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Sechszehntes Kapitel

Es war ziemlich spät in den Abend hinein, als Valerie wieder bei den – Ihrigen anlangte. Noch einmal hielt sie in der lauen, doch frischen und wohligen Luft der Höhen, in der tiefen Dunkelheit unter den Tannen des letzten Bergabhanges ihr Tier an auf dem Reitpfade, leise fröstelnd sich zusammenziehend vor dem schon bis hierher aufwärts hallenden Lärm des Tals. Auch die Lichter aus den hohen Fenstern der Säle, die Lichter von den Villen und Ortshäusern leuchteten bis hierher zu ihr auf. Bunte Lampen glänzten aus den Gartenanlagen und Baumgängen, und rote, grüne und blaue phantastische Feuerwerkskünste erhellten hie und da auf kurze Augenblicke einen Fleck in der Finsternis. Die große Fontäne trieb fort und fort ihre weiße Säule empor, hoch über die Baumwipfel vor dem Kurhause, und ihr Rauschen war ebenso deutlich zu vernehmen wie die Töne der musikalischen Abendunterhaltung, zu der man »Fräulein Tochter sicher zurückerwarten durfte«, wie Papa am Morgen aus »sicherster Quelle« erfahren hatte.

Das müde Tier unter der Reiterin rührte sich kaum; auch Valerie saß jetzt regungslos im Sattel, den Ellbogen auf dem Knie, das Kinn mit der Hand stützend.

»Suche dich zu besinnen!« murmelte sie. »Wie sie das sagte da oben in ihrer Stille und Herzensruhe – in ihrer harten Sicherheit! Und ich soll zu ihm nicht weiter reden darüber, wie wir über ihn verhandelten?! Das ist nun ihre Meinung und Kenntnis von uns armem Volke! Uns hastigen Schwätzern und nervösen Lärmmachern?! Wie sie jetzt im Frieden ihres Gottes sitzen und lächeln wird, nachdem sie sich mit Ruhe ausgeweint hat – wie sie in dem Herrn Mitleid haben wird mit der Welt Fratzen und Aufbegehren – mit der eifersüchtigen, neidischen, scheelsüchtigen Törin – mit dem Kinde, das nach der Tischecke schlug – mit mir! Besinnung, Besinnung! Wie ich sie hasse für den Ton, mit dem sie das Wort aussprach! Ja, was für ein Gesicht er wohl machen würde, wenn ich in einer halben Stunde Besinnung genug wiedergewonnen haben werde, ihm unter den anderen die Sottise dieses Tages mit Lachen vor die Füße zu schieben? ... Avanti, Beppo!«

Der Eselstoffel verstand das Wort trotz der Verwechselung seiner Persönlichkeit mit der eines Führers auf südlicheren Bergpfaden sofort.

»Na, denn weiter, Murjahn«, brummte er, in seinem dicken Kopfe überlegend, daß er noch nie ein so kurioses Frauenzimmer wie dieses so einen Tag über, so über Stock und Stein, durch Wald und Bruch, durch dick und dünn habe vor Schaden bewahren müssen – zugleich das Trinkgeld nach der Kuriosität und seinem Verdienst wie nach der Geduld seines Tieres abmessend und berechnend. »Verrückt sind sie meistens alle«, brummte der Eselstoffel, seinerseits die Albernheit dieses Tages in seiner verständigen Seele erwägend, »aber dies war doch die Tollste, die jemalen dem Murjahn und mir aufgesessen ist. Lacht sie oder weint sie, ist sie lustig oder wütend und giftig, will sie einen Taler herausholen oder euch mit der Gerte zwischen die Ohren oder um den Buckel hauen, das kriege einer raus. Hört sie auf das hin, was du ihr über Ortsangelegenheiten berichtest, oder tut sie ihre dummen Fragen nur, um dich zum besten zu haben, – der Teufel werde klug daraus. Ja, so sind sie, diese Vornehmen! Unklug sind sie alle, und bringen die einen es hier schon mit her, so werden die andern es hier von unserer gesunden Luft und berühmtem Wasser, und wenn diesejenige es nicht schon lange in ihrer Heimat gewesen ist, so ist sie's heute hier geworden. Mein Je, nur ihr Verkehr mit dem Fuchsbau im Schneebruch! Na, so soll sie mir aber nicht kommen wollen wie dem Räkel, dem sie nicht mal 'nen blutigen Groschen für seine Einladung zu seiner Köhlersuppe geboten hat. Mir soll sie schon ran für gute Führung und höfliche Unterhaltung. Mir soll sie schon den Geldbeutel ziehen, und nachher – adje, Fräulein, und schicken Sie mir bald eine andere von Ihrer Sorte! So, und da sind wir ja wohl wieder mal zu Hause, Murjahn. Dir kann's ja auch wohl egal sein, wer dir morgen aufhuckt, wenn sie's nur mit dem Gewicht nicht zu unmenschlich an sich haben.«

Sie hielten nun wieder auf dem Promenadenplatz an dem großen Springbrunnen, und der Knabe vom Berge mußte, seinem Grinsen im Schein der nächsten Laterne nach zu urteilen, doch einigen Grund haben, mit seinem Honorar in der Hand einen Luftsprung zu tun. Er bezwang sich jedoch, wünschte mit stoischer Verdrossenheit eine wohlzuschlafende Nacht und meinte in seiner menschen- und weltverständigen Seele:

»Nur nicht diesem Volke zeigen, wenn man mit ihm ausnahmsweise zufrieden sein kann. Nichts wird leichter zäher und hartnäckiger und kommt einem armen Menschen infamigter mit der verfluchten Badetaxe vom Bahnhof an bis auf die weiteste schöne Aussicht als wie diese abgefeimte Bande!« –

»Mein Gott, da ist sie ja!«

»Aber Kind, wo hast du wieder einmal gesteckt?«

»Gnädigste, wie können Sie dieses verantworten? Totale Sonnenfinsternis den ganzen Tag über. Allgemeines Trauern in Sack und Asche. Alles ein einziger Schrei nach Licht – unserm Licht, gnädigstes Fräulein!«

»Valerie, wo blieb unser Vertrag? Der Ritter ging umher mit deinem Handschuh am Helm; aber die Dame hatte ihn diesmal durchaus nicht nötig gehabt auf ihren Pfaden – wo bist du gewesen, Cousine?«

»Wo die Welt mit Brettern vernagelt war, lieber Vetter. Selbst du würdest mir wahrscheinlich dort nicht hindurch- und weitergeholfen haben. Was ein harter Kopf vor solcher Wand auszurichten vermag, habe ich selber versucht, und ohne den geringsten Erfolg. Hast dich aber mit der Rose da in deinem Knopfloch wohl rasch getröstet, mein Tapferer. Alice wird den Busch wohl kennen, von welchem sie gerupft worden ist. Nun aber, Kinder, liebe Leute, bester Papa, ja, ich bin abwesend gewesen im Körper und vielleicht auch ein wenig im Geiste, und nun bin ich wieder da, wieder unter euch und freue mich, euch alle so vergnüglich wiederzusehen, wiederzufinden. Natürlich nichts von Bedeutung vorgefallen während meiner – Abwesenheit, absence – demence?! Onkel Anton, du bist ein Bibelkundiger; – was bedeutet: ›Und er macht sie irre auf einem Unwege, da kein Weg ist!?‹ Das Wort soll im Buche Hiob stehen und ist mir heute dort oben in der Wildnis zitiert worden; aber ich frage dich wirklich besser danach, wenn wir zwei einmal miteinander allein sein werden. Also, ihr andern, nichts Neues unter uns Verständigen?«

»Neues? Vollkommene Öde, Wüste, Leere um uns her. Sämtliche Fähigkeit, auf das Chaos, die Welt Achtung zu geben, erloschen mit der Verfinsterung der Sonne – unserer Sonne! O Fräulein Valerie, wie konnten Sie so sein? Einer aus unserm Kreise scheint unserm allgemeinen Schicksale ganz speziell gänzlich zum Opfer gefallen zu sein. Nun, Doktor, wie geht es Ihrem Patienten?«

Doktor Hanff, der soeben auf der Terrasse vor dem Kurhause in den Lichtschein, den Geigen- und Flötenklang der musikalischen Soiree und in die Unterhaltung eingetreten war, machte ein Gesicht, welches diesmal nicht völlig zu der Heiterkeit des Kreises paßte. Er zog auch die Schultern ein wenig in die Höhe, als er sagte:

»Ich darf leider den Herrschaften nicht verhehlen, daß mir der Zustand des verehrten Herrn einige Sorge macht. Nun, die erste Diagnose kann ja aber nicht maßgebend sein für den Verlauf der Sache. Wir werden eben morgen weiter sehen müssen. Das Fieber ist freilich ziemlich hochgradig. Nun, wie gesagt, ich bitte Exzellenz, den Zufall wenigstens nicht sofort von der bedenklichsten Seite anzusehen.«

Das Auge Valeriens flog mit dunkler, angsthafter Glut im Kreise ihrer Freunde, Verwandten und Reisegefährten umher.

»Ist jemand erkrankt?« fragte sie leise, scheu, mit stockendem Atem.

»Leider, wie es scheint, dein besonderer persönlicher Gönner und Günstling, Baron Bielow, Kind«, antwortete der Papa. »Der Doktor spricht von möglichen gastrischen Komplikationen; ich lese da wie immer in solchen Fällen nicht ohne einige Unruhe zwischen den Zeilen. Recht unangenehm! Sowohl für den Betroffenen selbst wie auch für seine nächste Umgebung, unter obwaltenden Umständen also auch für uns in seiner Nachbarschaft, unter einem Dache mit ihm.«

»Kenne die Symptome noch ziemlich genau von Versailles her, meine Gnädige«, murrte verdrießlich einer der älteren militärischen Begleiter. »Keine Idee von Sonnenstich, wie Komtesse Alice meinten; – Typhus ganz einfach. Was hatte auch der extravagante Mensch, wie das so allmählich in die Tagesordnung durchsickerte, überall herumzukriechen, um das in die Gesellschaft einzuschleppen? Exzellenz haben ganz recht – im hohen Grade peinlich diese Geschichte! Nicht so, Doktor?«

Doktor Hanff zuckte von neuem die Achseln; aber Fräulein Valerie, deren Augen während dieser Unterhaltung von einem Gesichte zu dem andern im Kreise ihrer Gefährten umgewandert waren, schien die Betäubung wie in einem Krampf von sich zu schütteln. Sie trat auf den Arzt zu, faßte seinen Arm und flüsterte ihm zu:

»Kommen Sie – reden Sie zu mir!«

Sie zog ihn einige Schritte abseits. Im Schatten des nächsten Baumes fühlte er ihren Atem heiß an seinem Gesicht:

»Was wurde da erzählt? Ich bitte, verzeihen Sie mir – ich bin den ganzen Tag im Freien gewesen, in der Sonne – dieser Lärm betäubt und verwirrt mich vollkommen. Wovon war da eben die Rede? Wonach fragte man Sie, und was wußten Sie diesen Leuten zu sagen? ... Was ist das mit dem Mann? Doktor, ich weiß es ja auch schon, wo dieser unbedachtsame Mensch während der letzten Tage herumgekrochen ist, und ich habe heute im Walde mit der Familie Fuchs zu Mittag gegessen, und ich war da oben auf der Vierlingswiese und im Pfarrhause beim Pastor Prudens Hahnemeyer. Ich hielt den Lauf der Stunden hier unten nicht länger aus. Ich habe mir von Ihrer kleinen Begine aus Schmerzhausen ihren Friedhof und das Grab der Feh zeigen lassen. Nicht wahr, auch äußerst extravagant und absurd? Was ist mit dem Professor Bielow, Doktor Hanff?«

»Wenn mich nicht alle Erfahrung meiner Praxis täuscht und Sie nicht getäuscht sein wollen, gnädiges Fräulein, – das, was in der Familie Fuchs auf der Vierlingswiese seinen Willen gehabt hat! Das, weswegen Gemeinde und Vorsteher im Dorfe dort oben und ich von hier aus den Räkel und die Feh samt ihren Jungen aus dem Orte in den Wald schafften – das beste für alle Parteien, was sich tun ließ! Unser armer, braver, unvorsichtiger Herr hat sich meines Erachtens den Typhus – den richtigen Fleckentyphus – exanthematicus – aus der schlechtesten Gesellschaft in die beste mitgenommen. So ein alter Landphysikus weiß auch als ziemlich neugebackener Badearzt bald, mit wem er es zu tun hat, und so sage ich Ihnen, liebes Kind, das jetzt schon offen heraus, was die übrigen hochverehrten Herrschaften leider demnächst auch werden erfahren müssen. Wie Exzellenz und der Herr Major ganz richtig bemerkten – höchst peinlich, recht unangenehm für die Saison!«

»Ich danke Ihnen, Doktor«, sagte Valerie. »Lassen Sie uns gute Freunde bleiben; das heißt, zählen Sie mich auch während unseres fernern Verkehrs hier am Orte zu den Menschenkindern, die nicht als Unmündige zu behandeln sind.«

Sie gab, ehe sie zu der Gesellschaft zurücktrat, unserm wackern Freunde Hanff die Hand, und er benutzte selbstverständlich die Gelegenheit, ihr den Puls zu fühlen. Dann ihr aus dem Schatten des Gebüsches in das Lampen- und Laternenlicht der Terrasse nachsehend, brummte er:

»Ziemlich normal! Wirklich ein prächtiges Mädchen! Hm, und da oben ist sie gewesen bei meiner lieben Phöbe und unserem im Herrn verdrossenen Knecht Gottes, Pastor Prudens Hahnemeyer? Mit dem Räkel und seinen Jungen hat sie am Waldfeuer aus einem Napf gegessen? Die Vierlingswiese hat sie sich angeguckt und das Grab der Feh? Da addiere dir nun mal allerlei zusammen, Bruder Hanff! Nun, jedenfalls wird sie bei ihrer Bluttemperatur das Ihrige tun, den Schrecken des alten Pan uns solange als möglich hier von Daphnis und Chloe, Amynt und Solimene fern- und die Herde beisammenzuhalten.«

Das Konzert war beendet, die Symphonie Beethovens verklungen, und von den glänzend hellen Sälen her erscholl jetzt wieder die Aufforderung zum Tanz lustig und laut. Die junge Dame, durch das Gewühl schreitend, hörte den Räkel am Feuer unter den Windfallhölzern vom Leben und Sterben auf der Vierlingswiese erzählen; sie sah Phöbe auf ihrem Eigentum in der Abendsonne stehen. »Suche dich zu besinnen!« hatte sie gesagt. Und zur Rechten und Linken Begrüßungen, freundlichem Wort und Scherz sich neigend, suchte Valerie aus ihrer Verwirrung es heraus zu denken, ob und wie auch ihr Bild wohl auf dem Lärm dieser Menschen und dieser Hörner, Pauken und Trompeten in die Fieberträume des erkrankten Freundes in dem großen, unruhvollen Gasthause nebenan hineingetragen werde!


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