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Viertes Kapitel

Nun war die Sonne auch für den höchsten Gipfel des Gebirges hinter dem Horizont versunken. Wenn auch die Höhen fürs erste noch nichts von der kommenden Nacht zu wissen schienen, klomm aus den tiefsten Tälern die Dämmerung doch schon leise aufwärts.

»Welch ein schöner Abend!« sagten alle, die Zeit und Stimmung hatten, um darauf zu achten.

Es hatten aber nicht alle Stimmung und Muße dazu.

Nun erreichte der Touristenzug von vorhin eben verdrießlich, stumm, voll unbestimmten Unbehagens, abgemattet und in der Erwartung heißer Zimmer nach dem Hofe hinaus, teuerer Rechnungen und allzu beschäftigter Kellner und Stubenmädchen drunten im Bad das Hotel »Zu den drei silbernen Hechten«. Und in der Rasen- und Borkenhütte unter den Tannen auf der Vierilingswiese lag die Leiche der »Feh«; die Kinder ließen wieder ihre Füße in den Bach hängen, und der »Räkel« lag im Grase vor dem »Bau«, an einem ausgerissenen Farnkrautstengel kauend und von unten auf bösartig wild und dazu wie in einem stumpfsinnig-trotzigen Triumph auf seinen jetzigen Besuch blickend. Nämlich von ferne stand scheu und neugierig in einen Haufen gedrängt alles aus dem Dorf, was hatte abkommen können und sich hinausgetraut hatte auf die Vierlingswiese. Und einige Schritte von dem Mann im Grase stieß der Ortsvorsteher die eiserne Zwinge seines Stockes in den Boden und brummte:

»Verfluchtes Pack!«

Laut rief er:

»Du willst also nicht Vernunft annehmen und auf gütiges Zureden hören, Fuchs?«

»Nein«, lachte rauh und kurz der Ausgestoßene der Gemeinde, sich bequemlicher auf dem Ellbogen zurechtrückend und dem Dorfgewaltigen höhnischer ins Gesicht starrend.

»So wird man vom Amte aus mit dir reden müssen und Polizei brauchen, wo man mit der Güte nicht ausreicht. Wir werden dir morgen schon zeigen, was christliche Sitte und Recht ist, Volkmar.«

»Das ist der Name, auf den ich christlich getauft bin – Volkmar Fuchs, 's ist freilich ein Wunder, daß ich ihn vor euch Halunken im Gedächtnis behalten habe. Das gefiele euch nun wohl, jetzt auf einmal wieder bloß mit dem Fuchs, dem Volkmar, und seinem toten Weibe zu tun zu haben? ... Schert euch zum Teufel! Mit dem Räkel und seiner verendeten Feh habt ihr zu schaffen! Jetzt packt euch auf der Stelle, ihr alle, und du vor allen, du Dorflumpenpräsidente, oder ich reibe euch der Feh Totenstroh unter ihrem Leibe weg in die Freßgesichter, daß der ganze Wald auf Stunden Weges von dem eurigen unter den Tannen nächstens voll liegen soll. Ja, Leichenstroh! Das wäre mir schon ein Gaudium, eure Äser auch darauf hinzuliefern.«

Er war aufgesprungen, und vor seiner unheimlichen Drohung war der Haufe der Dorfbewohner, Männer, Weiber und Kinder durcheinander, mit hellem Angstruf sofort auseinandergestoben und von der Vierlingswiese geflüchtet. Aber auch der Vorsteher, seinen Stock zur Abwehr vorstreckend und zum Schlage hochhebend, zog sich rückwärts schreitend aus dem Bereiche des Wütenden und von seiner trostlosen Behausung zurück, indem er dabei murmelte:

»Na, das ist eine schöne Bescherung! Klein bei gibt er nicht; na, das ist eine Geschichte! Und für lange Schreiberei ist bei dieser Affäre nicht mal Zeit. Nu, da ist es ja noch ein Glück, daß zuerst doch auch noch der Pastor mit heran muß. Mit dem werde ich jetzt wohl reden müssen, obgleich das auch grade kein Vergnügen ist.«

Um diese Zeit war es, wo Veit Bielow und Pastor Hahnemeyer in dem Studierzimmer des letztern am Fenster standen und hinaussahen über die Berge und Wälder. Das wenig umfangreiche Gemach war, wie das übrige Haus, in der notdürftigsten Weise ausgestattet. Seit Jahren hatte die arme Berggemeinde sowenig als möglich an die Erhaltung ihres Pfarrhauses gewendet und an die Verschönerung desselben gar nichts. So waren Decken und Wände der Stuben und Kammern nur schlecht getüncht und der Kalk hie und da längst wieder abgebröckelt. Überall trat das Fachwerk wieder zutage; Tapeten gab es kaum noch, der Gipsfußboden war meistens zerrissen und zersprungen und um die Öfen herum zu Höhlungen ausgetreten; und die verwitterten Fenster mit ihren trüben, kleinen, schlecht in Blei gefaßten Scheiben ließen sich nur schwer öffnen und dann wieder nur mit gleich großer Mühe schließen. Was freilich der Pastor und seine Schwester an Hausrat mitgebracht hatten, das paßte ganz zu diesem allen und gab sich nirgends die geringste Mühe, Unwohnlichkeit, Armut und Vernachlässigung zu verdecken und auszugleichen.

Aber der Gast hatte doch das eine Fenster in der Stube seines Jugendfreundes mit wunden Fingern offen bekommen, und der Blick daraus in die Nähe und Ferne entschädigte für vieles.

Man erfuhr hier erst zu voller Gewißheit, wie hoch eigentlich das Dorf gelegen sei.

Obstbäume gediehen kaum noch. Die wenigen Ackerfelder der Gemeinde waren nur dürftig mit kümmerlichen Halmen bedeckt; aber über die Eschenwipfel unter diesem Arbeitszimmer Prudens Hahnemeyers hinweg übersah man meilenweit die Tannenberge und – darüber hinaus bis in die blaueste, abendduftige Ferne die norddeutsche Ebene: Dörfer, Städte, Flüsse und fruchtbares Land mehr oder weniger deutlich, so daß ein feineres Gefühl für Erdenschönheit sofort mit Rührung und Freude sich diesen Auslug in jeglicher Jahreszeit, bei jeglicher Beleuchtung und in jeglicher Lebensstimmung als einen Trost, eine Beruhigung denken konnte.

»Du hast deinem Arbeitstisch eigentlich nicht die richtige Stelle gegeben, Freund«, sagte Veit, sich von der schönen Aussicht an den müden, wortkargen, teilnahmlosen Mann neben ihm wendend. »Du solltest über deinen Büchern und Predigtmanuskripten dieses immer im Auge behalten können. Ich stelle mir das auch zum Advent in dem rechten Lichte als sehr geeignet vor, um dabei für Gedanken, Wort und Schrift den rechten Ausdruck zu finden.«

»Zur Adventszeit pflegt es sehr kalt hier oben zu sein, und die Hauswand ist dünn. Mich friert leicht, und dazu sagt mir die Aussicht wenig. Wollte ich mich mit ihr unterhalten, so würde sie mich doch auch nur von dem abziehen, was mehr not tut. Ich habe mit dem Menschen zu schaffen, nicht mit seinem Haus, seinem Acker und seinen Wiesen.«

Es schien eine rasche Antwort dem Gastfreund auf der Zunge zu liegen. Er bezwang sich jedoch, behielt sie lieber bei sich und meinte nur gutmütig lächelnd:

»Du trennst das voneinander? Doktor Martin Luther würde dich da wohl ein wenig am Ohrläppchen nehmen, mein Bester. Der redet von Acker, Haus und Hof, Kleid und Schuh und allem, was in der Hinsicht zum Menschen gehört, von allem, was sein ist, mit dem möglichsten Respekt, faßt ihn sogar mit unzweifelhafter Vorliebe dabei und hält ihn sogar dadurch im Wackern und Rechten. Er soll ja auch sonst, das heißt in eigenen Angelegenheiten, für sich, die Frau und die Kinder ein recht guter Ökonom, Hausvater, Landwirt und Grund- und Bodenbesitzer gewesen sein. Er würde als hiesiger Leutprediger seinen Schreibtisch doch wenigstens im Sommer mehr ans Fenster gerückt haben. Auf der Wartburg hat er wohl über die Septuaginta gern ins Weite und Sonnige des Frühlings eintausendfünfhundertundeinundzwanzig und nachher in den Herbstnebel und in den Schnee des Jahres gesehen, vorzüglich nach einer seiner heißen Kampfesnächte mit –«

»Der Herr führt seine Diener auf verschiedenen Wegen an seiner Hand. Mir hat er gegeben, vieles mit geschlossenen Augen zu tun.«

»Wohl jedem von uns – mir auch, zum Beispiel!« sagte der Gastfreund nun doch mit einigem Nachdruck. Doch mit demselben heitern Sichfinden in Ort und Zustände des Momentes fügte er sogleich hinzu: »Deine Fräulein Schwester wird aber in der Laube vielleicht auf uns warten, und ich gestehe dir offen, daß ich dir auch diesmal wieder den alten Appetit von Halle in deine jetzige Klausur und Asketik mitgebracht habe.«

»Meine Schwester geduldet sich schon; du aber wirst dir auch heute genügen lassen müssen an dem, was ich dir zu bieten habe. Es ist ja auch so dein Wille gewesen.«

»Natürlich«, brummte der Mann von der benachbarten Touristenstraße und manchem weniger betretenen Seitenwege nicht bloß in Europa. –

Sie fanden drunten in der Laube ein grobes Tischtuch ausgebreitet und ein Mahl, von dem weiter nicht die Rede sein wird, da sich im Grunde niemand viel um es kümmerte, und der Gast mit »dem riesenhaften Appetit« vielleicht am wenigsten, je mehr er demselben in voller Wahrheit alle Ehre antat. Es war aber ein Glück, daß sie damit zu Ende waren, ehe der Vorsteher mit seinem Bericht von der Vierlingswiese kam und »soviel als möglich von dieser Mordsgeschichte auf seinen Pastor ablud«.

Sie saßen in der tiefen Dämmerung am Tisch einander gegenüber, Bruder und Schwester auf der einen Bank, der Gastfreund auf der andern, als der Vorsteher sich mit den Armen über die kleine Gittertür legte und es ablehnte, einzutreten und Platz zu nehmen, da er »für sein Teil das Ding kurz, gut oder schlimm, abzutun wünsche und dem Herrn Pastor gern das Weitere überlassen werde«.

»Nämlich, Herr Pastor, dieser Kerl, der Räkel, der Fuchs steift sich nun auf unser Verhalten von Gemeinde und Doktors wegen gegen ihn und seine Brut. Er will nun die Feh – entschuldigen Sie, Fräulein, Sie wissen ja, daß wir da immer die Frau, seine Frau meinen – nicht hergeben zu einem christlichen Begräbnis. Wir hätten sie im Leben nicht unter uns gewollt, brüllt der Vagabunde, so brauchten wir uns auch im Tode nicht um sie zu kümmern. Er werde jetzt alles, was sich noch für sein Weib gehöre, schon selber besorgen, und zwar besser als Schulz, Pfaff, Küster, Kantor und Totengräber. Er, der Räkel, und seine Brut brauchten ja wirklich nur allein zu wissen, wo im Walde ihre Feh verscharrt liege. Herr Pastor, mit Vernunft und Anstand ist nicht mit ihm zu reden. Er hat gedroht, auf der Vierlingswiese uns das Totenstroh unter der Leiche weg ins Gesicht zu reiben, und der Bösewicht ist imstande, es uns in der Nacht in die Häuser zu tragen und das ganze Dorf mit dem Gifte anzustecken. Der Gemeinderat hat selbstverständlich Reißaus genommen von der Wiese; ich aber bin langsam nach Hause gegangen und habe mir der Vorsicht wegen erst die Hände unter den Brunnen gehalten, und nun bin ich hier und frage Sie, Herr Pastor: was tun wir jetzt? Sollen wir es morgen sofort auf die Gewalt von Amts wegen ankommen lassen, oder wollen Sie noch einmal ein Wort in der Güte mit Fuchs versuchen? Eine ganz verfluchte Sache ist es, und der Klügste sollte da nicht ein und aus wissen gegen dieses Tier von Menschen, das sich da auf sein Gift und seine Wut stellt und sich in seinem Rechte dünkt, nicht bloß gegen das Dorf, sondern die ganze Menschheit und unsern Herrgott im Himmel auch!«

Die am Tisch in der Fliederlaube hatten alle mit angehaltenem Atem diesem halb grimmigen, halb kläglichen Erguß bäuerlicher Ratlosigkeit zugehört. Phöbe hatte bewegungslos die Hände vor sich auf dem Tischrande gefaltet; Professor von Bielow war an den Zaun und die Gittertür getreten, um dem Vorsteher, seiner Erzählung und seinem Dialekt so nahe als möglich zu sein. Der Pfarrer erhob sich aus völliger Regungslosigkeit erst, als der Mann zu Ende war.

»Ich werde nachher zu dem Volkmar gehen und mit ihm in der rechten Weise sprechen«, sagte er, unzweifelhaft seinerseits Zorn und Ratlosigkeit mit Mühe niederkämpfend.

»So habe ich ja denn wohl das Meinige jetzo besorgt und zum mindesten ein Teil von diesem Fuder Überdruß vor der richtigen Tür abgeladen«, meinte der Ortsvorsteher. »Nun, da sehen Sie denn nach Ihrem bessern Verständnis zu, Herr, was Sie mit diesem Vieh auf der Vierlingswiese auszurichten vermögen. Morgen in der Frühe darf ich ja wohl wieder nachfragen; denn Eile hat die Sache, vorzüglich bei dieser Sommerwärme, und immer noch viel zu nahe am Dorfe, wie der Herr Kreisphysikus behauptete. Wäre der öffentliche Anstand und die Religion nicht, vielleicht wäre es wirklich das beste, man ließe dem Räkel seinen Willen und legte nachher Feuer an den ganzen Bau. Na, bis morgen früh denn angenehm wohlzuschlafende Nacht, Herrschaften!«


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