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Achtzehntes Kapitel

Die Weisheit Salomonis hat's schon:

»Wo etwa ein Wind hauchte, oder die Vögel süße sungen unter den dicken Zweigen, oder das Wasser mit vollem Lauf rauschte, oder die Steine mit starkem Poltern fielen, oder die springenden Tiere, die sie nicht sehen konnten, liefen – oder der Widerhall aus den hohlen Bergen schallte: so erschreckte es sie und machte sie verzagt.«

Aber:

»Die ganze Welt hatte ein helles Licht und ging in unverhinderten Geschäften.«

So war's freilich drunten im Bade!

Der Bergschrecken, die Angst beim Wehen des Windes, beim Singen der Vögel und dem Rauschen der Bäche war doch nur auf einen Teil der Gesellschaft, wenngleich den »besten«, gefallen und hatte ihn in die Flucht getrieben; aber es befanden sich gegen zweitausend Fremde aller Stände im Tal, und ein Teil kann zwar unter solchen Umständen mehr sein als das Ganze, aber doch eigentlich niemals das Ganze selbst. In diesem Falle bedeutete das Bruchstück, alles in allem genommen, doch nur wenig. Neue Ankömmlinge, die nichts von dem Professor Bielow, der schönen Valerie, dem guten Onkel Anton, von Papa Exzellenz, den Vettern und Basen und aller sonstigen Genossenschaft des uns angehenden Kreises wußten, hatten sich in die Kurliste eingetragen. Viel neue Koffer, Schachteln, Kisten und Kasten waren vor dem Aktienhotel abgeladen worden; und andere sorglose Gäste, harmlose, ahnungslose hatten die leer gewordenen Gemächer bezogen und sahen, von heimatlicher Schwüle und Sorge aufatmend, aus den hohen Fenstern auf die grünen Berge und in das fröhliche, bunte moderne Sommertreiben zu ihren Füßen.

Die Badeverwaltung hatte wahrlich das Ihrige getan, alle verdrießlichen Folgen des betrüblichen Zufalls und jedes böse Gerücht davon im Keime zu ersticken, und Doktor Hanff hatte ihr getreulich dabei geholfen – auch ein wenig im eigenen Interesse.

Es schien niemand fortgegangen – abgereist zu sein. Es fehlte keine Farbe, kein Ton, kein kluges und kein albernes Wort um die springenden Brunnen, in den Sälen, auf den zierlich gehaltenen Waldwegen, auf den Ruhebänken und lustigen Wiesenflächen: auch diese flüchtige »ganze Welt« hatte ihr helles Licht behalten und ging unverhindert ihren Geschäften und ihrem Vergnügen nach. Wer nicht mehr gesehen und gehört wurde, der war eben vergessen, »wie man eines vergisset, der nur einen Tag Gast gewesen ist«.

Da glitt von jenen freudiggrünen Bergen, wo die Vögel so süß im dichten Gezweig sangen, wo die Quellen sprudelten und die Luft so lieblich war und von wo doch manchmal ein dumpfes Rollen wie von fallendem schweren Gestein oder fernem Donner herüberhallte, eine unscheinbare, schmächtige, scheue Gestalt durch den Lärm und das Gewühl der Sommerlust. Landphysikus Doktor Hanff, die Hände unter den Rockschößen, breitbeinig hingestellt in einem lachenden Kreise seiner Saisonpatienten, hörte plötzlich leise seinen Namen hinter seinem wackern Rücken ausgesprochen, und sich wendend sah er mit nicht geringem Erstaunen und mit hochgezogenen Brauen auf die Unterbrecherin einer seiner »besten Geschichten« und behielt die Pointe der Schnurre für diesmal gänzlich für sich.

»Sie, Fräulein Phöbe?«

»Mein Bruder wäre gern mit mir gekommen, Doktor; aber er hatte so viele Amtsgeschäfte und mußte auch wieder nach dem Filial zu einem andern Kranken. So hatte er nichts dagegen, daß ich allein ging.«

»Und, mit Erlaubnis, was haben Sie denn da in dem Bündel?«

»Einige Wäsche. Spörenwagen hat's mir bis vor den Ort getragen. Er ist aber schon umgekehrt nach Hause; denn er konnte sich auch nicht von seiner Arbeit zu lange abmüßigen.«

»Hm, allein ging? Hierher in die sündige Erdenlust? Zum Konzert der Bückeburger Jägerkapelle?«

»Zu – meines Bruders liebem Jugendfreunde.«

»Zu –« er brachte sein Wort erst zu Ende, nachdem er das junge Mädchen fast heftig aus dem Kreise herausgezogen hatte – »zu meinem Kranken hier im alten Siechenhause? Bei Gott nicht!«

»So wahr mir der Herr geholfen hat, – immer geholfen hat, dort oben im Dorfe und im Walde und vorher in mancher bösen Stunde unter meinen lieben Kindern in Halah.«

»Ich gebe die Erlaubnis nicht, Phöbe!«

»Sie haben, gestern noch, mich Ihre Helferin und Kollegin genannt und gesagt, daß Sie gern mich zur Hülfe bei Ihrer Kunst und Wissenschaft bei sich sähen in der Not. Sie haben mich zu sich gezählt durch Ihr Wort und haben mich froh gemacht mitten im Schrecken. Und in der Hütte auf der Vierlingswiese haben Sie mir auch nichts in den Weg gelegt, sondern mich Ihnen helfen lassen unter Gottes Schirm bis zum Ende. Und Sie wissen, daß dieser arme Fremde der Freund meines Bruders ist, und – Sie wissen – ja, Sie wissen, wie er mich an sich gebunden hat! O, er hatte wohl keine Ahnung davon, wie bald der Herr an der Kette ziehen könne; ich aber komme nicht zur Ruhe in meiner Angst, bis ich ihn gesehen habe. Es kann mich keiner aufhalten auf dem Wege; aber Sie können mir helfen; o helfen Sie mir, Doktor Hanff! Ich komme ja nicht aus meinem Willen hieher; aber ich muß zu ihm; denn es ist kein anderer Weg aus meiner Angst heraus!«

Sie waren auf dem Promenadenplatz nach und nach immer weiter abseits getreten von dem Schwarm, in dessen Mitte Doktor Hanff eben noch so munter die Unterhaltung geführt hatte. Nicht wenige der Kurgäste blickten mit einiger Verwunderung dem vor einem Augenblick noch so heitern jovialen Badearzt nach und fragten sich, welches Ärgernis ihm wohl dieses kleine melancholische Frauenzimmer in Grau, dem man das Pastorhaus auf tausend Schritte ansah, in den guten Humor getragen haben möchte. Aber das Hin- und Herwogen der Menge zog auch diese flüchtigen Beobachter bald ab und zu anderer Unterhaltung hin, und in einem von Menschen und Lauschern leeren Baumgang konnten der Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer ihre Verhandlung ungestört fortsetzen und zu Ende bringen.

Der Doktor gab fürs erste seine Ansicht in betreff des Wunsches des jungen Mädchens noch nicht auf.

»Kind«, rief er grimmig, »aber dieser Mensch, dieser unglückselige Baron, Professor der Ästhetik – der Staatswissenschaften – was weiß ich – gehört ja so wenig – wie, wie manche andere zu euch! Er kommt aus einer andern Welt, aus Licht und Schatten derartiger menschlicher Naseweisheit, daß ihr euch fast schaudernd davor zur Seite drückt. Er ist, wenn auch kein Spötter, so doch unbedingt ein Gottloser, ein Mann ohne allen Respekt vor Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist.«

»Ähnliches sagte mein Bruder auch von dem armen Volkmar Fuchs, und er ist doch zu ihm gegangen bei Tage und bei Nacht und hat seine bösen Worte nicht geachtet und hat sich nur mit seinem Blick gewehrt, als der unglückliche Wilde in seiner Unwissenheit mit dem Stock nach ihm schlagen wollte.«

»Aber dieser höfliche, gelehrte, feine Herr, dieser Veit von Bielow ist noch viel ärger nach euren Begriffen als Räkel und Feh im roten Pelz im Walde und Räkel und Feh in ihrer Hütte auf der Vierlingswiese!«

»Er hat hieran wohl nicht gedacht, als er in seiner edelmütigen Klugheit auf seine Weise dem Volkmar aus seiner ratlosen Unbändigkeit heraushalf und sich in seiner Lebensfreude verwegen mit mir band, mitten in seiner Kraft und auf dem Wege. Er hat es aber getan; und wenn der Herr es nicht anders will, werden wir in seinem Frieden nebeneinander gebettet werden und auf seinen Ruf zu seinem Gericht warten. Ich habe aber keine Ruhe zu Hause, bis ich den Weg- und Zielgenossen selbst gesehen habe, und ich hätte es auch recht von ihm gefunden, wenn er in meiner letzten Not zu meinem Krankenbett gekommen wäre.«

»Nun denn, in drei Teuf – – in Gottes Namen! Euch aus eurer Kinderwelt komme man einmal mit seinen Einwürfen und Bedenken aus der Rezeptierkunst seiner Erdenpraxis in Hinsicht auf Verstand und Anstand, Vernunft, Sitte und Gewohnheit, und was sonst so für uns in der Herde und, kurz, in der Zeitlichkeit mit zu Knigges Umgang mit Menschen gehört. Geben Sie her Ihr Bündel, Fräulein Phöbe. Also mit dem heillosen Sozialdemokraten und weitgebummelten Nihilisten Spörenwagen haben Sie auch noch geratschlagt, ehe Sie sich auf diesen sonderbaren Weg machten? Na, eine nette Gesellschaft seid ihr; und Staat und Kirche werden sich noch oft hinter den Ohren kratzen müssen, ehe sie mit euch zurechtkommen. Da war ja der Racker, der Räkel, ein wahres Vergnügen gegen euch mit euerm merkwürdigen großen Hobel; denn der Schlingel wollte doch eben nichts weiter, als was wir andern auch wollen, bei jedem Verdruß nämlich den Knubben und Knorren in seiner Konfusion spielen, um seinem Gift Luft zu machen.«

Fräulein Phöbe gab ihr Bündel nicht her.

»Es ist leicht genug, und es würde sich auch nicht für Sie schicken«, meinte sie.

Dagegen berichtete sie mit freudiger Treuherzigkeit, wie sich Meister Spörenwagen auch sonst ihrer, das heißt des Pastorenhauses und des Bruders Prudens drin hülfreich angenommen habe.

»Es war mir eine rechte Sorge, wie ich das einrichtete. Sonst hilft mir nur dann und wann jemand aus dem Dorfe in der Wirtschaft und meistens auch nur ein Kind oder junges Mädchen, dem ich das Nähen lehre. Es ist so traurig, daß sie alle solche Scheu vor meinem Bruder tragen und immer meinen, er hege nur Zorn und Mißachtung gegen sie und suche sie nur aus Stolz seiner Seele in ihren Angewohnheiten zu stören und zu kränken. Und er meint es doch so gut in seinem heiligen Amte und würde sein Leben darin lassen für sie. Ohne Spörenwagen hätte ich gar nicht gewußt, was er anfangen sollte in meiner Abwesenheit. Für sich selber sorgt er ja gar nicht, und wenn ihn niemand zum Essen holt und damit auf ihn wartet, denkt er selber gewiß nicht daran.«

»Ja, das ist so einer von den bescheidenen Kostgängern auf Erden, wenn er sonst nur seinen Willen kriegt«, dachte Doktor Hanff. »Schade, daß wir die eben verflossene Exzellenz und den braven Onkel Anton, den Herrn wirklich Geheimen, nicht noch ein wenig länger hier aufgehalten haben. Meinen ganzen Einfluß hätte ich angewendet, diesen jungen, versauerten Wüstenheiligen von da oben herunterzuholen und ihm anstatt seiner Kanzel in der Wüste eine gedeihlichere Stelle unter fidelen, gebildeten Leuten, zum Exempel hier unter uns und vorzüglich in der Badesaison, zu verschaffen. Na, wer weiß, was unser interessanter Patient, wenn wir ihn mit Hülfe dieses wirklichen Kindes Gottes herausreißen, bei den Seinigen an maßgebender Stelle in dieser Hinsicht zu leisten vermag. Das Juchhe da oben in der Dorfidylle wegen eines günstigen Resultats möchte ich auch hören! ... Nun, Kind, wen hat denn Ihr verborgener Philosoph und Schlaumeier Spörenwagen ausfindig gemacht, der es – der sich des guten Prudens während Ihrer Abwesenheit in der Weltlichkeit annehmen will?«

Nur das letzte Wort natürlich war für das Gehör der Schwester laut genug gesprochen worden, und Phöbe Hahnemeyer rief leise lächelnd:

»Er will selber kochen, wenn's nötig sein sollte; aber er glaubt, daß es nicht notwendig sein wird, denn er hat ja auch noch seine alte Base, die zwar nicht recht gut mehr sieht und hört, aber doch ihre Stube und Person noch ganz sauber hält.«

»Da lade ich mich womöglich morgen schon zu Tische!« rief Landphysikus Doktor Hanff lachend. »Morgen schon reite ich zu Mittag hinauf, um mich mit Löffel und womöglich auch Messer und Gabel zu überzeugen, daß der Herr immer noch für die Seinen sorgt.«

»O bitte, tun Sie das! Ich bin Ihnen so dankbar dafür in meiner Unruhe«, sagte Phöbe.

Sie waren während dieser Unterhaltung ein gut Stück Weges durch den lang im Tal gegen die Ebene sich hinstreckenden Ort mit seinem lustigen Sommertreiben hin geschritten. Es war ungefähr gegen sechs Uhr am Nachmittag, vielleicht auch schon ein wenig mehr gegen sieben, gegen den Abend. Wir können das nicht genau angeben; denn nunmehr ist es, als stünde alles, was uns die Zeit mißt, auf der Erde still und als sei nur ein einziger ruhiger Pulsschlag durch das Weltall. Wohl gingen die ortseingeborenen Leute ihren Beschäftigungen nach; die Fremden saßen wie gewöhnlich bei so gutem Wetter an ihren behaglichen Teetischen in Lauben und Vorgärten. Ihre hübschen geputzten Kinder fingen Ball und Reifen. Herren und Damen zu Wagen und zu Fuße, zu Esel und zu Roß zogen talauf, talab unter den Alleen. Die Wagen der Hotels rollten mit neuen Gästen vom Bahnhofe daher, wo die Lokomotive ihre schrille Stimme weithin in die Berge ertönen ließ. Aber selbst dem alten abgehärteten Landarzt und behaglichen Badedoktor war es doch, als ob dieses alles nicht sei und nur die schmächtige, schweigsame Gestalt im grauen, nonnenhaften Kleide an seiner Seite wirkliches Dasein und wahrhaftige Bedeutung in diesem farbigen Schein und Getümmel habe.

Fast eine Stunde hatten Doktor Hanff und Phöbe Hahnemeyer zu gehen, ehe sie die letzten Häuser und Hütten der Ortschaft erreichten. Wie der weltbekannt gewordene Platz an allem, was Menschen für herrlich und wünschenswert halten, zugenommen haben mochte, bis in diese Gegend war von seiner Eleganz und seinem Luxus noch nichts gedrungen. Wo die Bewohner der letzten, vereinzelten Hütten für das ihnen noch immer unbegreifliche exotische Leben und Treiben nur ein stupides Hinstarren haben, steht noch das Haus, das vor zehn Jahren die Apotheke »Zum wilden Mann« war und in welchem ein Menschenalter durch Herr Philipp Kristeller auf das Wiedererscheinen jenes Freundes, dem er den Besitz verdankte, wartete und ihm seinen Ehrenplatz am Tische aufhob. Es sind wohl einige, die sich aus der Geschichte vom »Wilden Mann« erinnern, wie das Wiedersehen ausfiel und was sich dran knüpfte für den guten alten Philipp und – seine Schwester Dorothea! –

Das Haus steht noch, es ist jedoch nicht mehr eine Apotheke, und zwar die Apotheke für ein halb Dutzend gesunde Dörfer im Umkreis von vier bis fünf Meilen. Die jetzige Offizin führt in der Nähe des Promenadenplatzes und großen Springbrunnens eine gedeihlichere Existenz und hat auch das frühere Schild und Zeichen nicht festgehalten. Das Haus ist, seit Dom Agostin Agonista zu Gaste darin war, in wechselnden Händen gewesen und sieht recht verwahrlost und verkommen aus. Es liegt ja auch für jedwedes nahrhafte Geschäft viel zu weit ab vom Brennpunkt des neuen Lebens, das hier sonst über alles gekommen ist. Ein Gemüsegärtner scheint es heute im Besitz und wenig Mittel für seine Instandhaltung oder gar seine äußerliche Wohlanständigkeit zu haben. Doch das geht uns nichts an. Ein Seitenpfad führt von der Landstraße an seiner Gartenmauer her, noch immer ins offene Feld, und auf diesem Wege schreiten wir jetzt rascher mit Phöbe und dem Doktor Hanff zu dem alten, nun »auf den Abbruch stehenden« Spittel des früheren Dorfes und jetzigen großen, berühmten Kurorts.

Die lautesten Töne der Bückeburger Jägermusik vor dem großen Pavillon sind längst hinter uns verhallt. Der Roggen steht rundum in Stiegen auf den Feldern, die Grillen zirpen in den Stoppeln; grünglänzende Goldlaufkäfer haben es wie immer eilig vor unsern Füßen, und die Gattung Aphodius ist schwerfällig und gemächlich tätig in ihrem nützlichen Geschäft auf den Pfaden der Erde wie im Anfang. Die Lerche singt in der blauen Abendluft und kümmert sich gar nicht, daß die Sense wieder über einem leeren Nest in der Ackerfurche hingefahren ist. –

»Sehen Sie nur, wie hübsch das Ding daliegt«, brummte Doktor Eberhard Hanff. »Es gibt in dieser Hinsicht dem Fuchsbau auf der Vierlingswiese wenig nach. Und auch in anderer Beziehung nicht, nämlich, wie schon gesagt, was die Möglichkeiten des Gesundungsprozesses unseres braven Freundes anbetrifft. Es war Verständnis in seinem Willen, als er kurzab in seiner letzten lichten Minute nach der Hütte der Feh verlangte. Auch deshalb habe ich ihm mit Vergnügen diesen seinen Willen getan. Sehen Sie, ich habe ihm auch noch ein paar Fensterscheiben eingeschlagen, für angenehmste Undichtigkeit der Wände garantierte die Gemeinde schon seit Jahren. Im bestgelüfteten Krankensalon kann's niemand besser haben; und was die zärtliche Familiensorge angeht, na gucken Sie, da sitzt Fräulein Dorette in ziemlicher Ruhe mit ihrem Strickzeuge auf der Türbank. Kein übel Anzeichen für einen alten Praktikus, der noch dazu seit langen Jahren die Ehre hat, die liebe alte Dame zu seinen intimen Freundinnen zu zählen. Auch eine von den Kolleginnen, Fräulein Hahnemeyer, wie sie sich unsereiner mit seinen sämtlichen Barbier- und Geburtshelferdiplomen in schönster Ordnung und all seiner Anwartschaft auf ein künftiges, unausbleibliches Sanitätsratpatent gar nicht besser wünschen kann. Guten Abend, Fräulein Kristeller. Nun, wie steht's da hinter Ihnen? Ja, wundern Sie sich nur, ich bringe Ihnen Gesellschaft, die beste Gesellschaft der Welt.«

Einigermaßen verwundert schob das alte Jüngferchen auf der Bank vor dem Dorfspittel die Brille auf die Stirn und legte das Strickzeug im Schoße zusammen beim Näherkommen der beiden und beim Erkennen des jungen Mädchens mit seinem Bündel Wäsche im weißen Tuch.

Beinahe zehn Jahre war sie älter geworden, seit ihres Bruders Freund aus dem Säkulum wieder vorsprach. Gerader war sie nicht gewachsen während der Zeit; aber ihre klugen, verständigen Augen hatte sie trotz der Brille, die sie jetzt trug, behalten. An denen hatte die Zeit nichts zum Schlechtem verändern können; sie blickten vielleicht nur noch etwas forschender, suchender aus dem schmächtigen Gesicht, aus den dunkeln Vertiefungen zu beiden Seiten der scharfen, klugen Nase, in die tückische, zu allem fähige Welt hinein. Auch der brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista hätte das Fräulein auf der Stelle wiedererkennen müssen, wenn er auch diesmal mit dem Doktor Hanff gekommen wäre.

Wie sie sich erhob von ihrem Sitz und dem alten Hausfreund Hanff und seiner Begleiterin entgegentrat, war das derselbe Schritt wie der, mit welchem sie einst in der Apotheke »Zum wilden Mann« überall war. Und die Stimme, mit welcher sie den Gruß des Doktors erwiderte, war auch noch die nämliche.

Sie hatte sich ausgezeichnet gut gehalten – Fräulein Dorette Kristeller aus der bankerotten Apotheke »Zum wilden Mann«! ...

»Aber, Kind? Phöbe?!« rief sie erst; und dann, sich an den Landphysikus wendend, sagte sie: »Ganz ruhig und gelassen den Umständen nach. Ich höre ihn von hier aus ebensogut als wie bei ihm da drinnen; und es sitzt sich hier draußen doch ein bißchen besser mit der Natur um sich her und dem Blick ins Freie. Sie haben doch nichts dagegen einzuwenden, Doktor?«

»Nicht das geringste«, brummte Doktor Hanff. »Da könnte ich meinesteils Sie doch viel eher fragen, Fräulein Dorette, ob Sie nichts gegen mich und mein Eingreifen in Ihre Praxis einzuwenden hätten? Vor allen Dingen aber, was sagen Sie hierzu?«

Er deutete bei den letzten Worten auf seine Begleiterin.

»Lieber Gott, Hanff, erst müssen Sie mir doch sagen, was das zu bedeuten hat. Sie wollen doch nicht gar das liebe Fräulein mir und meines seligen Bruders altem Friedrich hier zur Hülfe geben?«

»Ich sicherlich nicht!« rief der Doktor. »Es wäre mir im Gegenteil äußerst angenehm, wenn Sie das Kind noch bewegen könnten, Vernunft anzunehmen. Ich habe sogar meine letzte Hoffnung in dieser Hinsicht auf Sie gesetzt, Fräulein Kristeller. Reden Sie nur tüchtig auf sie drein! Da, setzen Sie sich wenigstens noch einen Moment hier auf die Bank zu Fräulein Dorette, Fräulein Phöbe, während ich mir unsern interessanten Patienten da drinnen noch mal ansehe. Lassen Sie sich genau berichten, Fräulein Kristeller, was die liebe Seele aus den Bergen zu uns herunterbringt, was sie hier will und was sie für recht hält! Sprechen Sie Vernunft, Vernunft – Vernunft zu ihr, Fräulein Dorothea Kristeller aus der Apotheke ›Zum wilden Mann‹. Rufen Sie sofort, wenn Sie die Kleine so weit haben, daß sie sich von mir wieder nach Hause zurückbegleiten läßt. Ist Freund Fritze da drin bei unserm Mann?«

»Nein; er ist mit dem Korbe ins Bad hinauf.«

»Auch gut«, rief Doktor Hanff. »Legen Sie Ihr Bündel ab, Phöbe; setzen Sie sich nur noch einen Augenblick da zu Fräulein Kristeller auf die Bank, schütten Sie Ihr Herz aus und hören Sie Vernunft, Vernunft – Vernunft!«

Er trat in das Haus, und die hinterbliebene alte Schwester des alten Philipp Kristeller, Fräulein Dorette Kristeller aus der Apotheke »Zum wilden Mann«, faßte die junge Schwester aus Schmerzhausen in die Arme und rief:

»Kind, Kind, was ist denn das? Was soll dies bedeuten? Du mußt mir freilich ganz genau erzählen, was dieses zu bedeuten hat!«

»O wie gut ist dies!« schluchzte Phöbe Hahnemeyer. »Er hat mir nicht gesagt, der Herr Doktor, daß ich Sie hier finden würde; er hat wohl nicht daran gedacht, welchen Trost er mir geben konnte. Aber Gott der Herr hat immer Mitleid mit uns in unserer Angst und waltet in Barmherzigkeit. O nun bin ich so ruhig, und ich will Ihnen gewiß alles ganz genau sagen, und Sie werden nicht schelten und den unruhigen Gast wieder nach Hause schicken!«


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