Wilhelm Raabe
Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten
Wilhelm Raabe

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Erstes Kapitel

Wann und unter welchen Umständen der Meister Kunemund den Ausspruch tat, weiß ich nicht mehr; aber daß er ihn tat, weiß ich.

Er sagte nämlich:

»Ich verstehe die Welt wohl noch, aber sie versteht mich nicht mehr, und so werden wir wohl nie mehr so zusammenkommen, wie damals, als wir beide noch jünger waren. Na, mir ist's zuletzt einerlei; ja, Herr, es kitzelt einen sogar dann und wann, wenn man bei sich überlegt, daß man im Grunde der Jüngere von zweien geblieben ist. Laß sie alt werden, die Welt; was kümmert's mich!«

Nun sehe ich ihn doch wieder ganz genau vor mir, wie er dasaß und das Wort sagte. Es ist ganz richtig, er saß auf seiner Schnitzbank und fuchtelte mir mit seinem Schnitzmesser bedenklich vor der Nase herum, bedenklich, obgleich dieses Messer ein ganz guter, alter Bekannter von mir war. Es war ein berühmtes Messer und war aus fernster Volksurzeit von Hand zu Hand bis in die Hand des Meisters herabgelangt, und er wußte gerade so gut damit umzugehen, wie alle, die es vor ihm geführt und sich damit gewehrt hatten.

Mündliche Tradition, Schreiberkunst und Druckerkunst geben uns recht:

»Da ging der Junge vor den König und sprach: Wenn's erlaubt wäre, so wollte ich wohl drei Nächte in dem verwünschten Schloß wachen. Der König sah ihn an, und weil er ihm gefiel, sprach er: Du darfst dir noch dreierlei ausbitten, aber es müssen leblose Dinge sein, und darfst das mit ins Schloß nehmen. Da antwortete er: So bitt' ich um ein Feuer, eine Drehbank und eine Schnitzbank mit dem Messer.«

Nun wissen wir alle, was für Ungetüm und Gespenstertum der Junge in den drei Nächten sich vom Leibe zu halten hatte, wie er mit den Katzen Karten spielte und wie ihm halbe Menschen durch den Schornstein herunterfielen, – halbe Menschen, zu denen er sich erst die andere Hälfte ausbitten mußte, ehe er imstande war, mit ihnen Kegel zu schieben. Wir haben manchmal, – manch liebes Mal unser Vergnügen an der Unbefangenheit des Jungen gehabt und vielleicht ihn auch dann und wann um sie beneidet: von diesem Jungen aber stammte der Meister Kunemund in gradester Linie ab und war insofern mit den berühmtesten Leuten im deutschen Volke verwandt, und nicht allein im deutschen Volke. –

Doch da hat mich das Anfangen sofort weit in die Mitte meines Berichtes hineingerissen, und das zeigt einmal von neuem, daß es immer ein gewagtes Unterfangen ist, große Herren und Damen, bedeutende Menschen, eigentümliche und selbständige Charaktere mit der Federspitze anzutupfen. Glücklicherweise aber gelingt es mir dieses Mal noch zur rechten Zeit, mich zu besinnen: ich hebe von neuem an, zu erzählen.

Wir kamen über ihn von Kneitlingen aus; jung und alt, Männlein und Weiblein, eine Auswahl und Auslese feiner, liebenswürdiger und gebildeter Gesellschaft deutscher Abstammung und Zunge – was die Abstammung anbetraf natürlich unter dem dazu gehörigen Vorbehalt. Wir kamen über ihn, Leute von guten Mitteln: junge Herren, die ihre drei Examina vollgültig bestanden hatten, zierliche Fräulein aus den höchsten Töchterschulen, gediegene und wohlgediehene Väter und Mütter, Onkel und Tanten. Wir kamen recht lebhaft und sehr heiter angeregt über ihn; denn wir machten von Schöppenstedt aus eine Vergnügungsfahrt in den Elmwald, hatten Schöppenstedt vermittelst der Eisenbahn erreicht und das berühmte Dorf Kneitlingen und den Wald vermittelst zweier Bauerwagen, auf denen mit Hülfe von Brettern und Strohbündeln eine genügende Anzahl zweckdienlicher Sitze für uns hergerichtet worden war.

Nun liegt hier vor mir ein anderes Dokument, und zwar in Folio: – Merians Topographia und Beschreibung der vornehmsten Städte, Schlösser, auch anderer Örter im Herzogtum Braunschweig und Lüneburg. Auf der Kupfertafel, welche den nicht unberühmten Platz und Ort Schöppenstedt darstellt, zieht sich im Hintergrunde gleichfalls natürlich der Elm hin, und über einigen Hausdächern, die am Rande des Waldes aus dem Gebüsch hervorragen, lesen wir die Legende:

Kneitlingen, allwo das fromme Kind Eulenspiegel geboren wurde.

Wir erreichten den Elm über Kneitlingen hinaus. –

Über Kneitlingen hinaus, linksab, unbestimmt tief in den Wald hineinwärts, da wohnte der Meister Kunemund, den die Welt nicht mehr so recht verstand, weil er ihr zu jung geblieben war. Da wohnte er ziemlich verborgen, das heißt er hatte sich einem Förster in die Kost und unter Dach getan; und da machte ich seine Bekanntschaft und er die meinige, was unter Umständen nicht sich von selber versteht, oder besser gesagt, nicht dasselbe ist.

Wir führten in mehreren Körben einen genügenden Vorrat von Lebensmitteln sowie auch eine erkleckliche Anzahl Flaschen mit allerlei Getränk mit uns und konnten also recht vergnügt sein. Unter der Leitung eines jungen Forstmannes im grünen Rock und mit einem papiernen Hemdkragen frühstückten wir mitten im Quincunx gepflanzten Musterforst, wie die bessern Stände auf ihren Ausflügen in die freie unverfälschte Natur zu frühstücken pflegen. Nachher spielte man, wiederum unter der Leitung des eben erwähnten jungen Forstmanns, Blindekuh und sonstige unschuldige Spiele, was sehr hübsch war, aber auch den Höhepunkt des Vergnügens bildete; denn im Grunde mißlang jeder spätere Versuch, sich noch höher und tiefer in das volle Naturbehagen hinauf- und hineinzuschrauben, vollständig. Daß ein jeglicher in der Gesellschaft die Schuld an der von Viertelstunde zu Viertelstunde mehr einreißenden Langeweile und Verdrießlichkeit nicht sich selber zumaß, war unter diesen Verhältnissen natürlich: das Gefühl, mit dem linken Fuße zuerst und noch dazu viel zu früh aus dem Bette gestiegen zu sein, wurde allgemein.

Der junge Grünling mit dem Papierkragen war der letzte, dessen Lebensgeister sanken; aber auch ihm sanken sie. Er fing an, uns eine frisch von der Forstakademie mitgebrachte wissenschaftliche Abhandlung über moderne Waldwirtschaft zu halten und setzte dadurch dem Vergnügen freilich die Krone auf.

Mit der Mißachtung selbst der jungen Damen beladen, verlor er sich für eine geraume Zeit in einer jungen Schonung und kam erst dann wieder zum Vorschein, als die Gesellschaft den Versuch, im Walde Mittagsruhe zu halten, durch Ameisen, Kopfweh, Waldspinnen und Gliederschmerzen gehindert, aufgegeben hatte. Der holde, wolkenlose Tag übte immer sonderbarere Wirkung auf die Teilnehmer und Teilnehmerinnen an dem Vergnügen. Begrabene, mehr oder weniger tief zugedeckte Feindschaften und Feindseligkeiten wühlten sich mit überraschender Schnelligkeit von neuem ans Licht. Wer etwas gegen seinen Nachbarn oder seine Nachbarin im Grase auf dem Herzen hatte, der fühlte einen unwiderstehlichen Kitzel, es von demselbigen los zu werden, und zwar auf die anzüglichste, unangenehmste Weise. Und da wieder wurden vorzüglich die Damen scharf, sowohl die jungen wie die ältern, sie pflückten füreinander kuriose Sträuße unter den Büschen, und es wurde die höchste Zeit, daß irgend jemand sich begütigend dreinlegte.

Dieser jemand war ich, und ich warf den Vorschlag in die allgemeine Verbitterung, alle Streitigkeiten für jetzt beiseite zu schieben und sie für die Heimfahrt, für das trauliche Beieinandersitzen auf den zwei Leiterwagen und im Eisenbahnwagen aufzusparen.

Da man mich nur von der Seite ansah, so erweiterte ich meinen Vorschlag dahin, daß man, um den Tag ganz auszunutzen, einem Försterhause, das ich eine halbe Stunde weiter in den Wald hineingelegen wußte, einen Besuch abstatten solle. Sauere Milch wirke kühlend und erfrischend, und der Tag sei noch sehr lang.

Nun sah man sich an, und der Vorschlag fand genügende Unterstützung.

»Tofote heißt der Förster dort,« sagte der junge Herr von Müller. »Es ist eine eigentümliche Wirtschaft dort. Bei der Forstbehörde ist der Kerl grade nicht zum besten angeschrieben, aber das braucht uns freilich nicht abzuhalten, ihm eine Visite zu machen. Die Idee ist gut, überfallen wir den Burschen! Wenn die Herrschaften erlauben, werde ich den Weg andeuten.«

Nun waren alle Lebensgeister auf einmal wieder wach, und wir im nächsten Augenblick auf dem Marsche durch den Elm zum Förster Arend Tofote. Die jungen Leute stimmten ein Waldlied von Eichendorff an, welches sehr hübsch und romantisch unter den hohen Buchenwölbungen klang; und wer uns nun wieder sah und hörte, der war verpflichtet, ohne Widerstand und Widerrede verpflichtet, uns für das zu nehmen, was wir schienen, nämlich waldfröhliche, hübsche, vergnügte Kinder der Natur, junge sowohl wie alte.

 


 


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