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Georges

Jawohl,« antwortete mir Doktor Nolle, der bekannte Spezialist für Nervenkrankheiten, »Sie haben recht; ich bin heute nicht gut aufgelegt. Ich habe eben der Katastrophe eines Pariser Abenteuers beigewohnt, eines intimen Dramas zwischen drei Personen, von denen die eine nur den Statisten gemacht hat: und diese Katastrophe war so plötzlich und schmerzlich, daß sie mir den heutigen Tag verdorben hat. Was wollen Sie, lieber Freund? Wenn man auch die Hälfte seines Lebens unter Siechen, Verdrehten und Verrückten verbracht hat, es bleibt einem im Herzen immer irgend ein empfindsamer Winkel, der sich nicht abstumpfen will ... Hören Sie zu, ich will Ihnen die Geschichte erzählen. Sie können vielleicht etwas daraus machen; und ich habe das Bedürfnis, mich darüber auszusprechen.

Ich glaube nicht, daß Sie oft mit Kokotten verkehren, – Horizontale sagt man ja wohl heutzutage, bis ein neueres Wort auch diesen Ausdruck entthronen wird – aber Sie kennen doch sicherlich die kleine Laure Harding, wenn auch nur vom Hörensagen. Sie werden ja wohl irgendwo im Bois, im Theater oder im Zirkus das niedliche Meißner Figürchen mit den roten Haaren, dem kindlichen Profil, den nervösen, ungeduldigen, hackigen Bewegungen gesehen haben. Und sicherlich wissen Sie, daß unter den zahlreichen Passanten ihres Schlafzimmers zwei Namen eine besondere Rolle spielen: der eines bekannten Malers und Lebemannes und der eines russischen Fürsten. Der letztere ist der Liebhaber von gestern, der Statist in meinem Drama.

Unter allen diesen Gästen für eine Stunde oder einen Tag hat es einen gegeben, der ihr ein dauernderes Andenken hinterlassen hat, als das Schmuckstück, das bei Gelegenheit solcher Abschiede üblich ist: einen Sohn.

Ja, das weiß niemand, oder man hat es vergessen, aber Laura Harding wurde Mutter. Dies Ereignis fällt in den Anfang ihres galanten Lebens; als sie zwanzig Jahre zählte, bekam sie diesen Sohn, in einer Zeit der Unsicherheit und des vergoldeten Elendes, als gerade einige Künstler sie in die Welt einzuführen begannen. Kaum war sie von der Last ihrer Schwangerschaft durch die Entbindung befreit, da vertraute sie ihr Kind mir an – denn ich war ihr Arzt. Ich brachte das kleine Wesen in einen normannischen Marktflecken, zu einer Frau, die mir ergeben war, in die Nähe von einigen Freunden, die sich des Kindes annehmen wollten.

Georges Harding verlebte so seine ersten Jahre auf dem Lande und wurde von den braven Leuten, die ihn aufgenommen hatten, sehr geliebt, fast als eigener Sohn betrachtet. In unregelmäßigen Zwischenräumen, wenn der Anblick einer Mutter, die ihr Kind auf dem Arme trug, oder einige sentimentale Phrasen aus einem Theaterstück oder einem Roman Laure eine Anwandlung von Mütterlichkeit in den Kopf setzten, verließ sie ihr Palais in der Pronystraße, reiste plötzlich nach der Normandie, fiel wie ein Meteorstein in das friedliche Heim, in dem das Kind aufwuchs und überschüttete den Kleinen mit Küssen und Goldstücken ... Dann kehrte sie, dieser Rolle rasch überdrüssig, mit dem nächsten Zuge wieder nach Paris zurück und vergaß auf Monate hinaus, daß sie einen Sohn hatte.

Als Georges sein neuntes Jahr erreicht hatte, mußte ich meiner Patientin klarmachen, daß es wohl Zeit sei, ihn noch etwas anderes lernen zu lassen, als was das Dorf ihn lehren konnte: denn das war nur Lesen, Schreiben und Kegelschieben. Ich schlug ihr ein Pariser Gymnasium vor. Dort, glaubte ich, könnte er sich beim Lernen nach und nach an seine wahre Stellung in der Welt gewöhnen: daß er der Sohn einer Dirne war – und könnte später mit meiner Hilfe einen Beruf nach seinem Herzen ergreifen ... Aber Laure wollte von einem Gymnasium nichts wissen. Sie fand das zu demokratisch.

›Ins Gymnasium, Doktor! Wo denken Sie hin? Dort wäre er ja mit den Söhnen meines Schuhmachers und meines Portiers zusammen ... Wenn er sein Abiturium hat, wird er weder eine Frau zu grüßen noch sich bei Tisch zu benehmen verstehn. Ich will, daß Georges zu den Jesuiten kommt. Nur die Väter Jesu verstehen es, aus ihren Schülern wirkliche Gentlemen zu machen.‹

Georges Harding kam also nach Jersey, ins neue Institut, das die aus Frankreich vertriebenen Jesuiten auf der Insel, die ganz nahe bei Saint-Hélier liegt, gegründet haben. Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, ihm dort Aufnahme zu verschaffen; und nur unter der förmlichen Bedingung, daß er auch seine ganzen Ferien dort verleben müßte und erst nach beendetem Studium nach Paris zurückkehren dürfte, war er endlich aufgenommen worden. Seine Mutter aber durfte ihn aufsuchen, so oft sie wollte.

Ein einziges Mal in fünf Jahren machte sie diese Reise, wurde bei der Überfahrt furchtbar seekrank und hatte nie wieder den Mut, noch einmal hinzufahren.

Während dieser fünf Jahre arbeitete Georges fleißig, er wurde einer der glänzendsten Schüler des Hauses. Jede Woche schrieb er seiner Mutter einen langen, zärtlichen Brief. Sie schrieb ihm fünf oder sechs mal im Jahre ein kurzes Briefchen ohne Anfang und Ende im Kabinett eines Nachtrestaurants, in den weichen Augenblicken, die den Minuten folgten, in denen sie, wie sie sich ausdrückte, sehr glücklich gewesen war.

... Vor sechs Monaten etwa bekam Laure vom Rektor in Jersey folgenden Brief, den sie mir zeigte:

 

›Sehr geehrte gnädige Frau!

Ihr lieber Georges hat seine Gymnasialstudien beendet. Der Augenblick ist gekommen, wo er sich einem speziellen Beruf zuwenden muß. Er zeigt Neigung für den militärischen Beruf. Wenn Sie geneigt sind, diese Liebhaberei zu begünstigen, werden wir glücklich sein, Georges bei seiner Rückkehr in unser Spezialkollegium in der Chomondstraße aufzunehmen. Jetzt ist es an Ihnen, die Entscheidung zu treffen. Unsere Rolle ist vorläufig ausgespielt, und wir bitten Sie, das liebe Kind, das uns in der nächsten Woche verläßt, gut zu empfangen.

Empfangen Sie, gnädige Frau, die Versicherung meiner vorzüglichen Hochachtung.

L. Clément, S. J.,
Rektor.‹

 

Dieser Brief kam Laure etwas überraschend. Sie verstand die Absicht der Jesuiten nicht, die als sehr umsichtige Leute Georges Gelegenheit geben wollten, seine gesellschaftliche Stellung kennen zu lernen, bevor er als erwachsener Mann die ersten Schritte ins Leben tat.

Sie begnügte sich für den Augenblick damit, das hübscheste Zimmer in ihrem Palais für ihr heimkehrendes Kind instand zu setzen. Nach einigen Tagen traf er ein. Trotz der linkisch vornehmen Manieren, die die Jesuiten ihren Zöglingen beibringen, hatte er doch, soviel ich bemerken konnte, ein offenes, zärtliches Herz. Und ganz sonderbar! er betete diese Mutter geradezu an, die ihn von seiner Geburt ab sozusagen verlassen hatte. Er zeigte ihr so viel Bewunderung, Liebe und Verehrung, daß die junge Frau trotz ihres Leichtsinns davon aufs tiefste bewegt wurde. Vierzehn Tage lang war sie wenigstens ganz vernarrt in ihren Sohn. Überall sah man sie mit ihm, abends in ihrer Loge, nachmittags in ihrem Wagen. Der ernsthafte Liebhaber – der russische Prinz – war ersucht worden, seine nächtlichen Besuche einzustellen: Laure suchte ihn heimlich auf. Georges bemerkte nichts Abnormes und ahnte nichts. Bedenken Sie nur, seit er denken konnte, hatte er in einem Kloster gelebt, und von den Wirklichkeiten der Liebe wußte er nicht mehr, als ein junges Mädchen, das gerade aus dem Kloster kommt.

Meine Patientin wurde ihrer Mutterrolle, die sie anfangs unterhalten und amüsiert hatte, bald wieder müde. Sie machte sich langsam aus der Gebundenheit frei, die sie sich um ihres Sohnes willen auferlegt hatte. Der Liebhaber und die Liebhaber erschienen wieder ganz offen bei Tage im kleinen Palais in der Pronystraße; die Abendessen in den Restaurants, die bis zum Morgen dauernden Festlichkeiten fingen wieder an ... Georges war ein wenig traurig, daß seine Mutter ihm immer weniger gehörte, aber er erriet noch immer nichts. Seine Augen waren zu unschuldig, um die Wahrheit zu sehen.

Da vergaß Laure, die einige Gläser Champagner zuviel getrunken hatte, es vorgestern wahrscheinlich, daß ihr Sohn im Hause war, und brachte in ihrem Wagen den Prinzen mit, der nicht unzufrieden damit war, daß er seine alten Gewohnheiten wieder aufnehmen durfte. Aber sie bat ihn doch, keinen unnötigen Lärm zu machen: ihr Sohn schliefe gerade in dem Zimmer über ihnen; er dürfe nicht wach werden.

Aber kaum waren sie ins Schlafzimmer eingetreten, da kam es zwischen der jungen Frau und ihrem Liebhaber, die beide halb betrunken waren, zu einem Streit. Der Russe, der sehr jähzornig ist, hat die Angewohnheit, seine Wut bei solchen Gelegenheiten an den Möbeln auszulassen. Unter wilden Flüchen packte er eine Topfpflanze am Stiel und schleuderte sie samt ihrem Porzellantopf in den Spiegel zwischen den Fenstern.

Der Lärm war fürchterlich. Kein Dienstbote zeigte sich: sie waren schon so instruiert. Einen Augenblick darauf öffnete sich die Tür, und Georges trat ein ...

Er blieb auf der Schwelle stehen, ganz starr vor Überraschung. Die junge Frau und der Prinz, die beide fast nackt waren, flüchteten instinktiv ins Bett, als sie Schritte vernahmen. Einige Sekunden lang sahen der Liebhaber, die Dirne und ihr Kind sich stumm in die Augen. ... Dann schalt Laure, die durch den Schrecken nüchtern geworden war, ihren Sohn sanft aus: ›Geh jetzt, Georges ... Das ist unschicklich, so spät in mein Zimmer zu kommen ... Geh wieder ins Bett ... Rasch, mein Liebling.‹

Der Sohn zeigte mit dem Finger auf den Prinzen, den er schon am Tage bei der Mutter gesehen hatte, und fragte leise:

›Warum ist der in deinem Zimmer, der?‹ Sie antwortete, während sie ihn hinausdrängte:

›Er ist da, weil ich's ihm erlaubt habe ... Kümmere dich nicht um diese Dinge ... Geh rasch hinauf in dein Bett und komm' nicht wieder her.‹

Der Sohn senkte den Kopf und gehorchte. Er ging wieder in sein Zimmer. Was mag in dieser Nacht in dieser jungen Seele noch alles vorgegangen sein? Hat ein rascher Blitz, hat langsame Überlegung ihn über die Stellung seiner Mutter und ihr Verhältnis zu ihm aufgeklärt? Niemand wird es je erfahren: denn Laure Hardings Sohn hat sein Geheimnis mit in den Tod genommen. Als die junge Frau, beunruhigt, weil er nicht zum Frühstück kam, in sein Schlafzimmer trat, fand sie ihn an einer Säule seines Bettes erhenkt, – es war ein großes bretonisches Bett. – Um seinen Hals war eine Vorhangschnur geschlungen. Und sein Gesicht war schon ganz schwarz.

... Der Schrecken und der Schmerz, das war für das schwache Herz dieser Tochter der Freude zu viel ... Sie erwachte nur aus ihrer Ohnmacht, um in Zitter- und Starrkrämpfe zu fallen. Ich habe sie heute nachmittag in die Salpetrière gebracht.

... Das ist meine Geschichte,« schloß Doktor Nolle. »Sie sehen, lustig ist sie nicht. Das Leben aber auch nicht.«

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