Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

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Sechstes Kapitel.

»Fräulein . . . Fräulein Pauly!«

»Herr Kloppenbusch? . . . Aber sagen Sie doch, bitte, Schwester Hilde. Ich hör' es so gern, wenn es klingt wie meine glücklichste Zeit; und wahr ist's ja jetzt auch wieder ein bißchen.«

»Leider, leider, Schwester Hilde. Und ich Unseliger bin die bejammernswerte Ursache!«

Hilde stand am Fenster des Zimmers Nummer 71 im ersten Stock des Hotels de Inglaterra. Sie hob, den Holzladen zur Seite schiebend, den Musselinvorhang ein wenig und sah hinunter auf die in praller Sonne liegende Plaza nueva de San Fernando. Ganz wenige Menschen krochen unter breiten Hüten, unter schattenden Schirmen durch die von keinem Lüftchen gemilderte Bruthitze des Mittags.

»Soll ich nicht wieder mal Opium nehmen, Schwester Hilde?«

»Aber nein, Herr Kloppenbusch, Sie haben schon zu viel davon genommen! Das ganze Zimmer riecht ja nach Opium.«

»Aber das Zimmer riecht doch nicht nach dem Opium, das ich genommen, sondern nach dem Opium, das der dumme Kellner verschüttet hat. Weiß Gott, es ist ein Himmelssegen, daß die Damen Sie mitgenommen haben . . .«

»Ja. Eigentlich als Ersatz für Frau Hunnebergs Jungfer. Wenn die sich nicht mit Fritzchens Messer in den Finger geschnitten hätte, hätt' ich gewiß keinen Landurlaub bekommen und wär' mein Lebtag nicht nach dem schönen Sevilla gekommen.«

Sie sagte das ganz zufrieden und ehrlich, obschon sie von dem schönen Sevilla eigentlich bis jetzt nichts gesehen hatte als den Bahnhof, die Omnibusse der Gasthöfe, eine Menge Handgepäck und ein paar Zimmer des Hotels de Inglaterra, in denen erschreckte Teilnehmer der Fahrt Opiumtropfen in Tee oder Rotwein verlangten, die sie als geprüfte Krankenschwester abzählen und umrühren durfte. Die andern Patienten, die alle auf der unsagbar heißen Reise von Kadiz nach der Hauptstadt Andalusiens gegen den quälenden Durst zuviel Obst gegessen hatten, waren nun doch dem Programm getreu nach der Kathedrale gefahren, um den Fronleichnamstanz der Knaben vor dem Altar mitanzusehen, und dann nach den Gärten von Alcazar und den Bädern. Kloppenbusch aber war von dem peinlichen Anfall am übelsten betroffen worden und hatte sich in seiner Herzensangst, nachdem ihm vor dem ersten Murillo schlecht geworden, sofort ins Hotelbett begeben und nach einer Schwester zur Pflege verlangt. Doktor Lux, der Schiffsarzt, der von Kadiz mit herübergekommen, hatte Opium, Tee und Ruhe verordnet, sonst aber die Sache nicht so schwer genommen. »Der Mann hat keinen Röntgenblick«, hatte Kloppenbusch geseufzt. »Er sieht mir nicht in die Därme. Ein Arzt muß aber einen Röntgenblick haben!« Und er hatte es durch Wehklagen und dunkle Prophezeiungen durchgesetzt, daß Hilde mit seiner Pflege betraut wurde, damit er morgen zur Rückfahrt nach Kadiz transportfähig sei.

»Fräulein . . . wollt' ich sagen: Schwester Hilde – am Ende seh' ich nun auch noch den Friedhof von Sevilla – das heißt: er sieht mich . . .«

»Sie sind ein unverbesserlicher Hypochonder, Herr Kloppenbusch«, lachte Hilde.

»Hat der Arzt meinem Großvater auch gesagt, eine Viertelstunde eh' ihn der Schlag rührte. Und wenn es doch die Cholera asiatica wäre . . .?« Kloppenbusch beharrte eigensinnig bei seinen düsteren Ahnungen. »Mir hat vor Jahren, als ich noch bei meiner Mutter selig wohnte, eine Zigeunerin wahrgesagt. Ich werde ganz bald einen unangenehmen Verlust erleiden, hat die unheimliche Person gesagt, und: ich werde einmal auf einer Reise sterben.«

»Ja, warum gehen Sie dann auf Reisen? Wenn Sie ruhig zu Hause bleiben, haben Sie ja das ewige Leben.«

»Das sag' ich mir auch. Aber was tut man schon mit dem ewigen Leben? Und dann: wenn man ein Billett gewinnt – so um Spanien 'rum . . . Granada, Sevilla und so . . . Na ja, und nun kann ich mich nächstens mit spanischer Erde zudecken!«

»Das hat gute Weile! Wer wird denn was auf so eine verlogene Zigeunerin geben!«

Kloppenbusch sagte nichts; aber er gab was auf Zigeunerinnen. Mit dem ersten Teil der Prophezeiung hatte die häßliche und übelriechende Alte damals durchaus recht behalten. Er konstatierte tatsächlich gleich nach ihrem Weggang den vorgesagten, unangenehmen Verlust seiner Taschenuhr; und er besann sich dunkel, daß die Prophetin, um die Zukunft besser erkennen zu können, ihre schmutzige Rechte flach und fest auf seinen Leib gelegt hatte.

»Was rufen die Kerle nur immer da unten?«

»Aqua – Aqua – Wasser – Wasser – –«

Bei Erwähnung dieses nicht ungewöhnlichen kühlen Labsals hatte Kloppenbusch das Gefühl, er berge eine mit trockenem Seegras gestopfte Matratze anstatt einer Zunge im Mund. »Glauben Sie, Schwester Hilde, daß Verdursten schrecklicher ist oder Verhungern?«

Hilde überhörte die Frage und hätte wohl auch keine sachgemäße Auskunft darüber geben können. Eben fuhren die Wagen unten vor, die vom Museo Provincial und seinen berühmten Murillos kamen.

»Die Häfeles sind schon nicht mehr dabei«, konstatierte Hilde.

»Nanu! Sind sie auch – leidend, die guten Häfeles?«

Kloppenbusch hob seinen vor der Abfahrt in Kadiz von Beppos kundiger Hand auf einen Millimeter geschorenen Schädel interessiert aus dem Kissen. »Oder am Ende schon auf dem Campo – Campo . . . wie heißt er?«

»Nein, nein. Sie haben nur ganz plötzlich den Einfall bekommen, auf dem Landweg zurückzukehren. Über Paris. Niemand weiß recht, warum. Sie haben doch die ganze Fahrt bis Amsterdam schon bezahlt.«

»Ei – ei, sieh mal an! Ich hielt sie für ein bißchen geizig – und nun lassen sie die Billette schwimmen, anstatt selber . . .« Kloppenbusch war sehr erstaunt. Fast so erstaunt wie am Morgen in Kadiz, als ihn sein Kopf beim Erwachen so abscheulich gejuckt hatte und der zu Rate gezogene Friseur ihm, diskret die Stimme dämpfend, bedeutet hatte, es wäre gut gewesen, auf dem Marktplatz von Tanger nicht den schmierigen Turban eines marokkanischen Eseltreibers aufzusetzen. Worauf sich Kloppenbusch, von verspätetem Grauen über seine Verwegenheit geschüttelt, unverzüglich hatte den Kopf mit einer Maschine scheren und den Haarboden erst mit Franzbranntwein, dann mit einer sehr kräftigen Salbe hatte einreiben lassen. Dies alles, nachdem er Beppo durch sein Manneswort verpflichtet, nicht über dies unerhörte Mißgeschick eines reinlichen Deutschen zu reden.

»Unsre Freunde sind wohl alle sehr vergnügt, Schwester Hilde, was?«

»Vergnügt? Das kann man eigentlich nicht sagen. Die Damen Öltzendorff, Schuch und Hunneberg fahren in einem Wagen ohne Kavalier; und sie sehen recht müde und gelangweilt aus.«

»Nicht möglich. Die drei Damen ohne Kavalier? Da wär' also noch ein Platz für mich gewesen. Ja, aber wo sind denn die Herren Mücke und von Reubke?«

»Die kommen eben in einem Wagen allein an. Aber sie sprechen auch kein Wort miteinander.«

»Vielleicht sind sie auch krank – oder werden's?« Kloppenbusch hatte ein gutes Herz, aber wenn ihm etwas fehlte, war ihm der Gedanke sympathisch, daß eine Epidemie ausgebrochen sein könnte und er nur ein Opfer unter vielen sei.

Diesmal aber hatte er mit seiner Vermutung unrecht. Die Verstimmung der beiden Herren hatte keine körperliche Ursache. Auch die drückende Hitze war nicht schuld. Die Gründe der Entfremdung lagen tiefer. Mücke hatte die notwendigen Konsequenzen seines amerikanischen Duells wiederum hinausgeschoben, da er die ihm vom Schicksal zuvor gestellte Aufgabe der energischen Entlarvung des Hochstaplers, als den er Erich scharfsinnig erkannt hatte, durch die Entdeckung des dritten Ringes am Finger Anna Häfeles und durch die plötzliche Abreise dieser Dame aufs neue verwirrt sah. Reubke aber hatte vor des Solis Statuen der vier Kardinaltugenden im rechten Querschiff des Convento de la Merced eine Aussprache mit der von ihm verehrten Tilly Schuch gehabt, die ihm die rechte Freude an der Fülle der Murillos raubte. Er hatte die Dame gerade auf die schönen bemalten Terrakotten des Pietro Torrigiani aufmerksam machen wollen, insbesondere auf den heiligen Hieronymus, der sich als verzückter Büßer mit einem Steine die Brust wundschlägt, und glaubte von dieser etwas unsinnigen, aber sicher sehr frommen Selbstpeinigung des Heiligen ohne Schwierigkeit auf seinen derzeitigen Gemütszustand den gefühlvollen Übergang finden zu können. Aber noch ehe er die einleitenden Worte gesprochen, in denen er an die Weihe des Ortes anzuknüpfen gedachte, hatte ihn Tilly, der die Zornesröte in die blonden Schläfen stieg, mit einer Stimme, die eine ungeheuchelte Verachtung scharf und brüchig machte, angeherrscht: er solle sich schämen. Und zwar heftig solle er das. Auf seine erschrockene Frage, warum er sich schämen solle, war ihm dann allerdings recht unerfreulicher Bescheid geworden.

Viktoria von Öltzendorff, die ihre in Tanger geknipsten marokkanischen Gruppen- und Straßenbilder von Beppo Marlettino, der sie entwickeln sollte, in der Kabine des Barbiers abholen wollte, hatte irrtümlich die entwickelten Filme erhalten, die Reubkes und Mückes Besuch der versteckten, der Kunst des Bauchtanzes gewidmeten Häuser im dunkelsten Tanger ihre Entstehung dankten. Das Entsetzen Viktorias über die geschauten Szenen war so groß, daß ihre Entrüstung sich den andern Damen alsogleich mitteilen mußte. Und so hatten Elisabeth Hunneberg und Tilly Schuch die verwerflichen Negative in den vor Erregung zitternden Fingern ebenfalls gegen die leuchtende Sonne von Sevilla gehalten; und sie hatten sich über die Frivolität der Herren, die solchen Studien oblagen, anstatt zu Esel die Damen von Moschee zu Moschee zu begleiten, tief entrüstet geäußert. Elisabeth Hunneberg hatte das allerdings mit der Einschränkung getan, daß sie längst von dem männlichen Geschlecht sehr wenig oder eigentlich überhaupt nichts mehr halte; und hatte hinzugefügt, daß es ihr jetzt schon davor bange, in der heute noch kindlich verträumten Seele des lieben Fritzchens männliche Triebe und maskuline Instinkte jählings erwachen zu sehen. Tilly Schuch aber hatte betont und wiederholte das jetzt zwischen den vier Kardinaltugenden des Solis dem zerknirscht vor ihr stehenden und seinen schmachbeladenen Kodak auf dem Rücken bergenden Kreuzwendedich von Reubke: daß ihr erster Mann von einer geradezu einzigen sittlichen Strenge gewesen sei; was ihr auch nach seinem Tode die Herzogin, die ihn vielleicht nach ihr am besten gekannt, in einem rührenden Briefe aus ihren indischen Petroleumquellen bestätigt habe. Wenn sie, Tilly Schuch, überhaupt je wieder daran denke, ihre Hand, die der bei Magott gefundene Rubin bis vor kurzem geschmückt, wieder in die Hand eines Mannes zu legen, so müsse sie die Gewißheit haben, daß die männliche Rechte nicht kurz zuvor – um nur andeutungsweise das Harmloseste zu sagen – einen indiskreten Kodak bedient habe. Einen Kodak, der dazu diene, in arabischen Tanzhöllen Aufnahmen zu machen, die jeder preußische Staatsanwalt auf Ansichtskarten verbieten würde . . . Ehe der verblüffte Kreuzwendedich sich noch von dieser heftigen Ansprache erholt hatte, stand er allein zwischen den vier Kardinaltugenden. Und als er nun Arthur Mücke von Zurbarans Apotheose des heiligen Thomas von Aquino her mit jener süffisanten Miene ankommen sah, die der Gent nun einmal allen Apotheosen gegenüber für unbedingt erforderlich hielt, hatte er ihm in übersprudelndem Ärger die nötigen Mitteilungen gemacht. Hatte auch nicht verschwiegen, daß der urblöde Gedanke, diese fetten und häßlichen Weiber zu photographieren, eine der wenigen Ideen gewesen sei, die Arthur Mückes Hirn auf dieser Reise selbständig geboren. Da diese gereizte Abrechnung des geschädigten Kavaliers mit seinem Führer auch die Andeutung enthielt, er habe eigentlich mit solchen Möglichkeiten schon rechnen müssen, nachdem die erste Begegnung mit Arthur Mücke in Genua in recht zweifelhafter Gesellschaft stattgefunden, überlegte sich der Gent, ein Monokel putzend, ob er Kreuzwendedich von Reubke sofort auf Pistolen fordern solle. Da ihm aber zum Bewußtsein kam, daß er selbst bereits durch eine in Nizza gezogene schwarze Kugel erledigt sei und nach einem für ihn tödlich verlaufenen Duell nicht gut noch ein zweites ausfechten könne, verzichtete er auf diesen Ehrenhandel. Immerhin blieb die durch das Arrangement des Führers bedingte gemeinsame Rückfahrt der beiden Herren im selben Wagen vom Convento de la Merced durch die backofenheißen Straßen Sevillas zum Hotel de Inglaterra eine recht genußlose Programmnummer, die sie finster blickend und in tiefem Schweigen erledigten. Und finster blickend und in tiefem Schweigen sah Hilde vom Fenster aus jetzt auch die beiden der eleganten Kalesche entsteigen und ohne Austausch weiterer Höflichkeiten rasch ins Hotel eintreten.

»Wissen Sie, Schwester Hilde,« fragte Kloppenbusch, seine eignen Gedanken eigensinnig verfolgend, vom Bett her, »was merkwürdig ist?«

Hilde dachte, daß es vieles gebe, was merkwürdig sei. Zum Beispiel: daß ein Brief, ein beschriebenes Stück Papier, einen Menschen so glücklich machen könne, wie sie es nun seit der letzten Post von Malaga war. Zum Beispiel: daß sie sich so wohl fühle, wieder die Krankenschwester spielen zu können; daß sie nichts ehrlicher wünschte, als dies: auch die Tracht der Schwestern wieder tragen zu dürfen, die sie vor Monaten, schaudernd, geschüttelt von Angst und Gewissensbissen, wie ein Unglückskleid abgelegt. Zum Beispiel: daß dort unten jetzt Erich, ehe er mit Bergemann ins Haus trat, wie suchend den Blick die Fensterflucht entlanggleiten ließ und sie hinter dem dünnen Vorhängchen doch nicht sah . . . Und obschon sie also so vieles wußte, was entschieden merkwürdig genannt werden durfte, antwortete sie Kloppenbusch: nein, sie wisse es nicht.

»Merkwürdig ist,« sagte Kloppenbusch, »daß ich immer auf der Reise gedacht habe, ich werde mich hier von dem Barbier von Sevilla rasieren lassen. Sie wissen: es gibt so eine Oper, nicht wahr. Und nun – – –«

»Und nun hat sich Herr von Scupinsky von dem mir allerdings auch bekannten Barbier von Sevilla rasieren lassen.«

»Wieso? Scupinsky trägt doch einen Spitzbart?«

»Ja – eben den hat er sich abnehmen lassen. Was das verändert! Ich hätt' ihn wahrhaftig gar nicht erkannt, wie er jetzt da aus dem Landauer stieg, wenn nicht Frau Selma . . .«

»Reden Sie mir nicht von der, sonst wird mir noch schlechter, als mir schon ist. Ich kann diese Person nicht ausstehen. Aber vielleicht war's gar nicht Scupinsky, der da ausstieg, sondern der neue Passagier, der jetzt erst in Tanger an Bord kam . . . wie heißt der Mann doch gleich?«

»Pilzheimer. Nein, Herr Pilzheimer ist viel dicker und behäbiger. Jetzt eben fährt er vor – mit den Herren Grabusch und Zwingenberg. Gott, ist dem armen Zwingenberg heiß – er zerfließt fast und hat doch den Kragen ausgezogen und so viel Knöpfe geöffnet –«

»Er schwitzt gewiß Pilsener. Der Mann bekommt sicher noch seinen Hitzschlag. Warum macht er's nicht wie ich und legt ein feuchtes Salatblatt unter den Hut?«

»Was haben Sie unterm Hut getragen?« Erstaunen und Belustigung kämpften in Hildes Gesicht.

»Ein feuchtes Salatblatt. Schon in Barcelona. Und hier in Sevilla wieder. Einer von den Ungarn hat mir das Mittel geraten. Ausgezeichnet. Er hat's von einem Amerikaner. Solche Hausmittel sind besser als alle Doktoren. Ach du lieber Gott – vorhin hatten sie mir so einen spanischen Doktor gerufen – ein Kerl, schwarz wie der Teufel – und . . .«

»Aber reden Sie nicht soviel, Herr Kloppenbusch, das strengt an.«

Kloppenbusch dachte, daß es von der merkwürdigen Konsultation des spanischen Arztes auch nicht viel zu erzählen gab. Die Verständigung hatte erst begonnen, als es sich nicht mehr um die Zustände des Patienten, sondern um das Honorar handelte, das Kloppenbusch mit zwanzig Franken recht reichlich bemessen fand. Besonders in Anbetracht des Umstandes, daß der Doktor eigentlich nur seine Zunge besichtigt, an seinem Tee gerochen, die Aussicht aus seinem Fenster geprüft und sich in seinem Waschbecken umständlich die Hände gewaschen hatte.

Hilde betrachtete noch immer die Anfahrt der Wagen, die sich langsam, fast feierlich vollzog.

»Sagen Sie, liebe Schwester Hilde,« Kloppenbusch richtete sich auf dem Ellbogen auf, denn das Pferdegetrappel und die Stimmen, die von unten heraufdrangen, regten ihn an, »ist die merkwürdige Frau von dem Herrn Pilzheimer auch dabei?«

»Aber nein – die ist doch auf dem Schiff vor Kadiz geblieben. Die Aus- und Einbootung ist ihr als eine so schwierige geschildert worden . . .«

»Wieso schwierig? Wir sind doch wie über Öl gefahren.«

»Ja. Es soll aber auch sehr anders sein können. Der Hafen ist tückisch. Und wer weiß – der Kellner vorhin meinte: wir bekommen Schirokko.«

»Der Kellner ist ein Rindvieh«, sprudelte Kloppenbusch. »Sprechen tut er – genau wie der Doktor – nichts wie Spanisch, der Idiot; und die Schleimsuppe, die er mir gebracht hat, war so versalzen, als ob sie noch übrig geblieben wäre aus den Folterzeiten der Inquisition. Überhaupt dieses Hotel! Hören Sie doch bloß – vor unsrer Tür. Seit einer Stunde, so wahr ich lebe, seift da so ein Mädel, das natürlich auch bloß Spanisch spricht, den Steinboden ab – bum, wider die Türe – bum, wider die Türe – als ob in ganz Sevilla nichts andres zu fegen ist als ausgerechnet die Schwelle am Zimmer eines hilflosen Schwerkranken . . .«

»Na, na, Herr Kloppenbusch, wir bringen Sie schon noch lebendig an Bord«, lachte Hilde.

»Ihr Wort in Gottes Ohr! Jedenfalls – ich will mein Testament machen.«

»Ihr – Testament? Aber, Herr Kloppenbusch!«

»Ja, ich will. Sicher ist sicher. Ich vermache Ihnen auch was, weil Sie so aufopferungsvoll . . . Nicht wahr, der neue Passagier, da, der Pilzheimer, ist Jurist – was? Notar? Da könnt' ich ihn vielleicht . . .«

»Ich glaube, er war Rechtsanwalt, aber er hat sich zurückgezogen. Die Frau muß sehr reich sein.«

»Muß sie? Sie meinen, weil sie so häßlich ist? Sie sieht aus wie ein rheumatisches Eichhorn, nicht? Aber Sie haben recht, sie ist sehr reich. Freilich erst seit zwei Jahren: da ist ein kinderloser Onkel von ihr gestorben. In München. Drei Minuten von der Villa Stuck. Lenbach hat ihn vor Jahren noch gemalt. In Schweinfurt liegt er beerdigt. Sehen Sie. ich weiß alles. Ja, Herr Pilzheimer war sehr mitteilsam auf der Fahrt von Kadiz hierher.«

»Das ist begreiflich. Er kommt aus dem ewigen Schweigen – direkt von einer wochenlangen Wüstenreise. Nichts wie Sand und Kakteen –«

»Na ja – und die Frau auch noch zwischen den Kakteen! Sie hat sich's in den Kopf gesetzt, sagt Pilzheimer, sie muß Oasen sehn. Ich bitte Sie, Oasen! Und die Reise, sagt er, war ihre silberne Hochzeitsreise. Die grüne vor fünfundzwanzig Jahren ging bloß in den Odenwald, sagt er. Da hatten sie's noch nicht so dick. Na ja, afrikanische Oasen sind teurer als Auerbach an der Bergstraße und das Felsenmeer.«

»Aber warum fährt der Mann nicht auf dem Landwege nach Hause, wenn seine Frau die See so schlecht verträgt?«

»Das hat er uns auch erzählt. Das ist eine kleine Perfidie von ihm. Oder eigentlich eine große. Auf dem Lande piesackt ihn nämlich seine liebe Frau Emilie den ganzen Tag. Von der Grünen bis zur Silbernen hat sie das so getrieben. Er muß springen und Männchen machen und parieren. Aber auf der See, da wird sie klein, ganz klein. Da ist sie voller Angst, ist sanft und bittet und flötet, und wenn's ein bißchen wackelt, nimmt sie zitternd und in Schweiß gebadet Abschied von ihm und vom geliebten Leben. Sie hat, sagt er, schon dreimal ihren letzten Willen in Flaschenposten ins Mittelmeer geworfen und zweimal in die Nordsee.«

Waren es die Tropfen, von denen Kloppenbusch zur Prophylaxe weit mehr genommen hatte, als der den spanischen Kollegen ablösende Doktor Lux verschrieben, war es die Hitze, die durch die Spalten der Läden lähmend in das Halbdunkel des Zimmers kroch, der Patient fühlte sich nach dieser Erzählung recht müde und schloß die Augen. Schon halb im Schlummer machte er noch einmal die heiße Fahrt von Kadiz nach Sevilla, lief zu Fuß von der Landungstreppe, seine Handtasche schleppend, über den staubigen Platz nach dem wenig imponierenden Bahnhof. Wunderte sich im Coupé über den riesigen Umweg des Zuges, der im weiten Bogen hinzuckelnd vierunddreißig Kilometer in anderthalb Stunden zurücklegte. Sah rechts und links die seltsam glitzernden Salzpyramiden geschichtet und die eisenhaltige Erde rot aufglühen in den Lichtern des Abends. Herden wolliger Schafe, schwarzer kleiner Schweine, breitstirniger Stiere glotzten dem Zuge nach. Die Hüter in ihren breiten Hüten, auf ruppigen Pferdchen sitzend, erinnerten ihn an die ekelhaften Kämpfer in der Arena. Und die Hitze lastete in dem Coupé, als würde ein Krematorium ausprobiert. Alles atmete auf, als aus bescheidenen Gärtchen, von Palmen überdacht, die ersten Villen von Sevilla aufleuchteten . . . Sevilla! . . . Er war in Sevilla . . . Er wußte es im Traum noch, daß er in Sevilla war . . . und da unten schrien sie »Aqua – Aqua!« . . . und seine Zunge war ein alter Bettvorleger; und irgend jemand begoß ihm den Kopf mit Wasser und hämmerte dann gegen die Hirnschale, damit der heimlich bewohnte Turban, der die Form und Festigkeit einer Miniatur-Marmormoschee angenommen hatte, sich endlich abschäle von seinem schmerzenden Kopf . . .

Leise, auf den Zehen, hatte Hilde mit einem zufriedenen Blick nach dem in seinem Schweiße schlafenden Kloppenbusch das Zimmer verlassen. Sie wollte nach ihren Damen sehen, die vielleicht einen Wunsch hatten. Auf dem Korridor mußte sie die Röcke ein wenig raffen, um durch die schmutzige Sintflut zu waten, die die von Kloppenbusch gerügte spanische Magd ganz zwecklos hier aus zwei zerbeulten Blecheimern entfesselt hatte. Plötzlich stand sie vor Erich, der ihr lachend den Weg versperrte.

»Na, Fräulein Samariterin, was macht unser armer Patient? Ist noch eine schwache Hoffnung, daß er sein gewonnenes Billett zu Ende genießt?«

»Aber, Herr Assessor – so'n bißchen Magenverstimmung . . .«

»Ich will ihn gerade besuchen.«

»Er schläft.«

»Tant mieux! So sind Sie frei, bis er aufwacht. Und das wird ja in der nächsten halben Stunde nicht zu befürchten sein. Sie haben von Sevilla noch wenig gesehen, was –?«

»Wenig –? Eigentlich gar nichts. Nicht mal die berühmten Murillos, von denen – – von denen unsre Oberin im Sankt-Hedwigs-Stift immer so schwärmte.« Sie wollte nicht sagen, daß ihre Jugend enger gerade mit den Bildern Murillos verkettet war.

»Oha! Sie sollen der Oberin erzählen können. Kommen Sie – unten stehen noch Wagen. Ich habe den meinen – Protz, der ich bin! – für den ganzen Tag gemietet, und die Pferde haben bis jetzt immerzu vor Kirchen im Schatten gestanden. So Sevillaner Kutschpferde wissen schon den Weg und halten vor jeder Kirche von selbst. Die Tiere – übrigens anständiges Fuhrwerk! – haben sich wirklich noch nicht überanstrengt – Kommen Sie!«

»Ja, aber –«

»Wieso – aber? Nichts aber!«

»Ich habe ja nicht mal einen Hut. Der liegt oben im . . .«

»Keinen Hut –? Gott, sind Sie umständlich, einen Hut brauchen Sie auch –? Einen Augenblick. Ich wohne hier Nummer siebenundsiebzig – zwei Siebener. Glückszahl! Ich dachte mir gleich, daß mir das Zimmer Glück bringt . . . Und in dem glückbringenden Zimmer hab' ich –« Er hatte sie an der Hand mitgeführt bis zur Tür von Nummer siebenundsiebzig, die er nun öffnete. Er ließ ihre Finger los, trat rasch ein, raffte vom Tisch einen Knäuel – Spitzen, wie ihr schien – und kam vergnügt zurück.

»Hier die Mantilla hab' ich vorhin in der Calle de Francos gekauft – Scupinsky, der überall schon war, hat mir das Magazin gezeigt. – Für wen? Mein Gott, für niemand. Aber wenn man in Spanien war, in Sevilla, will man doch nicht ohne Mantilla, Fächer und Kastagnetten heimkommen . . . Mit den Kastagnetten – die hab' ich auch – können wir auf der Fahrt zu den Murillos freilich nicht viel anfangen. Aber der Fächer . . . hier, bitte! Keine Widerrede! Es ist viel zu heiß zum Widersprechen. Uff! Sie werden das schon merken, wenn wir draußen in der sogenannten freien Luft sind! Und hier die Mantilla – wird Sie sehr gut kleiden. Für 'ne Carmen sind Sie freilich trotz der dunklen Haare zu deutsch, ja . . . zu unspanisch. Das ist keine Beleidigung, denn – ganz unter uns – von den berühmten schönen Spanierinnen hab' ich bis jetzt hier erst eine gesehen. Auf dem Balkon des Hotels de Madrid, erste Etage, dritter Balkon links – aber Bergemann schwur, das sei eine Engländerin gewesen. Möglich. Sie hat gemalt. Das spricht allerdings gegen die Spanierin – denn die richtige Spanierin malt bloß sich. Oder tut, glaub' ich, überhaupt nichts . . .«

So plaudernd, hatte Erich die überraschte Hilde, ganz leicht ihren Arm fassend, über die leeren, sommerhellen Korridore zur Treppe geführt und durch das kellerkühle Vestibül, wo ein paar Amerikaner mit weit vorgestreckten Beinen im Halbschlaf in den Rohrsesseln lagen, nach dem Ausgang.

Er tat etwas Ungewöhnliches, er wußte das. Gleichviel! Er hatte diesem braven Mädel etwas abzubitten, einen blöden Zweifel, einen ganz dummen Verdacht. Das gräßliche Wort »Gift«, das ihr neulich nach der Abfahrt von Malaga verräterisch über die Lippen sprang, hatte ihn wirklich zu beunruhigen vermocht. Bergemann, dem er gesprächsweise, scheinbar harmlos und doch lauernd, davon erzählte, hatte ihn tüchtig ausgelacht. »Die Borgias sehen anders aus, lieber Erich. Sie glauben doch nicht . . .« Nein, er glaubte nicht. Aber er hatte doch mal kombiniert . . . Und das hatte er jetzt abzubitten, stillschweigend, ohne ihren Jubel unter Tränen von damals, ohne seine eigene mißtrauische Torheit mit einer Andeutung zu berühren.

»Steigen Sie ein, liebes Fräulein!«

Hilde saß in einer eleganten Kalesche, eh' sie recht wußte, wie ihr geschah. Sie fühlte nur, daß ihr wohl war, und daß sie am liebsten ein bißchen in die Hände geklatscht hätte.

»Museo de Pinturas!« rief Erich dem eleganten Kutscher zu, der zwei Finger an den blanken Zylinder legte. »Wie ich schon Spanisch spreche, was? Noch drei Tage, und ich muß deutschen Unterricht nehmen!«

Ein schnickender Peitschenhieb. Die Pferde zogen an. Und auf Gummirädern ging's ganz leicht und wiegend über den glühend heißen Platz in ziemlich enge Straßen hinein, die alle weiß, glatt und freundlich waren. Zuweilen sah man durch dunkle Torbogen in blühende Innenhöfe; sah einen Springbrunnen silbrig schimmernd über naßglitzernde Steine und saftig grüne Pflanzen plätschern, einen Laubengang im Hintergrund mit bunten schwebenden Ampeln, ein paar helle Kleider um einen Palmenstamm und die dunkelroten Tupfen der Rosen ins Grün immergrüner Büsche gesprengt.

Hilde schwieg. Sie hatte sagen wollen: »Wie ein Märchen« – aber das kam ihr dumm und trivial vor. So saß sie nur ganz still mit weit offenen Augen, und ihr junges Herz grüßte die rosafarbenen Wolken der blühenden Mandelbäume, die Orangen und die Akazien und all das Blühen, das lieb und heimlich hinter diesen weißen Steinmauern webte, und in das die geöffneten Tore wie in lauter kleine Paradiese südlichen Bürgerglücks kurzen Blick gewährten.

»Nein, aber die Mantilla müssen Sie umlegen – warten Sie, ich helf' Ihnen. Oft hab' ich ja spanische Mantillen noch nicht auf Damenhäuptern befestigt. Aber der Händler in der Calle de Francos hat mir's gezeigt – und ich war sehr talentvoll. Nein, so – die Spitze ein wenig vorfallen lassen – ganz leicht in die Stirn, absichtslos – alles Nette im Leben ist absichtslos – nicht zu tief, daß man noch sieht, wie hübsch naturkraus Ihre dunklen Haare sind . . .«

Sie wurde rot, wie sie seine kühlen Finger behutsam ordnend an ihrer Stirn fühlte; aber sie ließ ihn gewähren. Einen Augenblick kam ihr das Bewußtsein: wenn jetzt einer der Schiffsgesellschaft dich hier sähe – dich und ihn! Was sollte der wohl denken! Schließlich war sie doch nur eine Stewardeß von der »Astarte«. Freilich, ihr Großvater war Pastor gewesen, irgendwo oben in der Mark, wo die Bauern arm im kargen, flachen Lande sitzen und die engen Kinderstuben der Pastoren so volkreich sind. Und einer von den sieben Jungen war ihr Vater geworden, ein Volksschullehrer, blaß, schmächtig, mit einem Christuskopf und voll Sehnsucht nach allem Schönen. Und nie, nie anders war er auf Reisen gewesen als in seinen antiquarisch gekauften Reisebüchern und vergilbten Atlanten. Wenn sie den Toten hätte wecken und ihm hätte sagen können: »Vater, denk' dir – dein Mädel fährt durch Sevilla. Auf Gummirädern! Fährt! Durch Sevilla! Und sieht Mandelbäume blühen – und Orangen! Die Murillos soll sie sehen, die du auf kleinen verblaßten Visitphotographiekärtchen bewahrtest in deiner ›Galerie‹, wie du den sorglich mit Plüsch ausgeschlagenen Zigarrenkasten genannt hast. Und ein reicher, studierter Herr hat dein Mädel lachend in den Wagen gesetzt und will ihr alles zeigen, weil . . . weil . . .« Ja. warum gerade ihr? Und – ein reicher, studierter Herr? . . . Soziale Abgründe lagen zwischen ihr und diesem heiter eleganten jungen Manne daheim in Deutschland. Aber hier war Sevilla, hier war der Süden, der Frühling! Hier blühten die Mandeln, nickten Palmenwedel über roten Rosenbüschen. Und sie beide waren jung, nur jung – nicht Assessor und Stewardeß, nicht Kavalier und Volksschullehrerstochter – nur jung . . . jung und all dem Blühen verwandt.

Sie hörte, daß Erich zu ihr sprach. Freundliches, Munteres. Aber was er sprach, hörte sie nicht.

Eine Welle von Glück ging warm über sie hin. Vielleicht hatte sie all das andre nur geträumt, das Trübe, Schwere, Verworrene. Vielleicht war das jetzt erst die Wahrheit. War sie wirklich in Berlin in der Tauentzienstraße Verkäuferin in einem Juweliergeschäft gewesen? Hatte sie monatelang all die edlen teuren Steine, die funkelnden Juwelen durch ihre Hände gleiten lassen und auf dunkelfarbigen Samt gelegt, um abends blaß, müd, arm zu ihrer verwitweten Mutter heimzukommen in die kahlen Hinterhausstuben? Hatte sie sich wirklich, sparsam Goldstückchen zu Goldstückchen legend vom Gehalt, den Kursus im Roten Kreuz verdient und zitternd das Examen als Schwester gemacht? Und war sie es wirklich gewesen, die damals, als der Herbststurm draußen von der Klinik die breiten Blätter der Platanen in die Luft warf, den fürchterlichen Mißgriff getan und dem Patienten aus der falschen Flasche die schädliche Flüssigkeit, das Gift, eingegeben hatte? Der Brief war damals schuld gewesen, der gräßlich drängende, werbende, quälende Brief des hübschen Reiteroffiziers, der immer mit ihr frühmorgens in der Stadtbahn fuhr und sie endlich ansprechen durfte, da er ihr das Täschchen nachtrug, das sie, von seinen Blicken über die Zeitung weg verwirrt, im Coupé vergessen halte. Und wer weiß, wenn sie damals nicht in ihres Herzens Bedrängnis, zerstreut und gequält, den knisternden Brief tief in der Tasche des Schwesternkleides, die Fläschchen verwechselt, wenn sie nicht tagelang in der gräßlichen Angst geschwebt hätte: hat dein Leichtsinn ein Leben gefährdet, einen schon langsam Genesenden gemordet . . . wer weiß, ob der Herbst nicht auch sie wild in die Luft gewirbelt und schließlich in den Schmutz der Großstadtstraße niedergeworfen hätte wie die Blätter der alten Platanen im Hospitalgarten . . . Der Oberarzt wollte ihr wohl, das war ihr Glück. Er entließ sie, »bewilligte« ihr den Austritt wegen Nervosität . . . und sie war fluchtartig abgereist. Kaum, daß sie die alte Mutter weinend geküßt, einen Notgroschen hinterlassen hatte zu der armseligen Witwenpension . . . Eine Empfehlung des Assistenzarztes, der früher als Schiffsarzt auf dem österreichischen Lloyd gefahren war, verschaffte ihr eine Anstellung als Stewardeß. Und jetzt – fuhr sie durch Sevilla, einen anderen Brief in der Tasche, einen herrlichen, tröstenden, beglückenden Brief, den in Malaga die Post gebracht und in dem die gute Schwester Agathe meldete: ». . . beruhige dich, er ist völlig genesen und soll jetzt zur Nachkur in England sein. Er behauptet sogar, dein ›Gift‹ habe ihm geholfen – und als er wegfuhr, ließ er dich grüßen.« Um ihr von Schuld befreites Herz blühte der südliche Frühling; und sie fuhr, ganz weich in federndem Wagen, zu weltberühmten Madonnen in einem alten Kloster, all die Herrlichkeiten zu schauen, von denen ein schlechtes, armseliges Abbild ihr Vater einst behutsam, als gelte es, köstliche Schätze zu hüten, aus der mit Plüsch ausgeschlagenen tabakduftenden Schachtel nahm . . .

»Ja, liebes Fräulein – nun müssen wir aber wirklich aussteigen.«

Sie hatte es gar nicht bemerkt, daß der Wagen schon eine Weile vor dem Museum, dem ehemaligen Kloster der Mercenarier, hielt und daß Erich sie lustig von der Seite ansah. Der Kutscher saß steif, zwei Finger wieder grüßend am spiegelnden Zylinder, auf seinem Bock. Ein paar zerlumpte Kinder mit vergnügten Schwarzkirschenaugen wollten beim Aussteigen behilflich sein. Erich wehrte lachend ihren schmutzigen kleinen Pfoten und warf ihnen ein paar Kupfermünzen zu.

Alsbald begann eine gewaltige Balgerei. Noch in dem kühlen Kreuzgang zwischen zerbeulten Kapitellen, geborstenen Grabsteinen und melancholisch geschweiften Amphoren hörten sie die kreischenden Stimmen der Straßenjugend.

»Wir haben nicht viel Zeit,« drängte Erich, »um drei Uhr wird leider schon geschlossen. Halten wir uns im Vorraum nicht auf! Hier die Trümmer aus der Römerzeit können Sie, weiß Gott, an andern Orten schöner und besser sehen; in Rom, in Neapel – und sogar auf der Saalburg im Taunus. Der steinerne Riese dort soll der Kaiser Trajan sein. Ob er sich wiedererkennen würde? Aber das ist ja alles so gleichgültig. Hier drängt alles von dem spärlichen Heldentum weg und von der dürftigen Archäologie zu dem einen, der die Himmel des Christentums geöffnet hat, zu dem Madonnenmaler Murillo . . . Die ehemalige Klosterkirche beherrscht er ganz mit seinen herrlichen Bildern, die vor bald hundert Jahren, als der Pöbel die Klöster stürmte, ein kluger Abt, denk' ich, oder Dekan aus dem Kloster der Kapuziner hierher gerettet hat.«

Sie standen in der alten Klosterkirche, die, jetzt Hauptsaal des Museums geworden, in ihrer Architektur noch die einstige fromme Bestimmung verriet. Der Saal schien fast leer. In den dämmrigen Ecken standen wohl ein paar Fremde, Bücher in der Hand. Aber keiner nahm Notiz von den Kommenden. Ein kleiner, unrasierter Saaldiener schlürfte auf knarrenden Schuhen, die runzeligen Hände auf dem Rücken, durch die Halle.

Wie im Traum, nur im seligen Bewußtsein, von lauter Schönheit, Güte, Frömmigkeit umgeben zu sein, ging Hilde auf ein Bild zu, das sie mächtig anzog. Die Gottesmutter, hinter der purzelnde, spielende Englein leicht den duftigen Wolkenschleier zu breiten scheinen, hat einem silberhaarigen, selig lächelnden Greis das göttliche Kind in die hageren Arme gelegt. Verzückt, im Jubel der Begnadigung, sieht der Alte zu der Himmelskönigin auf. Der lichte Schein um des Kindes Haupt spielt in seinem Greisenbart. Seine klugen Augen leuchten seligen Dank.

»Es ist die Vision des heiligen Felix von Cantalicio«, erklärte Erich, seine Stimme dämpfend. »Auch mir eins der liebsten von des Meisters Bildern. Seh'n Sie nur, wie fein der Kopf des beglückten Alten, dem der Traum seines frommen Glaubens für einen seligen Augenblick das Christkind in den Arm gegeben. Wie rührend die Mütterlichkeit in dem edlen Kopf der Madonna . . . und dann – schauen Sie auf die schlanken Hände . . . ist es nicht, als wäre sie doch – ganz menschlich, irdisch, mütterlich – ängstlich und wollte sagen: Laß nur mein geliebtes Kindchen, mein erstes, mein einziges, nicht fallen, alter zitternder Mann! . . . Dort sehen Sie den heiligen Thomas von Villanueva – die leuchtende Bischofsmütze auf dem leidvollen Haupt –, der dem knienden Bettler das Almosen spendet – den hat Murillo selbst für sein bestes Werk erklärt. Vornehm und groß find' ich das Bild – aber bei Murillo such' ich immer – was hier gerade fehlt – die Frau, die Mutter. Kein Maler, selbst Raffael nicht, hat die Gottesgebärerin so menschlich, so rein in ihrer Güte dargestellt, ohne ihrer Hoheit etwas zu vergeben, wie der Sevillaner Meister. Er hat in seiner ehrlichen Frömmigkeit auch mit dem Glanz des Himmels nicht gespart, aber was uns zwingt und besiegt in seinen Bildern, ist doch die Anmut der Erde. Ist die Lieblichkeit, die wir kennen und verstehen, die wir aus einer fernen Kindheitserinnerung vielleicht noch mitnehmen durchs Leben, als ein dämmerndes Gedächtnis an die eigene Mutter, die sich, da sie noch jung war, über uns beugte in Dank und Glück und Angst und Hoffnung – und die gewiß nie schöner war, nie menschlicher und nie dem Himmel näher, als da sie uns anlachte in unsrer Hilflosigkeit.«

»Wie lieb Sie das sagen!«

Hilde fühlte ihre Hand ganz sanft umsponnen von Erichs Fingern. Aber sie ließ ihm die Hand. Sie hatte das Gefühl, daß er nur aussprach, was sie dachte; was diese in all ihrem Ernst so heiteren Bilder selbst auch ihr sagten, ohne daß sie die rechten Worte dafür gefunden hätte.

»Es ist Harmonie in diesem Künstlerleben gewesen« – sie hörte wieder Erichs Stimme, und sie wunderte sich, wie sanft und feierlich dieser Mann reden konnte, der noch vor kurzem da draußen im Wagen ganz Scherz und Lachen und Oberfläche war –, »er ist dem Leiden immer ausgebogen in seinen Bildern. Hat aus der Geschichte der Heiligen, die doch voll Blut und Marter und Not und Aussatz und Wunden ist, nur das Schöne, Sanfte, Anmutige gesucht und geschildert. Die Visionen, in denen die Engel oder das Christkind selbst den Heiligen erscheinen, die Gläubigen trösten; und vom Leidenswege des Herrn nur die lichten, beglückenden Momente. Die andern – vielleicht größere darunter – haben Christum immer wieder verraten, gefangen, gegeißelt, bespien – haben den Haß seiner Feinde fast eifriger gemalt als des Schuldlosen Menschenliebe und sein Opfer. Sie haben ihm immer wieder die Dornenkrone ins blutige Haupt gedrückt, haben ihm die Nägel durchs Fleisch der Hände und Füße getrieben und seinen Leichnam tausendmal wieder, dürr, blaß und mit den Totenflecken, vom Kreuze genommen. Murillo ist der Leiche ausgewichen, die jahrhundertelang die Kunst beherrscht hat. Er hat den Glauben nicht im Schrecken und in den Greueln des Martyriums gesucht, die als Legende in Chroniken erstöbert werden müssen; er hat ihn aufgedeutet in der himmlischen Liebe, von der uns – bescheiden, gebrochen – irdische Strahlen doch immer noch umgeben. Wenn eine Mutter ihr Kind anlacht, wenn ein Großvater den Enkel wiegt und ein kräftiger Sohn den gebrechlichen Vater tröstet – das alles ist Erde von unsrer Erde und doch Himmel vom Himmel Murillos. Ich bin durch Italien gereist – als Laie gewiß, aber schließlich gut vorbereitet und mit offenen, suchenden Augen –, ich war am Ende, Weihrauch in allen Kleidern, matt und krank von all den geschundenen Heiligen, den pfeilgespickten, lanzenzerstochenen, an Marterpfählen blutenden Opfern der Demut, des Glaubens an einen Lohn da drüben. Von diesen auf Holzstößen Brüllenden, in Höhlen Eingemauerten, unter Pöbelfüße getretenen, angstvoll Verzerrten. Von all' diesen unsagbar Elenden, die erst gemartert, geschunden, zerquetscht, aller Menschlichkeit entkleidet sein müssen, ehe sie in Feiertagsgewändern, belohnt für erlittene Brutalitäten bestialischer Zeitgenossen, in den Himmel einziehen dürfen. Hier aber – auf der Erde und im Himmel Murillos – sehen Sie immer wieder die still webende, schenkende, göttliche Liebe. Sie strahlt aus der leichten Anmut der Frauen – sehen Sie dort nur den Kopf der Santa Rufina –, aus der süßen Sorglosigkeit der Kinder – beachten Sie dort das entzückende Baby der Kapuzinermadonna – und aus den visionären Blicken der verzückten Greise. Die Engel stehen nirgends mit flammenden Racheschwertern vor den verschlossenen Paradiesen. Sie dienen als kleine, liebe himmlische Pagen der Lieblichkeit ihrer Madonnen. Sie schweben und purzeln kindlich, fröhlich, neugierig in den goldnen Wölkchen herum – sehen Sie nur hier das einzig schöne Bild des heiligen Antonius von Padua mit dem Christkind! Der fromme Mann hat so lange in der Bibel gelesen, bis das heilige Bübchen ihm selber herausspringt, greifbar im Fleisch, aus dem herrlichen Weihnachtsevangelium. Nun sitzt's, von einem Himmelsstrahl beleuchtet, lieb und zutraulich auf dem Buch der Bücher. Und innig und ohne Scheu hat der Heilige seinen Arm um das nackte Kinderkörperchen gebogen . . . Und dort – in der schönen Allegorie der Weltentsagung des heiligen Franz von Assisi, hat selbst der dornengekrönte Christus, der die eine Hand vom Kreuze freigemacht hat und sich ohne Schmerz und Schwere niederbiegt zu dem verzückten Mönch, nichts, gar nichts von einer durch Gottes Wunder erweckten Leiche: nichts von einem Gekreuzigten, der in Qualen verdurstend am Marterholz starb, um ewig zu leben. Dahinter im grauen Nebel des göttlichen Zornes liegt wohl das fluchbeladene Jerusalem: aber dieser Heiland, der sich vom Kreuze herabbeugt, ist immer noch von dieser Welt, ist immer noch der Sohn der gütigen, mütterlichen Maria, die Sie hier im Saal immer wieder in ihrer milden, traulichen Menschlichkeit sehn – dort zart jungfräulich in der Verkündigung der Kapuziner – hier glücklich-stolz, eben Mutter geworden, in der Anbetung der Hirten, und hier – den Fuß auf dem Monde, von Englein geleitet – als Purisima in die strahlenden Himmel aufschwebend . . .«

Hilde war, den Weisungen Erichs folgend, mit den Blicken von Bild zu Bild gewandert. Jetzt streift sie den Redenden mit einem scheu bewundernden Blick. War's möglich, daß ein junger Weltmann, der ihr so als Typ des sorglos und auch geschmackvoll genießenden modernen Reisenden erschien, so freudig in den Himmel der Kunst schaute, so klug und so innig zugleich reden konnte von dem, was ihre Kindheit erfüllt hatte? Sie sah wieder ihren Vater aus der mit Plüsch ausgeschlagenen Kiste, seinem »Museum«, die Visitphotographien der geliebten Meisterwerke nehmen. Nüchterner, volksschulmäßiger, lehrerhafter hatten seine Erklärungen geklungen, wenn er, den dünnen blonden Vollbart in der ein wenig zittrigen Hand, zu ihr sagte: »Murillo – mit zwei ›l‹, Hilde, das sprechen aber die Spanier Muriljo – hat in Sevilla gelebt – auch mit zwei ›l‹ – in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Er hat immer wieder die Madonna gemalt, siehst du, und das Jesuskind und die Heiligen, – und all' die schönen Bilder hier, die in Farben noch viel schöner sein müssen, hängen in der Stadt Sevilla am Guadalquivir in Andalusien . . .« Und es war ihr, als ob ihr armer Vater, dessen ganze Schönheitswelt aus einer Zigarrenkiste stieg und aus ein paar alten Büchern, heute hier in ihr mitgeehrt würde und in ihrem dankbaren Schauen wieder erstünde vor diesen gemalten Madonnen, zu deren schlechtem kleinem Abbild er gebetet hatte.

Langsam, leise auf den Zehen gehend, als ob hier eine Andacht stattfände, die sie nicht stören dürfe, war sie Erich, immer noch von seinen Fingern sanft an der Hand gehalten, von Bild zu Bild gefolgt, die Wände entlang. Niemand hatte gestört. Aber hier, vor der Madonna aus dem Kloster der Mercenarier, stand unbeweglich, wie eingerammt in den Boden, die hagere Gestalt eines jungen Herrn.

Erich und Hilde bogen, um nicht zu belästigen, um den reglosen Besucher, der starr zu dem aus dem tiefen Dunkel des Hintergrundes schmal und vornehm mit gesenkten Augen aufleuchtenden Kopf der Maria in die Höhe sah.

»Bergemann, der alte Sanitätsrat, Sie wissen –« sagte Erich halblaut, sich zu Hildes Ohr beugend, »behauptet, das Gesicht dieser Madonna ähnle stark einer Schwester von ihm, die . . . die wohl früh gestorben ist. Ich kann mir's wohl denken; es ist ein fast moderner Kopf in seiner schmalen, etwas kühlen Vornehmheit . . .«

In diesem Augenblick wandte der vor dem Bild sitzende Herr den beiden sein blasses, spitzes Gesicht zu. Ein Glas funkelte im rechten Auge. Es war Arthur Mücke.

Er streifte die beiden mit einem erstaunten Blick, dann zuckte es ironisch um seine hängenden Mundwinkel, und er ging grußlos mit hochgezogenen Schultern zum Ausgang.

Erich sah ihm nach. »Seltsam! Herr Mücke – er war doch vorhin schon mit unserer ganzen Gesellschaft hier. Was kommt er zurück, der Gent –? Hat er sich in der Geschwindigkeit hier verabredet mit jemand: ›– vor der Mercenarier-Madonna, Kennzeichen: rote Kamelie im Knopfloch, Scherbe im Auge und süffisante Visage . . .‹ oder –?«

Hilde drückte ein wenig seine Hand. »Sie müssen nicht immer das Schlimmste von den Menschen denken . . .«

»Das tu ich ja auch wirklich sonst nicht. Aber dieser unausstehliche Bengel . . .«

»Nun ja, er ist ja nicht sehr sympathisch. Aber wer weiß, wer seine Kindheit gelenkt hat und was er um sich gesehen hat, bis . . .«

»Vermutlich Bügelfalten, Hosenstrecker, Modejournale und Affentheater!«

Hilde unterdrückte ein Lächeln und machte ihre Hand los: »Sie müssen nicht so reden! Hier nicht! . . . Vorhin, wie Sie vor dem Bilde der Madonna zu mir sprachen, waren Sie so nett!«

»War ich?« Erich hatte wieder den alten leichten Ton. »Nun ja: Madonna und Murillo – obschon sie, durch denselben Anfangsbuchstaben bevorzugt, mit Herrn Mücke mal, wenn er Glück hat, im selben Band des Konversationslexikons stehen werden – haben mit diesem Patentekel wirklich wenig zu tun. Aber . . . Was sagen Sie?« Diese Frage war an den krummbeinigen allen Museumsdiener gerichtet, der aus einer Wolke von Knoblauch und Tabaksgeruch lebhaft gestikulierend auf Erich einsprach.

»Nu werden Sie sich wundern, Fräulein, was ich bereits andalusische Dialekte verstehe«, nickte Erich, seine Uhr ziehend. »Es ist drei Uhr, sagt der brave Mann. Und er hätte jetzt genug von den Murillos, denn er würde nur bis drei hier für die Aufsicht bezahlt und das schlecht genug. Nicht wahr, alter würdiger Hüter der Heiligen und Märtyrer, das hast du mir in der Sprache des Cid eben erzählen wollen?«

Da diese Frage von einer Silbermünze begleitet war, die in des Alten runzlige, blasse Affenhand fiel, so nickte der Wächter grinsend und griff an die Mütze. Er begleitete sie noch, die Mütze in der Hand, bis zu dem Ausgang und redete dienstbeflissen in sie hinein.

»Jetzt verlassen mich meine andalusischen Kenntnisse«, lachte Erich, indem er Hilde in den Wagen half: »es ist möglich, daß er gesagt hat: wir sollten doch ja bald wiederkommen. Es ist aber auch möglich, daß er gesagt hat, das Silberstückchen sei nicht echt gewesen, das ich ihm zum Dank für seine Ansprache anvertraut.«

»Das wäre –!«

»Sehr möglich, Fräulein Hilde. Je weiter man sich vom lieben Deutschland entfernt, je unechter werden die Münzen. Was man Sammlern nicht oft genug wiederholen kann. Übrigens – wenn ich nun den knoblauchduftenden Kastellan vorhin nicht verstanden hätte . . . und er hätte uns eingeschlossen mit all den Madonnen und Heiligen im alten Kloster der Mercenarier? Und wenn . . . Im »Roman d'un jeune homme pauvre« von Feuillet kommt, glaub' ich. so eine spannungsreiche Szene vor. Da wird der furchtbar edle Marquis, der nischt hat als seinen Edelmut, mit der schönen – ja, wie heißt sie? – also, eben mit der Schönen wird er in einen alten Aussichtsturm eingeschlossen. Und dann springt er, um die geliebte Dame nicht zu kompromittieren, drei oder fünf Stock hoch aus dem Fenster.«

Hilde sah ihn lustig von der Seite an. »Hätten Sie das auch getan?«

»Ich? Nein. Das Museum liegt übrigens Parterre. Aber ich wär' doch nicht gesprungen. Ich hätte vielmehr . . .«

Was er vielmehr getan hätte, erfuhr Hilde nicht, so interessant es ihr in diesem Augenblick war. Denn der Kutscher hatte einen kürzeren Weg genommen, und der Wagen hielt schon vor dem Hotel de Inglaterra.

Der Manager, der entgegenkam, meldete, der Herr von Nummer 71 habe schon mehrfach heftig geklingelt und sich sehr aufgeregt nach dem Fräulein erkundigt. Auch die Damen aus Nummer 81 und Nummer 102 hätten bereits nach ihr gefragt.

»O weh!« klagte Hilde in komischer Verzweiflung. »Rasch, nehmen Sie Ihre Mantilla zurück und vielen Dank –«

»Den Dank will ich gnädigst annehmen, obschon ich die genossenen Bilder wirklich nicht gemalt habe. Immerhin – der Einfall, sie rasch nochmal zu suchen, war von mir. Einer meiner besseren Einfälle sogar. Aber die Mantilla wiedernehmen – nein. Die müssen Sie nun schon behalten, liebes Fräulein Hilde, als bescheidene Erinnerung an Sevilla und seine Madonnen. Und nun – retten Sie Kloppenbusch vom Tode!«

Und mit einem lustigen Gruß und Nicken verschwand er in den Lesesaal.

Der kurze Rest des Aufenthaltes in Sevilla war für die meisten Fahrtgenossen nicht besonders ergötzlich. Die Damen litten sehr unter der Hitze, die das gewissenhafte Thermometer mit vierzig Grad angab. Die Herren hantierten geheimnisvoll mit Kognakgläschen und Opiumtropfen. Die Öltzendorffs aber hatten ihre paar Brocken Spanisch, die sie auf der Meerfahrt aus einem Gesprächsbüchlein erlernt, dazu benutzt, von wetterkundigen Sevillanern in Erfahrung zu bringen, daß für den Abend bestimmt Schirokko zu erwarten sei. Die dunstig gewordene Luft, die gelbliche Färbung des Himmels deuteten darauf; und die Mattigkeit der Hunde und Pferde sei ein sicheres Zeichen. Schwammerl aber hatte gehört, daß der Schirokko gar feinen Sand aus der Sahara mitführte; was Pilzheimer, der eben von der Oasenreise kam, zu einem schmerzlichen Ausruf veranlaßte. Wüstensand hatte er für eine längere Lebensspanne genug genossen; Sand in den Kleidern und Stiefeln, in den Augen, Nasenlöchern und Ohrmuscheln. Er hatte sich auf die Meerfahrt gefreut, und jetzt gab's schon wieder Sand!

So stand die Rückfahrt nach Kadiz nicht gerade unter dem Gestirn lauter Fröhlichkeit. Kam hinzu, daß Grabusch sein Reisehandbuch in dem »Hause des Pilatus« vergessen hatte, wo er es ausruhend vor die Büste irgendeines der römischen Kaiser niedergelegt hatte, die sich dort in den Nischen langweilten. Die Öltzendorffs waren wortkarg, weil sie in der Ansicht übereinstimmten, daß sie nicht so viel von dem ekelhaften Opium hätten schlucken müssen, wenn sie direkt nach England gefahren wären. Reubke ärgerte sich über die schlechte Behandlung von seiten Tilly Schuchs, die ihm noch immer die photographischen Studien in Tanger nicht verzeihen konnte. Bergemann war ehrlich müde von dem heißen Tag und dem ewigen Klettern aus dem Landauer, dessen sonnengewärmte Kissen wie glühende Steine auf die Sitzpartien wirkten, und von dem Kriechen um dunkle Altäre in kühlen, kahlen Kirchen. Zwingenberg hatte sich für zwei Pesetas ein Fläschchen Mineralwasser gekauft, das erst nicht aufging, dann plötzlich explosionsartig den Stopfen herausschleuderte und Elisabeth Hunneberg übersprudelte, und schließlich auf dringenden Rat des Doktor Lux ungenossen aus dem Fenster in die Landschaft flog. Kloppenbusch sah wie ein Häufchen Unglück, Zusätze zu seinem vorhin entworfenen Testament überdenkend, im Wageneck und hörte kaum auf Hilde, die dem Ungläubigen für morgen völlige Genesung für seine beunruhigten Gedärme in Aussicht stellte.

Nur Erich war eigentlich ganz vergnügt. Die kleinen, schwarzen Schweine, die dem Zuge nachglotzten, freuten ihn nicht minder als die hellblühenden Bäume, die an der Station ihre Äste in die Fenster stecken wollten. Und als die Salzpyramiden, links und rechts auf roter Erde geschichtet, die Nähe des Meeres, des Hafens von Kadiz anzeigten, spürte er den Wind, der durchs Coupé wehte, die Federn auf den Damenhüten bewegte und mit dem dünnen Haupthaar Öltzendorffs sein verwirrendes Spiel trieb, wie eine Garantie einer gewiß bewegten, aber fröhlichen Überfahrt. Und da niemand Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten, so nahm er einen der kleinen Papierfächer, die sich alle Reisenden am Bahnhof von Sevilla für ein paar Kupfermünzen gekauft, und die in Nummern und Bildern ein wenig geistreiches Wahrsagespiel auf dem grellblauen Papier zeigten; und er begann die Zahlen der ihm bekannten Geburtstage aus der Familie zusammenzusuchen. Dabei erfuhr er, wenn ihn sein Spanisch nicht trog, daß er bald eine sehr alte, steinreiche Dame zum Altar führen und seine Mutter demnächst in einem Stiergefecht siegreich sein werde. Was ihm beides nicht gerade allzu wahrscheinlich erschien.

Kadiz war schon in Dunkel gehüllt. Wüste Staubwolken fegten über den Kai. Weit draußen zuckten die Lichter der ankernden Schiffe. Das Meer warf weiße Kämme wider die Mauern und Treppen.

Der zweite Offizier der »Astarte« stand plötzlich unter den am Kai gegen Wind und Staub Ankämpfenden. Er war mit Landurlaub in Kadiz gewesen und hatte eine alte Freundin besucht, wie er sie überall in den besseren Häfen besaß. Es war ein hochgewachsener, muskulöser Levantiner, braun und runzlig, wie 'ne Walnuß, immer vergnügt und zuversichtlich, viele Sprachen sprechend, aber jede in einem wunderlichen Dialekt, der durchaus seine eigene Erfindung war.

»Jo,« sagte er jetzt und dehnte seinen gewaltigen Thorax, »a bissal noß wird es wärden . . . Vorausg'setzt nämlich, daß sie uns 's Dampfbarkasserl von der ›Astarte‹ überhaupt noch einmal schicken tun.«

»Wieso? Ist die Barkasse denn schon einmal gefahren?«

»Jo, jo. Schon, schon. Die Ungarn sind mit hinüber g'fahrn. Grad vorhin. Halt a bissal noß. No, sie wer'n ›Eljen!‹ g'rufen hab'n, und nix wie durch! . . . Aber 'is schon nit ganz ruhig hait – nein, das is nit. Aber nix zum fürchten, meine Damen, nix zum fürchten. Wann's halt kommt, 's Barkasserl, nachha fahr'n wer, und wann's halt nit kommt, 's Barkasserl, nachher gibt's hier auch Hotels in Kadiz. Jo, jo. Schon, schon. An der Place de Breto hamm's eins nei baut, jo. Und dann gibt's a ganz guts in der Calle Isaak.«

»Um Gottes willen!« stöhnte Öltzendorff, in dem die Zusammensetzung von Isaak mit der von ihm mißverständlich gedeuteten Calle die Vorstellung an ein streng koscheres Restaurant erweckte.

Kloppenbusch knickte zusammen und klammerte sich an Hildes Arm, die ihn, ein verschmitztes, glückliches Lächeln um den hübschen Mund, vom Bahnhof wie einen Schwerkranken geführt hatte. »O weh,« klagte er, »und hier kochen sie gewiß wieder alles mit Olivenöl, anstatt mit Butter.«

Erichs Vorschlag, in einem Café am Hafenplatz bei einem Vermouth di Torino zu warten, ob die Barkasse noch einmal geschickt würde, fand Anklang. Man saß an verstaubten Tischen mit wackelnden Stühlen und bekam nach langen Gesprächen mit einem einäugigen Herrn in Hemdsärmeln, den ein schmutziges Tuch unter dem Arm als Kellner kennzeichnete, allerlei Dinge gebracht, die man nicht gewünscht hatte. Kognak, der nach dem Stopfen schmeckte, Biskuits, die aus Sägemehl hergestellt schienen, und in Stengelgläsern gelblich gefärbtes Wasser, in dem Zitronenscheiben und tote Fliegen schwammen.

Schließlich, nachdem man eine Stunde gewartet halte, kam die Barkasse der »Astarte«, von dem halb zugekniffenen Auge des Offiziers schon weit draußen im Hafen erkannt und mit rühmenden Worten begrüßt.

»Ah, jo, jo – da is nix gegen zu sagen – a bravs Schifferl is scho, das Barkasserl – und an Mut hat's. Bei Jaffa hamm mir auch amal so ein G'spaß g'habt. Da is das Barkasserl auf einen Felsen a bisserl hart aufg'sessen . . .«

»Herr des Himmels, wenn das heute . . .« Tilly Schuch fühlte bereits, wie sie in die feuchte Tiefe sank.

»Aber nei –«, der Levantiner lachte zutraulich. »Felsen sind hier scho nit. Überhaupt – nix zum fürchten. Wann keine Wellen einschlagt in die Feuerung und die verlöscht, nachher . . .«

Wortlos und resigniert schleppten die Herren das Handgepäck nach der Kaitreppe zurück, der das Meer einen feuchten, weiß gezackten Teppich nach dem andern über die Stufen warf, das eben gebreitete Schaummuster sofort wieder zurückziehend.

Die Einbordung gab einen Vorgeschmack der kommenden Genüsse. So sicher auch die zwei wetterharten Matrosen zugriffen, hoben, stützten und herüberzogen – Öltzendorff hatte doch Wasser in beiden Stiefeln, als er glücklich, den Hut im Genick, den Schirm zerbrochen, an der Kajütentür lehnte; und Grabusch hatte sich an irgendeinem metallischen Gegenstand das Schienbein so heftig gestoßen, daß er die Engel im Himmel pfeifen hörte. Schwammerls Steirerhütl aber schwamm auf einer spitzen Welle davon; eine andere deckte es tückisch zu, und nur die Spielhahnfeder tauchte noch einmal für ein Augenblickchen, wie um ein letztes Lebenszeichen zu geben, aus dem zerrinnenden Schaum.

»Also – das Barkasserl hat scho für alle Platz. Die Damen, bittä, in die Kajüten . . . die Herren, bittä, obben auf die Bankerl und – ein bisserl festhalten, bittä! Ein wenig glitschig vielleicht wird es sein – – von wägen den Wasser . . . Holla! Achtung – ein kleiner Sprützer!«

Sch–sch–scht – eine Welle kam breit, groß und kalt über Backbord. Grabusch, Zwingenberg und Pilzheimer, die hier, eingehakt, die Rümpfe vorgeneigt, die Füße gegen die Feuerungsluke gestemmt, wie drei Begrabene aus der Steinzeit, hockten, zogen die Köpfe, wie die geneckten Schildkröten, tief in die Kragen. Aber schon waren sie naß wie die Katzen. Das Wasser troff ihnen nur so von Hut und Nase und Pelerine.

Wie eine wahnsinnig gewordene Nußschale – dachte Bergemann, der, in sein Plaid gewickelt, mit einem seitlichen Blick den Kampf des kleinen Fahrzeugs gegen diese Wellen betrachtete, die sich bald, wie glatte Mauern, vor seiner Spitze türmten, bald tiefe Täler plötzlich vor seinem Weg rissen. Zuweilen sah man die Lichter der wartenden Schiffe weit, verzweifelt weit da draußen. Dann wieder entzogen die Wogenberge sie den ängstlich unter tropfenden Hutkrempen spähenden Blicken, und man schien planlos in den grausamen Sturm des lichtlosen Ozeans zu steuern.

Irgendwo sprach oder rief jemand etwas. Von anderer Seite antwortete Gebrüll. Keiner verstand ein Wort. Das ratternde Getöse der Maschine, das Zischen der Wellen, der Atem des Windes, der um die kalten Ohren und durch die nassen Haare pfiff, gab ein abscheuliches Konzert, gegen das Menschenstimmen nicht ankonnten.

In der engen Kajüte unten zitterten die Damen. Sie wurden durcheinandergeworfen wie die Hühner, die ein Bauer in einem Korbe zum Markt fahrt. Elisabeth Hunneberg machte durchaus keinen heroischen Eindruck mehr. Sie hatte ihren ehemals prächtigen Sommerhut, wie eine Serviette, platt und unansehnlich unter dem Arm und krampfte die Hände um eine alte Bürste, die zur Schiffsreinigung diente und die sie irgendwo auf der engen schmalen Treppe im angstvollen Hinabgleiten gegriffen hatte. Sie hielt dieses Kleinod, ohne sich über den Zweck Rechenschaft zu geben, mit langsam erstarrenden Fingern fest, während sie, unsanft geworfen, mit den Schultern bald die Wand, bald die kleine eiserne Mittelsäule der ungastlichen Zuflucht berührte. Viktoria von Öltzendorff, weiß wie ein Handtuch, hatte sich krampfhaft in Selma eingehakt, die gewiß unter andern Umständen und auf festerem Boden sehr beglückt über die ehrenvolle Vertraulichkeit der sonst so hochmütigen Dame mit den vielen Ahnen gewesen wäre. Heute und in der gegebenen Situation machte ihr die Sache aber um so weniger Spaß, als ihr Viktoria bereits zweimal bei allzu plötzlichen Schaukelstößen ins Ohr gestöhnt hatte, daß ihr jetzt gleich schlecht werde.

Maruschka Tiegs war da die einzige, die einige Haltung bewahrte. Was zum Teil an einem neuen, in Sevilla gekauften Korsett liegen mochte, das in seiner panzerartigen Struktur nun einmal keinerlei rasche oder energische Bewegung des Körpers zuließ. Aber dieses neue Korsett, das sie in den Hüften sehr schmerzte, gab auch ihrem nicht beweglichen noch bedeutenden Geist eine verhältnismäßig straffe Haltung. Und während sie sich an dem wie schlechte Musik klirrenden Geschirrschrank festhielt, nahm sie durchaus nicht wie die andern Damen innerlich Abschied von den ihr lieben Menschen, deren es auch für ihre Indolenz nicht allzuviele gab. Sie stellte vielmehr einige vergleichende Beobachtungen an, die für die davon Betroffenen nicht sehr günstige Resultate ergaben. Zum Beispiel erinnerte sie sich, daß Selmas unter den Damen mehrfach besprochener Teint in Sevilla noch blühend und vorbildlich gewesen, während jetzt der schweigsam gewordenen Wienerin, die beim Einsteigen noch gerade eine Welle übers Gesicht bekommen hatte, eine Art Himbeersauce von den Wangen in den Blusenausschnitt und eine dunkle Tintenbrühe aus den blassenden Augenbrauen über den kräftigen Nasenrücken lief. Und Viktoria von Öltzendorff betreffend stellte sie fest, daß diese edle Frau hinter Genua ein bißchen bewegte See dringend gewünscht hatte, da nach ihrer Ansicht der gesellschaftliche Wert der Passagiere, die wahre Beziehung und die gute Kinderstube sich erst in den Prüfungen solcher Sonderfälle, wie die Seekrankheit einen darstelle, erweisen könne. Wenn Viktoria von Öltzendorff, dachte Maruschka Tiegs so bei sich, während ihr selbst der kalte Angstschweiß auf der Stirne stand und die Hüften schmerzten, diese Ansicht auch jetzt noch aufrecht hielt, so mußte sie über die eigene Kinderstube nicht eben hoch denken. Denn Viktoria befand sich nicht nur sehr schlecht, sondern sie verhehlte diesen Zustand auch keineswegs und machte Selma, an der sie sich, wie ein Ertrinkender an einem schwimmenden Schiffstrümmer, festhielt, zum unmittelbaren Zeugen ihrer menschlichen Schwäche.

Als Frau Maruschka Tiegs noch mit einer ihr sonst fremden Geistesklarheit diese vergleichenden Beobachtungen anstellte, fiel ihr Auge ganz zufällig unter die gegenüberliegende Bank, von der ein grüner Plüschsitz zu Boden gefallen war. Auf diesem unansehnlichen grünen Plüschsitz aber hockte – so wahr sie lebte – ein kleines Mäuschen und verzehrte, unbekümmert um Sturm und Wogengang und drohendes allgemeines Verderben, zierlich die Vorderpfötchen gebrauchend, ein Stückchen Biskuit, das hier irgendein Schmausender in glücklicherer Stunde hatte fallen lassen.

In diesem Augenblick aber verlor Frau Maruschka Tiegs vor Entsetzen alle ihre Fassung. Ihr stattlicher Busen sank atemberaubt in das Sevillaner Korsett. Was die wilde See, was der Gedanke an die Nähe eines feuchten und für die Zurückbleibenden unbekränzten Grabes in ihr nicht zu wirken vermochte, das hatte dieses kleine Nagetier mit dem harmlosen Spiel seiner Pfoten und seines Schwänzchens plötzlich erreicht. Ihre Lippen wurden weiß, ihre zuckenden Hände ließen den stützenden Schrank los: Frau Tiegs fiel, soweit das ihr neuer Sevillaner Schnürleib erlaubte, nach vorn und schrie mit einer Stimme, die für die Meldung eines Großfeuers genügt hätte: »Eine Maus – eine Maus!«

Die Wirkung dieses Alarms war unerhört. Selma riß ihre Röcke bis übers Knie in die Höhe und brüllte auf, als ob ihre Füße in spanische Stiefel gesteckt würden. Viktoria von Öltzendorff vergaß, wie übel ihr zumute war, und retirierte kreischend auf die schmale, nasse Treppe, wo sie mit einem Sonnenschirm Lufthiebe nach unten schlug. Tilly Schuch aber kletterte mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte auf die Bank und hielt sich krampfhaft an einem verbogenen Kleiderhaken fest, während sie unausgesetzt rief: »Wo ist sie denn, die Maus? . . . So jagen Sie sie doch hinaus, die Maus! . . .«

Der Gegenstand dieser allgemeinen Unbeliebtheit aber, die kleine, zierliche Maus, hatte im Schrecken über dieses wilde Getrampel ihr Stückchen Biskuit im Stich gelassen und war schleunigst in einem Häuflein Werg und Schnüre verschwunden, das unter der Bank lag.

So fuhren die Damen der »Astarte«, durch eine kleine Maus von ihren Todesgedanken und der quälenden Beschäftigung mit allen Sterbensmöglichkeiten befreit, im Schirokko durch das empörte Hafengewässer von Kadiz . . .

Oben aber saßen die Herren, reglos, zusammengeballt, wie nasse, alte Säcke, in den Sturzwellen, die in immer kürzeren Abständen eine gründliche Abkühlung besorgten. Reubke und Mücke hatten sich, ihren Groll vergessend, um fester zu sitzen, ineinander eingehakt. Schwammerl hatte sich sein Taschentuch wie eine weiße Konditormütze über den triefenden Kopf gebunden und versuchte mit der teuflischen Lust eines Unbußfertigen sich klarzumachen, wie beschaffen für den unwahrscheinlichen Fall seiner Rettung aus dieser Elendsfahrt sein Schnupfen, und was dies Nasenübel die Versicherungsgesellschaft kosten würde. Scupinsky und Öltzendorff lagen bäuchlings über dem durch Eisenstäbe geschützten Fenster des Lichtschachts, der nach der arbeitenden Maschine in die Tiefe führte. Doktor Lux und der zweite Offizier, die, breitbeinig an den kleinen Schornstein gelehnt, just die Aussicht auf diese beiden, wie Opfer einer Schlacht Hingemähten hatten, kamen, ohne sich durch Worte zu verständigen, in der Ansicht überein, daß diese nicht zu beneidenden Herren, denen die Wellen in jeder Minute drei- bis viermal gründlichst den Nacken und seine Fortsetzung von oben bis unten bespülten, der Gesellschaft keinen schlechten Dienst taten. Sie halfen nämlich die einzig ernste Gefahr dieser üblen Fahrt vermindern, die Möglichkeit, daß in seiner Wut das empörte Wasser die Scheiben des Schachts durchschlage, in die Feuerung eindringe und die Maschine zum Stehen bringe: wodurch dann allerdings das Barkasserl sofort den Wert eines alten Knopfes im Waschbecken gewonnen hätte.

Nur ein Fröhlicher, nur ein Zufriedener, ja Glücklicher war an Bord der kleinen Dampfbarkasse, die den immer näher, immer heller blinkenden Lichtern der verankerten »Astarte«, sich eigensinnig in die schwere See einbohrend, langsam zuschaukelte: Erich. Auf die Mitte der kleinen Querbank hatte man den kranken Kloppenbusch gesetzt. Von links stützte ihn nach einer beim Einborden rasch getroffenen Verabredung der Bankdirektor Tiegs, an dessen elegantem, seidengefüttertem Raglan längst kein trockener Faden mehr war. Rechts neben ihm stützte Hilde. Die Laterne am Schornstein warf unsichere Lichter über ihre Figur. Das dünne Mäntelchen klebte, von den Wellen reichlichst getränkt, an Brust und Arm und modellierte ihren ganzen jungen, knospenden Körper, so gewissenhaft jede Linie zur Geltung bringend, jeden Atemzug registrierend, daß dies alles zu sehen für einen Künstler hätte eine wirkliche Freude sein müssen. Erich stützte sie, wie Tiegs den bresthaften Kloppenbusch, von der andern Seite mit dem Rücken, während er die ausgestreckten Füße trotzig gegen die emporsteigende und rasch wieder sinkende Bordwand stemmte, wo sie in regelmäßigen Abständen im Wasser verschwanden. In all der Nässe und Kälte fühlte er wohlig die Wärme ihres runden Oberarms, glaubte manchmal ihren Atem zu spüren und hatte das selige Gefühl, indem er immer nasser und kälter wurde, einer hübschen Frau, die ihm wohlgefiel, Halt und Schutz zu sein. Obschon das Wasser in seinen Stiefeln gurgelte, wenn er die Zehen bewegte, obschon er das linke Ohr voll Wasser hatte und seine rechte Hand erstarrte, mit der er sich beim jähen Niederstürzen in die Wellentäler an der Bank festhielt, wäre er noch gern eine Stunde so, hin und her geworfen und durchnäßt, nach fernen Lichtern gefahren, all sein Denken und Fühlen mit glückseliger Energie konzentrierend in die aufmerkenden Nerven seines Rückens, die warm und weich von Hildes jungem, vollem Arm berührt wurden . . .

Der Kapitän stand mit ernstem Gesicht oben an der Treppe, als endlich die »Astarte« erreicht war und die Passagiere der Barkasse, unansehnlich, unkenntlich, zerzaust und verwaschen, wie gerupfte, begossene Hühner, von geschickten, starken Matrosenarmen auf die schwanken Stufen gerissen wurden. Oben auf dem Promenadendeck standen die Ungarn, »Eljen« und andere nicht ganz der Situation angepaßte Begrüßungsworte rufend. Auch die andern schon heimgekehrten Passagiere widmeten sich mit dem Behagen der in Sicherheit und in trocknen Kleidern Befindlichen dem wenig imponierenden Schauspiel dieser späten und glücklichen Heimkehr aus Andalusien.

Auf der Schiffstreppe, hinter Kloppenbusch und Hilde emporsteigend, sah Erich zufällig dem schnaufend ein wenig hinter ihm Kletternden ins nasse Gesicht. Mühsam erkannte er Scupinsky, den die Bartlosigkeit doch sehr verändert hatte. Während Erich lächelnd die Lästerallee der mühsam den Respekt bewahrenden Matrosen und Stewards durchschritt, um sehnsuchtsvoll zu seiner trockenen und warmen Kabine zu eilen, dachte er bei sich, wie merkwürdig zurückhaltend sich der sonst so laute Edle von Scupinsky doch auf diesem Sevillaner Ausflug benommen. Man hatte ihn eigentlich nirgends gesehen, und seine vordringliche Art hatte sich weder im Hotel noch bei den Murillos oder in der Kathedrale störend bemerkbar gemacht.

. . . Beim Diner, das mit einer Stunde Verspätung serviert wurde, erschienen alle Herren, bis auf Kloppenbusch. Die Damen fehlten sämtlich. Herr von Öltzendorff meldete überflüssigerweise, seine Schwester ziehe es vor, an ihrem Tagebuch zu schreiben. Grabusch, den sein Weg vorhin an Viktorias Kabine vorbeigeführt hatte, überlegte, warum sie wohl zu dieser geistigen Arbeit so gräßliche Würgtöne hören lasse.

Das allgemeine Gespräch drehte sich nur um Abenteuer und Gefahr der überstandenen Überfahrt; und während die andern detailliert ihre Eindrücke und Empfindungen – darunter bemerkenswerte und heroische – bei diesem Kampf mit den Elementen darlegten, versicherte Schwammerl nur immer wieder: »I hab halt nix denkt, als: aus is!«

Erich redete wenig, aber lächelte vergnügt vor sich hin und aß zerstreut ein Weißbrot nach dem andern. Gefahr und Sturm und Wellengang, das alles war ihm auf seinem Hilde schützenden Sitz kaum anders zum Bewußtsein gekommen, denn als eine Fortsetzung jenes Gangs durch die Klosterkirche, in der die lieblichen Madonnen Murillos sich zu Heiligen und Bettlern und Hirten freundlich niederbeugten.

Mücke am Nebentisch hörte nicht auf Reubkes Schilderungen seines farbigen Unterzeugs, das er in Genua für teures Geld gekauft und das nun in der abscheulichsten Weise die Farben gelassen, so daß er, wie er eben beim Umkleiden mit Entsetzen entdeckt, Schenkel so blau wie Volksschulhefte habe. Mücke riet ihm, ein Bad zu nehmen – ein Einfall, auf den Reubke selbst schon gekommen war –, und starrte mit provozierendem Lächeln zu Erich hinüber. Dazu trank er sehr viel würzigen Chablis, den er bevorzugte, ohne ihn recht vertragen zu können.

»Mahlzeit!« Der Kapitän hob die Tafel auf. Die Herren zerstreuten sich mit der Zigarre auf dem Promenadendeck, um die Vorbereitungen zur Abfahrt mit anzusehen.

Mit einem raschen Entschluß war Bergemann, da er Erich im Rauchzimmer verschwinden sah, auf Mücke zugetreten. »Herr Mücke, ich möchte Sie um eine kleine Unterredung bitten.«

»Mich?« Der Gent sah etwas erstaunt von seinem Kaffeetäßchen auf. »Bitte, gern.«

»Ja, aber nicht hier.«

»Vielleicht gehn wir ein bißchen herum –? – Oder im Rauchzimmer?«

»Ich wäre Ihnen dankbar, Herr Mücke, wenn Sie mir in meiner oder Ihrer Kabine ein paar Augenblicke . . .«

Mückes Augen wurden klein, seine Zunge leckte die Zahnspitzen. Er überlegte. »Vielleicht bei mir – es ist, denk' ich, etwas geräumiger als bei Ihnen.« Und da er Bergemanns zustimmendes Kopfnicken sah, ließ er den Sanitätsrat vorangehen und bemerkte noch in seiner nichts betonenden, näselnden Art: »Es ist allerdings wohl schon für die Nacht gerichtet . . . Und ein wenig dumpf, da die Luke geschlossen war bis vorhin . . .«

»Herr Mücke,« begann Bergemann in der Kabine, die angenehm nach allerlei Toilettenwasser und Essenzen roch und auf dem Tischchen die elegante und raffinierte Ausrüstung eines verwöhnten Reisenden in Leder, Silber und Elfenbein aufgereiht zeigte, »es handelt sich nicht eigentlich um meine Angelegenheit – sondern um – um meinen jungen Freund . . .«

»Ach, um diesen Herrn Erich Eckardt – Doktor und Assessor?«

Bergemann hörte den ironischen Ton auf den nachschleppenden Titeln. Er wollte aufbrausen, aber er bezwang sich in der Erwägung, daß er ja hier war, um Skandal zu vermeiden, nicht um welchen zu machen.

Mücke bot aus monogrammgeschmückter Dose Zigaretten an, die Bergemann dankend ablehnte, und sagte ohne sonderliches Interesse, während er seine Ägypterin lässig entzündete: »Ich darf mich wohl erkundigen, Herr Sanitätsrat, ob Sie in irgend jemandes Auftrag . . .?«

»Nein. Es ist lediglich mein eigner aus allerlei Erwägungen und Beobachtungen entspringender Entschluß, der mir den Wunsch nahelegt, mit Ihnen zu reden, ehe –«

»Ehe?« Die dürftige Gestalt des Gents richtete sich aus ihrer affektierten Schlappheit auf. Es war ersichtlich, er posierte den Kavalier, der irgendeine versteckte Drohung wittert und an seiner eisernen Ruhe abprallen lassen will.

Bergemann betrachtete ihn wie ein fremdartiges, wenig sympathisches Tier. Dieser Jüngling ohne Jugend, dieser Poseur der Noblesse ohne die leichte, angeborene Liebenswürdigkeit des wirklich Vornehmen, erschien ihm als der peinliche Typ, der die Kultur Mitteleuropas einem natürlichen Empfinden zum Ekel macht. Und doch lag, wie versteckt und geheim gehalten, in den zur Gleichgültigkeit dressierten Zügen dieses jungen Mannes etwas, das ihm zu raten gab, das ihn an ein fernes Erlebnis, vielleicht an eine ähnlich geartete Menschlichkeit, die seine Jugend gekreuzt, dunkel erinnern wollte.

»Ich darf wohl –« die Worte fielen Mücke ohne jede Betonung aus dem linken Mundwinkel, während im rechten die Zigarette hing –, »darf wohl um das interessante Resultat der Beobachtungen und Erwägungen bitten?« Und gewissermaßen um anzudeuten, daß seine Zeit kostbar sei, zog er dabei seine flache Taschenuhr, an deren schwarzem Chatelaineband ein kleines mattgoldenes Medaillon baumelte.

»Ich werde sehr kurz sein, Herr Mücke. Ich habe mit – ja, wie soll ich sagen – mit einigem Erstaunen beobachtet, daß Sie schon auf der Rückfahrt von Granada, dann in Tanger und jetzt auch wieder auf der Tour nach Sevilla meinen jugendlichen Freund – den Assessor –«

»Wenn er ebenso Ihr Freund ist wie Assessor – so ist die Sache in Ordnung.«

Bergemann wurde ungeduldig. Er fühlte, wie die Nervosität in seinen Fingerspitzen kribbelte. »Wenn Sie vielleicht Ihre pythischen Äußerungen zurückdrängen könnten, Herr Mücke, bis ich ausgeredet habe, so wäre ich Ihnen aufrichtig dankbar. Ich wollte also sagen: Sie haben in letzter Zeit, was mir auffiel, meinen jungen Freund, Doktor Eckardt . . .«

»Ach – Doktor ist er auch?«

»Allerdings, Doktor utriusque juris. Haben Herrn Doktor Eckardt mit einer Art – nennen wir's: satirischer Vertraulichkeit behandelt – um nicht zu sagen: zudringlicher Ironie – die in Ihrem Alter und in Ihrer wechselseitigen Beziehung wirklich kaum die rechte gesellschaftliche Begründung hat.«

»Soll das –« Mücke runzelte die Stirn und wurde offiziell – »soll das etwa auf eine von mir nicht erbetene Belehrung hinauslaufen?«

»Vielleicht auch das! Auf eine Belehrung, die nur die Form einer ebenso höflichen wie energischen Warnung annehmen möchte.«

»Ich sehe hierzu weder eine Veranlassung noch eine Berechtigung.«

»Die Entscheidung darüber müssen Sie schon mir überlassen, Herr Mücke. Ebenso wie die Verantwortung. Ich habe – und das sage ich auf Grund des zwar vorzüglichen, aber nicht allzu geduldigen Charakters meines jungen Freundes –«

»Ach – einen vorzüglichen Charakter hat dieser Doktor utriusque auch?«

»Herr Mücke!« Um Bergemanns sonst so gutmütige Augen bildeten sich seltsame Fältchen. Er stand auf und trat, wie es die Enge des Raumes erheischte, ziemlich dicht vor den fast andachtsvoll mit dem Brand seiner Zigarette beschäftigten Gent hin. »Sie belieben nun auch mich zu ironisieren. Das ist mir gleichgültig. Ich spreche hier nicht, um Streit zu suchen – am wenigsten mit . . . nun mit sehr jungen – sehr unfertigen Leuten, die noch kaum so etwas wie eine Persönlichkeit zu verteidigen haben . . .«

»Herr Sanitätsrat!«

»Pardon, jetzt rede ich.« Bergemann sagte es ganz leise, aber in einem so energischen Ton und mit einem so stahlharten Blicke, daß Mücke seine gespielte Gleichgültigkeit verlor und das nervöse Zucken seiner Mundwinkel nicht mehr beherrschen konnte.

Eindringlich und den Gent fest im Auge behaltend, fuhr Bergemann fort: »Ich will Ärgerlichkeiten vermeiden – für meinen jungen Freund, für unsere Reisegesellschaft, für dieses gastliche Schiff. In letzter Linie für mich. Und in allerletzter Linie – auch für Sie.«

»Ich bitte, um mich nicht besorgt zu sein.«

»Ich bin nicht besorgt um Sie. Aber wenn Sie Herrn Doktor Eckardt weiter in dieser Weise reizen und provozieren, so . . .«

»So –? Bitte?«

»So würde er Sie, wie ich ihn kenne, spätestens morgen zur Rede stellen in einer so nachdrücklichen Weise –«

»Würde er? . . . Nun denn, Herr Sanitätsrat, so würde ich ihm – wenn ich diesem empfindlichen Kavalier nicht noch ganz anders zuvorkomme – kühl bedeuten, daß ich mich mit einem Hochstapler . . .«

»Mit – was?«

»Ich sagte: daß ich mich mit einem ganz gewöhnlichen Hochstapler – auf nichts einlasse.«

»Mein – Herr! Haben Sie denn den Verstand verloren?«

»Ich wüßte nicht. Fragen Sie doch gefälligst einmal Ihren famosen Herrn ›Doktor‹ Eckardt, wo der Rubin der Herzogin ist!«

Bergemann stand wie erstarrt; aber das Blut schoß ihm in die Augen, und er fühlte, daß seine Hände irgend etwas zerbrachen, das er vom Tisch gerafft hatte.

»Sie wollen damit doch nicht etwa ausdrücken – –«

»Ich will immer ausdrücken, was ich sage. Den in Barcelona ›verlorenen‹ und von uns allen aufgeregt gesuchten Ring der Frau Tilly Schuch hat am Abend in Granada, spät – als er allein war oder dies zu sein glaubte – Herr Erich Eckardt seelenruhig am Finger getragen.«

»Wer – wer sagt das?«

»Ich!«

Bergemann wußte nicht, daß er's getan hatte. Er hatte das im Triumph doppelt hochmütige Gesicht des Gent dicht vor sich gesehen, höhnisch, provozierend. Da war plötzlich die Hand des im Zorn Überkochenden, wie von selbst, rasch und schwer und klatschend dem jungen Menschen auf die blasse rechte Backe gefahren.

Das Monokel sprang aus dem Auge und fiel auf den Boden. Bergemann trat es mit dem Absatz in Splitter.

Ein kurzer, unterdrückter Schrei, gepreßt aus Verblüffung, Schmerz und Wut. Mücke beugte sich blitzschnell über den Tisch, suchte und griff zu. Der kleine Revolver in seiner Hand funkelte, und die Sicherung knackte zurück.

Mit eiserner Faust hatte Bergemann die Hand gefaßt, die die Waffe drohend nach seiner Stirn richtete. Mit der Rechten griff er, Weste, Hemd und Krawatte zusammenreißend, dem Gent in die Brust, hob und warf ihn, wie ein Bündel, über das Bett. Dann flog in weitem Bogen die Waffe durch die Luke über das schmale Bootsdeck hinaus in das unruhige Hafenwasser.

»Ein dummer Affe sind Sie«, keuchte Bergemann wütend, »und ein elender Verleumder obendrein! Danken Sie Gott, daß die Kraft eines rüstigen Sechzigers Ihre ausgemergelte, disziplinlose Blödigkeit verhindert hat, auch noch einen feigen Mörder aus Ihnen zu machen!«

Mücke lag, schwer nach Atem ringend, in den Kissen. Die niedrige Lächerlichkeit der Situation erwürgte ihn fast. Es war mehr ein Schluchzen als eine Kette von Worten, was sich aus seiner zitternden Kehle rang. »Das – das – werden Sie – bereuen!«

»Ich glaube kaum.« Bergemann richtete sich auf und zwang sich, einen Augenblick die Augen schließend, zur Ruhe. »Wir werden das Gespräch fortsetzen – morgen. Bis dahin werde ich Stillschweigen bewahren darüber, daß ich Sie züchtigen mußte und das in Bubenhänden gefährliche Spielzeug ins Meer warf.«

Mücke stöhnte wie ein Tier.

Bergemann lauschte nach dem Korridor, wo er Stimmen hörte. Es waren die Ungarn, die lachend ihre Kabinen aufsuchten.

Er nahm seine Mütze vom Tisch. »Sie werden selbstverständlich auch strenges Stillschweigen bewahren . . .«

»Sie werden mir . . . werden mir Satisfaktion geben.« Mücke vergaß, daß er durch Scupinskys schwarze Kugel seit jenem Abend in Nizza ein toter Mann war.

»Ihnen? Nein.«

Mücke hörte die Tür seiner Kabine öffnen und wieder schließen. Aber ihm kam vor, das alles ginge ihn nichts mehr an.

Bergemanns ruhige Schritte verhallten auf dem Korridor.

Dann vernahm man des Kapitäns Stimme, der einen Steward anwies: »Nehmen Sie Hänschen herein! Wir fahren gleich.«

Von der Schwemme her hörte man lachende Männerstimmen. Pilzheimer gab eine Feuerzangenbowle zum besten.

Mücke biß vor Scham und Wut in das Kissen. Seine Hände zerrten an dem Leintuch des Bettes. Er war geschlagen worden . . . sein Monokel war zertreten – sein Revolver aus der Luke ins Meer geworfen – – er war geohrfeigt, geohrfeigt! . . . Und sollte eigentlich schon tot sein! Eine Leiche mit Maulschellen! Also dafür hatte ihn das Leben aufgespart, dafür! –

Bergemann hatte in seiner Kabine das Licht angeknipst. Da sein Zorn sich in Handlung umgesetzt hatte, seine Wut verraucht war, schob sich etwas wie Mitleid vor die Verachtung. Wie einen Schulbuben hatte er ihn behandelt . . . Freilich – hätte er nicht so rasch zugepackt, wäre er selbst ein toter Mann gewesen. Geschossen hätte der miserable Gent; gewiß, er hätte geschossen!

Mechanisch wollte sich Bergemann auskleiden.

Da sah er zufällig, wie er den linken Arm hob, daß an seiner Manschette etwas herabhing. Ein schwarzes Band und daran etwas Blinkendes. Mückes Chatelaine war, als Bergemann den Rasenden packte und über das Bett warf, an der Uhr abgerissen und an seinem Manschettenknopf hängengeblieben. Er nestelte das Band nicht ohne Mühe los.

Überlegend, ob er Mücke in einem Kuvert Band und Medaillon noch jetzt durch den Zimmersteward zurückschicken sollte, öffnete er die goldne Kapsel.

Er sah hinein – stutzte – erschrak.

Bergemann trat ganz nah an das Licht, das vor dem Spiegel des schmalen Waschschrankes aus verzierter Birne leuchtete. Das Medaillon zitterte in seiner Hand. Seine Augen wurden starr und groß.

Da war kein Zweifel möglich . . .

Nicht mehr so jung, wie er sie noch gekannt, war sie auf diesem Miniaturbild . . . älter und müder blickten ihre schönen, großen, einst Trotz, Energie und Lebenslust sprühenden Augen . . . aber das Oval des feinen Gesichtes mit der geraden Nase, die Ähnlichkeit mit Murillos Mercenarier-Madonna, vor der er heute früh in der Klosterkirche Sevillas, erschreckt von der Erinnerung, gestanden . . .

Und nun fiel ihm wieder ein. daß ihm Erich bei Tisch beiläufig erzählt: er habe zu seiner Verwunderung Mücke am Nachmittag ganz allein vor dem Bild der Madonna gefunden . . .

Nun wußte er's, was den Gent noch einmal zurückgetrieben! Er war mitten in seiner unnützen Liederlichkeit, in seinem hohlen, interesselosen Dasein seiner toten Mutter begegnet!

Bergemann saß noch lange angekleidet auf seinem Bett und betrachtete mit feuchten Augen im Medaillonbild das feine, kühle, müde Antlitz seiner einzigen Schwester . . .

 


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