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May

Eine kleine Villa aus grauen Steinen mit von rotem Weinlaub umrankten Fenstern, davor ein Gärtchen voll gelber und schwarzer Stiefmütterchen, Goldlack, weißer Rosen, die regelmäßige Flecke, wie eine in Stücke geschnittene Torte, auf dem gut gehaltenen Rasen bilden ... Das vollkommene symmetrische Landhäuschen hat rechts und links je eine Tür und je eine Gartenbank, und besteht in Wirklichkeit aus zwei winzigen Villen, zwei unabhängigen Heimstätten, homes, die hierzulande zwei semidetached houses genannt werden. Mays Familie – ihr Vater, ein ehrlicher sollicitor, ihre Mutter und ein kleiner Bruder von elf Jahren – bewohnen die Villa rechts. Die Villa links bleibt den Winter über geschlossen; aber vom Monat Juni an (zuweilen liegt noch Schnee auf dem Rasen) wird ein Zettel an die Scheiben geklebt, der die Worte trägt: To let furnished ... Und spätestens im Monat August wird die Villa an Leute vermietet, die die Saison in Mays Geburtsstadt verbringen wollen, denn diese Stadt ist sehr stolz auf ihre warmen Mineralquellen. Die Villa, die so vermietet wird, ist sorgfältig möbliert und bei all ihrer Kleinheit sehr bequem eingerichtet. In allen Zimmern und in der Vorhalle gibt es Gas. Der Badesaal ist besser eingerichtet als die Pariser Badezimmer. Eine Küche, die den Hauptraum der Wohnung bildet und dem Besucher immer zuerst gezeigt wird; das Auge bleibt überrascht an den vielen gußeisernen Kasserollen mit den riesigen Henkeln an der Wand hängen, während an der gegenüberliegenden Wand sich ein Regiment Deckel aus weißem Metall präsentiert, jene großen Deckel in Form von Sturmdächern, unter denen uns zum Frühstück ein Ei, versteckt wie eine Weihnachtsgabe, serviert wird. Dem Herd gegenüber ein Kanapee für die Köchin. – Die anderen Räume des Hauses sind freundlich und gut möbliert. Auf jedem Kamin eine Glas-Etagère mit Fächern, und in jedem Fach ein kleiner japanischer Topf, ein Chinese, der Grimassen schneidet, oder einfach eine Kaffeetasse auf ihrer Unterschale. Die Stühle sind mit gestickten Überzügen aus hellem Leinen bedeckt; an langen Winterabenden haben May und ihre Mama dies alles gestickt, und auch die Broderien auf den Fensterbrettern und auf dem Büfett stammen aus ihren fleißigen Händen. Sie haben auch die Matratzen in jedem Bett mit einem Hemd aus Etamin bekleidet, damit der gestreifte Zwillich, der teuer ist, nicht so rasch abgenutzt wird. – Da das Haus so frisch, reinlich und schmuck hergerichtet ist, mögen sie keine kleinen Kinder darin haben, die imstande wären, die Tapeten zu zerreißen, oder den Chinesen ein Bein abzuschlagen. Sie vermieten nur an alte Damen, an kinderlose Eheleute oder an Familien, deren Nachkommenschaft groß genug ist, daß man ihr zutrauen kann, sie werde weder die Tapeten zerreißen, noch den Chinesen die Beine abschlagen. Meistens (denn die unfruchtbaren Ehepaare sind hier selten) bewohnen einige große Mädchen die Zimmer im ersten Stock, während zwei oder drei Oxford- oder Eatonschüler die Dachstuben im zweiten Stock inne haben. Diese jungen Burschen sind Mays geheime Hoffnung, seit sie die Schwierigkeit des Problems erkannt hat, das alle jungen Mädchen in einem Lande quälen muß, in dem es dreimal soviel Frauen als Männer gibt: Das Problem der Heirat.

May ist neunzehn Jahre alt. Sie ist natürlich blond, aber nicht impertinent blond: ihr Haar hat die Farbe des reifen Weizens. Sie schiebt die üppige Haarmasse in ein Netz, und die Masse nimmt die Form eines jener runden Brote an, die die Engländer cottages nennen. Mays Gesicht ist unbedeutend; die Züge sind weder regelmäßig noch sehr ausgesprochen; aber alles ist weiß und frisch, der Mund enthält eine vernünftige Zahl Zähne, die Augen sind wunderbar unschuldig. Sie ist groß und gut gewachsen. Sie spielt gut Kricket und Tennis. Sie singt Londoner Lieder und markiert dabei ein paar Tanzschritte. Sie spielt auch Klavier. Alles in allem fehlt ihr nichts, was einen jungen Mann für ein junges Mädchen einnehmen kann.

Und doch ist sie neunzehn Jahre alt geworden, ohne daß einer der zahlreichen Jünglinge, die einander in den Giebelstübchen des semi-detached house folgten, den Flirt mit ihr bis zum Heiratsversprechen getrieben hätte. Arme May! Und Gott weiß doch, daß sie alles tut, um die Jünglinge dahin zu bringen! Sie zeigt sich im voraus als die beste kleine Frau der Welt, sie ist dienstfertig, flink, aufopfernd, sie ist immer guter Laune, immer bereit, die Mieter zu amüsieren. Man mietet sie mit der Villa, man hat damit zugleich ein Recht auf ihre sittsamen Gefälligkeiten, denn May ist ein anständiges Mädchen und fest entschlossen, eine treue Gattin zu werden, nur eine Gattin. Aber es ist doch keine Sünde, abends mit einem der jungen Nachbarn spazieren zu gehen, die Wellingtonstraße entlang, von wo man so poetische Ausblicke hat, und sogar ein Stückchen in den Wald einzudringen, wo der zitternde Schatten der großen Bäume die Herzen sogleich mit Träumen und zärtlichen Wünschen füllt. In diesem Walde steht, eine Viertelmeile etwa von der Straße entfernt, eine große Eiche, die der berühmte Herzog gepflegt haben soll, wie übrigens jede ansehnliche Eiche in jeder kleinen englischen Stadt. Warum der eiserne Herzog so viele Eichen gepflanzt hat, wird ein historisches Geheimnis bleiben. Um die Eiche herum zieht sich eine sechseckige Bank. Wenn ein junges Mädchen sich mit einem jungen Manne auf diese sechseckige Bank setzt, nachdem sie einige Minuten mit ihm unter den Bäumen spazieren gegangen ist, fühlt der junge Mann gewöhnlich den Wunsch, sie auf die Lippen zu küssen, und das junge Mädchen hat nicht die Kraft, zu widerstehen. May, die den Ort kennt, vermeidet es meist, sich dahin führen zu lassen. Nur viermal ist ihr das passiert. Das erste Mal war es ein junger Pfarrer der high church, der in den Mineralbädern Heilung von einem schrecklichen inneren Leiden suchte, an dem er im nächsten Frühling starb. Das zweite Mal war's ein Franzose, der sich in diesen Winkel Englands verirrt hatte: er wollte aber sogleich weitergehen, so daß May erschreckt und empört davonlief und aus dem Walde an das Herz ihrer Mutter flüchtete und den jungen Unverstand mit der Wellington-Eiche allein ließ. Das dritte und vierte Mal war es ein noch sehr junger Amerikaner, in den sie wirklich verliebt war, weil er so entzückende Niggerlieder singen konnte. Dieser freie Bürger eines freien Staates erklärte, er bete sie an, könne ihr aber erst später die Ehe versprechen, wenn er's in seinem Vaterlande zu etwas gebracht habe. Es ist anzunehmen, daß das Glück ihm nicht gerade hold gewesen ist, denn May hat nie wieder etwas von ihm gehört ... Seit diesen schmerzlichen Erfahrungen vermeidet May die Wellington-Eiche und behütet ihre Lippen besser – obgleich doch jeder Mensch weiß, daß ein Kuß keine Sünde ist: no harm in kissing!

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