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Begegnung

Der Musiker Francis Lecordelier und ich gingen schweigend den Boulevard Haußmann hinunter nach dem Park Monceau zu, wo unsere Wohnungen liegen. Es war gegen drei Uhr morgens; die Wagen und die Fußgänger wurden seltener, und wir fühlten das Nahen jener kurzen, nächtlichen Ruhezeit, die der Schlaf der Stadt Paris ist.

An der Ecke der Messine-Avenue löste sich ein Schatten aus der Finsternis der Mauern los; eine Stimme hauchte Worte, die wir nur halb verstanden.

»Meine Herren! ... Kommen Sie mit ... Es ist ganz nah ...«

Francis' Hand krallte sich in meinen Ärmel.

»Ich bitte Sie,« sagte er, »wollen wir schneller gehen.«

Wir beschleunigten unsere Schritte. Die Gestalt folgte uns und bettelte:

»Geben Sie mir wenigstens etwas ... Ich habe heute abend noch nichts gegessen ... Geben Sie mir zehn Sous ... geben Sie mir was Sie wollen.«

Francis zog mich fort; er lief jetzt beinahe.

»Schicken Sie sie fort, bitte ... Geben Sie ihr etwas, damit sie uns in Ruhe läßt.«

Ich warf eine Silbermünze aufs Trottoir. Sie rollte in den Rinnstein, und die Bettlerin bückte sich, um sie aufzuheben. So blieb sie hinter uns zurück.

Wir standen vor meiner Tür. Ich sah, daß der Musiker ganz bleich war. Ich fragte:

»Was ist Ihnen?«

Er antwortete:

»Ich fühle mich nicht wohl ... Wenn Sie erlauben, geh' ich mit Ihnen hinauf ... Sie geben mir irgend etwas zu trinken; das wird mich wieder auf die Beine bringen.«

Und leiser fügte er hinzu:

»Ich erzähle Ihnen dann, was mich so ergriffen hat.«

... Beim zweiten Glase begann Francis, der mit gesenktem Kopfe vor dem flackernden Kaminfeuer saß, seine Geschichte:

»Also,« begann er ... »Sie erinnern sich vielleicht noch, was für ein Mensch ich noch vor einem Jahre war, immer hinter allen Unterröcken her, niemals satt, wie alle Männer, die sehr lange keusch geblieben sind und dann erst plötzlich nach dem zwanzigsten Jahre haben die Zügel schießen lassen. Wenn sie nur jung waren, waren alle Frauen mir recht. Ohne viel Umschweife machte ich mich an sie heran, wo ich sie fand, ob sie nun anständig oder Straßendirnen waren, die meisten gehörten freilich der letzteren Klasse an. Das ist ja so leicht, wenn man nur ein bißchen entschlossen vorgeht!

In einer Nacht, es war fast so spät wie heute, kam ich von meiner Geliebten – denn ich hatte inmitten dieses Wirbels von Zufälligkeiten außerdem noch eine Geliebte – und ging rasch nach meiner Wohnung in der Toquevillestraße. Da, wo die Messine-Avenue in den Boulevard einbiegt – gerade an der Stelle, wo uns heute abend die Person angesprochen hat, schob sich ein Frauenarm in meinen Arm, so rasch, so geheimnisvoll, daß ich die Empfindung einer übernatürlichen Berührung hatte, wie unsere modernen lyrischen Dramen nach Wagner sie in uns wachrufen, wo geistige Küsse das feste Fleisch der Ritter erbeben lassen ... Zugleich sagte eine jugendliche, musikalische, entzückende Stimme:

›Nehmen Sie mich mit?‹ ...

Ich sah mir meine Eroberung an. Eine kleine, schlanke, zierliche Frau, ganz in Schwarz und ziemlich elegant; ein dichter, weißer Schleier, der um ihr Gesicht und ihr Haar geschlungen war, verbarg mir ihre Züge; aber die Linie des Profils zeichnete sich klar und fein ab.

Ich antwortete, ohne mich zu bedenken:

›Natürlich nehme ich dich mit!‹

›Ist es weit?‹

›Nein, ganz nah, in der Toquevillestraße.‹

Auf dem kurzen Wege bis zu meiner Wohnung tauschten wir die kurzen, amüsanten Redensarten, wie sie zwischen Leuten üblich sind, die sich nicht kennen, sich nie gesehen haben und sich doch gleich in der höchsten menschlichen Zärtlichkeit verschmelzen wollen, in einer Zärtlichkeit, nach der es nichts mehr gibt, als miteinander sterben ... Haben Sie jemals darüber nachgedacht? Komisch und zum Fürchten ist das.

Als ich bei mir zu Hause Licht gemacht hatte und sie umarmte und ihr den Schleier abnehmen wollte, wurde sie plötzlich ernst. Ich gebe Ihnen mein Wort, sie wehrte sich!

›Nein ... lassen Sie mich,‹ sagte sie ... ›lassen Sie mich, mein Herr, ich will fortgehen.‹

Ich glaubte zuerst, sie scherzte, sie spielte Komödie ... Aber nein, sie hatte Tränen in der Stimme: ich sah, es war ihr Ernst, sie wollte wirklich fortgehen. Dann warf sie sich aufs Bett, drückte den Kopf in die Kissen und legte einen Arm vors Gesicht. Ich kniete am Bette nieder. Ich entblößte den reizendsten, kleinen Fuß, den ich je gesehen. Sie ließ es geschehen. Ich wurde kühner. Sie sprang auf; aber ich hatte die Haut eines Kindes, zarte, feste Glieder gesehen, wie sie die Bronzestatuetten haben, die man in Pompeji unter der Asche gefunden und im Museum zu Neapel ausgestellt hat.

›Lösch die Lichter aus,‹ sagte sie.

Ich zitterte vor Begier; ich gehorchte ... Im Dunkeln zog meine Gefährtin sich sehr schnell aus. Einen Augenblick später war ich neben ihr.

Man kann Liebkosungen nicht beschreiben. Meine waren wie wahnsinnig. War's das Romantische der Begegnung, der unerwartete Widerstand, das Geheimnisvolle in dieser Frau, die ich besaß und doch nicht richtig gesehen hatte, was mich so erregte? ... Vielleicht. Aber ich kann Ihnen schwören, nie vorher – und nie nachher – erinnere ich mich, eine ähnliche Liebesraserei erlebt zu haben.

Als meine Muskeln endlich meiner Begier den Dienst versagten – sehr spät – warf ich mich gebrochen, halbtot neben ihr nieder, – sie wollte aufstehen und fortgehen.

Aber ich war wie wahnsinnig; ich hatte noch nicht genug ... Ich schlang meine Arme um ihren Leib, ich bedeckte ihn mit Küssen. Ich flehte sie an, noch zu bleiben. Sie wollte nicht, sie wand sich in meinen Armen, sie bat mich, sie loszulassen ...

Ich hatte eine Eingebung.

›Wenn du aufstehst,‹ sagte ich, ›mache ich Licht.‹

Sie wurde sofort ruhig.

›Also,‹ sagte sie, ›ich bleibe.‹

Gleich darauf schlief ich todmüde ein.

Es war heller Tag, als ich erwachte; meine Uhr, die über dem Kopfende meines Bettes hing, zeigte auf fünf Minuten nach zehn Uhr. ... Ich hatte zuerst das Gefühl, als ob mein Gehirn leer wäre, meine Gedanken tasteten unsicher, wie immer nach durchschwärmten Nächten; dann fiel die Erinnerung an mein nächtliches Abenteuer wie ein Keulenschlag auf mich nieder.

Ich wendete mich um: der Platz neben mir war leer; auf dem Kissen, das noch den Eindruck eines menschlichen Kopfes zeigte, war ein großer Blutfleck.

Ich bin kein Feigling. Ich habe mich nie vor irgend einer Gefahr, die einen Namen hatte, gefürchtet. Aber die unbekannte, namenlose Gefahr entwaffnet mich, ich gestehe es.

Ich mußte mir einige Augenblicke lang innerlich zureden, bevor ich mich entschließen konnte, aufzustehen, die Vorhänge meines Fensters zurückzuziehen und mich umzusehen. Mein Zimmer war in Ordnung; eine sorgsame Hand hatte sogar meine Kleider, die ich am Abend vorher achtlos auf den Boden geworfen hatte, aufgehoben und zusammengefaltet auf einen Stuhl gelegt.

Ich wagte endlich, mich dem Kissen zu nähern; der Blutfleck zog meinen Blick an, er hypnotisierte mich. Ich betrachtete ihn ganz aus der Nähe ... Er war hellrot – der furchtbare Fleck einer blutigen Wunde; das Blut war nicht geflossen, es war durch den Druck von wundem Fleisch aufs Kissen gekommen ...

Und sie, wo war sie geblieben?

Fort war sie sicherlich – meine beiden Zimmer waren leer – ich hatte sie rasch abgesucht. Sie hatte sich aus dem Staube gemacht, während ich schlief, sie hatte sich still angekleidet und war entflohen.

Keine Spur außer dem Blutfleck auf dem Kissen war von ihr zurückgeblieben.

Ich warf das Kissen in eine Ecke, mit dem Flecken gegen die Wand. Mit sausenden Ohren begann ich mich anzuziehen ...

Aber als ich meinen Kamm nahm, um meine Haare, die ich damals noch lang trug, in Ordnung zu bringen, sah ich zwischen den Schildpattzähnen ein langes, weißes Haar hängen.

Wer kann den geheimnisvollen Mechanismus unserer Nerven erklären? Beim Anblick dieses weißen Haares wurde es plötzlich hell in mir, und ich sah, ja ich sah mit meinen leiblichen Augen die Geliebte dieser Nacht – ich sah sie, wie sie wirklich war, davon bin ich überzeugt! Ich sah sie nackt mit ihrem wunderbar jung gebliebenen Körper, und auf diesem Körper einer Zauberin einen blutigen, weißhaarigen Kopf ... Ach Worte! Worte, um diese furchtbare Vision zu beschreiben! ... Dann dachte ich auf einmal daran, daß ich dies Ungeheuer an mich gepreßt, daß ich den Duft ihrer Haare eingeatmet, daß ich dies Gesicht geküßt hatte ...

Wie vom Blitz getroffen, fiel ich besinnungslos nieder.«

Francis goß sich ein Glas Chartreuse ein und leerte es in einem Zuge, dann fuhr er nach kurzem Schweigen mit leiser Stimme, die ruhiger klang, fort:

»Als ich wieder ins Bewußtsein zurückkam, lag ich im Krankenhaus. Ich hatte eine Gehirnhautentzündung, die zwei Monate dauerte, an der ich fast gestorben wäre, und die zwar meinen Geist nicht angegriffen, aber meinen Körper blutleer zurückgelassen hat, mich gleichsam vergeistigt hat, mir die Begier nach den Frauen und sogar die Lust an ihnen genommen hat ...

Ich habe natürlich die Wohnung gewechselt; ich bin kein einziges Mal mehr in die alte Wohnung gekommen. Ich vermeide (wenigstens am Abend und wenn ich allein bin), die Straßen, durch die wir eben gegangen sind ... Mit Ihnen ... habe ich's gewagt ... Aber Sie verstehen, diese Begegnung mit einer Frau an derselben Stelle ... Was wollen Sie, es hat mir einen Stoß gegeben ... und sogar (ich bitte um Verzeihung, Sie werden mich lächerlich und unbescheiden finden), aber wenn Sie ein zweites Bett haben, oder nur ein Kanapee ... ich würde heute lieber nicht nach Hause gehen.«

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