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Die Familienauffassung des Sozialismus

Ehe und Familie waren Gemeinschaften. Die kapitalistische Entwicklung hat dazu geführt, daß sich diese Gemeinschaften individualistisch in bloße Beziehungen auflösten. Der Sozialismus ist nicht in der Lage, diese Entwicklung rückgängig zu machen.

Die vorkapitalistische Entwicklung kannte noch Haus und Hof als Wirtschaftseinheiten, als Urzellen des Wirtschaftskörpers, im Handwerk wie in der Landwirtschaft. Mann und Frau, Eltern und Kinder teilten und verbanden sich in gemeinsamen wirtschaftlichen Aufgaben. Der Kapitalismus hat die Produktionsgemeinschaft des Hauses, des Hofes, der Familie gesprengt. Stärkere soziologische Gebilde, die neuen Wirtschaftseinheiten, die Unternehmungen, zogen die einzelnen Glieder aus der Familie heraus und machten jedes von ihnen zum Glied einer andern Wirtschaftseinheit: der Mann ging in die Fabrik, die Frau half in fremdem Haushalt aus, die Tochter war als Verkäuferin im Warenhaus tätig, der Sohn vielleicht als Handlungsgehilfe auf dem Kontor – die Familie hörte auf, ein soziologisches Gebilde mit eigenen Produktionsaufgaben zu sein. Sie blieb auch in immer geringerem Grade Konsumtionsgemeinschaft, wurde von immer weiteren konsumtionswirtschaftlichen Aufgaben entleert: Spinnen, Weben und Lichterziehen, Waschen, Backen und Einmachen, der Hühnerhof und der Gemüsegarten schieden aus der Hauswirtschaft aus und wurden Aufgabe besonderer Gewerbebetriebe, ja, auch bisherige Aufgaben der Familienerziehung werden an Kinderhorte, Kindergärten, Schulen abgezweigt. Durch diese Entleerung büßte die Familie immer mehr den Charakter eines Organismus, einer Individualität ein. Dieselbe Mietskaserne nahm zahlreiche Familien auf, löste sie alle auf in eine gestaltlose und deshalb reibungsvolle Hausflur- und Treppenhausgemeinschaft. Die Familie hat ihre Gestalt verloren und ist zu einer bloßen Beziehung zwischen den Familienmitgliedern geworden, während rings um sie herum neue Gemeinschaften, Betriebsgemeinschaften, Berufsgemeinschaften, politische Gesinnungsgemeinschaften, sich zu bilden im Begriffe sind.

Das Bestreben, aus dieser wirtschaftlich begründeten Entwicklung zu einer individualistischen Auflösung der Familie in ihre Elemente die kulturellen und juristischen Folgerungen zu ziehen, kommt in der Frauen- und in der Jugendbewegung zum Ausdruck. Die Auffassung eines sozialen Gebildes als Organismus hat noch immer die Herrschaft bestimmter Glieder über andere Glieder bedeutet. So fand die organische Gestaltung der Familie ihren Ausdruck in der patriarchalischen Herrschaft des Hausvaters. Frauenbewegung und Jugendbewegung sind bestrebt, dieser Herrschaft gegenüber die Gleichberechtigung der Frau, das Eigenrecht der Jugend zur Geltung zu bringen. Die individualistische Auflockerung der Familie beginnt sich schon in der Gesetzgebung durchzusetzen: in der Erleichterung der Ehescheidung, in der Gleichstellung der unehelichen und der ehelichen Kinder, die das Monopol der Familie als legitimer Fortpflanzungsgemeinschaft durchbricht, in der Überwachung und Übernahme der elterlichen Erziehung, durch die Gemeinschaft. Schon heute hat das Erziehungsrecht aufgehört, ein Eigenrecht der Eltern zu sein. Familienerziehung ist zu anvertrauter Gemeinschaftserziehung geworden, die bei Mißbrauch und Vernachlässigung die Gemeinschaft wieder an sich ziehen kann. Jugendwohlfahrtsgesetz und Jugendgerichtsgesetz sind bedeutsame Schritte in dieser Richtung.

Es steht nicht in der Macht des Sozialismus, diese individualistische Auflösung des Familienverbandes zu widerrufen, sowenig wie er die ganze Entwicklung von der Werkstatt zur Fabrik widerrufen kann und will. Er kann zwar durch eine bestimmte Neuordnung des Wohnungswesens im Sinne des Einzel- und Eigenhauses sich bemühen, der Familie wieder Grenze und Gestalt zu geben – sie in eine Gemeinschaft zurückzuverwandeln, ist auch er nicht fähig, weil er sie zu einer Produktionsgemeinschaft zurückzubilden nicht in der Lage ist. In dieser Entwicklung von Ehe und Familie aus Gemeinschaften zu Beziehungen, in denen sich nun Mann und Frau, Eltern und Kinder unverbunden durch sachliche Aufgaben in ausschließlich persönlicher Verbindung Auge in Auge gegenübergestellt sind, ist die ganze Problematik unserer heutigen Ehe- und Erziehungsfragen eingeschlossen.

Die bäuerliche und handwerkliche Ehe von ehedem hielt so fest, weil sie nicht genötigt war, zur wahren Ehe, zu einer Verbindung von Mensch zu Mensch ohne den Umweg über gemeinsame sachliche Aufgaben zu werden. Die Menschen haben den Trieb, sachliche Aufgaben zwischen sich zu schieben, um durch sie sich gleichzeitig zu verbinden und zu trennen, damit sie nur ja nicht genötigt seien, sich unmittelbar Auge in Auge zu sehen, unmittelbar Seele an Seele zu schließen und so in alle Gefahr und Wandelbarkeit einer rein persönlichen Beziehung zu geraten. Diese Flucht vor der Seelengemeinschaft in die Interessengemeinschaft, vor der Liebe in die Kameradschaft wird durch die Entwirtschaftlichung der Ehe, durch ihre Entleerung von gemeinsamen sachlichen Zielen immer schwerer gemacht – eben dadurch aber die Ehe erst unmittelbar vor ihre eigentliche Aufgabe gestellt. Aus der sozialistischen Literatur vgl. besonders Dr. Sophie Schöfer, Das Eheproblem, 1922. Außerdem ist wertvoll für die Problematik der Ehe wie des modernen Rußland auch der Novellenband von Alexandra Kollontay, Wege der Liebe, insbesondere »Wassilissa«.

Ebenso wie das Verhältnis von Mann und Frau ist aber das Verhältnis von Eltern und Kindern der selbstverständlichen Lenkung durch gemeinschaftliche Bindungen beraubt und Sache individueller Entscheidung geworden. Durch die Verbreitung der Präventivmittel ist schon Zeugung und Empfängnis nicht mehr einfach hinzunehmendes Ergebnis eines Naturvorganges, sondern Sache freien Entschlusses geworden und damit eine schwere Last von Fragen und Verantwortungen auf das Einzelgewissen gelegt. Aber auch die Erziehung der Geborenen ist aus einem selbsttätigen Prozeß zu einer bewußten Arbeit geworden. In der mit Aufgaben reich erfüllten Familiengemeinschaft von ehedem sorgte diese Gemeinschaft gleichsam von selbst für die Erziehung ihrer heranwachsenden Glieder. Die Familie war ein verkleinertes Bild der größeren Arbeitsgemeinschaft des Volkes, und das Kind wuchs, indem es in die engere Arbeitsgemeinschaft sich einfügte, unvermerkt in die weitere Arbeitsgemeinschaft hinein, war durch eine reiche Mannigfaltigkeit von Verrichtungen, welche sich im Hause vollzogen, auf das beste vorgebildet und eingeübt auf die Aufgaben, welche es im Berufe erwarteten, übersah von diesem lebendig bewegten Teilbezirk der Gesellschaft aus abbilds- und gleichnisweise die ganze Gesellschaft. Was früher die Verhältnisse von selbst lehrten und angewöhnten, muß jetzt in Kindergarten, Arbeitsschule, vor allem aber auch im Hause bewußte Erziehungsarbeit mühsam leisten.

Es zeigt sich, daß der Sozialismus, überall auf Bildung von Gemeinschaften bedacht, Ehe und Familie radikal individualistisch aufzufassen genötigt ist, damit aber erst zu ihrem eigensten Wesen, freilich auch zu ihrer letzten Problematik durchdringt.


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