Wilhelm Raabe
Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten
Wilhelm Raabe

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Zehntes Kapitel.

Die Jahre sind hingegangen seit dem Tage. Nicht viele Jahre – fünf zum höchsten, kurz eine lange, lange Zeit. Ich habe das Meinige erlebt währenddem – die Welt roch einige Male recht brandig – Saturn entwickelte mehrmals einen gott- oder göttergesegneten Appetit: die Knochen seiner Kinder knackten und knirschten unter seinen Zähnen; es floß ihm rot an den Kinnladen herab; hier und da lief das Blut in den Straßengräben und Ackerfurchen: im Bunten eine buntfarbige Erinnerung mehr, das ist das einzige, was mir von jenen Stunden blieb, jenem Tage, an welchem Herr Kunemund mich abholte, seine kleine Freundin in ihre Erbschaft zu geleiten.

Es war ein Gebäude, wie es im achtzehnten Jahrhundert die Herren aus der Umgebung Serenissimi in großen und kleinen Residenzen in ihren Gärten versteckten, und wie es in so manchem Schau- und Trauerspiel, in so manchem Roman nicht nur des achtzehnten, sondern auch des neunzehnten Jahrhunderts sich aufbaut als Schauplatz von Liebe und von Kabale. Ein Häuschen, in welchem aber auch von Thümmel seine Wilhelmine hätte schreiben können, und in welchem der Verfasser der Reise in die mittägigen Provinzen von Frankreich sich auch unter dem, was Mynheer van Kunemund hinzugetan, gewiß nicht unbehaglich gefühlt haben würde. Die Stukkaturplafonds und die Schnörkelschnitzeleien an Tür und Pfosten hatten dem Geschmack des alten abenteuernden Heimtückers zugesagt, und er hatte das Seinige getan und alles verblichene Gold neu auffrischen lassen. Auch die Decken- und Wandmalereien hatte er zum größten Teil konserviert, und die bekannten Abgöttereien, Schäfereien, Jägereien und Fischereien ergötzten das Auge fast von jeder Richtung her. Aber Mynheer hatte auch ein Gusto für buntes Fensterglas mit in seinen lichten Schlupfwinkel gebracht und seine Gemächer in das bunteste Licht gekleidet. Und was er von seinen Weltfahrten an Wunderdingen mitgeschleppt hatte, das hatte er auf den Tischen und Schränken und die Wände entlang aufgehäuft und angehängt. Selbst die Fußböden hatte er durch ausländische farbenprächtige Teppiche und die Felle fremder Tiere nach Möglichkeit wunderlich ausgestattet; das Ganze überwältigte, selbst nur als Raritätensammlung betrachtet, beim ersten Durchschreiten der Räume vollständig.

Aber die Lebendigen waren doch das Merkwürdigste, – sie stehen mit jedem Worte, mit jedem Gestus fest in meiner Erinnerung – der Meister Autor, das schöne Waldfräulein und der Leichtmatrose und Pilgerführer Karl Schaake von der Hamburger Barke Kehrwieder.

Ich sehe den Bremer Mohren, Ceretto Wichselmeyer, eine Tür nach der andern vor der neuen Herrschaft öffnen; ich sehe das süße Kind immer größere und glänzendere Augen öffnen, aber ich sehe es auch von Schritt zu Schritt immer mutiger und mutwilliger werden. Ich sehe, wie sich Fräulein Gertrud Tofote lachend auf weiche Polster wirft, um sofort wieder aufzuspringen und über die orientalischen Decken, die Tigerfelle mit leichter Hand zu streichen; ich sehe sie mit bunten Schmuckkästchen in der Hand, mit einem javanischen Federfächel in der Hand, – ich sehe sie mit einem Korallenschmuck im Haar vor einem der vergoldeten Spiegel. Ja, ich sehe das Lächeln, mit welchem sie sich in den Spiegel des Hofmarschalls von Kalb oder des Oberschenks von Bock, und zwar auf den Teppichen Mynheer van Kunemunds stehend, beäugelt; und ich sehe auch den Meister Autor Kunemund, der hinter ihr hertritt, sich über ihr Entzücken freut und doch dann wieder auch stehen bleibt und kopfschüttelnd und traurig sie, unbemerkt von ihr, lange und fest ins Auge faßt.

Ich sehe dann den Meister Autor, wie er den Stock seines »kleinen Bruders« in einer Ecke findet und am Nagel den Hut des Seligen. Ich sehe, wie er vor diesen Stücken der Erbschaft lange mit dem schwarzen Zauberhüter der tausend Herrlichkeiten flüstert, um von neuem den Kopf zu schütteln. Ich belausche einen tiefen Seufzer des Alten, während aus dem Nebengemache, hinter dem schweren sammetbefranzten Türvorhang her, ein neuer, heller, lachender Jubelruf des jungen Mädchens erklingt; den jungen Seefahrer erblicke ich in diesem Momente nicht, aber ich finde ihn noch wieder – im Märchenhause Mynheers van Kunemund und in meiner Erinnerung. –

Wir haben allgemach das ganze Haus durchstöbert und kehren nun zurück durch den Wirrwarr der bunten Räume, um das lustig verzauberte Gartenschlößchen auch von außen zu umschreiten und den Garten einer neuen und eingehenderen Durchforschung zu unterwerfen. Und auf diesem Rückmarsche finde ich meinen jungen Salzwassermann in einem Winkel eines der vordern Gemächer, und zwar in mürrischer Betrachtung der Schlange unter den Blumen.

Er saß auf einem Eckpolstersitz und hatte von einem Hängebrett zur Seite den Gegenstand herabgeholt, der ihn so sehr bedenklich machte, daß er alles andere darüber vergaß.

Als ich an ihn herantrat und ihm die Hand auf die Schulter legte, fuhr er sogar zusammen und wurde sofort sehr rot, was ihm, beiläufig gesagt, gar nicht übel stand.

Was haben Sie denn da aufgegabelt, das Ihre Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch nimmt, lieber Freund?« fragte ich, und der Leichtmatrose erwiderte verlegen und womöglich noch röter werdend:

»O nichts!«

»Dem scheint doch nicht so zu sein. Bitte, lassen Sie doch einmal sehen, was Sie Gefährliches da hinter Ihrem Rücken verbergen.«

Und jetzt sprudelte und stotterte der junge Mensch heraus, was ruhig und lachend zu sagen er sich zu schämen schien:

»Ich weiß nicht, wie das hierher kommt, und ob der, welcher es hierher gebracht hat, gewußt hat, was es bei sich zu Hause bedeutet. Aber auf den Inseln der Banda- und der Harafura-See schafft ein Feind es dem andern verstohlen ins Haus oder aufs Schiff und geht nachher hin und reibt sich die Hände und wartet ruhig den Erfolg ab. Sie sagen und glauben fest daran, daß es Unglück bringe – daß Haus und Schiff zu Grunde gehen müsse wenn es nicht noch frühzeitig wieder hinausgeworfen werde. Es ist natürlich eine Narrheit; aber kein malayischer Seemann duldet es auf seinem Schiff, und ertappen sie einen, der es böswillig in der Hosentasche trägt, fliegt beides über Bord, der braungelbe Kerl wie das graugrüne Zauberding.«

»Das ist ja recht interessant! Aber was ist es denn? Zeigen Sie doch einmal, lieber Karl.«

Zögernd legte der Leichtmatrose einen dem äußern Anschein nach höchst unverfänglichen Gegenstand in meine Hand, nämlich einen schwärzlich-grünlichen Stein von eirunder Form und der Größe einer Weiberfaust. Bei näherer Betrachtung erwies sich jedoch, daß das Ding bezeichnet war und nicht ohne Kunst und Mühe zugerichtet, daß es also auch wohl für den Verfertiger seine Bedeutung haben mußte. Die eine Hälfte war mit einem Durcheinander wahrscheinlich sehr magischer und niederträchtiger Schriftzüge bedeckt; auf der andern Hälfte wies sich ein Gesicht eingegraben, und seltsamerweise hatte sich der Künstler augenscheinlich bemüht, so gut es ihm eben möglich war, jedwede Fratzenhaftigkeit davon fernzuhalten, und das war ihm auch so ziemlich gelungen. Es gab sicherlich häßlichere molukkische Frauen und Göttinnen, als diejenige gewesen sein mußte, die zu diesem Skulpturwerk Modell gesessen hatte.

Nachdem ich das magische Ei mit gebührender Aufmerksamkeit hin und her gewendet, es unter jeglichem Gesichtspunkt betrachtet und zuletzt sogar berochen hatte, gab ich es zurück und zuckte die Achseln.

»Sie nennen es den Stein der Abnahme und dulden es nicht,« sagte Karl Schaake.

»Der Stein der Abnahme?! Freilich ein sonderbares, bedeutungsvolles Wort! . . . der Stein der Abnahme!«

Ich nahm das Ding zum zweitenmal und betrachtete es noch einmal von allen Seiten, indem ich wiederholte:

»Der Stein der Abnahme!«

Den Schriftzügen vermochte ich nichts abzugewinnen, wohl aber allmählich dem Weibergesicht. Die Phantasie tut in allen diesen Stücken das Ihrige und tat das auch jetzt. Das kindische, unsichere Bild gewann ein tierisch-stupides Leben, und über alles einen Zug von unerbittlicher Grausamkeit und kahlem, nichtssagendem Hohn, der es mich auf der Stelle zum andernmal zurückgeben ließ:

»Sie dulden es nicht?«

»Unter keinen Umständen! Sie reißen selbst das Haus nieder, in welchem es gefunden wird.«

»Und Sie, lieber Freund, verspüren all Ihrem Europäertum zu Trotz ebenfalls nicht die mindeste Lust, dieses Es, diesen – Stein der Abnahme, hier – grade hier, in diesem Hause zu dulden? Es just Sie längst in allen Fingern, das Entsetzliche verstohlen in die Tasche zu schieben und es nachher in den Fluß zu werfen, da wo er Ihnen am tiefsten vorkommt? Nicht wahr?«

Der junge Mann nickte mit allem Nachdruck, den Blick nicht von mir abwendend.

»Nun, was hindert Sie denn, lieber Karl? Ich meine, wir können es vor dem Meister Autor, dem Bruder Mynheers van Kunemund, wie vor der niedlichen Erbin Mynheers – und vor letzterer am ersten verantworten. Sehen Sie, das Fenster steht weit genug geöffnet. Werfen Sie, und reinigen Sie das Haus von dem Unheil!«

So vieler Worte hatte es kaum bedurft. Beim ersten bereits war der Seefahrer aufgesprungen, und jetzt flog im weiten Bogen der Stein der Abnahme aus dem Fenster und klatschend mitten in das Bassin vor dem Hause.

»So – gottlob!« rief tief aufatmend Karl.

»So!« sagte ich lachend und habe späterhin Gelegenheit gefunden, mich dieses Lachens mehrfach zu erinnern. Fürs erste fanden wir uns noch einmal im Garten unter den Bienen, Blumen und Schmetterlingen zusammen und beredeten noch dieses und jenes, woran Gertrud Tofote, versunken in ein unruhiges Träumen, wenig Anteil nahm.

Dann fragte Herr Kunemund:

»Du wirst doch heute mit uns essen, Karl?« und Karl dankte zögernd und sagte:

»Ich habe der Muhme im Cyriaxhofe versprochen, heute bei ihr zu bleiben, und sie wird schon längst eine recht schöne Rede über mein Ausbleiben für mich in Bereitschaft haben.«

So nahmen wir Abschied. Wir, der Seefahrer und ich, ließen die Erbin im Besitz der Erbschaft Mynheers van Kunemund, und ein jeder ging seines eigenen Weges: ich den meinigen, wie gesagt, durch verschiedene Jahre. In diesen Jahren hatte ich das Meinige in Wohl und Wehe abzutun und konnte mich nicht immer mit dem, was andere Leute eigentlich allein anging, beschäftigen. Aber dessenungeachtet behielt ich diesen Tag mit allen seinen Figuren und Vorgängen in merkwürdiger Frische in der Erinnerung. Den Meister Autor hatte ich ja sogar, wie man das so nennt, liebgewonnen. Und wenn man sich gewöhnlich wenig mehr bei dem Wort denkt, als daß ein wohltuend warmes Behagen von der oder der Persönlichkeit für uns ausgeht, so trat hier doch noch etwas anderes hinzu: ich hatte nämlich den Meister auch da zu respektieren, wo sich mein ganzes, oft flüchtig genug im Tage lebendes Wesen gegen seine Natur und sein Treiben als gegen etwas ganz Gewöhnliches und Einfältiges, wenngleich ungemein Feststehendes sträubte.

Das Behagen behielt freilich stets die Oberhand. In mancher verdrießlichen Stunde schweifte meine Seele mit Wohlgefühl in des Alten Einsamkeit und sein sagenhaftes Leben hinüber; und in mancher unsichern Stunde habe ich ihn, den Meister Autor Kunemund, in der Einbildung um Rat gefragt, denselben jedesmal erhalten und wirklich dann und wann befolgt und zwar niemals zu meinem Schaden, wenngleich sehr häufig zur unmäßigen Verwunderung anderer Leute.

»Dem Mann geht es immer gut! Dem Mann kann es nie schlecht gehen!« dachte ich, und saß mit ihm in der Phantasie an der Schnitzbank und spielte mit dem tapfern, blanken Messer seines königlichen Ahnherrn. Und mit ihm sah ich seinen Wald im Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintergewande, in Sonnenlicht und Nebel, und sah die Alte und den Förster Tofote und das Kind, das schöne Kind. Und während ich an meinem eigenen Leben schnitzelte und zwar im Holz, das mir überwiesen worden war, philosophierte ich dann und wann, wie es sich gehörte, über das Material, welches andern in die Hände fiel, so zum Exempel über die Erbschaft Mynheers van Kunemund. Hundert Meilen entfernt vom Elmwalde kümmerte ich mich um jenen wunderlich schönen Garten, die liebliche Erbin darin und dachte an die rotweiße Meßstange, welche jener Stadterweiterungsplan der armen Gertrud Tofote zwischen ihrem Flieder, Jasmin und ihren Rosen eingepflanzt und aufgerichtet hatte. –

 


 


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