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Die Krisis der Demokratie

Die große Wandlung, welche die sozialistische Staatsideologie erfahren hat, seit der Sozialismus aus aussichtsloser Opposition gegen den alten Staat zur Mitarbeit im neuen Staat berufen wurde, der Übergang von der Staatsverneinung zur Staatsbejahung braucht hier nur angedeutet zu werden. Vgl. etwa Siegfried Marck, Marxistische Staatsbejahung; Wilh. Sturmfels, Arbeiterschaft und Staat, 1924. Die negative Ideologie des Marxismus vom Staate, die Lehre, daß mit der Begründung der klassenlosen Gesellschaft der Staat von selbst einschlafen, absterben und in das Museum der Altertümer neben das Spinnrad und die bronzene Axt gehören werde, beruhte letzten Endes auf der terminologischen Gleichsetzung von Staat und Klassenstaat, war aber durch ihren halb anarchistischen Gesinnungshintergrund geeignet, das Werden einer neuen Staatsgesinnung zu gefährden und zu hemmen. Deshalb war es nicht nur terminologisch bedeutsam, zum Bewußtsein zu bringen, daß ein sozialistisches Gemeinwesen wohl nicht mehr Klassenstaat, sondern Volksstaat, aber immer noch Staat sein werde, und marxistischer Staatsverneinung gegenüber das Wort Lassalles von dem Staate als dem »uralten Vestafeuer aller Zivilisation« zu erneuern. Das Problem, das uns heute quält, lautet schon nicht mehr: Sozialismus und Staat, sondern: Sozialismus und Staatsform, Sozialismus und Demokratie.

Von der Demokratie handeln, heißt heute von der vielberufenen »Krisis der Demokratie« sprechen, wie sie mit Schadenfreude von den Gegnern, aber mit ernster Besorgnis auch von den Anhängern der Demokratie festgestellt wird. Vgl. M. J. Bonn, Die Krisis der europäischen Demokratie, 1925; Alfred Weber, Die Krisis des modernen Staatsgedankens, 1925; Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl., 1926; auch die Verhandlungen des 5. Deutschen Soziologentages 1926 über Demokratie, wo Kelson S. 54 ff., ähnlich wie es hier geschieht, Ideologie und Soziologie der Demokratie konfrontiert. Will man den Grund dieser Krisis mit einer kurzen Formel bezeichnen, so mag man sie zurückführen auf den zum Erlebnis gewordenen Widerspruch zwischen der Soziologie und der Ideologie der Demokratie, zwischen dem Wunschbild der Demokratie, das die Väter des demokratischen Gedankens entworfen hatten, und der gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der die Demokratie sich darstellt.

Zeichnen wir zunächst mit wenigen Strichen die demokratische Ideologie. Sie beruht auf dem Gedanken der Souveränität des Volkes, der Identität von Regierten und Regierenden. Dabei wird das Volk als eine Summe freier und gleicher Einzelmenschen gedacht, die Mehrheiten und Minderheiten, in denen der Volkswille sich äußert, als nachträglich gezogene Summen zufällig gleicher Einzelstimmen. Jede Wahlstimme erscheint als das Ergebnis eines freien, eigensten Entschlusses – die Losgelöstheit des Wählers von allen »gottgewollten Abhängigkeiten« stellt sich sinnbildlich in der Wahlzelle dar. Auch jeder Abgeordnete schöpft, »nur seinem Gewissen unterworfen, an Aufträge nicht gebunden« (Reichsverfassung Artikel 21), seine Abstimmung aus freiem, eigenstem Entschlüsse. Die Entscheidung bei der Wahl wie im Parlament ist das Ergebnis der Diskussion, des Sichüberzeugens in Rede und Gegenrede – man hat die Demokratie die »Regierung durch Diskussion« genannt. Volksvertretung und Regierung sind in fortschreitend verkleinertem Maßstabe getreue Abbilder der Verteilung der Stimmungen und Ansichten im Volksganzen, die Volksvertretung Darstellerin, die Regierung Vollstreckerin des Volkswillens. Die Beamtenschaft schließlich ist ein Apparat, der ohne Eigenwillen reibungs- und widerstandslos den von der Regierung verkörperten Willen der Volksmehrheit in die Wirklichkeit umsetzt.

Und nun die soziologische Wirklichkeit! Da ist das Volk nicht ein Ziegelbau aus lauter freien und gleichen einzelnen, sondern ein Quaderbau aus sehr ungleichen sozialen Gruppen, Klassen, Parteien. Da ist die Volkssouveränität nicht Souveränität aller über alle, sondern die Herrschaft der stärkeren über die schwächeren Gruppen. Mehrheiten und Minderheiten sind nicht nachträgliche Summierungen freier und gleicher Einzelstimmen, sondern vorbestimmter Ausdruck jener sozialen Gruppen. Die Wähler sind nicht frei, nicht Einzelpersönlichkeiten, sondern Gruppenmenschen, nicht gleich, sondern von weitestgehender soziologischer Ungleichheit, in mannigfachen Graden beeinflussungsfähig oder beeinflußbar durch Terror und Suggestion, durch Presse und Straße, letzten Endes durch die Macht, die über alle diese Einflüsse gebietet, durch das Kapital. Mehrheiten sind also nur potenzierte Minderheiten. Der Abgeordnete ist keineswegs »nur seinem Gewissen unterworfen, durch Aufträge nicht gebunden«, sondern nur ein mehr oder weniger unselbständiges Exemplar einer Fraktion, einer Partei, einer Klasse. Die Volksvertretung stellt sich nicht als das verkleinerte Abbild des Volksganzen dar – »Vertretung« ist nur im juristischen, nicht im psychologischen Sinne denkbar, man kann ebensowenig für einen anderen wollen wie essen oder trinken –, vielmehr als ein sehr eigengesetzliches soziologisches Gebilde innerhalb des Volksganzen, um so eigenwilliger, je weiter die Wahlen zurückliegen. Parlament und Wählerversammlung sind nicht eine Stätte des Verhandelns und Überzeugens, sondern des Machtkampfes vorgefaßter Überzeugungen. Die Regierung ist nicht die Vollstreckerin, sondern, wenn sie gut ist, die Schöpferin und Bildnerin des Volkswillens, den sie gerade braucht. Und endlich die Beamtenschaft ist nicht das auf Schenkeldruck gehorsame Tragtier einer jeden Regierung, sondern ein Organismus von schwer beherrschbarem Eigenwillen.

Fassen wir zusammen: die Ideologie der Demokratie hatte sie vom isolierten Individuum aus aufzubauen versucht. Die Soziologie der Demokratie kennt dieses isolierte Individuum gar nicht, kennt nur Kollektivismen, Gruppen und Gruppenmenschen. Die Krisis der Demokratie entspringt daraus, daß man die soziologische Wirklichkeit der Demokratie an ihrer individualistischen Ideologie mißt. Und der Kampf gegen die Krisenmacher kann nur in einem doppelten bestehen: einerseits unumwunden zuzugeben, daß die Demokratie ihrer individualistischen Ideologie nicht entspricht, andererseits aber nachdrücklich zu betonen, daß sich in der Demokratie Werte entwickelt haben, von denen ihre Ideologie noch nichts ahnte, daß auch hier die »Heterogonie der Zwecke« gewaltet hat, kurz eine neue, lebensnähere Ideologie der demokratischen Wirklichkeit zu schaffen.

Die individualistische Ideologie der Vergangenheit ist in dem Rahmen dieser neuen Ideologie keineswegs ohne Bedeutung. Daß sie nur Individuen kennt, daß sie alle sozialen Bindungen zwischen den Individuen geflissentlich übersieht, bedeutet nämlich, daß sich der demokratische Staat mit keiner dieser überkommenen Bindungen identifiziert, daß er vielmehr den soziologischen Gruppenbildungen, -lösungen und -neubildungen ermöglicht, sich nach eigenem Gesetz auszuwirken, bedeutet die Freisetzung der soziologischen Eigengesetzlichkeit. Demokratie ist die Staatsform, die keiner sozialen Machtverschiebung Widerstand entgegensetzt, die jeder Macht Verschiebung mit unerhörter Unterschiedsempfindlichkeit sofort zu politischem Ausdruck verhilft und – nicht die unbedeutendste unter ihren Aufgaben – jeder die einzige Sanktion erteilt, die in einer entgötterten Welt noch möglich ist, die Sanktion des Willens der Volksmehrheit.

So drückt sich in der Gegenwart in demokratischen Formen die ungeheure Machtstellung des Kapitals ungehindert aus. Der alte Staat, der sich mit gewissen überkommenen sozialen Bindungen feudaler, militärischer, bürokratischer Art identifizierte und sie dadurch über ihre natürliche Lebensdauer hinaus galvanisierte, ließ eben deshalb die neue Macht des Kapitals nicht zu ungehemmter Entfaltung kommen. Erst in der Demokratie konnte der Hochkapitalismus hemmungslos in die Erscheinung treten. Aber die Demokratie ist wie eine Frau, die stets dem Stärksten gehört. Wie sie heute dem Kapitalismus willig Rechtsform und Sanktion darbietet, so wird sie ebenso widerstandslos einst dem Ausdruck einer sozialistischen Gesellschaftsordnung dienen. Das Verhältnis der Demokratie zum Sozialismus ist im wesentlichen das negative, daß sie auch der Machtverschiebung in der Richtung des Sozialismus keinerlei Widerstand entgegensetzt – und schon das bedeutet unendlich viel, denn in jede andere Form des staatlichen Lebens sind starke Gegengewichte gegen eine solche Machtverschiebung eingefügt. Inwieweit Demokratie dem Sozialismus nicht nur nicht Hindernis, sondern im Gegenteil Förderung ist, ist dagegen eindeutig schwer festzustellen. Man möchte meinen, daß die Demokratie zu gewissen Zeiten und in gewissen Ländern sogar zur Hemmung sozialistischer Entwicklung geworden ist, weil sie hinter dem Rechtsschleier staatsbürgerlicher Gleichheit die wirtschaftliche Ungleichheit zu verbergen geeignet ist, weil, wie sich etwa in Amerika oder in der Schweiz zeigt, staatsbürgerliche Gleichheit in weitem Umfange als psychologisches Äquivalent mangelnder wirtschaftlicher Gleichheit dienen kann; aber sie kann wohl nur vorübergehend dazu dienen, denn andererseits wirkt die staatsbürgerliche Gleichheit, die in ihr durchbrechende Ideologie völliger gesellschaftlicher Gleichheit wie eine stille, langsam zersetzende, die Gewissen zermürbende Kritik an der daneben bestehenden wirtschaftlichen Ungleichheit. Aulard, Politische Geschichte der französischen Revolution Bd. 1, 1924, S. 36 ff., zeigt, wie die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 schon den ganzen Sozialismus in ihren Falten verbirgt: »Jedenfalls ist die demokratische und soziale Republik in der Erklärung der Rechte enthalten, deren letzte Folgerungen noch nicht gezogen sind. Ihr Zukunftsprogramm ragt bei weitem über die Grenzen des gegenwärtigen Geschlechts und wahrscheinlich auch der kommenden Geschlechter hinaus.« Daß Demokratie auch in einem unmittelbaren Sinne dem Sozialismus förderlich sein könnte, daß etwa eines Tages durch die Mehrheit der Stimmzettel und der Mandate die »Einführung des Sozialismus« ermöglicht werden könnte, diese Auffassung würde dagegen auf einer naiven Verwechslung zwischen Ursache und Wirkung beruhen. Stimmzettel- und Mandatsmehrheit ist, im ganzen und großen gesehen, Geyer, Führer und Masse, S. 91 ff., verkennt in seinen Einwänden gegen meine Auffassung, daß die Betrachtungsweise des Textes nur auf das Große und Grobe gerichtet ist, daß hier nur die Fähigkeit des Parlaments, ohne Unterstützung außerparlamentarischer Machtverschiebungen epochale politische oder ökonomische Umwälzungen herbeizuführen, geleugnet wird, nicht die Wirksamkeit parlamentarischer Arbeit überhaupt, daß also keineswegs einer »Tendenz zur Passivität« das Wort geredet wird. Ich glaube mich auch in voller Übereinstimmung mit Hilferdings großer Rede auf dem Kieler Parteitag – nur daß ich von der »gegenseitigen Durchdringung von Wirtschaft und Staat« hier die eine Seite betone: die Beeinflussung des Staates durch die Wirtschaft, Hilferding aber die andere Seite vorwiegend betont: die Beeinflussung der Wirtschaft durch den Staat. nicht Werkzeug, sondern Ergebnis politischer Macht. Wer über die Presse oder über die Straße, wer über das Kapital oder über die Masse verfügt, der erlangt ohne weiteres auch die Stimmzettel- und Mandatsmehrheit, und wer etwa über die Stimmzettel- und Mandatsmehrheit verfügte, ohne daß hinter ihr eine entsprechende soziologische Machtquantität stünde, der vermag trotz Stimmzettel- und Mandatsmehrheit politisch wenig auszurichten. Das Wahllokal und das Parlament sind nicht der Schauplatz der Machtverschiebungen, sondern nur die Stätte, wo außerparlamentarische Machtverschiebungen politisch bewertet werden, eine politische Börse, die, wie die wirtschaftliche, Werte nicht erzeugt, sondern nur feststellt, ein politisches Clearingverfahren: eine Partei hat genau soviel parlamentarischen Einfluß, wie sie außerparlamentarische Macht besitzt. Neben dem politischen Kampf um die Wählerstimmen und um den parlamentarischen Einfluß muß deshalb unablässig der Kampf um die soziale und wirtschaftliche Macht geführt werden, der Klassenkampf. Starke Gewerkschaften, starke Sozialdemokratie! Starke Betriebsräte, starke Sozialdemokratie! Starke Parteipresse, starke Sozialdemokratie! Aber auch: starkes Reichsbanner, starke republikanische Parteien! Als letztes Machtmittel wird aber eine Massenpartei sich nicht scheuen dürfen, auch eben ihre Masse in die Waagschale zu werfen. Das Hauptkampfmittel für die Parteien der Besitzenden ist die Pressekorruption: Aufkauf und Leitung von immer zahlreicheren Zeitungen im Sinne ihrer Interessen. Wenn es aber der Pressekorruption gelungen ist, vor der öffentlichen Meinung das Bild der sozialen Machtverhältnisse immer mehr zu verzerren und zu verfälschen, dann ist die Stunde gekommen, wo eine Massenpartei genötigt ist, durch Einsatz der Masse, durch die Straße, den Streik, das Bild der wirklichen Machtverhältnisse wiederherzustellen. Gewiß ein gefährliches, ein nur in äußersten Fällen anzuwendendes, aber das letzte Machtmittel einer proletarischen Massenpartei, das einzige Machtmittel gegen das nicht weniger brutale Machtmittel des Gegners, die Pressekorruption.

Demokratie ist fähig und willig, wie jeder Machtverschiebung so auch der außerparlamentarischen Machtverschiebung in der Richtung des Sozialismus zum politischen Ausdruck zu verhelfen, und wenn heute, was von außen Demokratie heißt, von innen Kapitalismus ist, so kann einstmals die Form der Demokratie sozialistische Gemeinschaft als ihren Inhalt in sich aufnehmen. Auf diesen ihren möglichen Inhalt muß sich die neue Ideologie der Demokratie richten. Ging die alte Demokratie auf Freiheit und Gleichheit, so geht die neue auf Gemeinschaft und Führertum. Bedeutete die alte Ideologie »Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt«, so bedeutet die neue nahezu das Gegenteil davon, nämlich »Führerauslese«.

Man möchte fragen: Wenn Demokratie unter dem Schein individualistischer Gleichheit doch nur auf die sozialen Gruppen gegründet ist, warum dann nicht eine auch ihrer Form nach auf die sozialen Gruppen gegründete, d. h. eine »berufsständische« Verfassung? Der Gedanke einer berufsständischen Verfassung ist unter dem Namen des Rätesystems bei der Schaffung der Weimarer Verfassung eindringlich erwogen worden, er beherrscht jetzt die faschistische Gedankenwelt, er bildet die Parole aller Gegner der Demokratie, den einzigen Vorschlag für den Ersatz der Demokratie durch neue Formen. Aber er läßt sich leicht widerlegen. Die berufsständische Verfassung muß an der Unmöglichkeit scheitern, die soziale Wichtigkeit oder auch nur das soziale Gewicht der verschiedenen Berufe und Klassen in Mandatsziffern zahlenmäßig auszudrücken. Denn zum Unterschied von der Demokratie sollen diese Mandatsziffern ja eben nicht auf die Zahl der Angehörigen eines Berufes oder einer Klasse gegründet werden. So bleibt, für die zahlenmäßige Bewertung der Berufe, wie die Organisation des Reichswirtschaftsrates zeigt, nur die bare Willkür übrig, für die zahlenmäßige Bewertung der Klassen der Arbeitnehmer im Verhältnis zu den Arbeitgebern aber nur der Notbehelf der Parität – und gerade diese notgedrungene Parität zwischen Arbeit und Kapital, welche die zahlenmäßige Majorität der Arbeiterstimmen, wie sie sich in der Demokratie auswirken kann, ausschaltet, ist es, die den berufsständischen Staat gewissen reaktionären Kreisen so erwünscht erscheinen läßt. Wäre aber auch eine sachgemäße Bewertung von Beruf und Klasse in Mandatsziffern möglich, so wäre auch dann die berufsständische Verfassung nicht erstrebenswert. Sie würde zu einer Verwirtschaftlichung und Vergewerkschaftung der ganzen Politik führen. Kulturfragen etwa würden sich in ihr nur als Standesfragen der Kopfarbeiter zur Geltung bringen können, Bildungsfragen etwa zu Berufsfragen des Lehrstandes herabsinken. Jedem Berufs- und Klasseninteresse würde die Ermächtigung erteilt, sich als solches unverhüllt zu zeigen. Eine politische Partei ist genötigt, eine Ideologie wenigstens vorzugeben, die das, was ihrem Interesse dient, als dem Wohl des Ganzen dienlich darzustellen sich bemüht – und wir haben gesehen, wie durch solche Ideologien schließlich die Idee selber zur Herrschaft gelangt auch über die, die sich ihrer nur für ihr Interesse bedienen wollten. Berufs- und Klassenvertretungen dagegen dürfen sich ohne Scheu dazu bekennen, nicht der Allgemeinheit, sondern nur ihrem Berufe, ihrer Klasse zu dienen. Das Allgemeinwohl kann nur zur Geltung gelangen, soweit es zufällig auf der mittleren Linie zwischen den Interessen der kämpfenden Berufs- und Klassenvertretungen liegt, und nichts gewährleistet, daß es stets auf dieser mittleren Linie liegt, man müßte denn dem alten liberalen Aberglauben huldigen, daß sich aus dem Wettbewerb allseitigen Eigennutzes automatisch das Allgemeinwohl ergebe. So würde im berufsständischen Staat die Herrschaft der Idee in der Politik in Gestalt der mit soziologischer Zwangsläufigkeit gebildeten Parteiideologien verdrängt durch die Sanktion des nackten Interessenkampfes, aus dem sich das Allgemeinwohl nur gelegentlich und zufällig als ein Nebenprodukt ergäbe. Schließlich aber und endlich würde jede berufsständische Organisation die juristische Festlegung der Macht- und Wertverhältnisse der Klassen und Berufe bedeuten, wie sie zur Zeit ihrer Entstehung bestanden, und damit die reaktionäre Verewigung des Gestrigen, ein Hindernis jeden Fortschritts.

Es gilt jetzt, den Gegensatz demokratischer Soziologie und Ideologie an seinen einzelnen Ausstrahlungen zu veranschaulichen. Zunächst an dem Verhältnis von Demokratie und Partei. Rousseau hat in der Parteibildung eine Verfälschung des demokratischen Volkswillens gesehen. Die Begründung des Mehrheitswillens auf den Abstimmungskampf der Parteien bedeutet ja, daß dieser Mehrheitswille sich aus den Sondermehrheiten der Mehrheitsparteien zusammensetzt, die selbst das Ergebnis eines Abstimmungskampfes innerhalb der Partei sind, daß also die innerhalb einer Partei überstimmten Minderheiten ihren unmittelbaren Einfluß auf die staatliche Willensbildung einbüßen. Wir haben inzwischen gelernt, in den Parteien nicht Störungen des demokratischen Gedankens, sondern die wichtigsten Organe demokratischer Politik zu erblicken, eine Leitung, Sichtung und Sammlung der in ihrer Vereinzelung gar nicht politisch handlungsfähigen Wähler, einen Ausdruck der neuen Auffassung der Demokratie, welche diese nicht unmittelbar aus den einzelnen, vielmehr aus den sozialen Gruppen des Volkes aufgebaut weiß. Nicht das Parteiwesen überhaupt widerstrebt dem Wesen der Demokratie, wohl aber das bei uns herrschende Parteiensystem.

Man hat den Grund der Schwierigkeiten des demokratischen Systems bei uns in der Vielheit der Parteien finden und das Zweiparteiensystem als das Allheilmittel preisen wollen. Aber ein solches Zweiparteiensystem ist nur dort möglich, wo die einander in der Regierung abwechselnden Parteien durch einen großen Bestand gemeinsamer politischer, zumal außenpolitischer Ideen miteinander verbunden sind. Bei uns würde das Zweiparteiensystem unfehlbar die Zerfällung in Bourgeoisie und Proletariat bedeuten, würde bedeuten, daß mit dem Wechsel der Regierungen das Staatsschiff sich bald auf die eine, bald auf die andere Seite legen würde und schließlich kentern müßte. Nur das Koalitionssystem, nur die Verbindung bürgerlicher und proletarischer Parteien in der Regierung, verbürgt dem Kurs des Staatsschiffes die Stetigkeit. Aber auch vom sozialistischen Standpunkt aus sind rein sozialistische Regierungen nicht erwünscht. In einer Gesellschaft, in der die Macht zwischen Bourgeoisie und Proletariat noch geteilt, und zwar zu recht ungleichen Teilen geteilt ist, täuscht eine rein sozialistische Regierung eine Macht der Arbeiterschaft vor, welche nicht besteht, erweckt sie Erwartungen, die notwendig getäuscht werden müssen, bereitet sie Enttäuschungen, die dem Einfluß der Arbeiterparteien Abtrag tun.

Nicht das Koalitionswesen und die Vielheit der Parteien, vielmehr die Starrheit unseres Parteiensystems ist es, was bei uns die Demokratie erschwert. Während die romanischen Länder, vor allem Frankreich, ein völlig unstarres Parteiensystem besitzen, Parteien ohne feste Organisation und ohne festes Programm, Gruppen, die sich um die Person eines bedeutenden Führers bilden, die sich leicht vereinigen und leicht wieder trennen, während in den angelsächsischen Ländern ein wenigstens nur halbstarres Parteiensystem besteht, zwar feste und dauernde Parteiorganisationen, aber keine spröden Parteiprogramme, sondern nur Richtlinien, »Plattformen« für den einzelnen Wahlkampf, hat Deutschland ein völlig starres Parteiensystem, feste Organisationen mit festen Programmen. Gerade auch die Sozialdemokratie ist eine solche nach Programm und Organisation außerordentlich geschlossene Partei. Die Ursachen dieser Starrheit unseres Parteiensystems liegen teils in der Geschichte, teils in der Eigenart unseres Volkes. Im Obrigkeitsstaat, in dem allzulange die Parteien nur zu reden, aber nichts zu sagen hatten, mußte starre Bekenntnistreue die höchste Tugend einer Partei, jedes Kompromiß beinahe ein Verrat, der Reichstag die »Halle der Wiederholungen«, der immer gleichen Bekenntnisse sein. Die heutigen Parteien sind Bestandteile der Verfassung des Obrigkeitsstaates, die psychologisch nahezu unverändert in den neuen Volksstaat übernommen worden sind. Die Starrheit unseres Parteiensystems beruht aber auch auf jenem schon von Goethe bemerkten Zuge des deutschen Volkes, »alles schwer zu nehmen und über allem schwer zu werden«. Den Deutschen ist es sogar gelungen, aus dem behenden politischen Bewegungskrieg einen schwerfälligen politischen Stellungskrieg zu machen. Unsere Parteien sind nicht, wie man oft wohl sagt, zu sehr, sie sind umgekehrt zu wenig Interessenparteien. Eine Interessenpartei kann unbefangen sich zu einem Kompromiß bereit finden. Für eine Weltanschauungspartei ist jeder Abstrich von ihren grundsätzlichen Forderungen nahezu Verrat. Unsere Heraufsteigerung der Parteigegensätze zu Weltanschauungsgegensätzen hat den politischen Kampf zu einem Religionskrieg gemacht, der sich in lächerlicher und beschämender Weise bis in das Privatleben fortsetzt. Es wäre uns für unsere Politik zu wünschen ein Schuß Selbstironie, ein Schuß Relativismus, ein wenig deutschen Lessinggeistes, englischen Fairplays und französischer Grazie, und daß wir den Kampf nicht mit Knüppeln führten, sondern mit Floretts.

Zum zweiten wirkt sich jener Gegensatz demokratischer Ideologie und Soziologie im parlamentarischen Betriebe aus. Ihrer Ideologie nach ist die Demokratie »Regierung durch Diskussion«. Wie durch den allseitigen freien Wettbewerb sich der gerechte Preis ergibt, genau so ergibt sich nach derselben liberalen Auffassung aus dem allseitigen freien Meinungsaustausch die Wahrheit. Längst aber hat die Volksvertretung, längst sogar die Wahlversammlung aufgehört, eine Stätte zu sein, in der aus dem Meinungskampf ehrlich um die richtige Überzeugung ringender Gesinnungsgegner die Wahrheit entspringt. An die Stelle des Meinungskampfes der einzelnen ist der Machtkampf der Gruppen getreten. Die Wahlversammlung ist aus einer Auseinandersetzung mit den Gruppen immer mehr zur einseitigen Kundgebung der eigenen Parteiauffassung geworden, die den Gegner mit seinem Widerspruch gar nicht zu Worte kommen läßt, und in der Volksvertretung treten unter Fraktionszwang einander Parteigruppen gegenüber, die, auf irgendeine bestimmte Meinung festgelegt, eines Besseren sich gar nicht mehr überzeugen können noch wollen. Wohlgemeinte Vorschläge zur Neuordnung des parlamentarischen Betriebes sind darauf gerichtet, die parlamentarische Diskussion wieder zu einem wahren Meinungskampf um die Überzeugung zu machen. Aber man wird sich daran gewöhnen müssen, daß die parlamentarische Diskussion ein solcher Meinungskampf nie wieder werden kann, daß sie nicht den Zweck hat, den Gegner zu überzeugen, sondern ihn zu zwingen oder bloßzustellen, Argumente und Tatsachen vor ihm aufzuhäufen, an denen er sich nicht vorbeischleichen kann, ohne Schaden vor der öffentlichen Meinung zu nehmen. Der wahre Meinungskampf hat sich aus den öffentlichen parlamentarischen Verhandlungen immer mehr zurückgezogen. Nicht nur in der Vollversammlung, auch in den Ausschüssen treten sich heute fertige Ansichten gegenüber, die nicht gewillt sind, sich durch irgendeine gegnerische Ansicht überzeugen zu lassen. Nur in vertraulichen Besprechungen parlamentarischer Führer verschiedener Parteien findet noch eine wirkliche Aussprache mit dem Zwecke gegenseitiger Überzeugung statt, aber auch hier wird sie bald nicht mehr möglich sein, wenn das Vertrauen auf die Vertraulichkeit durch immer häufigere öffentliche Erörterungen auch über vertraulichste Führerbesprechungen immer mehr erschüttert wird. Zwischen den Parteiführern auch gegnerischer Parteien sollte ein geheimes Einverständnis bestehen, das Bewußtsein, eine Art inoffizielles Oberhaus zu bilden, in dem man nicht nur der eigenen Partei, sondern vor allem dem Staatsganzen sich verpflichtet fühlt. Die politischen Unteroffiziere im Lande mögen sich erbittert bekämpfen, als gäbe es keine Gemeinsamkeiten. Die Führer müssen bei aller Überzeugung von der Echtheit der Parteigegensätze das Bewußtsein dieser staatspolitischen Gemeinsamkeiten in sich lebendig erhalten.

Parlamentarismus bedeutet ja nicht, wie seine Ideologie den Anschein erweckt, daß das Parlament regiere. Er bedeutet, daß Führer regieren, die das Vertrauen des Parlaments berufen hat, denen das Parlament jederzeit dieses Vertrauen wieder entziehen kann, die es aber, solange sie sein Vertrauen besitzen, auch wirklich regieren lassen, nicht von Schritt zu Schritt gängeln wollen muß. Man sagt, daß unser heutiges Verhältniswahlsystem dem Aufstieg zu solchem Führertum hinderlich sei. In der Tat bedeutet das Verhältniswahlsystem, daß, um zum Parlamentarier zu werden, man sich nicht sowohl vor den Wählern im Kampfe mit anderen Kandidaten bewährt haben müsse, vielmehr innerhalb des Parteiapparats. Und nun möchte man erwarten, daß auch hier gegen das politische Bonzentum, gegen das Führertum der Parteisekretäre geeifert werden solle. Dem ist nicht so, denn die Bewährung innerhalb des Parteiapparats, diese Behauptung und Durchsetzung der eigenen Überzeugung trotz steter Gefährdung der Lebensstellung durch die Neider unter den eigenen Parteigenossen, bedeutet in der Tat eine beweiskräftige Bewährung gleichermaßen des Charakters wie der Fähigkeiten. Wenn auch hier die Korrektur unseres Verhältniswahlsystems im Sinne einer Neuordnung gewünscht wird, die den Kandidaten wieder in nähere Beziehung zu seinen Wählern bringt, so geschieht es nicht aus Abneigung gegen die Parteisekretäre, sondern aus Abneigung gegen die Verbandssyndici und nicht zur Bekämpfung einer Gefahr, die der Sozialdemokratischen Partei droht, vielmehr eines Mißstandes, der sich in anderen Parteien breit macht. Der Druck, den die Wirtschaftskörper zur Kandidierung ihrer Syndici auf die Parteien ausüben, vermindert sich naturgemäß, wenn ihm nicht mehr nur die zentralen Stellen einer Partei gegenüberstehen, sondern Beziehungen zu den örtlichen Wählern für die Kandidatenaufstellung maßgebend sind.

Aus den Parlamentariern, aus den Parteimännern geht der Staatsmann hervor. Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, 1919; Curt Geyer, Führer und Masse in der Demokratie; Hans von Eckardt, Grundzüge der Politik, 1927. Am augenscheinlichsten unterscheidet sich der Staatsmann vom Parteiführer durch einen Opportunismus, der bereit ist, jedes Prinzip und jedes Programm über Bord zu werfen, wenn die Sache es fordert. »Weiß doch niemand, woran der glaubt«, sagen von ihm die andern. »Ihr werdet euch noch alle an mir ärgern«, muß er von sich selbst sagen können. Aber sein Opportunismus ist nicht der Opportunismus der Haltlosigkeit. An die Stelle der Verpflichtung gegen abstrakte Grundsätze ist ein anderes getreten, die Verpflichtung gegen die lebendig erlebte Staatspersönlichkeit, deren Organ, deren Teil der Staatsmann geworden ist. In dem alten Worte, daß mit dem Amte auch der Verstand komme, wird viel zu flach das Erlebnis ausgedrückt, das jeder Staatsmann in dieser Organwerdung, in dieser Loslösung nicht nur von seinen persönlichen Interessen, sondern auch von den Sonderforderungen seiner Partei, in dieser Verschmelzung des Eigenwillens mit dem Staatswillen erlebt. Diese Staatsmannwerdung des Parteiführers hat sich der deutschen Arbeiterschaft in Friedrich Ebert dargestellt, anfangs vielfach mißverstanden, am Ende von allen verstanden und bewundert. Er hat das staatsmännische Gelübde, das er vor der Nationalversammlung ablegte, »als der Beauftragte des ganzen deutschen Volkes zu handeln, nicht als Vormann einer einzigen Partei«, vorbildlich erfüllt und die Gestalt des sozialistischen Staatsmannes zum ersten Male verkörpert.

Der Staatsmann muß aber nicht nur vom Parteimann, sondern auch vom Fachmann, der Führer vom Beamten abgegrenzt und unterschieden werden. Dem Führer steht es zu, zu regieren, d. h. Zwecke zu setzen, dem Beamten, zu verwalten, d. h. Mittel zu suchen und anzuwenden. Diese beiden Aufgaben fordern eine völlig verschiedene Eignung, und es war keineswegs das Normale, sondern gerade abnorm und überaus schädlich, daß im alten Staat in der Beamtenlaufbahn der Fachmann zum Staatsmann aufstieg. Daß Politiker regieren und Beamte verwalten, diese im neuen Staate herrschende Regelung, stellt den Normalzustand dar. Aber die Nachwirkungen der früheren Vermengung von Verwaltungs- und politischen Aufgaben, die Politisierung der Beamtenschaft ist noch nicht überwunden. Gilt es deshalb heute noch, in eine großenteils im Sinne des alten Staates politisierte Beamtenschaft politische Gegengewichte einzusetzen, so kann das fernere Ziel dieser »Demokratisierung der Beamtenschaft« doch nur das ihrer Neutralisierung sein: sie so zu gestalten, wie die demokratische Ideologie sie sich dachte, als ein Organ, das widerstandslos den jeweiligen Regierungswillen in die Wirklichkeit umsetzt. In einer Richtung wird freilich mit soziologischer Notwendigkeit ein Eigenwille der Beamtenschaft immer bestehen bleiben. Stets wird die Beamtenschaft, genötigt, im Wechsel der Parteiregierungen unter politischen Ministern verschiedenster Richtung zu arbeiten, bestrebt sein, sich für alle gleichermaßen geeignet zu erhalten, also sich auf einer mittleren Linie zu bewegen und ihre Minister nach Kräften auf diese mittlere Linie zu drängen. Und in jedem Ministerium wird ein stiller Kampf gekämpft zwischen dem Minister, welcher in der vermutlich kurzen Zeit, die ihm vergönnt ist, möglichst Viele und kühne Reformgedanken verwirklichen möchte, und seinen Räten, die ihn auf der Straße der goldenen Mittelmäßigkeit festzuhalten bestrebt sind.

So stellt sich die Demokratie wie alles Lebendige nicht dar wie eine wohlausgeklügelte und gut eingeölte Maschine, sondern als eine Vielfalt miteinander ringender Widersprüche, die ihrerseits die Klugheit und Geschicklichkeit lebendiger Menschen zu ihrem Ausgleiche von Fall zu Fall fordert. Und das ist, meine ich, das Beste, was man von ihr sagen kann. Den Krisenmachern der Demokratie aber wollen wir scharf in die Augen sehen und sie fragen, ob ihnen an der Demokratie oder an der Krise gelegen ist, und ihnen sagen, daß von einer Krisis der Demokratie füglich so lange die Rede nicht sein kann, als die Demokratie noch in den Kinderschuhen und gar nicht volle Wirklichkeit ist.


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