Wilhelm Raabe
Meister Autor oder Die Geschichten vom versunkenen Garten
Wilhelm Raabe

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Sechzehntes Kapitel.

So saß ich denn am Bette des Verwundeten und sprach ihm zu, wie man mit einem im starken Fieber Liegenden zu sprechen wagt. Ich erzählte ihm, wie ich vorgestern mit seinem alten Freunde, dem Herrn Kunemund, zusammengetroffen sei, und wie alles so wunderlich in der Welt, auch im Schlimmen, sich ineinander schicke. Diesen Gemeinplatz machte ich auch dem »alten Hafenmeister« deutlich, und das weißlockige Zauberweibchen erhob die blauen Augen und schüttelte das Haupt und sagte:

»Der Autor, der Autor, der wird sich auch arg kümmern! Herr, wollen Sie es ihm schreiben in unserem Namen? Bitte, tun Sie es, meinem Kinde zum Gefallen; Sie werden es zu machen wissen, daß er nicht mehr erschrickt, als nötig ist.«

Ich versprach gern, das zu übernehmen, und der Steuermann drückte mir von neuem die Hand und rief:

»Das ist das eine, wozu wir Sie so gut gebrauchen können; aber es ist noch mehr da –«

Er brach ab, und ich erfuhr heute noch nicht, wozu ich ihm noch weiter nützlich sein könne, drang auch nicht in ihn, es mir mitzuteilen, denn die Sonne sank tiefer, und mit dem Abend kam das Fieber heftiger, und der Arzt und der Wundarzt zum neuen Verband. Ich ging, als die Doktoren anlangten, und versprach wiederzukommen. Die Greisin begleitete mich vor die Tür und brach da in ein heftiges Weinen aus:

»O Herr, ich bin siebenzig Jahre alt, und ich soll ihm ein Gesicht machen wie ein jung Mädchen, welches am Pfingstsonntage zu Tanze gehen will!« . . .

Mit dem Worte in Herz und Hirn nachklingend stand ich wieder in dem Hofe, fand meinen Weg durch die alte Stadt in den schönen Sommerabend hinein und aus dem Tore der Stadt. Da suchte ich den Garten, den Gertrud Tofote geerbt hatte, und fand ihn nicht mehr. – Der Garten war verschwunden, wie in einem Jahre – vielleicht weniger als einem Jahre, jener prächtige, alte, düstere Cyriacushof mit seinen jahrhundertelangen Erinnerungszeichen, den ich eben verlassen hatte, verschwunden sein konnte – verschwunden war. Die damals durch den rotweißen Pfahl angedeutete Straße zog sich, vollständig ausgebaut, mit Kanalisation und Gasleitung über den romantischen Platz hin. Der Teich, in welchen der Stein der Abnahme hineingefallen war, war ausgefüllt, und die Räder des Tages rollten leicht darüber weg. Die hohen, dunkeln Bäume um das Wunderhaus des achtzehnten Säkulums waren niedergehauen, die Blumen und Büsche ausgerissen; und mit den Bäumen, Blumen, Büschen, springenden Wassern, singenden Vögeln und den Schmetterlingen war auch das Wunderhaus verschwunden; – wunderliche Gebäude freilich waren zu beiden Seiten des macadamisierten Weges dafür in die Höhe gewachsen, und es galt da wirklich, wie es jedermann überall vor Augen hat, mit einer kleinen Abänderung das Wort aus dem Vorspiel zum Faust:

        in unsern deutschen Gassen
Probiert ein jeder, was er mag.

Welches denn vielleicht der passende Ort zu einer abermaligen mich selbst betreffenden Abschweifung und Anmerkung wäre, oder zur Wiederholung einer schon früher angedeuteten Frage, nämlich: Was gingen grade mich alle diese Leute an? –!

Ich hatte in meinem Leben mancherlei gesehen, erfahren, erlebt, – hatte das, was man geistige Kämpfe zu nennen pflegt, bestanden, und körperliche gleichfalls. Ich hatte auch vielerlei probiert, hatte nicht Einen Felsblock, sondern manch ein rund Dutzend den Berg hinaufgewälzt und dem sofortigen Wiederherunterrollen mit offenem Munde nachgestarrt. Gütiger Himmel, ich schäme mich nicht, es zu sagen, ich hatte manche Träne verschluckt und, ohne mich zu schämen, manchen Schweißtropfen vergossen und manchen Seufzer hervorgestoßen: was gingen mich diese Leute und diese Verhältnisse an?

Ich hatte das Leben und den Tod in meinem Leben einander ablösen gesehen und meine Schlüsse daraus gezogen wie irgendein theoretischer oder praktischer Philosoph: wie kam es, daß ich an diesen Zuständen und Menschen, die mir in den Weg geraten waren, wie Tausende mehr, ein so tiefes, inniges und zugleich so schmerzhaftes Interesse nehmen mußte? Wie geschah es, daß mich das Verschwinden des Gartens Mynheers van Kunemund nicht nur ärgerte, sondern auch so ungemein melancholisch stimmte?

Die Antwort auf alle diese Fragen war leicht zu finden. Die Schicksale dieser guten Menschen und Sachen schlugen sämtlich Töne in meiner Brust an, die lange auf diesen Fingerdruck von außen gewartet hatten. Mein Gefühl und Bangen, mein Unbehagen in der Zeit kam hier zum Anklang, und so ward mir im Tiefsten tragisch das, was jedem andern im Werkeltage, wenn auch vielleicht ein wenig betrüblich, so doch im ganzen recht gleichgültig und nichtsbedeutend erscheinen mußte.

Mit Recht! denn welch ein Glück für die Menschheit ist's, daß sie es gar nicht merkt, wie ihr die Zeit, die Jugend, das Glück, das Märchen, der Zauber, die Schönheit, die Zucht und die Tugend (man gestatte mir die zwei letzten verbrauchten Worte) unter den Händen weggleiten! Keines von alle diesem würde eben noch vorhanden sein, wenn man sein Abblassen, Einschrumpfen, Schwinden und Vergehen augenblicklich merkte und den schlimmen Prozeß diagnostisch, die Hand am Pulse, begleiten könnte. Die Menschheit würde es dann schon längst, längst aufgegeben haben, dem Tage und dem Glücke zu trauen. Sie würde den eben erwähnten Entwickelungs-Fort- und Abgang merklich beschleunigt haben, – sie würde einfach ein beschleunigtes Verfahren der langsamen Hinquälerei vorgezogen haben. Die Philosophen nennen das, was das große Tamtam schlägt, das Ding an sich und haben sich unendlich gefreut, als sie das Wort gefunden hatten. Dieses Ding an sich, insofern es durch jedes neugeborene Kind, oder vielmehr durch jegliches Neugeborene sich darstellt, hat noch nie über den Tod nachgedacht. Mit dem ersten Kinde, mit welchem das Wissen des Todes geboren werden wird, ist die Stunde des Weltgerichtes vorhanden, und die erste Mücke, die sich mit Vergnügen von der Grasmücke fressen läßt, spricht das Urteil, also – horchen wir Alten doch noch ein wenig dem sonderbaren, klangvollen Dröhnen in unsern Ohren! –

Ich hatte die neue Straße, über die traumhafte Erinnerung wegschreitend, durchwandert, hatte die verschiedenen Stilarten der frischaufgeschossenen Menschenunterschlupfe ästhetisch-kritisch begutachtet; und, das helle Leben um mich, das Handbuch der Kunstgeschichte im Kopfe, überraschte es mich, als ich mit einem Male vor dem Gitter des Kirchhofes stand, auf welchem man den kleinen, muntern Bruder Autor Kunemunds begraben hatte. Den hatte man noch nicht ausreuten können, den Kirchhof nämlich! Dreißig Jahre und länger verlangt das respektiert zu werden! Es ist recht unangenehm; aber bis dato hat man noch vergeblich sich den Kopf über die Frage zerbrochen, wie der Verdruß abgestellt werden könne; – die Lebenden haben es so eilig, und die Toten wollen sich Zeit gönnen – wahrhaftig, es wäre lächerlich, wenn es nicht so sehr, sehr ärgerlich wäre! –

Ich stand vor dem schwarzen, eisernen Gitter, vor welchem auch die neue Prachtstraße hatte Halt machen müssen, und ich blickte hinein und hin auf die Büsche, Bäume und Blumen über den Gewölben und um die Grabhügel. Sie lachten in der Abendsonne, und nicht ohne Grund. Im schönsten Grün lachte der Garten der Toten über die verschwundenen Gärten der Lebendigen; er allein hatte seine Blumen und Vögel und Schmetterlinge behalten, der Ort der Verwesung! und – ich wendete mich, schritt die neue Straße abermals hinauf, und kaufte im nächsten Buchladen ein Adreßbuch der Stadt, werde es aber den Lesern nicht deutlich zu machen suchen, wie ich gerade jetzt darauf kam.

In diesem Buche des Lebens blätternd und nach allerlei Namen suchend, erreichte ich mein Wirtshaus wieder, bezog am folgenden Morgen eine Privatwohnung und fand mich am Nachmittag zum zweitenmal am Bette des verwundeten Steuermanns Schaake sitzend.

Er befand sich, den Umständen nach, ganz leidlich. Seine Schmerzen wußte er zu verbeißen, und das Fieber trat nicht heftiger auf, als man erwarten konnte. Meinem Besuche hatte er, wie sein alter Hafenkapitän, die schöne, weiße Frau Muhme sagte, mit Sehnsucht und Ungeduld entgegengesehen; und nun waren wir allein, und die Hand auf die Bettdecke des Kranken legend, sagte ich:

»Ich habe mich gestern da und dort ein wenig umgeschaut. Das ist so eine Gärtnerschnurre, die dann und wann gelingt, daß man einen Baum ausreißt, ihn mit dem Gezweig in den Boden gräbt und seinen Spaß und seinen Ruhm davon hat, wenn die Wurzeln wirklich anfangen, Blätter zu treiben. Man nennt das den Gipfel der Kultur, lieber Freund, und ist sehr stolz darauf: was für Früchte unsere Nachkommen aus dem Experiment zwischen die Zähne bekommen werden, können wir freilich heute noch nicht bestimmen, bekümmert uns übrigens auch durchaus nicht. Den Garten, den die kleine Gertrud ererbte, habe ich vergeblich gesucht, aber wo das Fräulein jetzt wohnt, hab' ich in Erfahrung gebracht; und nun, Freund, was ist es mit der Gertrud? was ist aus der Gertrud Tofote, seit jenem Tage, an welchem Sie den Stein der Abnahme aus dem Fenster warfen, geworden?«

– Auf diese Frage richtete sich der Steuermann mit einem Ruck auf, der mich bedauern ließ, sie an ihn gestellt zu haben, denn er biß die Zähne vor Schmerz dabei aufeinander und hätte fast den Verband seiner Füße in Unordnung gebracht.

»Unsere Gertrud? . . . O, ich habe gemeint, der Alte – ich meine den Meister, – den Herrn Kunemund, habe Ihnen das schon gesagt!«

Ich schüttelte den Kopf.

»Nicht? . . . O, unserm Trudchen soll es sehr gut gehen.«

»Sie sagen das mit einem eigentümlichen Tone, lieber Freund. Weshalb wissen Sie nicht mehr oder wollen, wie der Meister, nicht mehr von ihr sagen, als was sich in ein kahles, mattes ›Soll‹ legen läßt?«

Da faßte der Verwundete hastig meine Hand, zog mich näher zu sich heran und flüsterte mir zu:

»Sie haben eben davon gesprochen! Ich hatte damals recht; aber es war schon zu spät! Was half es mir, daß ich den Unglücksstein in der Hinterlassenschaft des alten Sünders fand? Herrgott, was ist aller Nebenwind auf See gegen den, welchen der Flutwechsel auf dem Lande bringt! Das hat auch Gertrud erfahren! Aber es mußte so sein, denn wenn wir ihn meilenweit weggetragen und ihn dann in hunderttausend Stücke zerschlagen hätten, so würde es nichts geholfen haben. Das Unglück ist auf dem Platze geblieben, hat das Wasser in dem Weiher vertrieben und die Bäume vergiftet! Es war eben der Stein der Abnahme, und er allein ist schuld daran, daß die arme Gertrud uns, mich und das alte, liebe Leben aufgegeben hat. Ach, Herr von Schmidt, Sie, der Sie viel unter die Leute kommen, werden ihr gewiß begegnen, und wenn Sie ihr begegnet sind, dann wollen wir – ich und der Meister Autor Sie fragen, wie es unserer Gertrud Tofote geht!«

Ich fragte heute nicht weiter nach der jungen Dame. Fürs erste wußte ich genug und ging wieder ziemlich melancholisch und verstimmt nach Hause, bald nachdem die weiße blauäugige Muhme hereingekommen war, um meinen Platz am Schmerzenslager des Neffen einzunehmen. Doch, – auf eine Frage geriet ich noch und erhielt auch Antwort darauf.

Der Unglücksstein mußte freilich gewirkt haben, und es war nur ein Glück, daß jetzt die neue Straße auch über ihn hinwegführte, und er also auf Nimmerwiedersehen begraben worden war und keinen weitern Schaden mehr anrichten konnte. Ich bemerkte dergleichen, und der Kranke richtete sich von neuem empor und rief kläglich in seinem Fieber:

»Wissen Sie das gewiß? Ich nicht! . . . Wer kann sagen, wer ihn aus dem Teiche auffischte? wer weiß, wer ihn voller Vergnügen mit sich nach Hause nahm, als das Wasser des Tümpels abgelassen worden war, und der Schlamm offen zum Durchwühlen dalag? Man soll absonderliche Kuriositäten in dem Schlamme gefunden haben; ach, Herr von Schmidt, und fragen Sie nur den Meister Kunemund danach, der wird's Ihnen schon sagen, daß das Unglück sich nicht so leicht verbraucht in der Welt. Was Schaden bringt und Unheil stiftet, hat meist immer eine gute Gesundheit. O, es wird sicherlich jemand das Ding wiedergefunden haben und dafür büßen müssen!«

»Wir wollen es nicht hoffen,« sagte ich, und dann tat ich meine letzte Frage, als die Muhme Schaake bereits auf meinem Stuhle saß.

»Noch einer! Da war noch ein Erbstück des Mynheer; – der Mohr, der – wie hieß er doch? der Signor Ceretto! Lebt er noch, und was ist aus ihm geworden?«

»O der Nigger!« rief der Steuermann, und trotz allem Elend und Jammer ging ein Lächeln über sein Gesicht. »Ei freilich lebt der noch und gottlob dazu gesagt! Sie, unsre Gertrud schleppt ihn mit sich herum; er gehört zu ihrem Haushalt, wenn er das vielleicht auch nur seiner Farbe zu danken hat. Wissen Sie, lieber Herr, wenn Sie dem Fräulein begegnen, dann werden Sie auch wohl den Nigger zu Gesichte kriegen, und, bitte, dann grüßen Sie ihn recht schön von mir!«

 


 


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