Antrieb künstlerischen Schaffens werden. Sie hat die Sehnsucht, sich dramatisch, musikalisch darzustellen. Schon hat sie neben dem Gesangschor den Sprechchor hervorgebracht – freilich: wo sind bisher die großen Dichter, die großen Komponisten von Massenchören geblieben? Noch ist Schiller-Beethovens Lied an die Freude der gewaltigste aller Massenchöre. Aber die feiernde Masse verlangt auch nach einer Halle, die sie umfange, verlangt auch nach architektonischem Ausdruck. Architektur ist Massenkunst, und so ist es kein Zufall, daß in einer künstlerisch sonst unfruchtbaren Zeit gerade die Architektur starke Leistungen aufzuweisen hat, von der Festhalle bis zum Turmhaus, vom Fabrikgebäude bis zum Kontorhaus neuen Stils.

Wir können zweierlei Kunstformen unterscheiden. Warum freuen wir uns, wenn wir die Gemäldegalerie leer finden? Warum ärgern wir uns über ein leeres Theater oder ein leeres Konzert? Es gibt Künste des individuellen und des kollektiven Genusses. Das Buch und sein Leser, das Bild und sein Beschauer sind die Hauptformen der individualistischen Kultur. Das Drama, die Sinfonie, die Architektur werden die Hauptformen sozialistischer Kultur sein. Sie sind von der Gemeinschaft und zu der Gemeinschaft, Werke vieler und für viele. Das Bild strebt wieder zum Gebäude, von dem es einst sich verselbständigt hatte. Das Gebäude wird wieder zum Gliede des Stadtbildes, jeder Baumeister zu seinem Teile ein Städtebauer. Wollen wir den Gegensatz individualistischer und sozialistischer Kultur mit Schlagworten kennzeichnen, so mögen wir sagen: an die Stelle eines literarischen tritt ein architektonisches Zeitalter.

Wir haben von der Kultur neben der Arbeit geredet – wir treten jetzt zagend an das schwerste Problem heran, das Problem der Kultur in der Arbeit, der Arbeitskultur, der Arbeitsfreude. Das alte Handwerkerideal, das Ideal des ganzen Werkes durch den ganzen Menschen, ist durch Arbeitsteilung und Maschine, durch Arbeitsteilung und Technik unwiederbringlich verloren. Ist es denkbar, der geteilten und dadurch entseelten Arbeit eine Freude neuer Art abzugewinnen? Oder muß die Arbeit wie der Schlaf vom Leben abgeschrieben, als ein Stück Tod mitten im Leben erachtet werden, bleibt es nur möglich, Kulturfreude und Kultur außerhalb der deshalb möglichst zu verkürzenden Arbeit zu suchen? Wäre es so – wie erschreckend wenig wirklich gelebtes Leben bliebe dann von einem Proletarierleben übrig! Mancher hofft, die Umgestaltung der sozialen Verhältnisse werde wieder zur Arbeitsfreude zurückführen. Die Arbeit, die nicht mehr Arbeit für fremden Profit, sondern Arbeit für die Gemeinschaft wäre, würde schon deshalb von neuer Freude getragen sein. Gewiß wird in der Gemeinwirtschaft ein Hemmnis der Arbeitsfreude wegfallen, die Arbeitsfreude wiederherzustellen aber wird auch die Gemeinwirtschaft nicht genügen. Die Frage der Arbeitsfreude bleibt fast so schwierig in der sozialistischen wie in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie ist nicht durch den Stand der Wirtschaft, sondern durch den Stand der Technik hervorgerufen, nicht durch das Kapital, sondern durch die Maschine. Wir lassen uns nicht beikommen, die quälende Frage: Arbeitsfreude oder Arbeitsverkürzung, hier entscheiden zu wollen, wie sie denn vielleicht überhaupt nicht eindeutig entscheidbar ist, entscheidbar vielmehr nur auf Grund umfassender Forschung und tiefen Eigenerlebnisses für jede einzelne Arbeitsweise im besonderen. Es muß genügen, die Frage aufgeworfen und das Ziel gesteckt zu haben, so wie es Fichte in einem bekannten Worte tut: »Der Mensch soll arbeiten, aber nicht wie ein Lasttier, das unter seiner Bürde in den Schlaf sinkt und nach der notdürftigen Erholung der erschöpften Kräfte zum Tragen derselben Bürde wieder aufgestört wird. Er soll angstlos, mit Lust und Freudigkeit arbeiten und Zeit übrigbehalten, seinen Geist und seine Augen zum Himmel zu erheben, zu dessen Anblick er gebildet ist.«

Von Sozialismus und Kunst wurde geredet, von Sozialismus und Arbeit, aber bisher nicht von Sozialismus und Wissenschaft, und zwar eben deshalb, weil man gewohnt war, die sozialistische Kultur der Sektenzeit als rein intellektualistisch-wissenschaftlich aufzufassen. »Wissen ist Macht« war ein Lieblingswort, die wissenschaftliche Begründung ihrer Weltanschauung der Stolz der sozialistischen Arbeiterschaft. War aber wirklich die »wissenschaftliche Weltanschauung« des Sozialismus vom Verstände getragen? Den wissenschaftlichen Menschen zieht zur Wissenschaft der Zweifel, den sozialistischen Arbeiter bindet an die sozialistische Wissenschaft nicht der Zweifel, sondern der Glaube. Marx und Engels waren der Arbeiterschaft nicht Forscher, denen man mit Kritik gegenübertritt, sondern Propheten, denen man mit fanatischem Glauben ergeben ist. Die wissenschaftliche Weltanschauung dieser Sozialisten war in Wahrheit, um mit einem Worte den Widerspruch des Sachverhalts in Schärfe herauszuarbeiten, Wissenschaftsglaube. Oft genug hat man den religiösen Einschlag in dem vermeintlich wissenschaftlichen Sozialismus der Massen bemerkt, der den Sozialismus zu einer Art Ersatzreligion oder denn ja zu einer Religion zu erheben geeignet war, oft genug die eschatologischen, endgerichteten Hoffnungen der ersten Marxisten mit den eschatologischen Hoffnungen des Urchristentums verglichen, den Glauben an das naturnotwendige Kommen des Sozialismus mit dem Glauben an den unaufhaltsamen Anbruch des Reiches Gottes, die Einsicht, daß der Klassenkampf unbewußt und ungewollt ein Werkzeug des sozialistischen Heilsplanes einer klassenlosen Gesellschaft ist, daß das Kapital wie der geprellte Teufel mit allem, was es für sich zu tun vermeint, unbewußt dem Sozialismus dienen müsse, daß auch der Arbeiter, der für seine Klasse zu kämpfen meint, unbewußt für die klassenlose Gesellschaft kämpft, verglichen mit dem Glauben, daß den Kindern Gottes alle Dinge zum Guten dienen müssen – so müssen in der Tat auch dem Sozialisten »alle Dinge zum Guten dienen«. Dieser letztendige Optimismus, dieser Optimismus trotz alledem ist in Wahrheit Religion, eine Religion ohne Priester und Kirche, ohne Gott und Jenseits, ohne Bibel und Bekenntnis, aber darum nicht weniger Religion. Freilich sucht diese Religion nicht das Jenseits, weiß sich vielmehr mit inbrünstiger Liebe dieser Erde verbunden. Aber sie liebt das Diesseits mit einer Inbrunst, mit der die Heimat gar nicht lieben kann, wer sie niemals verließ, sondern nur, wer nach jahrelanger vergeblicher Glückssuche in der Fremde sich in die Heimat zurückgefunden hat. Sie ist auf das Diesseits zurückgelenkte Jenseitsfrömmigkeit. Nur auf dem Umweg durch den Himmel konnten wir die Erde mit dieser Liebe lieben lernen. In der Jugend, in vielen einzelnen unter den Naturfreunden und Freidenkern, in den christlichen Sozialisten wird sich dieser religiöse Unterstrom des Sozialismus seiner selbst bewußt. Ob er einmal Gestalt gewinnen wird in einer Lehre, einer Gemeinschaft, einem Kultus, das muß der Zukunft anheimgestellt bleiben.

Und so rundet sich der Sozialismus zur Weltanschauung. Weltanschauung aber, will sie nicht nur individuell und vergänglich sein, bedarf der Überlieferung, bedarf der Schule. Die sozialistische Schule, die wir meinen, ist zugleich Gemeinschaftsschule, Arbeitsschule, weltliche Schule. Sie ist Arbeitsschule, weil sie Gemeinschaftsschule ist, denn jede Gemeinschaft hat eine gemeinsame Sache, eine gemeinsame Arbeit zu ihrem Kern. Sie ist weltliche Schule, weil sie Arbeitsschule ist, denn eine Schule schöpferischen Lebens muß auch eine Schule gemeinsamen Geistes sein. Die weltliche Schule ist eine Schule gemeinsamen Geistes. Man möchte freilich nach manchen Ausführungen aus der sozialdemokratischen Oppositionszeit glauben, sie wolle eine Schule ohne jeden Geist, eine Schule der geistigen Neutralität sein, von der bisherigen Schule unterschieden nicht durch etwas, was sie hätte, sondern lediglich durch etwas, was sie nicht hätte: den Religionsunterricht. Wäre dem wirklich so, so bedürften wir heute überhaupt keiner weltlichen Schule. Dann brauchten die Eltern nur von ihrem verfassungsmäßigen Rechte Gebrauch zu machen, ihre Kinder vom Religionsunterricht zu befreien, und sie hätten alles erreicht, was ihnen die weltliche Schule zu gewähren vermöchte. Die weltliche Schule kann nicht lediglich dadurch gekennzeichnet sein, daß sie keinen Religionsunterricht hat, sondern dadurch, daß sie einen ganz bestimmten Geist hat. Sie ist zwar bekenntnisfrei, nicht an die Formen eines Dogmas, die Autorität einer Organisation gebunden, aber dennoch nicht weltanschauungslos, vielmehr beseelt von einer Weltanschauung, die sich in nie abgeschlossener Entwicklung weiß und es verschmäht, sich durch ein Dogma auf eine bestimmte Entwicklungsstufe dauernd zu verpflichten, einer Weltanschauung, die wie einstmals der aus Christentum und Antike eigenartig gemischte Geist des humanistischen Gymnasiums sich nicht in das starre Wort eines Bekenntnisses einschließt, sondern in dem lebendigen Geist einer Lehrerschaft verkörpert. Wir haben diesen Geist als den Geist der Gemeinschaft, d. h. der Kameradschaft, des Gemeinsinns, der Arbeitsfreude, als den Geist diesseitiger erdennaher Weltinnigkeit hinreichend gekennzeichnet.

Die weltliche Schule aber will keine Sonderschule sein, sondern eine Schule für das ganze Volk. Eine Schule für das ganze Volk vermag sie erst dann zu sein, wenn der Geist, den wir gekennzeichnet haben, zum Geiste des ganzen Volkes geworden ist. Solange er es noch nicht geworden ist, könnte die weltliche Schule, nur eine unter anderen Sonderschulen sein. Wir sind also in der Gegenwart vor die Entscheidung gestellt, eine unserer beiden Forderungen zurückzustellen: entweder die weltliche Schule oder daß sie eine Schule des ganzen Volkes sei. Es kann nicht zweifelhaft sein, daß der Forderung einer Schule für das ganze Volk der Vorzug gebührt. Diese Schule aber kann in einem weltanschaulich gespaltenen Volk nicht eine Weltanschauungsschule, sondern nur eine Schule weltanschaulicher Neutralität sein. Und so ergibt sich als Folgerung für die Gegenwart, das fernere Ziel einer allgemeinen weltlichen Schule zurückzustellen hinter den Gedanken der allgemeinen Simultanschule. Die weltliche Schule ist die Schule einer sozialistischen Weltanschauung, die Simultanschule die Schule demokratischer Toleranz, jene die schulpolitische Forderung der Zukunft, diese die vorläufige Lösung der Schulfrage im demokratischen Gegenwartsstaat.

Alles was hier über werdende sozialistische Kultur gesagt wurde, darf nicht mißverstanden werden im Sinne eines »Proletkults«, der an die Stelle bürgerlich-individualistischer Kultur zu treten und diese zu ersetzen bestimmt wäre. Kulturentwicklung vollzieht sich so, daß neue Kultur werte in immer weitergeschlagenem Kreise die alten umfassen und sich einordnen. Immer werden neben den Werten der Gemeinschaftskultur die überkommenen Werte individualistischer Kultur weiterleben und sich weiterentwickeln. Vor allem darf dies nicht vergessen werden, daß Verstandeskultur immer Individualkultur bleiben muß; lernen kann, wie essen und trinken, der einzelne nur für sich. Am wenigsten aber wird der Sozialismus auf Verstandeskultur verzichten wollen, der seit Lassalle das Bündnis zwischen Arbeiterschaft und Wissenschaft verkündet hat, stolz war auf die Wissenschaftlichkeit seiner Begründung. In der Jugendbewegung, die als die Empörung des Lebens gegen den Begriff, als die Auflehnung des gefühlsbeschwingten tatwilligen Lebens gegen die Verstandesmäßigkeit des Schulbetriebs und jeglichen »Betriebs« gekennzeichnet werden kann, liegt die Gefahr, über Gefühl und gefühlsgetragener Tat der dritten Auswirkung vollen Menschentums zu vergessen, der Erkenntnis. Aber er besteht ja gar nicht, jener eingebildete Gegensatz zwischen Leben und Erkennen. Erkennen ist selber ein Stück Leben.

Der Unwissende ist eingeschlossen in dumpfe Vereinsamung. Aber das Aussprechbare, das Mitteilbare, das Wissen verbindet. Wir überlassen es einer romantisierenden Heimatkunst, die gehemmte Wortkargheit, die ringende Unentschlossenheit zu preisen, Dunkel und Dumpfheit für Tiefe und Ernst auszugeben. Wir preisen das Wissen, das schnell zum Wort macht, behende zur Tat. Wir halten es mit dem großen Philosophen, dem Goethes Altersweisheit immer mehr sich zuwandte: mit Leibniz, der die Rangordnung der Geister nach dem Grade ihrer Helligkeit bestimmte, danach, ob sie trübe und dunkel sind, aus grober Glasmasse gegossen, oder geschliffene Kristallkugeln, restlos durchleuchtet und in allen Farben funkelnd im Sonnenschein. Denn mit dem Bewußtsein fängt recht eigentlich das Leben erst an. Zum Bewußtsein unserer selbst gehört aber das Wissen um die Welt untrennbar dazu. Denn die Welt ist ja nicht da draußen um uns, sie ist in uns, sie ist unsere Vorstellung. Das Ungewußte ist also zugleich ein Unbewußtes. Wer nicht wissend die Welt umfaßt, trägt große Teile seines eigenen Selbst dunkel und unbewußt mit sich herum. Die tote Last des Unbewußten liegt genau so hemmend auf unserem Leben wie das Fett, das der Körper mit sich herumschleppt. Und wie wir dieses Fett durch Bewegung in lauter nervige Schlankheit verwandeln, so gilt es durch die heitere Bewegung des Denkens alles Unbewußte und Ungewußte in eitel Bewußtheit umzusetzen, in lauter frohe und behende Schlankheit der Seele. Es gibt ein wunderschönes deutsches Wort: »aufgeräumt«. Wir nennen einen heiteren Menschen aufgeräumt, weil wir wissen, was ihn so heiter macht: die Ordnung, die Wissen und Denken in seiner Seele geschaffen haben. Die deutsche Arbeiterbewegung ist sich immer bewußt gewesen, wie unentbehrlich Wissen und Denken ist um ihrer Sache willen. Aber Wissen ist nicht nur Macht, Wissen ist auch Freude, und zum Kulturwert wird es erst, wenn es als eine Welt erlebt wird, die ihre Bestimmung in sich selber trägt. Diese zweckvergessene Freude am Wissen und Denken verlangt ihren Platz auch in einer sozialistischen Gemeinschaftskultur.


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