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Zwei Seelenhirten

Eine Ostergeschichte

In der Landschaft Albret, die im sechzehnten Jahrhundert von den Religionskriegen so zerrissen wurde, da, wo Montluc die Erinnerung an so viele gehengte Hugenotten hinterlassen hat, leben heutzutage die Katholiken mit der kleinen Zahl Protestanten, die es dort noch gibt, in gutem Einvernehmen. Die protestantische und die katholische Kirche stehen in der Mitte des Dorfes friedlich nebeneinander; die Ungleichheit des Bekenntnisses ist kein Hindernis für eheliche Verbindungen; der Pfarrer und der Pastor, Gegner, was die Dogmen betrifft, finden sich in der werktätigen Liebe zusammen.

Trotzdem hatte im Marktflecken Candéléou, der auf halbem Wege in der hügeligen Gegend zwischen Néral und Vianne liegt, der Streit zwischen zwei Hirten der Kirche – einem katholischen und einem reformierten – vor einigen Jahren den konfessionellen Hader in den Herzen ihrer beiderseitigen Schäflein wieder erweckt. Der Pfarrer, ein alter Mann von über sechzig Jahren, der bis dahin ruhig in seinem geistlichen Gebiete gewirkt hatte, konnte dem jungen Pastor, der aus den rauhen Cevennen stammte, in denen noch die Erinnerung an die Dragonaden lebendig war, seinen ungewohnten protestantischen Glaubenseifer nicht verzeihen, den er in diese zahmeren Gegenden mitgebracht hatte ... hatte sich Herr Lagarrigue – so hieß der Pastor – doch nicht entblödet, zwei Bekehrungen zustande zu bringen. Wohl erklärte der Pfarrer Couloumet, die beiden Neubekehrten seien die größten Halunken der Gemeinde, und sie seien nur abgefallen, um einigen einflußreichen Protestanten Geld abzulocken; aber sein Herz blutete doch. Oft quälte ihn bei Nacht ein furchtbarer Alb. Er sah um sich herum das Gepränge des jüngsten Gerichts; der ewige Richter fragte ihn:

»Pfarrer von Candéléou, wo sind die Seelen Gasquets und Dupins, die ich dir anvertraut hatte?«

Der arme Pfarrer suchte sich zu rechtfertigen:

»Lieber Gott, Gasquet und Dupin waren zwei Erzlumpen, und es ist nicht meine Schuld, wenn ...«

»Fort mit dir, du ungetreuer Hirt!« unterbrach ihn der Herr.

»Du hast deine Schafe schlecht gehütet. Da du mir eine Herde ablieferst, die nicht vollzählig ist. Du schlechter Diener der Kirche, fort mit dir. Aus meinem Angesicht!«

Und der Pfarrer Couloumet fuhr plötzlich aus dem Schlafe auf mit einem Gefühl, als wäre er in eine glühende Leere gestürzt, die ihm zum mindesten die Schrecken des Fegefeuers zu bergen schien.

Daraufhin verdoppelte er seinen Eifer, er suchte in seiner Bibliothek die längst beiseite gelegten theologischen Lehrbücher hervor, er donnerte jeden Sonntag von der Kanzel gegen die Ketzerei, während der Pastor seinerseits, gleichfalls mit apostolischem Eifer kämpfend, die Zahl der Gottesdienste, der öffentlichen Vorträge, der Abendandachten verdoppelte.

Da Montluc glücklicherweise schon dreihundert Jahre tot war, hatte dieser kleine Religionskrieg nur die Wirkung, daß die betreffenden katholischen und protestantischen Schäflein von Candéléou auf Monate hinaus noch treuer und frommer wurden. Übrigens tat auch Herr Lebize, der Bürgermeister des Dorfes, der Arzt von Beruf und nicht eben sehr fromm war, sein möglichstes, um die Ruhe in der Gemeinde zu erhalten. Da er sich allgemeiner Achtung erfreute, gelang es ihm auch beinah.

Da verdoppelte ein sonderbares Ereignis den Groll auf beiden Seiten. Ungefähr vierzehn Tage vor Ostern erblickte Pastor Lagarrigue, als er gegen sieben Uhr abends von seinem täglichen Spaziergang zum Abendessen heimkehrte, im Vorbau der katholischen Kirche einen auffälligen Gegenstand, eine Art großes Paket. Es war eine alte einfache Kirche, drei Stufen führten zu dem romanischen Vorbau empor. Die Nacht war schnell und dunkel eingebrochen; die Kirche war geschlossen; Stille und Einsamkeit ringsumher. Der Pastor stieg die drei Stufen hinan. Er ergriff das Paket; im schwachen Dämmerlicht erblickte er darin ein Kind von vielleicht einigen Monaten. Sicherlich war das Leben dieses Kindes schon reich an merkwürdigen Zufällen gewesen, denn es schien nicht besonders überrascht zu sein, daß man es verlassen hatte und daß einer es nun aufhob. Sehr brav und artig heftete es seine großen, schwarzen, weitgeöffneten Augen, die zu einem winzigen braunen Gesicht gehörten, auf Herrn Lagarrigue. Der Pastor zögerte nicht lange, er nahm das lebendige Paket nach Hause mit, wo er es seiner Frau übergab, die in der Kinderpflege sehr erfahren war, da sie, obschon sie kaum dreißig Jahre zählte, selber schon sechs Kinder hatte.

Am nächsten Morgen sagte die Tante des Pfarrers, ein altes Fräulein, das ihm den Haushalt führte, mit einer Stimme, in der die Erregung zitterte, zu ihrem Neffen:

»Weißt du's schon, Hochwürden? Der Pastor ist gestern gekommen und hat ein kleines Mädchen aus deiner Kirche gestohlen! ...«

»Ein kleines Mädchen gestohlen?« ... rief der Pfarrer.

Trotz seiner Feindschaft gegen den Pastor hielt er ihn eines solchen Streiches nicht für fähig.

Die Tante erklärte die Sache näher. Wenn man ihre Erzählung auch auf die einfachen Tatsachen zurückführte – eine kleine Ausgesetzte war unter dem Vorbau der Kirche gefunden worden – so behielt die barmherzige Tat des Herrn Lagarrigue doch viel Verletzendes und Schmerzliches für den Pfarrer. Wie es schien, wollte der Pastor das verlassene Kind erziehen, und das natürlich im Protestantismus, nach reformiertem Ritus. Da das Kind aber auf den Stufen der katholischen Kirche gelegen hatte, hatte die Person, die es ausgesetzt, die Kleine doch sicherlich einer katholischen Gemeinschaft anvertrauen wollen. Ein neues Schäflein mehr wurde so durch den Pastor der heiligen Herde geraubt, eine Seele, die der Herr außer den Seelen Gasquets und Dupins vom Pfarrer fordern würde! noch dazu eine ganz unschuldige Seele! ...

Pfarrer Couloumet hatte ein friedliebendes Herz, aller Zank war ihm ein Greuel. Aber dies ging denn doch über alle Grenzen. Er zog seinen besten Priesterrock an, setzte seinen dreieckigen Hut auf und begab sich, sein Brevier unter dem Arm, zu Herrn Lagarrigue.

*

Der Pastor bewohnte ein recht hübsches Haus ganz am Ende des Dorfes, an der Straße, die nach Espiens und dann weiter über die Hügel nach Néral führt. Einige von seinen Pfarrkindern redeten ihn an und liehen ihrer Entrüstung über die Entführung Worte. Die sprichwörtliche Phantasie der Gascogner nahm sich ihr Recht, es wurde behauptet, Herr Lagarrigue habe das Kind einer spanischen Bettlerin geraubt, während sie betend vor der heiligen Jungfrau auf den Knien gelegen habe. Der Pfarrer brachte die Wahrheit wieder zu Ehren, versprach aber, energisch für das bedrohte Kind einzutreten.

»Und wenn ich bis an den Präsidenten der Republik gehen muß, die Kleine muß uns wieder ausgeliefert werden!«

Es schien dem Pfarrer auch, als ob ihm die Protestanten, die ihm begegneten, feindselige Blicke zuwürfen ...

Am Hause des Pastors angekommen, schellte er. Die Pastorin öffnete, und der Pfarrer war sogleich unangenehm berührt, da er sah, daß diese blonde, ein bißchen dickliche, vor der Zeit verblühte Frau ein Kind stillte.

»Pardon, Frau Pastorin,« stammelte er ... »Ist der Herr Pastor zu Hause?«

Die Dame schien selber sehr verlegen zu sein. Sie antwortete:

»Mein Mann ist ausgegangen ... Er ist nicht zu Hause ... Er ist nach Néral ... Er will sich wegen der Kleinen erkundigen« – und sie blickte aufs Kind, das sie stillte. Der Pfarrer wurde kühner. Er trat ins Haus und zog die Tür hinter sich zu. Frau Lagarrigue führte ihn in den Salon und bat ihn, Platz zu nehmen.

»Ich bin gekommen,« sagte der Pfarrer, »um mit Herrn Lagarrigue wegen des Kindes Rücksprache zu nehmen« ...

Allmählich mutiger geworden, da er auf gar keinen Widerspruch stieß, erklärte Herr Couloumet, das Kind sei doch wohl nicht aus Zufall gerade auf die Stufen der katholischen Kirche gelegt worden. Offenbar hätte man nur nicht gewagt, es ins Pfarrhaus zu bringen. Er als Pfarrer fühle sich für das Seelenheil des Kindes verantwortlich. Er könne es niemandem abtreten. Er hoffe, Herr Lagarrigue werde es ihm gutwillig herausgeben, er werde es ihm auf die Weise ersparen, sich an die Obrigkeit wenden zu müssen.

Frau Lagarrigue wurde rot bis über die Ohren und wußte nur zu antworten: »Ich werde es meinem Manne sagen, Herr Pfarrer ... Er wird dann entscheiden, ob ...« Sie hatte ihr Kleid wieder in Ordnung gebracht und ließ, um ihre Verlegenheit zu verbergen, das kleine Mädchen sachte auf und nieder tanzen. Es lachte mit einem Munde, der noch feucht von der Milch war. Der Pfarrer verabschiedete sich würdevoll. Er kehrte in sein Pfarrhaus zurück und erzählte der Tante entzückt, wie energisch er aufgetreten wäre. Nun müsse er die Antwort abwarten.

Er brauchte nicht lange zu warten. Noch am selben Tage gegen fünf Uhr brachte der älteste Sohn des Pastors, ein Knabe von zwölf Jahren, ihm einen Brief. Er lautete:

 

»Sehr geehrter Herr Pfarrer!

Meine Frau hat mir von Ihrem Besuch und von Ihrem Ansuchen berichtet. Zu meinem lebhaften Bedauern kann ich Ihren Wunsch nicht erfüllen. Ich bin gleichfalls der Meinung, daß Gott mir jetzt eine Seele anvertraut hat; ich würde es für unrecht halten, seinem Willen nicht zu gehorchen.

Hochachtungsvoll
Jean Lagarrigue,
Pastor der reformierten Kirche.«

 

Sobald der Besuch des Pfarrers und die Antwort des Pastors in Candéléou bekannt geworden waren, gerieten die beiden Gemeinden, die protestantische und die katholische, ins Kochen. Der Bürgermeister, der aufgefordert wurde, Partei zu ergreifen, erklärte, er könne nichts tun: Herr Lagarrigue habe seinen Fund, wie es sich gehöre, angezeigt und die Absicht ausgesprochen, ihn zu behalten. Darauf munkelten die Katholiken etwas davon, daß sie sich bewaffnen und das geraubte Kind mit Gewalt wieder holen würden. Die Protestanten beantworteten diese Drohung durch Entsendung einer Wache, die die protestantische Kirche und Lagarrigues Haus beschützen sollte. In der Nacht wurden Steine in die Fenster der katholischen Kirche geworfen. Auf den Mauern fand man die Inschrift: »Lagarrigue ist ein Kinderdieb.« Die Schuljungen kamen sich wegen der Sache auf der Straße in die Haare. Zwei Gendarmen mußten beständig in Candéléou stationiert werden. Aber trotzdem blieb der Pastor ständig der Gegenstand für allerlei Angriffe, keines von seinen Kindern wagte es, auszugehen, da die Drohung ausgesprochen worden war, man würde eins von ihnen als Geisel entführen. Durch diese Wendung der Sache sehr beunruhigt, schrieb der Pfarrer an den Erzbischof, der Pastor wiederum an den Präfekten. Aber da beide Oberbehörden nicht recht wußten, in welcher Weise sie da einschreiten sollten, ließen die Antworten auf sich warten. Und da die Erbitterung stetig wuchs, wäre es zweifellos zu einem richtigen Religionskriege gekommen, wenn nicht eines Morgens in der Karwoche plötzlich eine Nachricht aufgetaucht wäre, die einen Waffenstillstand gebot:

»Die Mutter der Kleinen ist da und will sie wieder holen ...«

*

Die erstaunliche Nachricht war wahr ... Am Abend vorher war eine ganz junge, sehr hübsche Frau zum Bürgermeister von Candéléou gekommen, fast ein Kind noch; nach ihrem Typus und ihrer Kleidung mußte sie wohl zu den Zigeunern gehören, die die Dörfer des Südostens von Frankreich zahlreich durchziehen, und die man in Albret wie in Spanien »Gitanes« nennt ... Sie erklärte, ihre kleine Tochter sei gegen ihren Willen von Angehörigen ihres Lagers ausgesetzt worden, sie könne aber die Trennung von dem Kinde nicht ertragen und sei wiedergekommen, um es wiederzusehen und mitzunehmen.

Der Bürgermeister ließ die Zigeunerin in seiner Scheune übernachten. Am andern Morgen berief er den Pfarrer sowie den Pastor zu sich und bat letzteren, das Kind mitzubringen. Die Kleine wurde der Mutter wiedergegeben, die das Kind mit wilden Liebkosungen überschüttete und in einer Sprache, die niemand verstand, und deren Laute an keine bekannte Sprache erinnerten, auf das Kind einsprach. Herr Lebize, der die Sache dem Kultusminister unterbreitet hatte, fügte hinzu, daß jeder Zwist mit der Übergabe des Kindes an die Mutter sofort aufhören müsse.

»Bist du Protestantin oder Katholikin?« fragte der Bürgermeister die Zigeunerin zum Schluß.

Sie lachte und zeigte ihre blendend weißen Zähne:

»Nicht Protestantin und nicht Katholikin.«

»Aber du hast doch irgend einen Glauben?« fragte der Pastor.

Sie machte ein verdrossenes Gesicht, wurde ernst und blieb stumm.

»Aber du betest doch manchmal?« fragte Pfarrer Couloumel.

»Wir haben schöne Lieder,« sagte sie leise, »die wir von unsern Vätern geerbt haben.«

Der Feuereifer der Bekehrung ergriff die beiden geistlichen Hirten vor dieser wild gewachsenen Seele. Beide erboten sich, die junge Frau im Christentum zu unterweisen; denn selbstverständlich sollte sie ihrem Nomadenleben entzogen werden, die Gemeinde würde sie und ihr Kind adoptieren. Nilka (so nannte sie sich) sagte nicht nein, sie lächelte nur immer geheimnisvoll. Zwischen Herrn Lagarrigue und Herrn Couloumet loderte aufs neue der Streit empor. Der Bürgermeister trat dazwischen.

»Die Frau soll auf meinem Meierhof wohnen,« sagte er, »Sie, Herr Pfarrer, und Sie, Herr Pastor, können sie abwechselnd Tag um Tag besuchen. Von heute bis Ostern haben Sie Zeit, ihr, jeder nach seiner Weise, das christliche Bekenntnis zu erklären. Sie soll frei zwischen den beiden Kulten wählen. Und zu Ostern soll sie mit ihrem Kinde nach dem Ritus, den sie erwählt hat, getauft werden.«

Dieser Salomonische Richterspruch befriedigte weder den Pfarrer so recht, noch den Pastor, noch all die andern, die im Gefolge der beiden kämpften. Aber alle Welt erkannte die Weisheit der Entscheidung an. Zu Candéléou wurde es wieder ruhig. Beide Gemeinden mußten sich zufriedengeben.

Tag um Tag wurde Nilka abwechselnd vom Pfarrer und vom Pastor unterrichtet. Alle beide waren über die Sanftmut und Willigkeit ihrer Schülerin derselben Meinung: aber beide beklagten gleichfalls den völligen Mangel an religiösem und moralischem Sinn in ihr. Irgendwo auf der Landstraße geboren, war sie auch auf der Landstraße groß geworden; der Vater ihres Kindes war irgend ein vorbeiziehender Fremder, der ihr eines Tages grade gefallen hatte, als sie in einem Winkel des baskischen Landes allein zurückgeblieben war. Sie erzählte es ruhig und bedauerte nur, daß das Kind wegen dieses fremden Vaters von Geburt an dem Groll des ganzen Lagers ausgesetzt gewesen war ... Die Lehren, die man ihr vortrug, schienen von ihrem mehr zerstreuten als leichtfertigen Geiste abzugleiten. Sie war zu gleicher Zeit unordentlich und kokett. Es war ihr durchaus gleichgültig, wenn ein Knopf an ihrer Taille fehlte oder ihr Rock zerrissen war, aber sie mußte immer rote Rosen in ihren schwarzen Haaren haben. Sie stahl sie sich überall in den Gärten, aber diese Diebstähle wurden fürs erste geduldet ... Es gab Nachmittage, wo man kein einziges Wort aus ihr herauslocken konnte ... Sie schien völlig geistesabwesend zu sein, ihre Augen starrten traumverloren vor sich hin. Dann wieder zeigte sie im Gegensatz dazu eine feurige Heiterkeit, sie sang, sie entwaffnete durch ihre kindliche Freude den Ernst ihrer Lehrer und riß sogar die steife Tante des Pfarrers mit fort. Eines Abends, als Gottesdienst in der protestantischen Kirche war, hatte Herr Lagarrigue sie mitgenommen, und sie mischte ihre musikalische, tiefe Stimme begeistert in den Chor der Frauen. Die Tante des Pfarrers versicherte dagegen, Nilka interessiere sich sehr für die Vorbereitungen zum heiligen Osterfest, für die Vasen und Blumen, die Papiergirlanden, die Oriflammen der Kongregationen, für allen den heiteren Schmuck der alten katholischen Mauern. Diese guten Nachrichten erfreuten abwechselnd die eine und die andere Partei.

*

Ostern war nah, und beide Gemeinden rüsteten sich, daß Fest mit ganz außerordentlicher Feierlichkeit zu begehen. In der katholischen wie in der protestantischen Kirche rechnete man darauf, daß der Tag des Festes durch eine doppelte Taufe verherrlicht werden würde ... Nilka, die gedrängt wurde, sich zu entscheiden, versprach, am Ostermorgen zu antworten. Drang man in sie, es früher zu tun, so flüchtete sie lachend und berief sich auf den Bürgermeister und auf den Wortlaut des Vertrages.

In der Nacht, die dem entscheidenden Morgen vorausging, konnten die beiden armen Seelenhirten nicht schlafen. Weder der eine noch der andere wagte es, sich auszumalen, wozu der heilige Tag für ihn werden würde, wenn der Nebenbuhler Sieger bliebe. Und doch mußte einer von ihnen verworfen werden! ... Und beide trösteten sich mit demselben Gedanken:

»Nilka ist zu sanft, zu liebenswürdig, um mir diesen Kummer zu bereiten, wo ich sie doch unterrichtet habe.«

Beim ersten Tagesgrauen verließ der Pfarrer, da er doch nicht schlafen konnte, sein Bett und ging in die Kirche, wo er lange betete. Die große Glocke auf dem Turme erklang, ihr antwortete das hellere Geläut der protestantischen Kirche. Nach einer Stunde demütigen Flehens erhob sich Herr Couloumet ein wenig beruhigt und ging in seinen Garten, wo Blumen und Gemüse friedlich durcheinander wuchsen. Der Tag begann heiß wie im Sommer.

»Das ist der heilige Ostertag,« dachte der Pfarrer.

Und er bat Gott, an diesem Tage die Herrlichkeit seiner Kirche siegreich hervorbrechen zu lassen.

In diesem Augenblick sah er seinen Kirchendiener kommen.

»Sehen Sie doch, Herr Pfarrer, was ich an der Kirchentür gefunden habe!« sagte dieser Mann und reichte ihm einen Strauß roter Rosen.

Der Pfarrer erkannte Nilkas Lieblingsblumen. Der Strauß war mit einem dünnen schwarzen Schnürchen zusammengebunden. Als Herr Couloumet dies Schnürchen näher ansah, bemerkte er, daß es aus zusammengeflochtenen Haaren bestand.

Eine Ahnung zog ihm das Herz zusammen. Er ließ den Kirchendiener stehen und lief fast nach dem Hause des Bürgermeisters. Dort fand er alles in großer Aufregung. Nilka war fort, aber niemand hatte sie fortgehen sehen.

Herr Lebize und seine Leute hatten laut nach ihr gerufen, aber keine Antwort erhalten.

Kaum hatte der Pfarrer dies erfahren, als auch schon Pastor Lagarrigue erschien. Er hielt einen Strauß roter Rosen in der Hand, der dem, den der Kirchendiener gefunden hatte, ganz gleich war ... In ihrer Erregung redeten der Pfarrer und der Pastor miteinander.

»Sie auch? ... ein Strauß, und auch mit Haaren zusammengebunden?«

»Ja, auf meinem Fensterbrett, heute früh.«

»Wissen Sie, daß Nilka mit ihrem Kinde verschwunden ist? ...«

»Fort für immer?«

»Sicherlich! Sie hat in dieser Scheune geschlafen ... Das Bett ist leer ... Sie muß vor Tagesanbruch geflohen sein.«

»O! Und ungetauft? ...«

»Ungetauft, sie und das Kind!«

»Was die Kleine anbelangt«, rief die Tante des Pfarrers, die mit andern Weibern, die auch schon das Gerücht gehört hatten, angelaufen kam, »so hab' ich sie neulich untergetaucht, ganz wie's vorgeschrieben ist, solange der Herr Pfarrer die Mutter unterrichtete ... Ich traute der Sache nicht recht! ...«

»Haben Sie das getan?« rief der Pastor und sah etwas heiterer aus.

Protestanten und Katholiken lobten die brave Frau. So zog wenigstens die kleine Verlassene, die kurze Zeit so etwas wie das Kind des Dorfes Candéléou gewesen war, als Christin durch die weite Welt ... In der Verwirrung über diese unerwartete Flucht, von der beide feindlichen Parteien betroffen waren, vergaßen sie ihren Streit und wurden wieder Brüder.

»Ohne diesen Streit zwischen uns,« sagte ein Kluger leise, »hätte man mit der Taufe der Mutter nicht so lange gewartet! ...«

In der Menge, die sich allmählich angesammelt hatte, stimmte alles dieser Meinung zu. Der Bürgermeister Lebize, der bis dahin geschwiegen hatte, sagte mit einem leichten Lächeln:

»Herr Pfarrer, und Sie, Herr Pastor, glauben Sie wirklich, daß diese Zigeunerin am Tage des Gerichts verdammt werden wird, weil das Taufwasser ihre Stirn nicht berührt hat?«

Banges Schweigen.

»Christus ist sogar für die Heiden auferstanden,« erklärte endlich Herr Lagarrigue, »der Apostel Paulus sagt es ausdrücklich.«

»Gewiß,« bestätigte der Pfarrer, »die Barmherzigkeit Gottes ist grenzenlos. Und das Herz dieses Mädchens war nicht schlecht. Sie ist sicherlich nur deshalb so plötzlich und heimlich fortgegangen, weil sie keinen von ihren beiden Lehrern kränken wollte.«

»Beten Sie beide für sie,« schloß der Bürgermeister ... »Heute ist Ostern für Protestanten und Katholiken, und, glauben Sie mir, auch für die arme Zigeunerin, die im letzten Augenblick nicht den Mut hatte, mit den Traditionen ihrer Rasse zu brechen. Beten Sie in Eintracht für sie, begraben Sie den Streit.«

Die Menge verlief sich langsam. Der Pfarrer und der Pastor gingen zusammen fort und sprachen höflich miteinander. Die Feinde von gestern drückten sich die Hände. Es war, als hätte Nilka den Streit auf ihrer Flucht mit fortgenommen und Frieden dafür zurückgelassen. Über den Dächern klangen die hellen und tiefen Glockentöne der protestantischen und der katholischen Kirche durch die klare Luft und läuteten das schönste Fest des Jahres ein. Der Streit der verflossenen Tage war begraben, und in diesem Augenblick war niemand in Candéléou, der nicht den großherzigen Worten des Bürgermeisters beigepflichtet hätte.

Ja, wahrlich, für alle hat Jesus von Nazareth den Stein von seinem Grabe aufgehoben.

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