Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel.

Bergemann stand ganz allein in der Spitze des Schiffes und wartete auf Doktor Lux. Er hatte nach dem Diner den Arzt gebeten, wenn möglich eine Zigarre mit ihm ganz vorn in der Spitze zu rauchen, wo er ungestört mit ihm sprechen zu können hoffte.

Er war schon eine Weile hier. Aber das Warten wurde ihm nicht lang. Er überlegte. Kap Finisterre hatte man heute früh umschifft; man mußte bald in den Golf von Biskaya kommen. Er hätte das Wichtigste gern erledigt, ehe die Tücke des gefürchteten Golfs vielleicht neuen Aufschub erzwang.

Der Sanitätsrat zog die Uhr. Es war wenige Minuten nach acht und noch hell. Ein zarter, goldener Schimmer lag ausgegossen über Himmel und Meer. Links im Westen hinter einem breiten, glühenden Wolkengürtel, der den Horizont säumte, rüstete die Sonne majestätisch zum Untergang.

Ganz dicht an die Flaggenstange im Schiffsschnabel tretend und hinunterblickend in die Tiefe, freute sich Bergemann über das alte, oft genossene Spiel. Jetzt schien der Boden unter ihm zu weichen, und er sank; sank weich, gleitend, wie gezogen; sank, den schäumend aufzischenden Wellen ganz, ganz nah – und jetzt hoben sich die Planken wieder unter ihm und nahmen ihn mit hinauf aus den niedergekämpften, ohnmächtig nachdrängenden Wassern, als wollten sie ihn gleich in den Himmel hinaufreichen. Bis das Merkwürdige kam, ähnlich dem Anhalten in einem Lift – kein Heben mehr, kein Senken und doch das Bewußtsein, daß diese Ruhe nur ein ganz vorübergehender Moment ist, in dem der Atem unwillkürlich stockt und jeder Nerv gespannt auf den schnellen Weg bergab wartet, der nun wieder beginnen muß.

Vom Rücken her ein leises Klirren. Bergemann glaubte, der Doktor käme. Aber es war nur der Wind, der durch das Tauwerk fuhr. Die schweren, rostigen Ankerketten lagen wie schlafende Ungetüme gestreckt über den schwarzen Rollen. Die endlos sich dehnenden Wogen bewegten sich gleichmäßig, wie schwere, dunkelgrüne Tücher, unter denen ein eingeschnürtes, unheimliches Leben aus dem Kerker der Tiefe an den Abend drängt, an die Luft. Es ward rasch dunkler. Von den weißen Geländern, von Brückendeck und Kommandobrücke leuchteten die runden Rettungsgürtel wie festlich aufgehängte Kränze an einer Museumswand. Die grünbeschirmten Lämpchen im Schreibsalon wirkten zwischen den behaglichen kleinen Vorhängen wie festliche Lichter einer Bourgoiswohnung, die ihre Sonntagsgäste erwartet. Bergemann erkannte am geraden Rücken die Silhouette Viktoria von Öltzendorffs, die nun wohl wirklich dort an ihrem Tagebuch schrieb, ihre antirepublikanischen Gefühle ausströmte bei verärgerter Schilderung des Besuchs von Lissabon und ihr Naturgefühl im enthusiastischen Lobe der Pinien und immergrünen Eichen in den schattenkühlen Wäldern um Cintra . . .

Oben auf der Kommandobrücke bewegten sich langsam die dunklen, massigen Gestalten zweier Offiziere. Am Mast kletterte die Signallampe hoch. Der Schornstein stieß mürrisch ein paar schwarze Wolken in den tiefblauen Abendhimmel. Aus den Küchenluken hatten die Köche Küchenabfälle und Konservenbüchsen geworfen. Das tanzte jetzt alles, Gemüse, Federn, Orangenschalen, verschönt, geadelt vom Glanz des Abends, hinter dem Schiff her: und das Meer warf seine weißen Krönchen dazwischen.

Wie das Gemeinste sich verschönt und veredelt im Lichte der Kunst! dachte Bergemann, dem zurückbleibenden Abfall nachsehend; und dann dachte er, daß er diesen Satz Viktoria von Öltzendorff schenken müßte für ihr Tagebuch, und sie hätte eine Trivialität mehr.

Da war aber der Doktor wirklich! Bergemann roch seinen scharfen englischen Tabak früher, als er die Schritte und die Stimme des leise fluchend über Ankerketten und Taue Stolpernden hörte.

»Sie haben befohlen, Herr Oberkollege . . .« Der Doktor legte die Hand salutierend an die Mütze. Seine sonst blassen Wangen waren ein wenig gerötet. Die dunklen Äuglein funkelten vergnügt hinter dem Zwicker.

»Sie sind guter Laune, Doktor.«

»Immer, wenn's hineingeht in die Biskaya! Da bekommt unsereiner mal ein bißchen zu tun. Na, und nun arbeitet mir der angenehme neue Passagier, dieser Herr Pilzheimer, noch kräftig in die Hände. Direkt Agent provocateur, der gute Mann. Unbekümmert um das Wimmern seiner Eheliebsten, die nebenan im Stuhle lag, zugedeckt wie für 'ne kleine Südpolentdeckung, hat er doch von den Schrecken der Biskaya Wunderdinge erzählt! Wie's da mit dem Schaukeln und Stoßen und Schlingern noch gar nicht genug sei, sondern daß es – erwiesenermaßen – eine eigne ›Biskayabewegung‹ gebe. Die setzt sich – nach Pilzheimer – aus all den andern angenehmen Attacken kunstvoll und lieblich zusammen . . . Ich werde aus dem Unglückspropheten nicht klug. Ob er nur verrückt ist, wie Hamlet, bei Nordnordost, oder . . .«

Bergemann interessierte Pilzheimer und sein Geisteszustand bei Nordnordost gar nicht. Er hatte den Arzt auch nicht hierher gebeten, um mit ihm über die Nöte der Biskayabucht zu verhandeln, die er ja schon mehrfach selbst durchfahren und allemal gut bestanden hatte. »Sagen Sie mir, mein lieber Herr Doktor – wie steht's nun eigentlich mit unserm Herrn Mücke?«

Der Doktor klopfte seine kurze englische Pfeife aus und begann sofort umständlich eine neue zu stopfen, wobei ihm der Wind das Geschäft nicht gerade erleichterte. »Mit – unserm Herrn Mücke? Wunderlich, was sich auf einmal für ein Interesse für diesen Unglücksmann kundgibt. Herr Doktor Eckardt hat mich eben nach ihm gefragt und jetzt Sie . . .«

Bergemann fühlte einen neugierig forschenden Blick der listigen, dunklen Augen auf sich gerichtet. Er wünschte durchaus nicht, seine kaum erkannten Beziehungen zu Arthur Mücke irgendwie preiszugeben oder ahnen zu lassen, dämpfte daher seine innere Erregung zu möglichster Gleichgültigkeit und sagte, während er sein Glas aus dem Futteral nahm und daran herumschraubte, als ob er auf der dunklen See noch Flaggensignale fahrender Schiffe zu erspähen hoffe: »Na schließlich, wenn man mit einem Herrn zusammen reist, und auf einmal verschwindet der – von Kadiz bis Kap Finisterre . . . kommt die anderthalb Tage in Lissabon nicht aus der Höhle und rafft sich nicht mal auf, Cintra anzuschauen . . . ja, also –«

»Tja – ich weiß nicht, ich vermisse nie einen Menschen. Meinetwegen kann jeder in seiner Höhle bleiben. Die Welt ist doch nun mal so eingerichtet, daß immer ein andrer zum Ersatz schon auf dem Sprunge steht. Als meine Tante Erna starb, bei der ich in Pension war, kam ich sofort zu einer andern Tante – Adele –, die noch viel unausstehlicher war. Und als der Zoologe, der mich im Physikum prüfen sollte und mich sicher elend schikaniert hätte, drei Wochen vorher zu seinen Vätern versammelt wurde, schwupp, war ein andrer Ordinarius der Zoologie da, der mich auch durchfallen ließ. Und nun gar einen Herrn Mücke vermissen –? So was ist doch wie sein Name – eine Mücke mehr oder weniger – was liegt daran? Wie ein Wassertropfen ist der Mann. Wer vermißt einen Wassertropfen nach dem Regen?«

Bergemann war diese abfällige Kritik der unerheblichen Qualitäten Mückes, wie die Verhältnisse lagen, nicht angenehm. Auch brachte sie ihn seinem Ziel um nichts näher. Er versuchte also von andrer Seite. »Nun, Sie müssen doch zugeben, lieber Kollege, man hat als Arzt . . .«

»Ach, so – als Arzt? Ja, das ist wieder etwas andres. Als Arzt würde mich jedes kranke Schwein, jeder epileptische Maulwurf interessieren. Also selbst solcher Herr Mücke. Und wie der Fall liegt – interessiert er mich sogar sehr. Denn sehen Sie, als ich – wann war's doch? Ja, richtig: als ich am Morgen nach der Abfahrt von Kadiz vom Zimmersteward – gegen des Patienten Wissen und Willen – zu dem Patentjüngling gerufen wurde, da hatte der Patient doch ganz seltsame Erscheinungen! Kein Fieber – bei hochgradiger Erregung. Keinen Appetit – bei normalen Temperaturen und gesteigertem Puls. Und auf der linken Wange bis zum Halse eine ziemlich kräftige Schwellung, die auch das Auge etwas verkleinerte. Druckempfindlich – nein. Ich stellte die Diagnose: Ziegenpeter – Parotitis – Schwellung der Ohrspeicheldrüse und der Lymphdrüsen . . . Immerhin unangenehm – weniger für den Patienten als für das Schiff, da die Sache infektiös ist. Also – Ansteckungsgefahr vorhanden . . .«

»Hm!« Bergemann dachte bei sich, daß die Ansteckungsgefahr bei den ihm bekannten Ursachen dieser halbseitigen Schwellungen nicht eben groß sei. »Und – haben Sie Ihre Diagnose bestätigt gefunden?«

»Natürlich nein. Unter uns: die erste Diagnose ist nie richtig. Man sollte immer gleich mit der zweiten anfangen. Der Vorteil und Erfolg der meisten berühmten Konsultationsärzte besteht eben darin, daß sie das tun; daß sie gleich die zweite Diagnose stellen. Denn die erste, falsche hat eben der biedere Hausarzt schon pflichtschuldigst geleistet. Der Laie weiß das nicht so und honoriert – instinktiv logisch – die zweite Diagnose willig weit höher als die erste.«

»Und Ihre zweite Diagnose im Fall Mücke?«

»Da baue ich noch daran. Die Schwellung ist – nach Anwendung einiger harmloser Umschläge – von denen ich sogar vermute, daß er sie bloß an die Wand geschmissen hat – merkwürdig rasch verschwunden. Spurlos. Ohrspeicheldrüse, Lymphdrüse – normal. Aber die allgemeine Indisposition besteht. Denken Sie doch, wenn ein immerhin den Jahren nach junger Patient, der doch die Reise vermutlich zu seinem sogenannten Vergnügen unternommen hat, Lissabon schwimmen läßt! Lissabon und Cintra! Als ob sich's um die Besichtigung von Neutomischel handelte . . . Kennen Sie übrigens Neutomischel? Ich war tatsächlich mal dort. Maschinendefekt zwischen Frankfurt an der Oder und Posen. Riecht gräßlich nach Hopfen da.«

Bergemann hatte für Neutomischel und seine Gerüche augenblicklich kein Interesse. Der Doktor hatte da so ganz beiläufig eine Frage angeregt, die ihn selbst schon all' die Tage beschäftigt und bekümmert hatte; die mit ihm an die portugiesische Küste gestiegen war, die er im Belem-Kloster und in der Kathedrale Lissabons nicht zur Ruhe bringen konnte; die ihn durch die verlassenen, aus Pracht und Spießbürgertum seltsam gemischten Räume des Palacio Real in Cintra geleitet hatte: warum, zu welchem Zweck, in welcher Eigenschaft machte der sichtlich verwöhnte junge Mann, der sich Arthur Mücke nannte und unzweifelhaft sein Neffe, der Sohn seiner verstorbenen Schwester, war, diese Reise um Spanien nach England? Und dann: wie kam er zu dem seltsamen Namen Mücke? Wie waren seine Verhältnisse? Was waren seine Aussichten, Pläne und Pflichten . . .? Noch in jener Nacht, die der üblen Szene in der Kabine Mückes folgte, hatte Bergemann an dem wackelnden Kabinentischchen einen langen Brief an den Neffen geschrieben, den er am andern Morgen ganz früh durch den Steward abgeben ließ. Der Brief war eine seltsame Mischung gewesen von wehmütiger Freude, eine Spur, ein Zeugnis, ein Kind seiner einst geliebten Schwester wiedergefunden zu haben; von mühsam beherrschtem Zorn, diesem Kind just als erwachsenem Sohn mit Lebemannsallüren und unverantwortlichen Prätensionen begegnet zu sein; und von ehrlichem Ärger, sich diesem neu entdeckten Neffen in einer Weise genähert zu haben, die mit frohen Regungen des verwandten Bluts nichts gemein hatte. In herzliche Gefühlstöne mischte dieser Brief wunderliche Dialektik, die es doch noch als eine gnädige Fügung des Schicksals deutete, daß der Temperamentsausbruch des Onkels das Medaillon an der Uhr des Neffen löste. Und was diesen Temperamentsausbruch selbst anbetreffe – so führte der Brief etwas sophistisch aus –, so habe eben ein erzürnter Onkel ein jüngeren Jahren gegenüber sogar von den Gesetzen zugegebenes Züchtigungsrecht – in instinktiver Wallung – etwas verspätet geltend gemacht. Und wenn er auch die unerfreuliche Szene in der Kabine selbst, die immerhin gar glückhafte Folgen gehabt habe, nicht durch diese Zeilen aus der Welt schaffen wolle oder könne, so bitte er doch, die Erinnerung daran zeitlich etwas zurückzuschieben, gewissermaßen umzudatieren . . . Bergemann hatte selbst im Schreiben bei diesem Passus nicht das Gefühl gehabt, sich sehr überzeugend auszudrücken. Aber schließlich – Blut ist ein ganz besonderer Saft. Das gemeinsame Blut mußte über diese Klüfte, Erregungen und Irrungen hinweghelfen . . . Diesen gewunden beginnenden, in warme Herzlichkeit ausklingenden Brief hatte Mücke wohl angenommen. Vielleicht nur, weil er das bereits vermißte Medaillon darin fühlte. Beantwortet aber hatte er ihn mit keiner Silbe; und den mehrfach angebotenen Besuch Bergemanns hatte er wortkarg, aber energisch abgelehnt.

Im Wagen auf der Fahrt nach Cintra hatte dann Bergemann seinem jungen Freund Erich, mit dem er allein fuhr, sein besorgtes Herz geöffnet. So hatten die beiden – der eine leidenschaftlich bewegt, der andere durchdrungen vom Wunsche, zu raten und zu helfen –, immer das Seltsame dieser Begegnung und ihrer Folgen beredend, wenig gesehen von der Schönheit der über dem Städtchen trotzig ragenden Maurenburg, von der wunderbaren Aussicht von der Kuppel des Castello da Pena über die Zedern, Platanen und Thujas der Gärten und Wälder hinüber nach der Tajoebene und nach der blauen, friedlich sich breitenden Fläche des Atlantischen Ozeans. Erich hatte vorgeschlagen, daß er Mücke um eine Unterredung bitten lasse. Er hatte das auch nach der Rückkehr an Bord sofort getan. Hatte aber die Antwort erhalten, Herr Mücke fühle sich krank und wünsche niemand zu sehen. Aus dem Zimmersteward, einem wortkargen, rothaarigen Irländer, der außerdem noch durch gute Trinkgelder zur Diskretion verpflichtet schien, war nichts herauszubekommen. Er hatte immer nur die stereotype Phrase: »Herr Mücke ist nicht seekrank, aber er befindet sich noch wenig wohl. Er hofft, in Amsterdam gleich an Land gehen zu können.« So bestand für Bergemann nur die Möglichkeit, mit dem in freiwilliger Gefangenschaft Trotzenden in eine gewisse Verbindung zu treten, in einer vorsichtigen Bestellung durch den Schiffsarzt.

Bergemann war deshalb auch herzlich froh, als Doktor Lux nach einer längeren Abschweifung über Posen, Neutomischel, Frankfurt an der Oder und das wenig gute Wagenmaterial der Königlich Preußischen Eisenbahnen im Osten der Monarchie endlich in den Golf von Biskaya und auf die »Astarte« zurückkehrte.

»Und haben Sie denn Anzeichen, daß der üble Zustand – ich meine die seelische Depression, die offenbar mitspielt – sich bei dem Patienten bessern wird?«

»Gewiß, Neurastheniker ist der Mann auch. Sogar nicht zu knapp. Schade, daß er keinen Beruf daraus machen kann. Allerdings, abnorme Sensationen fehlen; Neurasthenia spinalis scheint nicht vorzuliegen. Aber Kopfdruck, Mattigkeit, Ohrensausen – besonders im linken Ohr – deuten auf . . .«

»Hm! Im Ohr –?« Bergemann wurde unruhig. »Haben Sie das linke Trommelfell untersucht?«

»Nein. Aber am Trommelfell ist natürlich nichts. Es sind die ganz gewöhnlichen Symptome der zelebralen Form der Neurasthenie. Auch die üblichen Todesgedanken fehlen natürlich nicht. Und sogar, hm . . . Pardon, daß ich das konstatiere: ich fasse das Gespräch als eine Art Beratung unter Kollegen auf . . .«

»Ich bitte darum!«

»Sonst dürfte ich natürlich nicht . . . Ja, denken Sie, er hat mich allen Ernstes schon zweimal um Beschaffung eines Revolvers gebeten . . . Nur die Waffe selbst braucht er –, Patronen hat er . . . Wunderlich, der ganze Kerl. Geht mit drei Schachteln Patronen auf die Reise, bloß den dazugehörigen Revolver vergißt er.«

Bergemann dachte bei sich, wie gut es war, daß er nach der Ohrfeige noch Gelegenheit hatte, den Revolver aus dem Kabinenfenster weit hinaus ins Meer zu werfen. Dann aber stieg ihm die Angst heiß in die Schläfe. Schließlich war der Tod, den ein Lebensüberdrüssiger suchte, doch nicht an den Besitz einer Pistole gebunden. Ein Schnitt mit dem Rasiermesser durch die Pulsadern, ein Sprung über Bord taten's auch.

Als ob der Arzt seine Gedanken lesen könnte, hörte er jetzt den Doktor in kühler Sachlichkeit äußern: »Man wundert sich als Arzt immer wieder, was für Kapricen die Leute haben, die durchaus sterben wollen. Wie's ihnen sozusagen auf die Nuancen der letzten Abreise ankommt. Anstatt einzig auf das Ende selbst. Im Krankenhaus in Triest hatten wir mal einen rabiaten Schmuggler, dem eine alte Schußwunde scheußlich zu schaffen machte. Er beschwor uns um einen Strick, eine Wäscheleine, einen Leibriemen, daß er sich aufhängen könnte. Er wolle, er müsse sterben. Ein Assistenzarzt vergaß eines Abends das Morphiumfläschchen mit der Spritze auf dem Nachttisch des Patienten. Der Schmuggler wußte ganz genau, daß er die Spritze nur gut zu füllen brauchte, ein Stich in den Oberarm – und er schlummert hinüber. Schmerzlos, angenehm. Aber es war eben kein Strick, keine Wäscheleine – war nichts, um sich aufzuhängen. Acht Tage später hat er sich heimlich eine Zuckerschnur verschafft und sich prompt an einem alten Gasarm, der ihn so gerade noch aushielt . . .«

»Sie meinen,« unterbrach Bergemann, der für lebensmüde Schmuggler in Triest eben gar keinen Sinn hatte, »meinen also, Herr Mücke hat ernstliche Selbstmordgedanken?«

»So ernstlich, wie so ein auf G'schnas gestellter Dandy überhaupt ernste Gedanken hat. Aber nur mit der Pistole. Wäscheleine verschmäht er bestimmt. Alle andern Todesarten als die Kugel scheinen ihm entweder nicht standesgemäß oder nicht sicher – oder es spielt da irgend etwas andres mit. Etwas Mystisches oder so 'ne Blödigkeit. Ich komme nicht recht dahinter. Jedenfalls – der Irländer, der bei ihm ist als Zimmersteward, ist zur Vorsicht mal auf meinen Antrag vom Kapitän jeden andern Dienstes entbunden. Der Mann ist früher mal Preisboxer gewesen – eine Hand wie 'n Fußsack –, dann war er Irrenwärter . . . ganz gute Qualitäten und Vorübungen für so 'nen Stewardposten auf einem Luxusdampfer, der . . . Pardon!«

»Bitte – bitte. Ganz Ihrer Ansicht, Herr Kollege.«

»Ich habe dem Irländer einen Wink gegeben. Sie wissen, wenn solch ein Neurastheniker mal seinen krampfartigen Anfall von Energie bekommt und sich heroisch aufrafft . . . Also im Notfall: mal lieber den Respekt vor der ersten Klasse verletzen – lieber mal ein bißchen niederschlagen, hab' ich gesagt, als die Unannehmlichkeiten für die Gesellschaft riskieren, daß der Mann sich an Bord was antut . . . Nachher, wenn wir ihn erst glücklich am Lande haben und der Familie gegenüber die Verantwortlichkeit los sind . . . Auf die Familie wär' ich übrigens bei dem Windhund wirklich neugierig!«

Bergemann schien nicht neugierig. Er sah nachdenklich über das Meer. Aus der Ferne blinkten die Lichter eines Dampfers.

»Na –,« der Doktor zuckte die Achseln, »dann – dann kann er immer noch tun, wozu er lustig ist. Auf der Calwerstraat in Amsterdam – gleich links – ist, soviel ich mich erinnere, ein ganz hübscher Waffenladen.«

Bergemann aber dachte, daß diese gemütvolle Erlaubnis des Arztes keinesfalls ausgenützt werden dürfe. Er mußte eben die Möglichkeit finden, bis zur Landung in Amsterdam sich dem Neffen zu nähern und, seinen gekränkten Stolz behutsam aufrichtend, sein Vertrauen zu gewinnen.

»Möglich, daß eine unglückliche Liebe mitspielt. Sogar nicht unwahrscheinlich. Da hab' ich ihn neulich überrascht, wie er ein Damenbild – so ein winziges Ding in einem Medaillon – betrachtete. Und geweint hatte er auch. Auf Seereisen sehr häufig. Ist den Pessimisten und den Weltschmerzlern wunderlicherweise noch entgangen, findet sich weder bei Schopenhauer noch bei Byron. Bei Leopardi hab' ich nicht nachgesehen; der wird's aber auch nicht gefunden haben. Daß nämlich die sogenannte unglückliche Liebe und der Brechreiz irgendeine innige physiologische Beziehung haben müssen. Ich forsche in dieser Richtung schon, so lange ich auf See fahre. Diese Reise hat mir prächtige Beispiele geliefert; und nun hoffe ich noch stark auf den famosen Golf von Biskaya. Und, sehn Sie, das macht mich vergnügt. Wir werden – Sie erkennen's dort an den violetten Streifen im Himmel, und auch der Wind hat sich gedreht, wir kriegen die Wellen schon von vorne . . . wir werden schwere See haben. Morgen. Da wird's mir dann nicht an Material fehlen . . .«

»Glauben Sie?« Bergemann sagte das ganz zerstreut. Er hätte das auch gesagt, wenn Doktor Lux behauptet hätte, er vermute, daß es heute nacht Mondkälber regnen werde, oder der Obersteward werde wohl um Mitternacht nach Korallen tauchen. Er dachte nur daran, wie er dem Neffen eine Botschaft zukommen lassen könnte, die ihm den gesunkenen Lebensmut höbe.

Aber der Doktor war in seinem Fahrwasser. Er wickelte sich fester in seinen blauen Mantel, lehnte sich, die Hände in den weiten Taschen, gegen die Bordwand und kramte seine frohen Erwartungen aus. »Und ob ich glaube! Ein Schiff, sehen Sie, ist immer eine schwimmende Liebesinsel. Die Leute kriegen tagelang keine Post und somit keine Unannehmlichkeiten. Das Telephon rasselt nicht und ärgert nicht mit falschen Verbindungen, mit Gleichgültigkeiten, mit Zwangsgesprächen. Die Gefahren der Automobile, der plötzlich auftauchenden ›Jugendfreunde‹, die man nicht ausstehen kann, der herrenlosen Hunde und der irrsinnigen Radler, die ohne Klingel fahren, sind ausgeschaltet. Das Meer erweckt frohe Gedanken, weil kein Gebirge, keine Stadtmauer dicht vor der Nase schon den Horizont begrenzen. Irgendwo taucht ein Eiland auf, das scheue Sehnsucht erweckt – oder besser und moderner: Sehnsüchte. Denn die Schönheit des sinnlosen Pluralis ist eine Erfindung der Neuzeit und ihrer Gefühlspoeten. Man denkt sich: es muß herrlich sein auf solcher Insel – weltverloren, verträumt, ohne Nachbar und Späher, ohne Wecker, Rohrpost, ja vielleicht sogar ohne Uhr – mit einem geliebten Wesen zu wohnen. Und vergißt, daß es dort vielleicht nur einen schmierigen Bäcker gibt, der nachts im Backtrog schläft, und gar keinen Schlächter. Und daß man selber Hühner halten und die Eier aus dem Mist suchen muß; daß man Talglichter brennen muß und im Sommer von den Ameisen schier gefressen wird in dem undichten Holzbau, während im Winter die Ratten Gesellschaftsspiele arrangieren um die angenagten Bettpfosten . . . Egal, Logik und Kenntnisse und Erwägungen gehören nicht zu einer Seefahrt für Vergnügungsreisende. Mithin – Sehnsüchte. Und da das süße Traumspiel einen holden Gegenstand braucht, um den sich's dreht; und da das Essen vortrefflich und reichlich ist; und da die Schiffsmusik – wenn kein von des Himmels Zorn auf See verschlagener Balzer sie dirigiert – schmelzende und neckische Weisen zu guten Weinen spielt, so kommen aus dem Herzen nicht arge, aber heiße Gedanken. Die Phantasie wird unterstützt durch den Wind, der die frivole Gewohnheit hat, die Gewänder dicht an den weiblichen Körper zu legen und Formen anzudeuten, nachzuzeichnen, die auf dem Lande nur in Singspielhallen und Nachtlokalen zu erspähen sind . . . Kommt hinzu, die Männlein und Weiblein – sicher gemacht durch das flotte, ungewohnte Schiffskostüm, die Mütze, den wehenden Schleier – kommen sich verwegen, abenteurerhaft vor. Sie glauben Besonderes, Unerhörtes erleben zu müssen unter diesen helleren Sternen, zu der Musik der Wellen und im Angesicht von weiß und gespenstisch aus dem Meer aufsteigenden Häfen. Sie sehen grelle Blumen auf dem Tisch, von denen sie nicht einmal die Namen wissen. Sie essen Früchte zum Dessert, denen sie daheim tief mißtraut hätten. Sie schauen – wie selbstverständlich – Fahrtgenossen aller Schattierungen als Diener oder Passagiere um sich – Neger, Chinesen, Malaien, Kabylen – denen sie, jedem einzelnen, daheim in ihrer Vaterstadt mit offenem Munde minutenlang nachgeglotzt hätten. Fühlen sich losgelöst von Sorgen, Berufen, Verwandtschaften, die auf dem festen Lande, wie in einem lächerlichen Gefängnis, weit dahinten wo zurückgeblieben sind. Hören Sprachen um sich, deren Wortlaut sie nicht verstehen; die für sie, je nach dem Klang, nur Stimmungen, Gefühle, Leidenschaften an sich bedeuten – Zorn, Demut, Haß, Jubel, Zärtlichkeit. Der Nüchternste unter ihnen erlebt – und wenn er's tausendmal durch Betonung lächerlicher Landgewohnheiten abzuwehren sucht – sein zwingendes Märchen des Meeres. Dem einen beginnt's, wenn die ulkigen Delphine hinter dem Schiffe her, silbrige Kreise schlagend, ihr Spiel treiben; dem andern weckt's das feierliche Meeresleuchten oder das schreckende Nebelhorn im verdunkelten Kanal. Irgendwo, irgendwie packt es ihn, krempelt ihn um, bläst ihm den dicken Landstaub aus der Seele: Zwingt seine Träume in die Schaukelbewegung, die ihm auf dem Lande lächerlich vorkäme, ein Kinderspiel, ein Jahrmarktswitz. Und dann ist der Boden bereit für den Flirt, für die Liebe, für die Leidenschaft. Sie kommt nicht, sie ist da: irgendwo steht's in einem blöden Theaterstück. Und dann . . . ja, dann kommt eben das physiologische Interessante, über das ich eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben denke. Dann kommt die Seekrankheit und verwischt zunächst alle zärtlichen Regungen, erstickt alle Liebesbedürfnisse. Denn wer glaubt, er habe einen alten Fußsack verschluckt, in seiner Gurgel liege eine vergessene trockene Serviette und in seiner Hirnschale werde ein Pferderennen veranstaltet, der hält natürlich keine nennenswerten Beziehungen zum andern Geschlecht aufrecht. Aber wenn dann das Übel nachläßt, wenn das Gefühl dämmert, du bist wieder was, du wirst wieder wer . . . Der Zustand der Rekonvaleszenz ist immer gefährlich. Die größten Dummheiten des Herzens werden gemacht, oder doch geplant, wenn eben die Schwester die erledigten Zettel mit den Fieberkurven des Patienten verbrennt und der Arzt sagt: »So, nun werd' ich in zwei, drei Wochen wieder mal nachschauen!« Das Gefühl der Wiedergeburt ist das Gefährliche. Zu jeder Blödigkeit muß man geboren werden; zu den allergrößten Blödigkeiten aber muß man unbedingt eine Wiedergeburt hinter sich haben. Wer nie krank war, hat sich viel Blamagen erspart. Viel Eseleien, die nur der Genesende bezahlt. Es ist, als ob das Gemüt dem Körper nicht nachstehen wollte an Extravaganzen. Jetzt hat der Körper seine Irrung, seine Dummheit hinter sich – nun kommt das Herz daran. Aber schlimmer als alles, tückischer als Angina und Beinbruch, als Nierenkolik und Milzschwellung ist hierin – nach meiner Erfahrung – die Seekrankheit. Die nervöse Affektion des Magens, als welche sich der Brechreiz darstellt, wird meist ausgelöst von einer nervösen Affektion jener Triebzentren, die zu törichten Liebeshandlungen, zerbrechlichen Schwüren, vorschnellen Verlobungen und solchen Übertreibungen des Affekts führen. Und deshalb sage ich: wenn die guten Ehen im Himmel geschlossen werden und die praktischen auf dem Lande, die blödesten werden allemal auf dem Meere geschlossen oder doch verabredet.«

Durch die Eindringlichkeit seines Vortrags hatte sich der Schiffsarzt doch schließlich die Aufmerksamkeit Bergemanns erzwungen, der, halb belustigt, halb erstaunt über die Beredsamkeit des Doktors, zuhörte.

»Ist das wirklich Ihr Ernst, Herr Kollege?« fragte Bergemann, indem er sich auf eine der eisernen Rollen setzte.

»Mein heiligster Ernst. Und Sie werden sehen – die Biskaya wird mir recht geben. Oh, wir haben gutes Material an Bord. Reiches und vortreffliches. Da haben wir erst die schöne Blondine, die mollige Witwe, die mit dem kindlichen Vertrauen die Geschichte von dem treuen ersten Gatten zum besten gibt, der doch offenbar mit der Herzogin da hinten in Indien nicht bloß Petroleum gesucht hat. Diese Dame ist fällig in der Biskaya. Für wen wird sie sich entscheiden? Herr Schwammerl, der Servus- und Küß-die-Hand-Mann, hat Chancen, seit er endlich seinen versicherten Schnupfen los ist. Aber auch Herr von Reubke ist nicht aussichtslos, da es ihm gelungen ist, die Geschichte mit den nicht salonfähigen Bauchtanzbildern ganz auf Mücke abzuwälzen, dem im freiwilligen Exil seiner Kabine doch schon alles egal ist. Die üppige Selma – die sich die ganze Zeit nicht zeigt, weil der gute Beppo Marlettino ihre Haarfarbe schnöderweise nicht in seinem Kram mitführt – wird vielleicht auch dem Ritter und ganz Edlen von Scupinsky den Abschied geben – denn daß er ihr angetrauter Gatte ist, glaubt doch nur Fritzchen, der liebe Junge. Wenn der's noch glaubt. Da käme also Zwingenberg in Frage, der Pilsener Urquell, wie ihn die Stewards nennen; der bis jetzt wenig Gefühl, aber viel Hundertmarkscheine gezeigt hat. Und Elisabeth Hunneberg – ich habe gerade vorhin gehört, wie ihr der pfiffige Hobsen eine scheinbar ganz harmlose Vorlesung darüber hielt, daß die Ehe die Stimme verderbe. Die meisten großen Sängerinnen hätten sich denn auch prompt wieder scheiden lassen – gewissermaßen ihre Gatten geopfert auf dem Altar der Musik. Worauf die Walküre schlagfertig erwiderte, daß es dann – da sie doch das Liebesleben vieler ihrer Kolleginnen kenne – nur der Priestersegen oder das zugige Standesamt sein könne, das solche stimmvernichtende Wirkung übe. Hobsen redete weise und energisch. Er redet eben für die Firma, die ihn als Wächter bestellt; und sieht die Biskaya kommen und – Grabusch.«

»Sie glauben, daß der Amtsgerichtsrat –«

»Das hängt von der See ab, die wir morgen haben werden. Vorerst prüft er Fritzchen auf Herz und Nieren. Als ich vor dem Diner an seinem Liegestuhl vorbeiging, hatte er den Buben onkelhaft umgefaßt und befragte ihn gerade in treuherziger Neckerei: ›Und wenn nun, mein Junge, deine liebe Mama doch mal eine Reise ohne dich machen würde . . .?‹ Da spürt man doch die ausgestreckten Fühler . . . Und Agnes – Agnes aus Magdeburg mit den schmachtenden Augen und dem Fröbelsystem – liest Chamisso. Aus der Schiffsbibliothek. Natürlich nicht Sala y Gomez, sondern ›Frauenliebe und -leben‹. Die Biskaya wird die Angelegenheit mit Chamisso und Hobsen klären. Die Biskaya, unterstützt von der Gewißheit, daß in Amsterdam alles zu Ende ist. Na, und ähnliche Erwägungen werden dann wohl Ihren jungen Freund, den Assessor, auch wohl zum erhofften Ziel irgendwelcher Wünsche treiben . . .«

»Wie meinen Sie das?« Bergemann hatte, durch die Sorgen um den plötzlich gefundenen, rasch wieder verlorenen Neffen beschäftigt und verwirrt, schon einige Tage lang versäumt, sich um Erichs Herzensangelegenheit zu kümmern. Er hatte es schon in Tanger wohltuend empfunden, daß Erich ganz ohne Bitterkeit und ohne jeden Rest schmerzlicher Ironie über Eugenie sprach. Dann nach dem bösen Abend der Abfahrt von Kadiz hatte er keine Beobachtungen mehr in dieser Richtung gemacht oder angestrebt.

»Na,« lachte der Schiffsarzt, »ein jeder Jüngling hat einmal . . . sagt Wilhelm Busch so schön wie richtig. Aber nein – die kleine Stewardeß ist wirklich ein famoses Mädel, ein netter Kerl. Ist auch entschieden aus besserer Familie – oder die bessere Familie fängt – wie bei Napoleon – mit ihr an. Wenn das Mädel zufällig in der Luxuskabine reiste und hätte Rubinringe zu verlieren, wie die blonde Frau Tilly, dann sollten Sie mal sehen, was die Biskaya erlebte! Na, auch so kann . . . Übrigens scheint mir mein Neurastheniker, der edle Herr Mücke, in dieser Richtung etwas Lunte gerochen zu haben. Er machte gestern oder vorgestern aus seiner Matratzengruft heraus so eine wunderliche Bemerkung. Und da er den Assessor überhaupt nicht gerade innig schätzt, wie mir scheint, so kann auch da die Biskaya . . .«

Diese leise und lächelnd andeutende Rede des Doktors entschied. Bergemann war entschlossen, die Unterredung mit dem Neffen zu erzwingen.

»Sie besuchen Ihren Patienten heute nochmal, lieber Doktor?«

»Ja. Ich will ihm ein leichtes Schlafpulver einflößen – Bromural, denk' ich . . .«

»Ich habe eine Bitte: nehmen Sie mich mit. Zunächst als Arzt. Sagen Sie, ich hätte darum gebeten – da mich der Fall interessiere . . .«

»Ja – aber . . . Das ist doch ungewöhnlich und . . .«

»Geb' ich zu. Aber ich übernehme jede Verantwortung.«

»Aber – es ist gewiß gegen den Willen des Patienten.«

»Zuversichtlich. Er wird auch aufbrausen. Dann aber lassen Sie mich mit ihm allein und . . .«

Lux wurde mißtrauisch. »Sie – mit ihm? Heute abend? Sie wollen doch nicht mit Hypnose und solchen Scherzen . . .?«

»Nein.« Bergemann überlegte. Dann sagte er: »Geben Sie mir mal Ihr Ehrenwort, daß ich das, was ich Ihnen jetzt sage . . .«

»Gemacht!«

»Bis Amsterdam?«

»Bis ins ewige Leben, wenn Sie wollen.«

»Die Mutter dieses – hm, sagen wir: dieses in seinem Gemüt verwirrten jungen Mannes war meine Schwester.«

»War Ihre – was?«

»Meine einzige Schwester. Ja. Ich erfuhr das erst vor wenigen Tagen. In Kadiz. Ich wußte es auch nicht bis zu jenem in mehr als einer Beziehung seltsamen Abend.«

Der Doktor sah sinnend vor sich hin. »Wunderlich. Und das hat ihn . . . Mir scheint, Sie hätten mehr Grund, von dieser Entdeckung erschüttert zu sein, als er. Aber am Ende – das geht mich nichts an. Sie sind Arzt, Sie repräsentieren die Familie. Kommen Sie, Sanitätsrat, besuchen wir unsern Patienten!«


>

Die Nacht vom letzten Mai auf den ersten Juni war nicht schön gewesen. Die »Astarte« kämpfte tapfer gegen Wind und Wellen. In den Kabinen der Zimmerstewards und Stewardessen war viel geklingelt worden. Die Biskaya neckte ihre Opfer.

Beim Frühstück blieben viele Tassen unberührt. Und die appetitlichen Töpfchen, die Eingemachtes aus Portugal enthielten, fanden wenig Liebhaber.

Dafür hatten die Deckstewards früh zu tun. Die Sonne schien so golden und harmlos, als gelte es den friedlichsten Tag zu beleuchten. Aber die See kam schwer in breiten Wellen von vorn, und man konnte Bergpartien machen beim Deckspaziergang und gleich wieder ins Tal fallen.

Auf Bootsdeck in den Schutz der »Schwemme« und der Schornsteine hatten sich die Ungarn niedergelassen, heute ohne rechte Lebhaftigkeit und allen Zwiegesprächen abgeneigt. Die Engländer saßen hinter den Luxuskabinen, mit heftig karierten Schals zugedeckt und ein Buch in der Hand. Penelope stickte heute nicht. Sie seufzte viel und steckte manchmal aus einem silbernen Döschen ein geheimnisvolles Kügelchen in den Mund, das, nach ihrem gottsjämmerlichen Gesicht zu urteilen, einen sehr üblen Geschmack haben mußte und nur von ihr gekannten Zwecken diente.

Auf dem Promenadendeck – »gereiht wie die Weihnachtspuppen«, lachte der Kapitän, der mit Peterle, vergnügt salutierend, nach der Kommandobrücke ging – streckten sich die deutschen und österreichischen Passagiere in ihren Liegestühlen. Kleine Gruppen, ein wenig gesondert und doch für Zurufe und lautes Wort zu erreichen. Die Deckstewards servierten gerade, höflich ein Kennerlächeln unterdrückend, das zweite Frühstück.

»Bäh – Bouillon!«

»Sandwichs? Nicht um einen Wald voll Affen!«

Die Stimmung war auch diesem Frühstück nicht günstiger als dem Eingemachten aus Portugal.

Unter dem sanften Zwang jenes Zufalls, dem sinnvolle Absicht nicht abzusprechen ist, hatten sich vier Gruppen zusammengefunden, alles Leid, das der Tag bringen konnte, zu erwarten. Elisabeth Hunnebergs sorglich mit Decken versehener Liegestuhl war von Hobsens und Grabuschs Stühlen flankiert. Pilzheimer lag, rauchte und redete zwischen Zwingenberg und Kloppenbusch. Tilly Schuch, blonder, blasser und hübscher denn je, empfing von links Schwammerls wienerisch weichen Trost; während von rechts Kreuzwendedich von Reubke norddeutsch akzentuierter in ihren Fatalismus hineinredete. Durch den Gang getrennt, der zum Treppenhaus und in den Rauchsalon führte, standen die Stühle von Bergemann und Erich, neben dem sich mit allerlei Briefen, Zeitungen, Büchern, Fläschchen und Schreibzeug als die letzten dieser ansehnlichen Reihe die Öltzendorffs, Bruder und Schwester, niedergelassen und wie für eine Überwinterung eingerichtet hatten.

In der Gruppe, die von Elisabeth Hunnebergs energischem Walkürenhaupt als Mittelstück beherrscht war, las Grabusch in seinem Schopenhauer. Zuweilen sandte er einen forschenden Blick zur Seite: ob die Augenlider der Diva noch, Schlummer markierend, geschlossen seien. Sie waren noch geschlossen. Grabusch las:

»Schon der Anblick der weiblichen Gestalt lehrt, daß das Weib weder zu großen geistigen noch körperlichen Arbeiten bestimmt ist. Es trägt die Schuld des Lebens nicht durch Tun, sondern durch Leiden ab, durch die Wehen der Geburt, die Sorgfalt für das Kind, die Unterwürfigkeit unter den Mann, dem es eine geduldige und aufheiternde Gefährtin sein soll.«

Grabusch sah auf. Die aufheiternde Gefährtin – deren er sich nach dem Entschluß der letzten Nächte zu versichern dachte – lag mit einem Gesicht, das eine versteinerte Mißvergnügtheit schien, in ihrem Stuhl. Und was die Sorgfalt für das Kind betraf – eben hatte Fritzchen, der liebe Junge, sein Sandwich mit der geschmierten Seite auf Grabuschs italienische Seidendecke gelegt, bevor er zu einem Spiel mit dem wieder auf der Bildfläche aufgetauchten Peterle sich aufmachte. Grabusch entfernte das Sandwich durch kräftigen Wurf über Bord und las stirnrunzelnd weiter:

»Für die Propagation des Menschengeschlechtes zu sorgen, sind von Natur die jungen, starken und schönen Männer berufen: damit das Geschlecht nicht ausarte. Dies ist hierin der feste Wille der Natur, und dessen Ausdruck sind die Leidenschaften der Weiber.«

Grabusch dachte nach, wie er sich persönlich – theoretisch und praktisch – zur Propagation des Menschengeschlechtes zu stellen habe. Heute nacht war er zwischen zwei und drei Uhr, als Zwingenberg in seinem Bett so jämmerlich stöhnte, viel mutiger und entschlossener gewesen; woran die halbe Flasche Pommard, die er sich als Abwehr gegen die Biskaya mitgenommen, ein wenig mitgewirkt haben mochte. Er war jetzt fast froh, daß Elisabeth Hunneberg schlief und daß Hobsen, dessen Anwesenheit ihm noch vorhin sehr überflüssig vorgekommen, dabeisaß. Grabusch las weiter in seinem Schopenhauer:

»Das niedrig gewachsene, schmalschultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht das schöne nennen konnte nur der vom Geschlechtstrieb umnebelte männliche Intellekt: in diesem Triebe nämlich steckt seine ganze Schönheit. Mit mehr Fug, als das schöne, könnte man das weibliche Geschlecht das unästhetische nennen. Weder für Musik, noch Poesie, noch bildende Künste haben sie wirklich und wahrhaftig Sinn und Empfänglichkeit; sondern bloße Äfferei, zum Behuf ihrer Gefallsucht, ist es, wenn sie solche affektieren und vorgeben.«

Grabusch ließ das Buch sinken und erwog, ob er im gedachten Sinne umnebelt war. Er beantwortete die Frage nach reiflicher Prüfung mit nein. Und daß der Sinn Elisabeth Hunnebergs für Musik bloß Äfferei sei, konnte er um so weniger zugeben, als Hobsen ihm gestern mitgeteilt hatte, daß die Diva in Amerika für jeden Gastspielabend fünfhundert Dollar bekomme. Auch daß sie niedrig gewachsen und schmalschultrig sei, war entschieden ein Irrtum des Philosophen.

So geschah es, daß Grabusch auf seiner achten Seereise ernste Zweifel an der Richtigkeit der Schopenhauerschen Werturteile aufstiegen, die ihm auf sieben Seereisen maßgebend gewesen waren. Grabuschs Gedanken waren nicht mehr ganz bei der Philosophie, als er weiterlas:

»Daß Witwen sich mit der Leiche des Gatten verbrennen, ist freilich empörend; aber daß sie das Vermögen, welches der Gatte, sich getröstend, daß er für seine Kinder arbeite, durch den anhaltenden Fleiß seines ganzen Lebens erworben hat, nachher mit ihren Buhlen durchbringen, ist auch empörend.«

Der Gatte, der für die Kinder arbeitete . . . Für Fritzchen hatte ja wohl die Mutter gearbeitet. Mit ihrer gottbegnadeten Kehle. »Hoiotoho« – und so. Der Vater – ja, wer war Fritzchens Vater? Darüber mußte Grabusch doch auch erst klarsehen eigentlich, ehe er – Donnerwetter, schaukelte der Kasten! –, ehe er das feierliche, bindende Wort sprach. Er hatte sich – mit griechischen Buchstaben, wie es seine Gewohnheit war in wichtigen und diskreten Fällen – alles gewissenhaft notiert, was Elisabeth Hunneberg damals im Löwenhof der Alhambra, als er mit nassen Beinkleidern zum Trocknen in der Sonne saß, über einen ehemaligen Freund, den Bildhauer, geäußert hatte. Über sein Denkmal der Freiheitskriege, über elende Intrigen mißgünstiger Kollegen. Das Reisehandbuch mit diesen Notizen lag nun leider im Hause des Pilatus in Sevilla; und die Eintragungen gaben gewiß dem Finder unlösbare Rätsel auf, ja, schienen auf Blödigkeit des Verlierers dieses Buches zu deuten.

»Um Gottes willen –!« Die Diva hatte die Augen weit geöffnet, das Haupt vorgeneigt und starrte entsetzt, als sehe sie Gespenster, die Reihe entlang.

»Was ist?« Grabusch ließ erschrocken den Schopenhauer fallen; während Hobsen, an Plötzlichkeiten im Verkehr mit der Diva schon gewöhnt, nur den Kopf leicht wendete und, sein glattrasiertes Kinn streichend, bemerkte: »Have you any inconvenience, madame?«

»No Sir, but I fear that we will be thirteen in this row!«

Grabusch, dessen Englisch nicht seine starke Seite war, wußte nicht recht, wie er sein Interesse betätigen sollte. »Was fehlt unsrer Freundin?« fragte er Mister Hobsen.

»Oh – Missis Hunneberg meinte, wir sind vielleicht gerade dreizehn, die hier in der Reihe liegen. Dann geht – meint Missis Hunneberg – das Schiff allemal unter. Oder so was.«

Grabusch teilte diesen Glauben nicht. Aber er beeilte sich, nachzuzählen, und berichtete das Resultat: »Allerdings – dreimal drei und vier dazu – dreizehn.«

»O Gott – o Gott!« Elisabeth Hunneberg machte den energischen Versuch, sich aus den Decken auszuwickeln und aufzuspringen.

Mister Hobsen hatte sich ruhig erhoben. »Do not bother yourself – ich gehe schon.«

Und Mister Hobsen verschwand, grüßend, seinen Tauchnitz-Band unter dem Arm, in der Richtung des Musiksalons, in dem er jetzt Agnes aus Magdeburg mit dem Durchblättern des Schumann-Albums und der Lektüre der Texte beschäftigt glaubte. Er hätte längst gern diesen Weg eingeschlagen. Aber die seiner Gesellschaft gegenüber übernommene Verpflichtung bannte ihn in seinen Sessel an Elisabeths Seite. Nun, da sie die Zahl dreizehn mit besonderem Schrecken bedrohte – mit einem Schrecken, der ihrer Stimme mehr schaden konnte als die von Hobsen gefürchtete Liebeserklärung des Amtsgerichtsrats –, glaubte Mister Hobsen seiner Gesellschaft durch schleunige Entfernung am besten zu dienen und mit reinem Gewissen Fräulein Agnes aufsuchen zu können, die gewiß durch die Unruhe des Meeres in ihrem Gemütsleben etwas aufgewühlt war.

Elisabeth Hunneberg sah Hobsen mit einem dankbaren Lächeln nach und ließ ihr edles Heroinenhaupt wieder in das violette Luftkissen zurücksinken.

»Ein angenehmer Mann – Mister Hobsen,« sagte sie, »wenn man ihn nicht zu oft sieht.«

»Sehr angenehm«, bestätigte Grabusch, die Einschränkung innerlich dahin erweiternd, daß ihm persönlich nichts fehle, wenn er den angenehmen Mann überhaupt nicht mehr sehe.

Aber nun war er ja weg, der Impresario – sein Stuhl war leer, sein Schritt verhallt. Eine heiße Welle stieg Grabusch nach dem Herzen.

Er dachte: jetzt oder nie! Setzte sich mit einem energischen Ruck auf, stellte die Füße links und rechts vom Stuhl auf den Boden, nahm seine karierte Mütze ab und sagte: »Meine gnädigste Frau . . . verehrte Freundin – wenn ich Sie so nennen darf . . .«

»Sie dürfen.« Elisabeth Hunneberg hatte die Augen schon wieder geschlossen und lächelte wie jemand, der im warmen Bade sitzt und noch weitere Annehmlichkeiten erwartet. Aber da nach der gegebenen Erlaubnis nichts weiter erfolgte, so öffnete sie die Augen wieder und sah sehr erstaunt, daß mit Grabusch eine große Veränderung vorgegangen.

War es nun der Schreck über das Englisch und die Dreizehn, war es die Freude über Hobsens Fleiß und den eigenen Entschluß gewesen – oder war es nur die eigentümlich unsympathische Schlingerbewegung, mit der die »Astarte« jetzt ihre Passagiere ergötzte – jedenfalls hatte Grabusch plötzlich vom Magen her etwas wie einen heißen Kloß aufsteigen gefühlt; und gleichzeitig war ihm der Angstschweiß an den Schläfen ausgebrochen. Ein heftiges Zittern in den Beinen vervollkommnete den wenig angenehmen Zustand, der ihm für den Augenblick die verpflichtende Formulierung edler und dauerhafter Gefühle durchaus unmöglich machte.

Er legte den Kopf zurück, zog die Beine wieder unter die italienische Seidendecke, faltete die Hände über dem Magen und sagte nichts mehr.

»Ja, ja, die Biskaya!« Doktor Lux äußerte das mit einem Lächeln der Befriedigung im Vorüberwandeln zum zweiten Offizier, dessen Dienst auf der Brücke zu Ende war und der ein bißchen schlafen ging.

. . . Die Gruppe nebenan pflegte eine lebhafte Konversation. Das kam hauptsächlich daher, daß Kloppenbusch so guter Laune war und die beiden Herren Pilzheimer und Zwingenberg aufs angenehmste unterhielt.

Hilde war gleich hinter Kadiz auf den hübschen Einfall gekommen, dem langsam sich Erholenden in milder Rede zu suggerieren, daß ein Mann, der solch schweren Anfall von »Landkrankheit« – wie er in Sevilla – durch seine robuste Natur und die Vortrefflichkeit seiner Konstitution sieghaft bestanden, gegen alle weiteren Tücken des Meeres durchaus gefeit sei. In diesem beseligenden Gefühl hatte sich Kloppenbusch mit dem Meer und seinen ohnmächtigen Tücken abgefunden und war geradezu ein Barde des Wassers, ein Lobsänger der Schiffsreisen geworden.

»Sehn Sie, Wertgeschätzter,« sagte er jetzt und schlug den ihm zunächst liegenden Pilzheimer vertraulich aufs Bein, »so ein Schiff ist, weiß Gott, die einzig richtige Sache. Keine Autos, kein Bettel, keine Mücken, keine Belästigung durch Leute, die einen nach dem Weg fragen. Einbruch – unmöglich. Sie können nachts Ihre Fenster auflassen – was hereinkommt, ist allenfalls Wasser. Schönes, klares Meerwasser. Mord – ausgeschlossen. Der Kerl wäre morgen gefaßt. Wie soll er hier entkommen, he? Ringsherum Wasser. Keine Kaschemme, keine Bouillonkeller, keine Schlupfwinkel. Aber nun nehmen Sie mal das feste Land, nehmen Sie mal eine Großstadt! Sieben Prozent aller Menschen sind Verbrecher – hab' ich neulich mal in einer Statistik gelesen. Wie diese sieben Prozent nachts über die Stadt verteilt sind, und wer ihnen da so ahnungslos begegnet – das entscheidet. Es ist nur ein glücklicher Zufall, daß unsereiner noch nicht ermordet ist. Nichts andres. Man geht abends spät nach Hause – sagen wir: ein, zweimal in der Woche. Nun lassen Sie mal von den sieben Prozent einen zufällig des Weges kommen. So ein angenehmer Mitbürger sieht Sie – Sie haben nur ein Spazierstöckchen oder gar einen Schirm. Er fragt Sie, wieviel Uhr es ist. So 'ne Konversation fangen die Kerle immer zunächst an. – Egal: sagen Sie's ihm oder sagen Sie's ihm nicht – er haut Ihnen mit'm Schlagring eine über die Nase – Ihr Geschrei nützt gar nichts; denn ein andrer von den sieben Prozent is schon da mit einem Knebel – meist ein gräßlich dreckiges Taschentuch – und nichts wie rein in die Zähne, in die Gurgel, in . . .«

»Um Gottes willen –« stöhnte Zwingenberg. »Ich schlaf schon so nicht mehr gut –«

»Ja, bitte, das bin ich nicht.« Kloppenbusch war verletzt. »Das ist die Statistik. Beklagen Sie sich bei der. Oder freuen Sie sich vielmehr, daß uns hier das Gesindel für 'ne Weile nichts angeht. Daß wir auf dem schönen, sauberen Wasser sind, wo wir staubfreie Luft atmen, mit lauter anständigen Menschen reden, gut essen . . .«

»Oh!« Zwingenberg stöhnte noch heftiger. »Gut essen . . .!« Das war ja seit Lissabon der nagende Schmerz seiner Seele. »Was sagt denn darüber Ihre Statistik, verehrter Herr Kloppenbusch? Ist es recht, daß Köchinnen in der Lotterie spielen? Und daß ausgerechnet meine gewinnt!«

»Sagen Sie nichts gegen die Lotterien!« wehrte Kloppenbusch. »Ich habe auch immer Glück. Zum Beispiel diese schöne Reise . . .«

»Ich weiß, ich weiß!« Zwingenberg weinte fast. »Wenn sie bloß auch so 'ne Reise gewonnen hätte, meine Köchin! Nach Spitzbergen meinetwegen oder um Schottland 'rum. Gut, ich hätt' mal vier Wochen bei Kempinski oder in der ›Traube‹ gegessen. Aber nein – zwanzigtausend Mark – schreibt sie mir doch nach Lissabon – zwanzigtausend Mark hat sie in der verdammten Lotterie gewonnen. Ich bitte Sie, das ist doch ein Vermögen für so ein Mädel – nun is se doch 'ne Partie! Und sie hat da 'nen älteren Bäckerburschen an der Hand – ich hab' Ihnen doch erzählt –, mit dem sie immer in Halensee tanzt . . . Nu machen die natürlich 'ne sogenannte Feinbäckerei auf – und ich bin der Reingefallene und kann sehen, wer mich nun mit norddeutscher Küche langsam vergiftet.«

»Und wir haben noch in Sevilla auf das Wohl von der Dame getrunken«, bemerkte Kloppenbusch nachdenklich. »Es war doch die . . .?«

»Aber ich hab' doch nur eine! Und jetzt, wenn ich nach Hause komme, hab' ich gar keine.«

»Ich geh' nachher hinunter und erzähl' das meiner Frau.« Pilzheimer war sehr vergnügt und rieb sich die Hände. »So Dienstbotengeschichten hat sie zu gern. Sogar mit den Scheichs in der Oase hat sie – durch den Dolmetscher – immerzu solche Dienstbotensachen und Sklavengeschichten verhandelt. Und wenn sie das hört von der Köchin, die Lotterie spielt – und gewinnt –, meine Herren, gewinnt, da ärgert sie sich bucklig. Wissen Sie, auf See kann ich sie ärgern – ohne jede Gefahr –, da ist sie ganz klein.«

»Wenn man so in die Intimitäten des Ehelebens schaut, könnt' man ordentlich Lust kriegen, noch zu heiraten«, sagte Zwingenberg maliziös. »Und wenn man so was erlebt mit seiner Köchin, die man zwölf Jahre gehabt und die zwölf Jahre nix gewonnen hat, und nun auf einmal in 'ner Lotterie, die man selber spielt und nicht mal mit dem Einsatz rauskommt . . . Also da könnt' man, weiß der Deubel, ein schlechter Kerl werden . . .«

Die beiden Herren sahen erschreckt zu Zwingenberg hinüber, der, wie sie seine Worte verstehen mußten, eine verbrecherische Laufbahn in ernste Erwägung zog. In Wahrheit meinte er's anders.

Mitten im Ärger über den Gewinn der Köchin, den er als eine Art Treubruch empfand, war ihm wieder eingefallen, wie warm und weich Selmas Fuß neulich auf dem seinen gestanden hatte, als er mit Scupinsky Karten spielte. Er mußte – das entnahm er auch ihren Blicken, die sein weder glänzendes noch erfolgreiches Spiel bewundernd begleiteten – auf die Dame tiefen Eindruck gemacht haben. Nach einigen nicht sehr respektvollen Andeutungen des Schiffsarztes, mit dem er mehrfach in der Schwemme Pilsener getrunken, war aber Selma durchaus nicht Scupinskys angetraute Gattin. Mithin wurden keinerlei durch Staat oder Kirche sanktionierte Rechte verletzt, wenn er, Zwingenberg, diesen renommistischen und lauten Slawen, oder was das Ekel war, durch die stille, tüchtige Biederkeit seines deutschen Wesens bei dieser offenbar einer wortkargen Männlichkeit geneigten Dame erbarmungslos ausstach.

»Schlecht werden – würde ich Ihnen nicht raten«, nahm Pilzheimer nach einigem Nachdenken den abgerissenen Faden des Gesprächs wieder auf. »Schlechtigkeiten haben heutzutage in unsrer Zeit des Telephons und Telegraphen verdammt kurze Beine.«

»Sagen Sie das nicht!« Kloppenbusch sprach ernst wie ein Sachverständiger, als der er allerdings in diesen Dingen auch gelten konnte. Denn während ihn in den Zeitungen die Politik nur insofern interessierte, als darin auf die Polizei geschimpft wurde, und das Feuilleton gar nicht, las er die Tagesneuigkeiten mit großer Sorgfalt. Unter diesen aber bevorzugte er Unglücksfälle und Verbrechen, da er sein eignes Wohlbefinden wesentlich gesteigert fühlte, wenn er von einem wohlgelungenen »räuberischen Überfall« in den Abruzzen oder von einer gut funktionierenden Höllenmaschine auf dem Schwarzen Meere Zuverlässiges durch sein Blatt erfuhr. Er mißbilligte also das oberflächliche Urteil Pilzheimers über die Chancen der Schwerverbrecher durchaus und äußerte noch einmal mit dem Nachdruck des Besserwissenden: »Sagen Sie das nicht! Ich will gewiß nicht behaupten, daß die Polizei immer ihre Pflicht tut – o nein! In der Straße, in der ich wohne, hab' ich zum Beispiel festgestellt, patrouillieren zuweilen in den Stunden von acht bis zehn Uhr morgens, wenn die Schulkinder und friedlichen Leute in der Morgensonne ihren Pflichten nachgehen, drei Schutzleute. Von zehn bis zwölf Uhr nachts aber, da es dunkel ist und die üblen Elemente hervorkommen, hab' ich nur einen Beamten gezählt. Und der war dienstfrei und gehörte nicht zu unserm Revier. Aber zur Störung der Verbrecher oder zu ihrer Verfolgung wirken oft noch ganz andre Dinge mit. Da stehlen zum Exempel ein paar schlimm aussehende Burschen bei einer Hamburger Importfirma für fünftausend Mark Vanille. Dann machen sie sich einen guten Tag. Aber – sie haben nicht mit den Nasen ihrer Mitbürger gerechnet. Die Kerle verbreiten aus ihren verschwitzten alten Kleidern einen wunderlieblichen Vanilleduft. Das ist doch nicht ihr Naturgeruch, nicht wahr? Also – gefaßt, untersucht und festgehalten! . . . Und dann die Tiere . . .«

»Ja, ja, die Polizeihunde . . .« meinte Pilzheimer.

»Die auch mal«, erwiderte Kloppenbusch. »Aber selten. Und wenn zufällig 'ne Hundedame in der Nähe wohnt – adieu Nase, Spürsinn, Intelligenz, Dressur! Nein, aber da wird bei einer alten Rentiere eingebrochen, die sich immer noch ihre verhutzelte Haut voll Brillanten hängt. Verloren wäre die Person. Aber sie hat einen grünen Papagei, ein Lorchen. Und wie das Vieh auf seiner Stange ein Gekrabbel auf dem Vorplatz hört, da sträubt es seine Federn und ruft ins Dunkel: ›Hurra – Hurra – ei, wer kommt denn da!‹ Das hören und die Hosen voll Angst haben und umdrehen und davonlaufen – ist eins. Denn wer mit so freudiger Stimme zwei Einbrecher begrüßt, der hat doch sicher in jeder Hand einen Revolver. Die Juwelen waren gerettet.«

Die Herren lachten.

»Ja, das ist noch gar nichts. In Leipzig steigt voriges Jahr so ein Gauner in ein offenes Fenster ein. Bei einem reichen Herrn, einem Sammler von Kuriositäten. Tastet sich vorsichtig in den Sammlungen des Sonderlings herum, greift mit der Hand in ein Aquarium – und brüllt, als ob er am Spieße stecke. Steckt auch am Spieß: denn er hat in dem Bassin einen Zitterrochen zu fassen gekriegt. So einen Fisch, verstehn Sie, aus dem Mittelländischen Meere, der einen elektrischen Strom heimlich im Leibe hat, und der jedem, der ihn angreift, einen derben elektrischen Schlag besorgt. Der Kerl ist nicht wiedergekommen, kann ich Ihnen sagen . . . Übrigens – ich wohne nie Parterre, wegen der Einbrüche . . . aber ich hab' mir zur Vorsicht auch einen Papagei angeschafft. Und einen Zitterrochen. Dreie sind nun schon krepiert. Der vierte scheint sich zu halten. Bloß, ich hab' den Verdacht, es ist gar keiner. Und ausprobieren möcht' ich's nicht. Wer kriegt – wenn er's vermeiden kann – gern elektrische Schläge?«

»Schön und gut«, nickte Pilzheimer und steckte sich eine neue Zigarre an. »Aber ich hätte – auch ohne Lorchen und Zitterrochen – doch weniger Furcht vor den sogenannten schweren Jungen, als vor den . . . nun, sagen wir: vor den leichten Jungen, den ganz leichten. Ich werd' Ihnen erzählen, was uns passiert ist. Meiner Frau und mir. Also wir wohnen da, zwei Jahre sind's her, in Wiesbaden in einer Pension – meine Frau hatte Rheumatismus. Seit sie geerbt hat, hat sie immer so etwas. Da wohnt doch so ein geschniegelter Ausländer mit uns Wand an Wand. Ein Russe, sagte er. Adlig natürlich. Man sieht außerhalb Rußlands ja nie einen Russen, der nicht adlig ist. Meist sind sie verwandt mit der Baronin Krüdener, oder haben Besitzungen in der Krim oder sonstwo, wo unsereiner nicht hinkommt. Mir gefiel der Kerl gleich nicht. Er roch wie ein Seifengeschäft und ging nie anders als in Lackstiefeln. Aber meiner Frau schenkte er immer Blumen – Rivieraveilchen, Orchideen. Nun, Sie kennen ja meine Frau, ich brauch' Ihnen nicht zu sagen, daß nicht übermäßig viel Leute auf den Einfall kommen, gerade ihr Rivieraveilchen und Orchideen zu schenken. Sie schenkt auch nie was wieder. Ja, und dann brachte er ihr russisches Konfekt mit in Blechbüchsen. Gräßlich süß. Man glaubt, man hat eine ganze Konditorei verschluckt, wenn man so ein Lutschdings glücklich unten hat. Aber meine Frau – weg, einfach weg. ›Ein Kavalier.‹ ›Adel bleibt Adel.‹ ›Ja, die Russen!‹ ›Alte Kultur‹ – ich danke! Und unangenehme Vergleiche mit mir. Der Kerl also macht in Spiritismus, verstehn Sie. Tischrücken gelang ganz gut. Wir sind so 'nem Mahagonispieltischchen durch drei Zimmer nachgerast wie die irrsinnigen Affen. Geisterschrift gelang nicht recht – er hatte immer die Finger voll Kreide nachher, wenn wieder hellgemacht wurde, und was auf dem Fußboden geschrieben stand, konnte keiner lesen. Aber – sagte er – er wird einen großen Zauber mit uns machen. Na, den hat er denn auch gemacht! Er wird uns an zwei Stühle festbinden, sagt er, ganz fest. Mit Seilen, die hat er zufällig in seinen Koffer gepackt. Und dann wird er indisches Räucherwerk entzünden, sagt er, ohne uns anzufassen. Ohne ein Seil, einen Knoten zu berühren. Und auf einmal werden die Fesseln von selbst von uns abfallen . . . Ich mache mir nichts daraus, festgebunden zu werden an einen Stuhl – und aus indischem Räucherwerk mach' ich mir schon gar nichts. Aber meine Frau sagt: ich bin ein Banause, und man muß die unbekannten Kräfte prüfen. Ich warne nochmal: ›Du wirst niesen müssen von dem indischen Räucherwerk, und du kannst dir nicht die Nase putzen, weil du doch angebunden bist.‹ Hilft nichts. Sie will sich lieber nicht die Nase putzen. Also schön. Der adlige Russe schließt die Fensterläden und Stores ganz dicht – bei uns war's, im Salon, nur wir drei –, knipst die Kronen aus, steckt bloß eine elende Kerze an. Wir waren angebunden, und nicht zu knapp, an ein paar hochlehnige, schwere Stühle. Er redet dazu in uns hinein – er spürt schon, sagt er, es ist ein ›Fluidum‹ da. Meine Frau seufzt, die Seile schneiden ihr in die Handgelenke – aber er sagt: das hört auf, wenn das ›Fluidum‹ erst recht rumkommt im Zimmer. Dann gießt er ein Pulver auf ein Silberschälchen und zündet's an. Also das gibt einen mörderischen weißen Dampf, der einen süßlichen Geruch hat und die Augen elend beizt. Er selber hält sich sein parfümiertes Taschentuch vor und weht uns mit einem Fächerchen, das er in der andern Hand hält, immerzu den süßlichen, warmen Dampf ins Gesicht. ›Geht's jetzt los?‹ frag' ich und merke, wie ich gräßlich müde werde. ›Gleich‹, sagt er – und schon hab' ich wieder 'ne weiße Wolke im Gesicht. Mein letzter Eindruck ist, daß meiner Frau ihr Kopf ein paarmal aufnickt, als wollt' sie sich gegen den Schlaf wehren. Und dann – ja, und dann bin ich in einem botanischen Garten oder wo, riesige Kakteen stehen herum mit grünen Stachelgesichtern und Aloen. Und allerlei wunderliches Viehzeug springt herum – – ich erinnere mich dessen noch ganz gut –, und ein Lama, ein weißes Lama, so wahr ich lebe – ich habe sonst noch nie von einem Lama geträumt –, leckt mir immerzu das Gesicht ab. So von unten nach oben, mitten über die Nase. Wie lange das Lama geleckt hat und ich geschlafen habe, weiß ich nicht . . . Die Pensionsmutter hat, als wir nicht zum Abendessen kamen und das Klopfen nichts nützte, und ein widerlicher Duft aus der Türritze drang, das Zimmer gewaltsam öffnen lassen . . . Na, was soll ich Ihnen sagen, meiner Frau ihre Brillantbrosche war fort, und mein Ring war fort, und meine Uhr war fort, und meine Brieftasche, meine Krawattennadel waren fort. Und der adlige Russe war auch fort. Wir aber – meine Frau und ich – saßen friedlich, angebunden, damit wir ja nicht vom Stuhl fallen, und schliefen mit heraushängenden Zungen, wie die Toten . . .«

»Donnerwetter!« Kloppenbusch war sehr erregt. »Und sind Sie wieder wach geworden?«

»Es scheint so. Aber das Kopfweh! Und auch sonst . . . ich glaube, die Seekrankheit ist ein Spaß dagegen. Drei Tage lang. Und da wir ganz benommen waren und konfuse Dinge redeten, war der ›adlige Russe‹ langst über alle Berge – mindestens über Taunus und Westerwald –, als wir endlich klar erzählen konnten, wie diese Wundersitzung verlaufen war.«

»Und Sie haben nie etwas von dem Gauner wieder gehört?«

»Gehört – i wo! Bloß manchmal hab' ich . . . ja, Sie werden lachen – gerochen hab' ich den Kerl. Sein Parfüm, wissen Sie, das so stark war und so eigenartig. Wie ein Seifenladen und doch wieder wie der heiße Atem einer fremden Pflanze, die vielleicht – sehr schön anzusehn und sehr giftig – in Indien wächst oder noch weiter östlich . . . Natürlich Einbildungen, Sinnestäuschungen. In einem Tunnel auf der Brennerbahn ist mir das mal passiert, dann vor ein paar Monaten im Spielsaal von Monte. Und neulich sogar, wie ich – vor Tanger – zum erstenmal abends unten in den Speisesaal komme.«

»Sie sollten mal,« sagte Kloppenbusch und setzte sich erregt in seinem Sessel auf, »sollten mal den Herrn Schwammerl konsultieren. Den Wiener Herrn dort, wissen Sie, dem sein Beruf ist doch das Riechen, verstehn Sie, das Proberiechen. Er hat, sagt er mir, ein Parfüm für eine Großfürstin zusammengerochen – so, wissen Sie, die Nuancen aus lauter Parfümen –, da kostet das Fläschchen davon zweihundert Gulden. Und seine Nase ist versichert, lassen Sie sich erzählen, seine Nase . . .«

. . . Während Kloppenbusch mit großem rhetorischem Aufwand die Geschichte von dieser kostbaren, hoch versicherten Nase erzählte, bemühte sich wenige Schritte davon entfernt ihr glücklicher Besitzer emsig, im Wettbewerb mit Kreuzwendedich von Reubke, um die Gunst Tilly Schuchs, die in sentimentaler Stimmung, wie sie die Angst vor der Seekrankheit leicht erzeugt, für zarte Huldigungen empfänglich war.

Nach Überprüfung sämtlicher sicherer Mittel, die ihr genannt worden waren, hatte sich die schöne blonde Frau entschlossen, weder immerzu Natron zu nehmen, noch die Füße stundenlang in heiße Bäder mit Sodazusatz zu senken. Auch auf die angewärmten Kognaks mit Eidottern hatte sie verzichtet, weil ihr schon schlecht wurde, wenn sie daran dachte. Aber die Überzeugung ängstigte sie, daß der wichtigste Schutz, den sie gegen die Tücke des Meeres besessen, ihr Amulett, verschwunden sei. Der Verlust des Rubinrings, an den sie auf dem Festlande und bei ruhiger See weniger schmerzlich gedacht, quälte jetzt ihre fatalistische Seele wieder, und sie sprach davon zu den beiden Herren, die links und rechts, wie zu ihrem Schutze, langgestreckt, die Köpfe ihr zugeneigt, in den Stühlen lagen. Aufgewühlt aber war die Sache wieder durch einen merkwürdigen Zettel von der Hand und mit der Unterschrift Mückes, den ihr sein Steward auf der Höhe von Kap Finisterre überbracht hatte, und auf dem zu lesen war: er glaube ihr wichtige Mitteilungen über den Verbleib des Ringes machen zu können, und er bitte sie deshalb, in der Angelegenheit nichts zu unternehmen, gar nichts, ehe sie ihn gesprochen. Aber er kam nicht, mit ihr zu sprechen. Statt seiner war heute früh der Steward wieder bei ihr erschienen mit einem zweiten Zettel: er, Mücke, bitte höflichst, die erste Mitteilung als ungeschehen zu betrachten, da ein Irrtum seinerseits vorliegen müsse. Jetzt war sie so gescheit wie vorher, aber wesentlich unruhiger. Denn ihr kam vor, als ob da irgendwelche fatale Intrigen gesponnen würden, die sie noch schlimmer schädigen konnten, als es schon durch den Verlust des seltenen Schmuckstückes geschehen.

»Also, Gnädigste, sein S' ganz ruhig –« sagte Schwammerl und legte den Zeigefinger wichtig ans Kinn zwischen die frisch ausrasierten Franz-Josefs-Koteletten –, »also, bitt' schön, mir hat der Friseur etwas g'sagt vorhin – der Herr Beppo – –«

Kreuzwendedich von Reubke hörte den Friseur ungern nennen. Seit Beppo Marlettino in seiner Zerstreutheit die Bauchtanzfilms mit den marokkanischen Gruppenaufnahmen Viktorias verwechselt und ihn dadurch in den Geruch eines Wüstlings gebracht hatte, rasierte er sich selbst. Das dauerte allerdings sehr lange, und das Englischpflaster seiner Reiseapotheke war schon beinahe aufgebraucht; aber Strafe mußte sein. Tilly schien die Angelegenheit verziehen oder doch schon halb vergessen zu haben; und er wußte sich stets so neben sie zu placieren, daß ihr die Verwundung am Ohrläppchen, in das ihn Fatme gebissen, nicht zu Fragen und Vermutungen Anlaß gab. Und jetzt mußte dieser unselige Schwammerl den Namen des ruchlosen Bartkratzers ganz harmlos wieder in die Unterhaltung werfen! Wirklich – ganz harmlos? War das nicht am Ende eine pfiffige Finte des Rivalen?

Kreuzwendedich überlegte. In seiner Tasche knisterten zwei wenig erfreuliche Briefe, die er gerade noch vor der Abfahrt von Lissabon in Empfang genommen. Der eine war von der unvermählten, vermögenden Tante, der »Fischotter«, die ihm dankte für einen aus Genua gesandten Blumengruß aus dem Süden, der leider nicht gut verpackt gewesen und ziemlich verwelkt angekommen sei. Dieser Brief enthielt dann noch die Mitteilung, daß die Tante vorübergehend an schmerzhaftem Rheumatismus gelitten, jetzt aber durch schwedische Massage einen so herrlichen Gesundheitszustand gewonnen habe, daß sie von Heiterkeit und Zuversicht erfüllt sei und wohl hoffen dürfe, das Patriarchenalter jener Ursula von Reubke zu erreichen, die, wie er wisse, ein Jahr vor Oliver Cromwells Tod geboren sei und die Schlacht von Kolin noch in voller Geistesfrische erlebt habe. Was sie ihm auch von Herzen wünsche . . . Von dieser Seite war also keine baldige Veränderung seiner Glücksumstände zu erwarten. Niederschmetternder noch war aber der zweite Brief, der schon seit drei Wochen hinter ihm herreiste, um ihm endlich in Lissabon mitzuteilen, daß sein Anwalt rate, weitere kostspielige Versuche zu unterlassen, das Bankdepot des in England verstorbenen Onkels Roderich, des närrischen Legationsrates außer Diensten, ausfindig zu machen. Die Oberin Veronika von Reubke – so schrieb der Anwalt –, deren Einwilligung zu einem Prozeß gegen die englischen Banken, die etwa in Betracht kämen, notwendig sei, habe ihm ein umfangreiches Schreiben gesandt. Dieses habe Strafporto gekostet, da die würdige Dame wiederum einige Heiligenbilder beigelegt, die zu seiner, Kreuzwendedichs, Verfügung stünden. Des weiteren habe ihm die fromme Dame mitgeteilt, daß ihr der Kaiser einen Hirtenstab und das Prädikat »Exzellenz« verliehen habe, und daß sie im Klostergarten jetzt sehr interessante Versuche mit Orchideen aus Ostindien und Guatemala mache und sich zu diesem Zwecke Moorboden, Sumpfmoos und Heideerdebrocken aus den verschiedensten Teilen Deutschlands habe kommen lassen. Was die Erbschaft anbetreffe, so sei sie nach wie vor an ihr Gelübde und die Ordensregeln gebunden und leider nicht imstande, einen Notar oder irgendein anderes Wesen männlichen Geschlechts zur Ausstellung einer Urkunde in diesem irdischen Leben noch zu empfangen. Sie sende ihm – dem Rechtsanwalt Cohn VII – sowie ihrem lieben Neffen Kreuzwendedich ihren Segen; bitte herzlich, von weiteren Briefen in der Erbschaftsangelegenheit absehen zu wollen; sei aber gerne bereit, als Zeichen ihrer Erkenntlichkeit für die gutgemeinten Bemühungen sowohl ihm, dem Rechtsanwalt Cohn VII wie ihrem lieben Neffen Kreuzwendedich, im nächsten Frühjahr einige junge Pflanzen besonders schöner Orchideensorten – vielleicht der violetten aus Guatemala – gut verpackt zum Selbstkostenpreis zu übersenden, sofern der liebe Himmel ihrem Werk seine Gnade und ihren Warmhäusern hübsch warme Sonne schenken wolle.

Dies alles nochmals überdenkend, entschloß sich Kreuzwendedich, heute noch Tilly zu erklären, daß er ohne sie dieses irdische Leben nicht länger ertragen könne. Er wollte mit schönem Freimut hinzufügen, daß er ihr zwar Glücksgüter nicht zu bieten habe, aber daß sie ja selbst – Gott sei Dank . . . nein, so herum ging's nicht – aber: daß die gütige Liebe eines edlen Frauenherzens darüber hinwegsehe . . . Da hatte er sich doch mal ein paar wunderhübsche Verschen notiert, die ausklangen in einen Preis der hochherzigen Seele, mit der einst der Himmel die Brust der Frau ausgestattet. Wie ging das doch? Richtig, so fing's an:

Natur sorgt unverdrossen
Und treu für jedes Kind!
Dem Fische gab sie Flossen.
Das Horn gab sie dem Rind.

Dem Rind . . . dem Rind . . . Donnerwetter, wie ging das nun weiter? – Dem Rind . . .

»Was woll'n S' denn immer mit dem Rind, Herr von Reubke?«

Kreuzwendedich erschrak heftig. Er hatte wieder mal laut gedacht und begegnete nun Schwammerls fragenden Augen, die durch die Verblüffung nicht intelligenter wirkten. Er wollte eine Entschuldigung stammeln und sagen, daß dieses Rind in einen vortrefflichen Vers gehöre, der ihm gerade eingefallen und keineswegs irgend etwas mit den geschätzten Anwesenden zu tun habe . . . Aber da sah er in Tillys Gesicht. Es war graugrün. Nur die Nasenspitze leuchtete schneeweiß wie ein kleiner Eisberg.

»Ist Ihnen nicht wohl, gnädige Frau?«

»Ich fürchte – es wird . . . oh! . . . wird besser sein, wenn ich nach meiner Kabine . . .«

Reubke stand schon neben ihr und reichte ihr ernst und offiziell den Arm. Auf den Einfall war Schwammerl nicht gekommen. Leute, denen's schlecht wurde – und waren's die schönsten Blondinen – versetzten ihn in Unruhe.

Auf Reubkes Arm leicht gestützt, ging Tilly mit einem etwas mühsamen Lächeln nach dem Treppenhaus: »Promenadendeck Nummer sechzehn – Sie wissen. – Mir wird schon wieder etwas besser.«

Aber es war sehr seltsam. Mit jedem Schritte, den Kreuzwendedich, gegen die schwankende Schiffsbewegung ankämpfend, vorwärts tat, mehrte sich ein heftiges Unbehagen, das ihm plötzlich heiß aus der Magengegend aufstieg. Er fühlte, daß sein Arm zitterte. Seine Beine auch. Die Schläfen wurden feucht. Das Herz klopfte wie ein Hammerwerk. Ihm war zumut, als ob seine Eingeweide locker im Leibe hingen und eigensinnig eine der Schiffsbewegung entgegengesetzte Drehung versuchten. Sein Hirn fühlte er deutlich bei jeder Hebung wider die Hirnschale prallen. Vor den Augen – hoppla, da war eine Stufe! – vor den Augen flimmerte ihm ein violetter Funkenkranz.

Seine Gedanken verwirrten sich. Warum ging er hier – wohin ging er? Das war wider die Natur – Natur – dem Fische gab sie Hörner – oder wie – Schwammerl hätte auch mitgehen können . . . und – nein, den Kognak hätte er nicht trinken sollen – aber das war ja gestern – dem Rinde gab sie Flossen . . . O Gott, o Gott!

Er wußte, daß er jetzt etwas ganz Schreckliches tat, etwas wider Anstand, Sitte und Vernunft – etwas nie wieder Gutzumachendes. Aber er konnte nicht anders. Es zwang ihn, knechtete ihn, warf ihn. In dem Augenblick, als er die Tür der Kabine Nummer sechzehn öffnete – eigentlich öffnete er sie gar nicht, sondern er fiel mit ganzer Wucht seines Körpers dagegen, und sie sprang jäh aus dem Schloß – in diesem Augenblick, als ihm auch noch der warme Duft eines engen, geschlossenen Raumes entgegenschlug, in dem eine soignierte Weltdame sich vor kurzem gewaschen, angekleidet und parfümiert hatte, stürzte er, von einem plötzlichen Anfall heftigster Seekrankheit überwältigt, auf das gegenüber in weißer Sauberkeit winkende Lager. Wie ein Klotz fiel er darüber.

Mit offenem Munde und geschlossenen Augen lag Kreuzwendedich von Reubke auf dem Bett der Frau Tilly Schuch.

Tilly hatte einen schrillen Schrei des Entsetzens ausgestoßen. Hilde und ein Steward liefen erschreckt hinzu. Und während der Steward dummglotzend dastand und dieses Situationsbild, wie es die Kabine sechzehn bot, absolut nicht begriff, unterdrückte Hilde gewaltsam eine wilde Heiterkeit, die in ihrem hübschen Gesichtchen aufsteigen wollte, und eilte geschäftig ins Treppenhaus: »Ich werde den Doktor rufen!«

Aus der Kabinentür gegenüber steckte der Ritter von Scupinsky vorsichtig auslugend seinen pomadisierten Kopf. Es kam Tilly, die ratlos neben dem glotzenden Steward stand, einen Augenblick zum Bewußtsein, daß Scupinsky früher in der Luxuskabine gewohnt hatte und diese Kabine, ihr gegenüber, leer war. Dann blitzte es ihr durch den Kopf, daß man schon gestern abend davon gesprochen, Scupinsky und Selma mit ihren siebzehn Stück Handgepäck zögen um. Es scheine, daß sie sich durch Pilzheimers, die jetzt in die Luxuskabinen neben Elisabeth Hunneberg eingezogen waren, irgendwie geniert fühlten. Obschon eine Belästigung eigentlich nicht gut möglich war, denn Frau Pilzheimer kam nur zum Schlafen und Umkleiden in die Kabine, äußerte wenig und rieb sich nur zuweilen geräuschlos wie in stillem Vergnügen die Hände.

Kreuzwendedich von Reubke lag immer noch mit offenem Munde und geschlossenen Augen ohne Wort und Bewegung auf dem Bett.

Doktor Lux kam. Er fragte Kreuzwendedich, wie er sich befinde, deutete das Stöhnen, das er endlich zur Antwort bekam, dahin, daß es dem Patienten nicht zum besten gehe, und sprach zu Tilly Wissenschaftliches und Tröstliches über besonders schwere und akute Fälle plötzlicher Zirkulationsstörungen. Er könne ja, sagte er, allerlei verordnen, zum Beispiel Chloralhydrat oder Antipyrin; und es gäbe Kollegen, die das, ut aliquid fieri videatur, auch kaltlächelnd täten. Doch helfe das ebensoviel wie etwa ein Natronpulver bei der Arteriosklerose, ein Löffel Rizinus gegen die Elephantiasis Graecorum oder ein lauwarmes Fußbad gegen die Cholera. Das beste sei schon in solchen akuten Fällen, die mit schweren Störungen im Blutkreislauf verbunden seien, dem Patienten Ruhe zu gönnen. Nur Ruhe, äußerste Ruhe. Mithin ihn unbedingt liegen zu lassen, wie und wo er liege, nicht anders als einen mit der Kugel in der Stirn auf den grünen Rasen des Schlachtfeldes Niedergesunkenen.

»Ja aber –« Tilly wollte schüchtern darauf aufmerksam machen, daß dies kein Schlachtfeld, sondern eine von ihr für eine Lustfahrt gemietete Kabine und dort das Lager kein grüner Rasen, sondern ihr Bett sei. Aber der Arzt nahm schon wieder zu umständlicher Erklärung das Wort. Er sagte, daß auch leichte Schüttelfröste eintreten könnten, und daß es deshalb gut sei, dem Patienten die kalten Beine gut zu bedecken. Und da er nichts anderes fand, griff er den mattrosafarbenen Morgenrock Tillys vom Haken und legte ihn sorglich über die Beine Kreuzwendedichs, die ganz merkwürdig, wie zwei zerbrochene Hölzer, übereinanderlagen, und in denen alles Leben erstorben schien.

»Es empfiehlt sich nicht, ihn jetzt umzubetten«, entschied der Doktor. »Stellen Sie ihm ein geräumiges Gefäß in Armweite her und –«

»Ja aber –« Tilly errötete bis unter die Haarwurzeln. Durch die Ablenkung ihrer Gedanken auf andere Angelegenheiten war ihr wieder ganz wohl.

»In solchen Fällen ist der Kranke das Wichtige«, belehrte sie der Arzt, und ein Tadel klang in seiner Stimme. »Ist das Maßgebende, das einzig Bestimmende. Die Gesunden müssen kleine Unbequemlichkeiten mit in den Kauf nehmen. – Was murmelt der Patient eigentlich jetzt immer? Hat er einen Wunsch? – Hören Sie doch mal, Steward, was er sagt!«

Der Steward beugte sein Ohr tief an Kreuzwendedichs blasse Lippen, die sich, mühsam leise Worte bildend, immerzu bewegten, während die Augen geschlossen blieben und die Nase immer länger und spitzer zu werden schien.

Hilde hatte schon angefangen, die Morgenröcke und Toilettesachen Tillys zusammenzupacken; was keine leichte Arbeit war, da die Kabine bedenklich schwankte, wozu Schränke und Wandverschalungen knackten und ächzten.

»Nummer fünfzehn gegenüber ist noch frei – neben Herrn von Scupinsky, gnädige Frau«, sagte sie munter tröstend. »Ich bring' Ihnen schon alles hinüber – gehen Sie ruhig an Deck.«

Und Tilly ging mit zögernden Schritten an Deck. In ihrem hübschen Kopf arbeitete der Gedanke, daß auch dies alles nicht passiert wäre, wenn sie den Glücksring der Herzogin nicht in Barcelona verloren hätte.

Unten aber in der Kabine hob sich der Steward, krebsrot von der Anstrengung, aus seiner gebückten Haltung, in der er Kreuzwendedichs Lippen belauscht hatte, und meldete in strammer Stellung dem Schiffsarzt:

»Er sagt: Das Rind hat Flossen.«

»Sie haben auch Flossen!« raunzte der Doktor ärgerlich und verließ die Kabine, um auf dem Plüschsofa der Apotheke weiter in Straparolas »Ergötzlichen Nächten« zu lesen . . .

. . . Die Öltzendorffs hatten ihre reich mit Kissen und Decken versorgten Liegestühle dicht zu den Stühlen Bergemanns und Erichs herangezogen. Fast vertraulich. Das Geschwisterpaar genügte sich nicht in der Biskaya. Es suchte menschlichen Anschluß zu zerstreuendem Gespräch.

Bergemann und Erich wären bedeutend lieber allein gewesen. Sie versprachen sich von einer Konversation mit den Öltzendorffs heute wenig Anregung. Sie hatten Wichtiges und Ernstes zu besprechen. So hörten sie denn auch nur zerstreut zu, als Öltzendorff umständlich und mit vielen Daten von einem sehr bedeutenden Großohm väterlicherseits erzählte, der als junger Diplomat – wenn auch nicht in leitender Stellung – am Wiener Kongreß teilgenommen, und dessen schneidiger Initiative allein die sehr erfreuliche Tatsache zu verdanken gewesen sei, daß in der Kongreßakte das Vaterland der Öltzendorffs, Preußen, für das an Dänemark überlassene Lauenburg mit dem schwedischen Vorpommern auch die herrliche Insel Rügen erhalten habe. Er wolle ja nicht behaupten, daß die Dankbarkeit unbedingt erfordert hätte, dem verdienstvollen Manne am Strande von Saßnitz oder oben auf dem Kreidefelsen von Stubbenkammer ein ragendes Denkmal zu setzen; aber als durchaus unwürdig und beschämend müsse er es bezeichnen, daß er und seine Schwester Viktoria, gewissermaßen Nachkommen dieses Mannes, voriges Jahr, wie jeder Schulze oder Meyer, hätten Kurtaxe bezahlen müssen; obschon er persönlich den Namen »von Öltzendorff« in seiner deutlichen steilen Schrift – und, wie er bekennen müsse, hier nicht ohne Stolz – auf den Meldezettel eingetragen.

Übrigens – fügte Viktoria beiläufig noch an, indem sie ein erfrischendes Pfefferminzplätzchen in den Mund schob – habe sie ein Urenkel dieses hervorragenden Diplomaten aus seiner leider wenig glücklichen Ehe mit einer russischen Gräfin jetzt gerade in Lissabon durch seine Verlobungsanzeige überrascht, der Rittmeister Max von Öltzendorff.

Zwei Köpfe lösten sich im selben Augenblick von den kleinen, seidenen Reisekissen, in denen sie, gelangweilt in die Sonne blinzelnd, geruht. Erich und Bergemann tauschten einen erstaunt fragenden Blick.

»Heiratet der Herr Rittmeister auch eine Russin –?« Bergemann sagte es ganz leichthin; aber seine Augen blieben auf Erichs Gesicht haften, in dem die Muskeln seltsam arbeiteten.

Öltzendorff lachte: »Sie meinen, wir Öltzendorffs heiraten so langsam die ganze moskowitische Aristokratie weg. Nee, der brave Junge hat sich eine Deutsche ausgesucht – echte Germanin sogar, wie er schreibt – aschblond, hochgewachsen, blauäugig und so. Typ Thusnelda, denk' ich mir. 'ne Witwe, adlig natürlich. Bei Büssigheim herum begütert, oder wie das Nest heißt . . . Übrigens, hast du beobachtet, Viktoria, wie energisch die Dame schreibt?«

Er kramte in seiner Brieftasche und fand zwischen Hotelrechnungen und anderen minder ansehnlichen Papieren den Brief, den der Neffe und die neue Nichte ihm und der Schwester zusammen nach Lissabon geschrieben.

Erich sah scharf hin. Alles in ihm war Verlangen, zu wissen, ob wirklich . . .

Ja, es waren dieselben Bogen aus grauem Leinenpapier, wie er sie damals – in angekohlten Fetzen – aus dem Kamin des Abtzimmers aufgelesen. Und auf der letzten Seite, die jetzt Viktoria durch ihr Lorgnon prüfte, lagen, blau und gerade, die großen, anspruchsvollen, unverkennbaren Schriftzüge Eugeniens.

Öltzendorff schmunzelte vor sich hin. Seine Lippen schmatzten genüßlich, als schmecke er eine Süßigkeit. »Muß da so was wie ein kleines Romänchen gespielt haben. Untröstlicher Rivale, verstehen Sie . . . reiches Kerlchen wohl, der nun auf Weltreisen verschollen ist . . . Indien und so . . . Ja, lieber Gott, einen Öltzendorff ausstechen, der sich in Liebesdingen was in den Kopp gesetzt hat . . . Na – die Kinder werden sich hoffentlich keine Sorgen machen . . . So ein Naböbchen geht nicht gleich ins kalte Wasser, wo's tief ist, was?«

»Nee, das tut so was nicht«, nickte Bergemann.

»Wie?«

»Ich meine – aufs Wasser geht es vielleicht. Und das ist ja auch sehr vernünftig. Denn die See ist eine große Trösterin. In allen Schmerzen.«

»Möglich«, sagte Öltzendorff. »Ich habe keinen Schmerz. Außer abends mein ekliges Rheuma. Und da ist Opodeldok ein besserer Tröster als die See . . . Übrigens wenn sich einer aus Liebe umbringt, dann war schon nichts an ihm verloren.«

»Gar nichts«, bestätigte Viktoria, in deren Leben kein derartiger Verlust eine Rolle gespielt hatte.

Erichs Blick haftete immer noch gebannt an dem Papier. Die Fetzen eines solchen Bogens hatten seinem Leben eine ganz neue Richtung gegeben. Ein mildes, fast dankbares Gefühl überkam ihn. Aus dem »kleinen Assessor aus Heringsdorf«, nach dem man sich vorsichtig bei Schimmelpfeng erkundigt, war also jetzt für die Phantasie der bräutlichen Schreiberin ein untröstlicher kleiner Nabob geworden. Und die heimlich gestohlenen Wonnen der Märztage von Aranjuez-Lido-Venedig hatten für den Herrn Rittmeister ihre unerwartete offizielle Fortsetzung erhalten. Man kann nicht onkelhafter für das Glück eines andern fühlen, das man einmal selbst begehrt hat, dachte Erich und nickte Bergemann lächelnd zu.

»Die Handschrift ist doch nicht leicht zu lesen«, sagte Viktoria, der etwas Unbestimmtes verwirrend vor den Augen tanzte.

Öltzendorff sah sie besorgt an. »Du bist etwas blaß, Vicky. Vorhin sahst du besser aus.«

»Ich glaube, lieber Bruder – das lange Liegen bekommt mir nicht recht. Ich . . . ich werde etwas an meinem Tagebuch schreiben.«

Der Bruder reichte ihr galant den Arm. Breitbeinig, wie sie's von den Matrosen abgesehen, entfernten sich die beiden auf dem heftig schwankenden Schiff.

»Armes Tagebuch«, sagte Bergemann.

Erich sah ihnen vergnügt nach. »Sanitätsrat, glauben Sie jetzt an mein Daimonion? Vom Büssigheimer Kamin führt's mich in die Biskaya. Direkt. Damit ich von einem hochgestochenen Narren und einer seekranken alten Jungfer erfahre: dein Weg ist frei – reulos frei!«

»Mein lieber Erich – –«

»Nur keine Reden, verehrter Freund! Jetzt nicht! Kommen Sie, wir gehen ein bißchen auf Deck herum. Uns beiden macht die Biskaya nichts. Uns nicht! Und die Luft ist so köstlich rein – und die Sonne, sehen Sie nur, wie sie den Wellenspitzen kleine goldene Hütchen aufsetzt. Herrlich, so durch den Kampf fahren, mit sich selber im Frieden!«

»Wer das auch so von sich sagen könnte!«

Erich wurde wieder ernst. »Ich glaube, wir nehmen das ganze Leben zu tragisch. Wir alle. Sie auch, Sanitätsrat –«

»Ich hab' an vielen Totenbetten gestanden.«

»Aber auch an vielen Wiegen!«

»Ja, das auch. Aber an einer nicht, an die ich wohl gehört hätte.«

Erich verstand nicht gleich: aber er schwieg, denn er hatte das Gefühl, daß Bergemann selbst sich erklären würde.

Nach einer Welle fuhr der Sanitätsrat fort, das Auge weit über die bewegte See gerichtet: »Sie wissen, ich bin mit dem Kollegen gestern – eingedrungen – bei ihm. Man kann's schon nicht anders nennen. Er war erst verstockt, dann rabiat, dann – ja, dann wie ein Kind . . . Wie ein Kind, wissen Sie, das so lange den Erwachsenen nachgeahmt hat, äußerlich, äffisch, blöd, und das sich jetzt plötzlich erschreckt auf sich selbst besinnt, gehen läßt. Kindisch ist, naiv, aber dazwischen auch klug, lieb und – hilflos. Und ist das nicht sonderbar, fast ein wenig beschämend für die menschliche Natur: nichts in mir hat alle die Tage, da ich diesen jungen Dandy sah, meinem Hirn oder Herzen gesagt, gemeldet, auch nur dunkel angedeutet – durch ein Erstaunen, ein Erschrecken, ein Aussetzen des Pulses, durch irgend etwas, wie's die Natur sonst zu Warnungen und Prophezeiungen in so 'nem verwickelten Mechanismus benutzt – dies ist Blut von deinem Blut! Nichts, gar nichts. Er ist mir fremd geblieben, ich ihm. Ich sah einen Passagier, eine Nummer, eine Belanglosigkeit in ihm. Eine ärgerliche Null bei der Addition der Bekanntschaften. Ich fand sein Monokel blöd, er wahrscheinlich meinen Hosenschnitt lächerlich. Und daß dies nichtige Zierbengelchen – wie es mir erschien – der Liebe meiner einzigen Schwester, der nie Vergessenen, das Leben dankte, hat mir keine Blutwelle warnend gemeldet. Ihm aber hat keine gesagt: der alte Herr dort ist der einzige, auf den du dich vielleicht noch verlassen kannst in der Welt . . . Denn sehen Sie, Erich, das bin ich wirklich. Gestern abend – als der Dandy erledigt war in ihm, das Gigerl tot, der frühe Weltmann begraben – als er – gezüchtigt, verbannt – wieder Kind war, zerbrochen in seinem Stolz, mürb von der Qual des Alleinseins und des Geheimnisses, das ihn drückt – da hat er mir gebeichtet. Oder wie soll ich's nennen . . . Vielleicht mehr sich selbst Rechenschaft gegeben als mir. Vielleicht kam's ihm nur dunkel zum Bewußtsein: was hier zuhört, ist ja auch dein Blut, ist ja Liebe von der Liebe, die dich einmal umsorgt hat. Ist bereit, dir mehr zu verzeihen, als du dir jetzt in deiner Gebrochenheit und Zerknirschung selbst verzeihst . . . Und wie wunderbar die Natur ist: da ihm die Tränen in den Augen standen, wurde er der Frau ähnlich, die ich nie habe weinen sehen, selbst als Kind nicht, weil sie so stolz war. Und dann doch wieder eine Handbewegung, ein Lächeln, das ich so gut kannte; das ich lang, lang nicht mehr gesehen hatte, nie mehr zu sehen, gar nicht mehr zu kennen glaubte . . . Und was er sagte, war gewiß alles Wahrheit. Kein Priester kann ehrlichere sagen. Denn – das kam hinzu – er spielt mit dem Gedanken, daß es das letzte Mal ist, daß er beichtet. Dieser Mensch, der ein paar Jahre lang keine andern Ideale gekannt hatte, als die letzten Moden des Snobismus mitzumachen, sich zu kleiden nach den neusten Winken, die die Côte d'Azur da unten unmittelbar von Paris und London empfängt, hatte das heiße, das menschlich ehrliche Bedürfnis, seelisch nackt vor einem Menschen zu stehen. Das Medaillon mit dem stolzen Kopf seiner Mutter in der Hand, hab ich viel gehört – Leichtsinniges, Trauriges, Allzumenschliches. Hab ihren Tod miterlebt in den Zimmern voll falscher, billiger Eleganz, in der sie nur den Bücherschrank hütete und den Flügel. Hab den heruntergekommenen Bereiter gesehen, die gefallene Zirkusgröße, der nach seinem dritten und schwersten Sturz mit dem Pferde nach langem Krankenlager aus dem Gipsverband das gelähmte, verkürzte Bein zog und Frau und Kind die ganze Bitterkeit seiner Erniedrigung erleben ließ. Cenzano hieß er – der Spanier. Daß ich nicht früher darauf gekommen bin! Er war gar kein Spanier, hatte nur durch ein seltsames Spiel der Natur den dunklen Typus des Südländers und hat das – ein entlaufener Abiturient, aber verwegener Sportsmann – für die Zirkuskarriere ausgenutzt. Cenzano ist auf spanisch nichts anderes als – –«

»Mücke!«

»Natürlich, ja. Den spanischen Künstlernamen weiterzuführen, nachdem der Sturz und das lahme Bein die Reitkünste hinderte, hatte keinen Sinn mehr. Die Behörden mögen auch Schwierigkeiten gemacht haben. Er liegt, ein Opfer des Spiels, des Alkohols, der Disziplinlosigkeit, des vergeudeten Lebens, in Nizza unter einem Kreuz von blütenweißem Marmor, der dort so billig ist. Sie aber . . . sie ging ihm voraus. Nach böser Leidenszeit. Sie sollte schreiben an ihren Vater, an mich, sollte Verzeihung erbetteln, Hilfe – immer wieder hat es der Glücksritter verlangt. Schmeichelnd zuerst – dann unter rüden Drohungen und Beschimpfungen. Die haben einen heimlichen Haß in des Sohnes Herz gelegt gegen den Vater. Sie hat stolz jeden Annäherungsversuch an ihre Familie verweigert. Sie hat ihrem Sohn nie von uns gesprochen, nie von zu Hause, nie von Deutschland. Er hat den Mädchennamen seiner Mutter erst erfahren, als ich ihm sagte – nein, schrieb in jenem Brief . . . Enkel meines Vaters, der ganz in seinen geliebten Büchern lebte, der jeder Wissenschaft werbender Freund war, der seine stillen Freuden nur aus Ewigkeitswerten gewann und – seinen Trost, ist dieser Junge aufgewachsen als aufgeputzter Sohn eines Spielers, der ein Bereiter war, als frühreifer Schüler eines Talmikavaliers, der nur den Schick, den Sport und die Karten gelten ließ. Seine Mutter hat ihm wohl in letzten Versuchen, ihn Edlerem zu gewinnen, Bücher heimlich in die Hand gedrückt – Dante, Goethe, Byron. Sie haben auch seine Neugier geweckt, sein Interesse. Der Vater zerriß sie, warf es aus dem Fenster, das unnütze, verlogene Zeug, und lehrte den aufgeweckten Buben Ecarté, Pokern und die Chancen der Roulette nach elf ›Systemen‹. Da schloß die früh gealterte Frau wortlos ihren Bücherschrank . . . Heute arm, daß sie den schimpfenden Bäcker nicht bezahlen konnten, morgen sinnlos im nachts gewonnenen Gelde wühlend, dem Jungen ein paar Goldstücke hinwerfend, daß er Motorboot fahre, Tauben schieße – so hat er den Vater Leben, Gewinn und Kraft vergeuden sehen. Gerade majorenn war er, als der Vater starb. Was er erbte, waren Pariser Anzüge, englische Schuhe, französische Romane, ein paar Spieltische und ein halb bezahlter Weinkeller . . . So hat er die paar Jahre verlebt, wurzellos, interesselos und manchmal geschüttelt von einem Ekel vor der Welt voll Sonne um sich, vor den blanken Sälen mit den parfümierten, geputzten Leuten, die mit Geld und Ehre und Tod spielen. Von einem Ekel vor sich selbst . . . Und da kam – kurz vor dieser Reise – eine Szene in einer Spielergesellschaft – – Ja, was war das?« Der Sanitätsrat stand einen Augenblick still und schloß die Augen, um besser nachdenken zu können. Dann sagte er zögernd: »So weit war alles klar, alles, was er erzählte. Menschen, Dinge, Verhältnisse, Leichtsinn und Niedrigkeiten, alles schälte sich plastisch heraus aus seinen Worten für mein helles Hinhören. Für meine Angst, mein Mitgefühl. Aber von da ab verwirrt sich's. Oder aber – verwirrte er's absichtlich? Ein Streit im Café mit einem Spieler – so weit begriff ich noch. Dann aber entfuhr's ihm: ich solle den Spieler kennen – ich. Und schon nahm er's fast ängstlich zurück. Ein verhängnisvoller Wortwechsel hat jedenfalls stattgefunden – Tätlichkeiten vielleicht, ein amerikanisches Duell – in dem er die schwarze Kugel zog . . .«

»Er –? Aber er lebt doch noch? Fährt doch seit zwei Wochen mit uns . . .«

»Ja, das ist das Seltsame. Er spricht verworren, halb ängstlich, halb drohend von einem Aufschub, den er verantworten könne. Er werde ein Ende machen, aber erst – – Und dann, ja dann erwähnte er wieder – Sie – – und daß er sich vielleicht doch irre . . . Denn – wie war's doch? Ja, denn auch die Häfeles, die doch wohl in ihrer Harmlosigkeit über den Verdacht erhaben seien . . . Aber davon möcht' ich eben jetzt nicht reden . . . Steigen wir hinauf, da kommen wieder die schrecklichen Öltzendorffs . . .«

»Wahrhaftig. Das Tagebuch scheint ihr auch nicht gut bekommen zu sein.«

»Ja. Ich kann jetzt die Simpeleien über den Diplomaten vom Wiener Kongreß nicht anhören. Klettern wir hinauf aufs Brückendeck!«

Und sie stiegen rasch, sich fest an die Geländerstangen haltend, hinauf und gingen die Rettungsboote entlang. Kein Mensch begegnete ihnen hier oben. Golden zitterte die Luft. Weißgebuckelt dehnte sich das blaue Meer.

In der gedeckten Veranda, wie in einer Burg von aufeinandergestülpten Rohrfesseln, saß Adam Balzer, der kleine Kapellmeister, mutterseelenallein. Mit geschlossenen Augen, die unrasierten Wangen bleich noch von einer kaum überwundenen Attacke der Seekrankheit, hockte er, um die fröstelnden Schultern einen alten karierten Schal gelegt, schmächtig und unansehnlich auf dem Stuhl vor dem Klavier und spielte.

»Was spielt er?« Bergemann näherte lauschend seinen Kopf einem Fenster. »Das kenn' ich doch . . .«

»Das glaub' ich! . . .« Und halblaut sang Erich die Worte zu Balzers »Holländer«-Phantasie: »Mein Schiff ist fest – es leidet keinen Schaden . . .«

Bergemann lächelte ein nachsichtiges Lächeln: »So höhnt der verlassene kleine Musiker, seekrank und einsam, den tückischen Golf von Biskaya und die heimliche Furcht seines eigenen Herzens.«

»Weiß Gott, er hat recht, Sanitätsrat. So sollten wir alle tun. Nicht höhnend, aber zuversichtlich sollten wir unser Herz singen lassen: Mein Schiff ist fest – es leidet keinen Schaden!« . . .

 


 << zurück weiter >>