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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Phöbe ist nicht zu Hause gewesen, als der andere Brief nebst der kleinen Kiste aus Italien ankam. Beides war auch nur an den Pastor, Herrn Prudens Hahnemeyer, adressiert, und es stand bei diesem, ob er der Schwester von dem Inhalt Mitteilung machen wollte oder nicht.

Im Dorf hat niemand dem Fräulein aus dem Pfarrhause anmerken können, daß und – was Fräulein Dorette Kristeller geschrieben hatte. Es war wie immer um diese Jahreszeit wieder viel Not und Hülflosigkeit unter den armen Leuten, und man kann nicht von jedem verlangen, daß er Geduld in schweren Tagen habe. Es ist recht häufig viel besser, die Bedrängten sich ausreden und ausschreien zu lassen, als ihnen zur Geduld zu reden und zu raten.

Zu keiner Zeit in diesem zu Ende gehenden Jahr war Phöbe Hahnemeyer so zum erstern befähigt gewesen als an diesem stürmischen Tage, sie, die heute zu den Bedrücktesten nicht nur in der ganzen Gemeinde, sondern auch unter allen übrigen unruhigen Gästen der Erde zu zählen gewesen wäre, wenn sie das volle Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, des Alleinseins in der Welt, wie es ihr zukam, hätte haben können.

Sie aber wußte nur, daß sie alle es so gut mit ihr meinten und daß sie sehr dankbar und nach schwachen Kräften hülfreich dafür zu sein habe, wenn auch niemand recht Bescheid um sie wisse – auch die alte, treue – neue Freundin, Fräulein Dorette Kristeller, nicht. –

So ist die Gnade, oder wie ihr gelehrt wurde, zu sagen, die Gnade des Herrn, auch über ihr gewesen in dieser bösen Zeit ihres jungen Daseins unter uns anderen; und sie ist still auch von ihren heutigen Barmherzigkeitswegen in der Gemeinde ihres Bruders zu ihm nach Hause gekommen.

Das war grade um die Stunde, als Spörenwagen genug von der Gesellschaft und Unterhaltung des Dorfkrugs hatte und durch den Wind, Regen und Schnee seinen auch einsamen und beschwerlichen Weg nach seiner Wohnung der Jahreszeit abkämpfte. In der Dorfgasse sind sie auch einander begegnet oder vielmehr aneinander vorbeigekommen, Phöbe und der Meister Tischler. Sie haben aber einander bei der Dunkelheit und dem Sturm nicht erkannt und also auch nicht ein Wort miteinander wechseln können, obgleich grade jetzt jedes von den beiden des andern gedachte und in seinen Gedanken von ihm oder mit ihm redete.

»Spörenwagen geht morgen ins Tal hinab«, dachte Fräulein Phöbe. »Ich will ihn bitten, daß er auch zu Fräulein Dorette geht und ihr sagt, daß ich ihr von Herzen dankbar für ihren Brief bin, daß ich ihr aber lieber nicht gleich darauf Antwort schicken möchte und es auch nicht kann und lieber wieder einmal in der Stille bei ihr sitzen möchte. O wie recht hat sie, daß sie mich auf den hohen Winterschnee hinweist! Und es ist auch vorher noch für so vieles zu sorgen, daß es uns nicht wieder so geht wie damals im ersten Jahr, wo uns fast alle Vorräte ausgingen, ehe wir zu den Nachbarn und ihrer Hülfe wieder einen Pfad hatten. Wie schön ruhig wollen wir sitzen hinter unsern weißen Mauern, und ich will auch recht fleißig sein mit Prudens an der englischen und der arabischen Grammatik, wenn es vielleicht, wie er meint, des Herrn Wille ist, daß er auch mich in die Fremde beruft und mir nicht hier mein letztes Ziel setzt und meine ewige Ruhe gibt in seiner Gnade.«

Spörenwagen, auf der andern Seite der Dorfstraße und in entgegengesetzter Richtung sich vor dem Wind dicht an Mauer und Zaun haltend, brummte:

»Jedes Wort, das man in das Geschwätz geben könnte, ist zuviel. Man schüttelt sich eben und trinkt aus und geht seiner Wege, und hinter einem drein sagen sie: der Querkopf! ... Ja, über das Hinterdreinreden bei vornehm wie gering – 's ist immer wie ein schöner Buttervogel, ein schöner Schmetterling, den die Buben zerpflücken! Was wissen Bruder und Schwester, Mutter und Kind, Mann und Frau voneinander? Und von mir reden sie und meinen sie, daß ich alles in der Welt mit einem großen Hobel glatt und gleich machen wolle?! In einer Welt, wo von Anfang an so ein Unterschied gesetzt ist wie zwischen meinem Fräulein – Fräulein Phöbe und dem Räkel und dem Herrn Bielow und ihrem Bruder, dem Herrn Pastor Hahnemeyer, und uns allen anderen! ... Und es ist doch die Welt, von der geschrieben steht: ›Es ist nicht gut, daß der Mensch in ihr allein lebe und bleibe.‹ Wer kriegt da mit allem Nachsinnen und Studieren einen Verstand herein? Einen Sinn, bei dem er sich beruhigen kann, wenn er für sich allein ist und sitzt, weil er sich in dem Wirrwarr nicht zurechtfinden kann wie ich!? Ja, das gibt man sich nicht, das wird einem gegeben. Und wer die Gabe hat, der weiß nichts davon, als wie ein Mensch nichts vom Hunger verspürt, wenn er satt ist. Und als ein solcher Mensch geht unser Fräulein, unsere Phöbe, über die Erde, und wer darüber nachdenkt, der findet kein Ende und steht von ferne und sieht sie und wundert sich wie über das allergrößeste Wunder. Und bei seiner Arbeit faßt er höchstens mit der Faust ins Brusttuch, wenn er daran gedenkt, so gab's noch eine andere, die so hätte sein können und von der sie eben vor den Ohren des Räkels mit ihrem Ekelnamen als wie seiner Feh diskurrierten! Da geht es sich freilich gut gegen den Wind und Sturm an in dem Gedanken: was kümmert's dich noch, Spörenwagen? Sie ist ja jetzt auch im Frieden und es tut ihr niemand mehr was, weder in Freundschaft noch in Bosheit, weder ihr ins Gesicht und die innerste Seele noch hinter ihr drein. Ja, so fährt man im Leben aneinander vorüber und reicht sich die Hand hin im Unwetter! Sie ist frei vom Wirrwarr, und kein Lärm tut ihr noch was zuleide. Geh du deines Weges nach Hause, Kamerad, Spörenwagen, der Regen, Schnee und Wind ins Gesicht ist nicht das Schlimmste auf ihm. He, es ist aber fast, als um nicht das Stehen zu behalten!« ...

In seiner Studierstube wurde der Pastor Prudens Hahnemeyer dieses heftigen Wehens wegen von Minute zu Minute nervöser. Er schritt hin und her nach seiner Gewohnheit. Er trat an das Fenster, an dem er im Sommer mit seinem Jugendfreunde Veit von Bielow gestanden und ihm von diesen herbstlichen und winterlichen Stürmen gesprochen hatte. Er ging zu seinem Tisch zurück und setzte sich, um von neuem aufzuspringen und vom Fenster aus in die Nacht und auf die jagenden Sturmwolken zu blicken. Er ärgerte sich ob dieser körperlichen Unruhe, die er vergebens niederzukämpfen suchte, gegen die er sich völlig machtlos fühlte. Fast wäre er imstande gewesen, auf die Schwester zu zürnen, daß sie ihn so lange allein im Hause lasse, er, der bei stillerem Wetter am liebsten allein blieb in seinem Grübeln und wirrem, mystischem Träumen und auch die kleinste Störung durch die Zeitlichkeit, selbst auch durch den leisen Schritt und die süße Stimme der armen Phöbe, nicht immer mit der größten Geduld aufnahm.

Am heutigen Abend taten aber auch der Brief und die Sendung, die aus der Zeitlichkeit, aus dem Säkulum, zu ihm gelangt waren, das Ihrige, ihn nach der Heimkehr der Schwester von ihren Liebeswegen in seiner Gemeinde verlangend zu machen. Der Brief lag auf seinen Schriften, und das geöffnete Kistchen stand daneben auf der aufgeschlagenen Konkordanz, und der asketische Pfarrer wußte, daß sie ihm diesmal, wenigstens für die nächsten Stunden und vielleicht auch die kommende Nacht, eine größere Störung in sein Leben getragen hatten, als die wildeste Windsbraut seines nordischen Gebirges je vermocht hätte.

Der Brief kam aus Palermo auf der Insel Sizilien und lautete:

 

»Mein guter Freund, da bin ich noch einmal! Noch einmal wirft mein Schiff Anker an Patmos, und der Mensch aus dem Säkulum, der Mann vom römischen Forum, der Lustwandler aus den Platanengängen der athenischen Akademie, steigt zu Lande, hüstelnd, kniematt, auf seinen Krückstock gestützt. Deutlich male ich mir das Gesicht, das Du auch diesmal zu dem Besuch machen wirst; aber beruhige Dich: ich gebe nur ein Paket zur Weiterbeförderung ab und gehe sofort wieder. Dein verdrossenstes Abwehren würde Dir aber auch heute so wenig helfen wie damals in unseren jüngern, gesundern Tagen, wenn ich als flotter Korpsbursch aus dem germanischen akademischen Leben zu Dir in Deine Klausur stieg, um Dich eine halbe Nacht durch mit Fragen, Bedenken und Zitaten zu quälen. Und damit Du siehst, daß ich der Alte geblieben bin trotz allem, was Schicksal und Leben im Bösen wie im Guten an mir verübten, komme ich Dir auch jetzt mit einem Zitat, und zwar aus dem frivolsten Deiner in Gott ruhenden Amtsbrüder. Der sehr ehrwürdige Herr Lorenz Sterne, Magister der Künste, Stiftsherr zu York, Dorfpastor zu usw., hat das Wort im siebenten Buche von Tristram Shandys Leben und Meinungen. Ziehe Deine Kapuze so tief Du willst über den Kopf hinunter, aber laß mich abschreiben. Alles, was Deiner Schwester und Dir Euer heutiger Besuch zuzutragen hat, wächst auf aus jenem leichtfertigen, inhaltvollsten Predigtbuch über Menschenschwächen und Menschenkräfte. Beiläufig, das Exemplar, aus dem ich abschreibe, entstammt närrischerweise der Reisebibliothek meiner Frau, welcher letztern ihr Herr Onkel aus dem Kultusministerium es am Abend unserer Abreise von Berlin in gewohnter Zerstreutheit ins Coupé warf. Sie behauptet, das einzig Angenehme, Liebenswürdige und Verständliche daraus, den Onkel Toby, schon längst zu kennen und zu zitieren, überläßt mir aber alles übrige darin – auch zur Mitteilung an Bekannte und – Freunde. Sei dem so:

 

›Ließ sich wohl jemals ein vernünftiger Mensch in einen so verworrenen Handel ein?‹ sagte der Tod.

›Mit genauer Not bist du diesmal noch durchgekommen, Tristram‹, sagte Eugenius.

›Aber das ist kein Leben mehr, Eugenius, seit dieser Sündensohn dergestalt meine Adresse aufgespürt hat.‹

›Da nanntest du ihn jedenfalls bei dem rechten Namen‹, sagte Eugenius; ›denn die Sünde brachte ihn in die Welt, wie geschrieben steht.‹

›Wie er hereinkam, kümmert mich nicht‹, sagte ich, ›wenn er nur nicht solche Eile hätte, mich herauszuholen! Denn ich habe noch vierzig Bände zu schreiben und vierzigtausend Dinge zu sagen und zu tun, die kein anderer als ich in dieser Weit sagen und tun kann. Da er mich nun so bei der Kehle hat, tue ich da nicht besser, Reißaus zu nehmen und für mein Leben zu laufen? ... Ja, beim Himmel, ich werde ihn in einen Tanz ziehen, daß er sich wundern soll! Ohne mich umzusehen, jage ich bis an die Ufer der Garonne, und höre ich ihn mir auf den Fersen klappern, so fliehe ich bis zum Vesuv, von da nach Joppe und von Joppe bis an der Welt Ende, und wenn er mir dann noch folgt, na, so bitte ich Gott, daß er ihn den Hals brechen lasse.‹ –

 

Meine lieben Freunde, wie Ihr aus meiner Adresse dieses Briefes erseht, habe ich so ziemlich dem Wortlaut nach in Ausführung gebracht, was ein anderer lebensgieriger Siechling vor mehr als anderthalb hundert Jahren in seinem Abscheu vor dem Aufgebenmüssen des Mitatmens unter den Lebendigen zu tun sich vornahm. Ich habe meine Schätze zusammengerafft und bin gelaufen, nachdem ich die Angst des Träumenden, der nicht vorwärts kann, im Wachen vollauf durchgekostet habe. Ich hatte nimmer gewußt, daß mir das Leben so lieb sei, als bis ich kraftlos, knielahm, matt bis in das Mark der Knochen um es ringen mußte. Lebensgier! Das ist das Wort. Ich habe bis jetzt keine Ahnung davon gehabt, wie lebensgierig der Mensch werden kann, wenn ihm einmal das alte, dürre Gespenst so eisig aus dem warmen Sommer des Lebens heraus in den Nacken blies. Nun aber habe ich das volle Empfinden; und ich schäme mich nicht, jedem, der ein Interesse daran nehmen mag, davon zu reden. Ist es doch, als gehöre auch die Geschwätzigkeit ganz und gar zu diesem närrischen, ruhelos-müden Seelen- und Körperzustande.

Am Fuße des Vesuvs stellte mir das widerwärtige Gerippe noch einmal das Bein, und die Ärzte sagten: ›Südwärts! Vor dem nahenden Winter immer noch ein wenig weiter südwärts, Signore.‹ Und meine Frau sagte dasselbe, liebe, gute Freunde im nordischen Winter! Und es gehört zu den fraglichen vierzig Büchern, die ich noch zu schreiben hätte, noch so manches andere, was ich noch nicht aufgeben möchte unter Euch! Erst in Stimmungen wie die meinige jetzt lernt der Mensch zu rechnen und seine Verpflichtungen wie seine Behaglichkeiten zusammenzuzählen.

Von den einen darf ich, von den andern will ich noch nicht lassen; und – das Kofferpacken hat mir ja meine Valerie vom Anfang unserer jungen Ehe an abnehmen müssen. ›Wir wollen fürs erste an nichts weiter als an Deine Gesundheit denken, Veit‹, sagte sie, und sie hat leider kaum nötig, mir dieses noch besonders anzuempfehlen. Ich weiß und fühle es nur zu gut, wie zertrümmert meine Rüstung, wie unkräftig meine Hand und wie machtlos, nutzlos jede Waffe geworden ist, auf die ich mich unter allen Umständen, in jedem Kampfe im Leben glaubte verlassen zu dürfen.

Ach Phöbe, Phöbe, welch ein Nebelheim-Schatten ist auf der Vierlingswiese über Deinen muntern Gast aus dem sonnigen Erdenleben gefallen! Wie schwer hängt die Erde, die der Clown, Euer Totengräber, unter der Felswand auf Eurem Dorfkirchhofe aufgeworfen hat, an meinen Füßen!

Vor Jahren saß ich schon einmal an diesem Fenster im Hotel Trinakria, mit dem Blick auf das Tyrrhenische Meer, und zwischen jenen jungen, jubelvollen Tagen und der heutigen melancholischen Stunde liegt nur – ein Schritt vom Wege.

Unter diesem Fenster wogt heute wie damals, bei beginnender Dämmerung, das Leben des Kai Marina: Licht, Luft und Volk sind dieselben geblieben; aber wer – was ist heute Veit Bielow? Ist dies meine Hand, die hier die Feder führt? Was und wer ist dieses kränkliche, verdrießliche, ängstliche, weinerliche Etwas, das vor dem aus Euerm Norden über die See herandringenden Abenddunst die Decken fröstelnd dichter um sich zusammenzieht?

Ja, Veit Bielow heißt der Mann oder vielmehr das, was noch von jenem Mann, Veit Bielow genannt, übrig ist! Ja, Prudens und Phöbe Hahnemeyer, so hat ein Schritt vom Wege vor Euerm Dorfe Euern Freund und Gastfreund im inhaltvollsten Jahre seines Lebens an diesen unheimlichen Wendepunkt geführt. Gedenkt seiner mit mitleidigem, verzeihendem Herzen! Du vorzüglich, meine liebe, stille, im Frieden sichere Retterin, Phöbe!

Nun hat wohl schon der Winter an Euere Tür geklopft, der erste Schnee ist vielleicht schon bei Euch gefallen, die Berge sehen weiß herein, und der Sturm braust durch die Täler und klappert mit meines armen, gleichfalls fröstelnden Freundes Prudens Stubenfenstern. Ja, den armen Tom friert auch in dieser lauen, südlichen Abendluft – ich lächle nicht mehr über dich, Freund Hahnemeyer; ich habe keinen Grund mehr, mich ob meiner Kraft zu überheben. Ach, Prudens, was für arme, schwache Erdengäste sind wir beide zwischen dem Räkel in seiner Nacktheit auf der einen Seite und Deiner und – meiner Schwester in ihrem unnahbaren Burg- und Gottesfrieden auf der andern! Unter meinen sonstigen guten Bekannten weiß ich niemand, dem ich über diese kläglichen, kuriosen Stimmungen so schreiben könnte, wie jetzt Dir, mein alter, mönchischer Leidensgenoß hinter Deinen Mauern, den wankenden, abbröckelnden Mauern auch Deiner Lebensfeste. Ich bin zu einem Grübler geworden wie andere brave Leute, habe meine eigene Seele auf den Seziertisch genommen und denke nur an mich, Freund Prudens, wenn ich frage: Wird das noch einmal für uns anders werden? O ja, was für ein Egoismus in dem Menschen steckt, erfährt er erst genau nach solch einem Schritt vom Wege und so mit dem Zerlegemesser in der Hand am Werke an seinem eigensten Selbst.

Werden kommende Jahre den armen Veit wieder auf die muntern Füße stellen, auf denen er einst, vor hundert Jahren – vor so wenig Wochen über die Vierlingswiese schritt? Wird er sich noch einmal von Palermo, von ›Joppe‹ nach einem Schneesturm, wie er um diese Jahreszeit um solch ein nordisches Gebirgshaus gleich dem Eurigen bereits lärmen mag, nicht bloß matt sehnen dürfen?

Was kümmert einen, der leben – leben – leben will, das, was die andren wollen? Was geht mich Dein Gedanken- und Vorstellungskreis an, mein armer, entsagender und in seiner Enthaltsamkeit auch verunglückter Freund, Prudens Hahnemeyer? Die Stadt Palermo rauscht um mich her, das gesunde, weite, freie Meer dehnt sich vor meinen Blicken; mein gesundes, schönes, junges Weib läßt im Nebensalon die Finger über das Piano gleiten: wie könnte ich mit Gleichmut, mit Achselzucken mich an den furchtbaren Handel in der Todeshütte auf der Vierlingswiese, an meinen Grundbesitz unter der Felswand neben dem Hügel der Feh erinnern?! Der Mann aus der Amsterdamer Straße und der Avenue Matignon zu Paris soll sich nicht grimmiger um sein Leben gewehrt haben, wie sich der arme Veit Bielow darum wehren wird hier in Palermo. Dieu me par-donnera, c'est son métier! –

Meine Frau! Mein gesundes, junges, lachendes Weib! Habe ich mich nicht ihrethalb um mein weinerliches Dasein zu wehren? Sie alle haben verständigerweise ihr Bestes getan, ihr die Sache im vernünftigen Lichte zu zeigen. Vater, Brüder, Verwandte und gute Freunde beiderlei Geschlechts haben ihr ihre Torheit eindringlichst auseinander gesetzt; aber sie ist doch gekommen und hat meine Hand mit der ihrigen fest ergriffen und hat gesagt: ›Du wußtest es doch noch nicht ganz genau, wie sehr du mein Eigentum warst. Du hast mir viele Schmerzen bereitet und zu mancherlei bösen Gedanken verholfen; aber es hilft nichts, ich will mein Recht an dich nicht aufgeben. Du gehörst mir und keinem andern! Ich lasse dich keinem andern auf dieser Erde, und der Erde selbst fürs erste auch nicht. Ich nehme dich für Gut und Böse, für Gesundheit und Krankheit, für Leben und Tod. Ich nehme dich auch gleich mit mir. Die Formalitäten machen wir so rasch als möglich ab; in vier Wochen können wir zusammen allein sein und auf dem Wege in ein neues Leben. Dir wie mir hilft nur eine andere Sonne über dem Kopfe und ein anderer Boden unter den Füßen, und der Onkel Geheimrat ist ganz meiner Meinung und stellt uns auch seine Villa bei Florenz als ersten Ruheplatz für unsere lahmen Fittiche gern zur Verfügung. Komm mit mir, Veit; der trübe deutsche Himmel taugt augenblicklich weniger denn je für uns zwei – für einen von uns beiden.‹

So sind wir geflohen vor dem germanischen Daseinsgrau, nach Florenz, nach Rom, nach Neapel und so jetzt nach Sizilien. Persephoneia gedenke der eigenen Not im Tal Enna und sei uns gnädig in unseren Nöten!

Wie vieles hätten wir Euch noch zu sagen; aber der Abend kommt rasch hier im hellen Süden. Schon schleicht die Dämmerung über das Mittelländische Meer, und in einer halben Stunde wird es Nacht sein. So gelange ich denn jetzt zu dem verspäteten Gast- und Dankgeschenk, das mit diesem Briefe seinen Weg zu Euch – zu meiner lieben, unvergeßlichen Freundin und Retterin Phöbe sucht. Und es ist wieder Valerie, die gesucht, gefunden und hoffentlich das Rechte gefunden hat, der Teuren, Lieben, Guten eine Freude in ihrem Sinne, nach ihrem Herzen zu bereiten. Nicht ich, sondern meine Frau war bei der Aufdeckung der Gräberstätte gegenwärtig und hat das ernste Gerät mit seinem rührenden, altchristlichen Symbolum, Taube, Fisch und Kreuz, von der Steinplatte gehoben, auf welche vor sechzehnhundert Jahren eine bebende, wohl sehr jugendliche Hand, wenn nicht gar eine Kinderhand, es niedergesetzt hatte.

›Flaviolus Phoebes Domitillae implorat pacem aeternam‹ stand auf dem Stein eingegraben. Ich übersetze das heute: ›Der Freund – der Bruder, der Anverlobte der Phöbe erfleht den ewigen Frieden‹, und Valerie hat gesagt: ›Das wäre nun etwas für dich und unsere Schwester im Norden! Und auch dein ernster Jugendgenosse in seinem deutschen Pastorenhause würde sicherlich einiges Interesse daran nehmen, zumal da du diesmal in jeder Beziehung für die Echtheit der Sache bürgen kannst.‹

Ja, es ist Valerie und mir ein friedlich schöner Gedanke, diese kleine Bronzelampe mit Taube und Kreuz unter Eurem Dache, auf dem Arbeitstischchen unserer lieben Schwester Phöbe zu wissen. Die Besitzergreifung war nicht ohne einige Schwierigkeiten zu bewerkstelligen; aber Valeriens Verbindungen in hiesigen und vaterländischen diplomatisch-gesellschaftlichen Kreisen haben uns recht geholfen. Ich muß meiner Frau die Ehre lassen, sie hat eine Energie bei den Verhandlungen entwickelt, die nicht lebendiger sein konnte und mir in meinem Krankensessel ungemein wohlgetan hat, zumal da sie sonst immer ernst, fast finster sich abwendet, wenn die leiseste Andeutung in unserer Unterhaltung meinen sommerlichen, seltsamen Abstecher zu Euerm Hause und dem Kirchhofe Eures Dorfes streift. So bin ich ihr von Herzen um so dankbarer für den lieben Eifer, den sie hierin bewiesen hat. Phöbe hätte sehen müssen, mit welchem Lächeln sie, nach einer letzten weiblich-diplomatischen Verhandlung mit ihren Freunden bei den zuständigen italienischen Behörden, kam, mir das kleine Kunstwerk in die Hände legte und rief:

›Ich habe sie! Schicke sie der Freundin und schreibe ihr, auch Valerie Bielow wisse für sich kein besseres Angedenken an den unruhigen Sommer dieses Jahres und seine Gäste zu senden, Valerie küsse die gute Phöbe und bitte auch um Verzeihung für ihren wilden Einbruch in ihr ruhevolles Dasein!‹

Man stellt mir eben eine andere Lampe auf den Tisch mit dem landesüblichen Gruß: Felicissima notte! Ich habe in die Dämmerung hinein geschrieben, ohne es zu merken, daß es beinahe ganz Nacht geworden ist. Das große Meer ist kaum noch zu sehen, und zu hören ist es auch nicht mehr vor dem wachsenden Lärm der Gasse. Valerie schließt mir sorglich die Fenster, und sie und mein armer betäubter Kopf raten beide dringend zum Beendigen dieses kränklich-verworrenen Briefes. Wie viel von Euerm Sommergast ist zurückgeblieben in der Hütte des Räkels auf der Vierlingswiese! Was von dem frühern Veit Bielow ist mit begraben worden unter dem Hügel der Feh auf dem Kirchhofe Deines Dorfes, Prudens Hahnemeyer! Ich lache nicht mehr über Deine Nerven, alter Freund. Suche sanft mit unserer Schwester umzugehen, Prudens: die Starken lachen auch selten auf dieser Erde, aber sie zeigen es auch nicht durch Tränen, wenn wir andern ihnen weh getan haben.

Veit von Bielow.«

 

*

 

Als Phöbe an diesem Abend von ihren milden Werken und beschwerlichen Wegen im Dorfe nach Hause zurückgekehrt war, ist ihr Bruder doch nicht viel anders als sonst mit ihr umgegangen. Mit dem gewohnten Ton und einer kurzen deutenden Handbewegung hat er gesagt:

»Da ist in deiner Abwesenheit noch ein Brief angekommen, der dir mit – und ein Geschenk, das dir allein gilt. Siehe nun zu, was du aus des Mannes Schreiben und aus seiner Gabe verstehen und für dich entnehmen kannst. Ich sehe nur, daß ihn ein starker Arm hält und schüttelt und daß er sich nach der Art von seinesgleichen zwischen Frivolität und Hypochondrie, zwischen Eitelkeit und Weinerlichkeit wehrt. Wir können ihm nicht helfen, Phöbe! Er ist in den Tagen seiner Schwäche ebenso fern von uns, wie neulich, da er in der Erde Sommerlust, im vollen Gefühl seiner Kraft und in der Sicherheit seiner Wissenschaft und Künste zu uns eintrat. Er ist ein Tor und schreibt töricht und schwächlich; aber ich meine doch, daß du seine Gabe nehmen darfst. In welchem Sinne, darüber sprechen wir wohl noch in Nächten, die ruhiger sind als die jetzige. Es redet jetzt ein anderer zu laut durch seinen Sturm. Dieser Wind ist entsetzlich und betäubt mir vollständig die Sinne. Nimm den Brief und das Geschenk deines Freundes mit dir, Kind; ich kann dir vielleicht morgen genauer sagen, wie ich über beides denke und was für eine Antwort darauf nötig sein wird.«

Phöbe hat den Brief Veit von Bielows und die Grablampe der Phoebe Domitilla in ihr Stübchen getragen. Sie hat aus dem Schreiben Iires unruhigen Sommergastes begriffen, daß eine Antwort darauf nicht möglich sein wird. Es ist weit nach Mitternacht. Das kleine, ernste Gerät, das über ein Jahrtausend in der Stille und Dunkelheit ruhte, wird nun vom winterlichen Sturm des deutschen Gebirges umbraust; es steht unverwundert auf der Stelle, die ihm die Gastfreunde im fernen Süden auf dem Tische der Idiotenlehrerin aus Halah anwiesen.

Phöbe schreitet nicht unruhvoll, wie ihr Bruder, auf und ab in der wilden Nacht. Sie sitzt still in dem engen Lichtkreis, nicht der römischen Grablampe, sondern ihrer Arbeitslampe. Und trotzdem, daß man es ihren Augen ansieht, daß sie geweint hat, weil Valerie von Bielow immer noch nicht ihr verzeihen kann, ist sie im Frieden und fürchtet sich nicht vor dem Lärmen des Windes und nicht vor ihrem ewigen Anrecht an die alte Erde, draußen unter der Felswand neben dem Hügel der Feh, wo augenblicklich, wie man im Dorfe sagen würde, auch der stärkste Mann sich nicht auf den Füßen halten kann. Sie ist die einzige Gewappnete unter alle den Rüstungslosen, die einzige Ruhige unter alle den Aufgeregten, die einzige Gesunde unter alle den Kranken. Ohne ihr Zutun hat sie die Gabe – die Gnade, von der Spörenwagen, der Kommunist, auf dem Wege nach Hause redete.

Wo aber ist nun Phöbe in diesem Augenblick mit ihren Gedanken? Nicht bei den Freunden aus dem Säkulum im fernen Palermo, nicht bei dem Bruder, dem Pfarrer Prudens Hahnemeyer – bei all diesen unruhigen Gästen des Erdenlebens.

Bei ihren Kindern in Schmerzhausen ist sie in ihren Gedanken, und eben lächelt sie und spricht leise:

»Daß mir keines den Reigen stört; sonst muß ich böse werden!«

 


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