Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

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Zweites Kapitel.

»Ich kann mir nun mal nicht helfen – ich mag die Städte nicht, wo die Hauptsehenswürdigkeiten die Friedhöfe sind.«

Erich betrachtete sich den Herrn, der neben ihm, das Manöverglas in der Hand, auf dem Promenadendeck der »Astarte« stand. Der Mann war klein und dick, hatte einen dünnen, schon etwas melierten Vollbart und trug eine Seglermütze mit phantastischem Abzeichen, deren Schirm ihm tief in die halb erstaunt, halb ängstlich in die Welt glitzernden braunen Augen fiel.

»Kloppenbusch.« stellte er sich vor, »Otto Kloppenbusch.« – Und ohne abzuwarten, was Erich darauf zu erwidern habe, fuhr er fort, indem er sein Glas über das graue Straßengewirr hinauf nach dem Forte Castellaccio richtete, als suche er da oben in fünfhundert Meter Höhe einen Bekannten: »Heute morgen denk' ich: Kloppenbusch, du hast noch 'nen halben Tag, dir was in Genua anzusehn – schließlich, wann kommt unsereiner wieder hierher! Also ich frage den Portier. Der Kerl spricht immer mit zehn Leuten auf einmal und alle Sprachen durcheinander. Mir sagt er bloß: ›Fahren Sie Cimitero di Stagliano, mein Herr.‹ Und ohne zu warten, ob ich das will, winkt er: Kutscher! Ich fahre also hin. Denke mir, das ist gewiß so 'n Dom, wo ein marmorner Papst drin liegt oder ein Cafégarten mit Palmen und hübschen Mädchen. Wär' mir lieber gewesen als der tote Papst. Endloser Weg. Üble Chausseen. Schließlich, wo bin ich? Auf dem Friedhof. Haben Sie ihn gesehn? Donner ja, sind hier schon Leute gestorben! Da schreien die Leute immer: das Klima an der Riviera! Na also: so dicht liegen sie bei uns nicht! Famos freilich, die Nischen und Hallen; und was für Marmorbilder! Eine alte Frauensperson sogar mit Brezeln – aus Marmor. Na, schließlich hatt' ich Tote genug für 'n Anfang von 'ne Vergnügungsfahrt. Also zurück. Kostenpunkt fünf Lire. Lauf' ich 'ne Weile so zu Fuß in den Straßen 'rum – da unten am Hafen stinkt's schrecklich – denk' ich mir: Kloppenbusch, denk' ich, was sollst du dich verrückt machen. Kutscher! Ich erklär' ihm, daß ich was sehen will, was Interessantes. ›Belle donne?‹ Nee, nee – soviel Italienisch versteh' ich schon. So was nicht – was Gebildetes, bloß so zum Ansehn. Endlich versteht er. ›Si, Signore – Campo santo!‹ Mir recht – ich nicke und fahr' los. Ahne schon nichts Gutes, wie ich wieder aus der Stadt heraus in das merkwürdige Tal komme. Und was soll ich Ihnen sagen: richtig – ich bin schon wieder auf dem Friedhof! Nu hatt' ich genug sogenannte Sehenswürdigkeiten von Genua! Hab' ich mein Gepäck geholt und bin aufs Schiff gefahren . . . Famoser Kasten, was, die ›Astarte‹? So sauber und . . .« Herr Kloppenburg setzte plötzlich das Glas ab und äußerte nachdenklich: »Übrigens ein verrückter Einfall – Freitags loszufahren . . . Kein Mensch reist doch gern Freitags . . . Und nu noch See!«

In diesem Augenblick kam der Sanitätsrat, der schon ein bißchen ausgepackt hatte. »Ich bin gern ein paar Stündchen vor der Abfahrt in Ordnung«, sagte er, indem er die weiße Mütze abnahm und den leichten Wind, der vom Meer wehte, wohlig durchs weiße Haar streichen ließ. »Es ist so nett, sich ein wenig seine Reisegefährten anzusehn, eh's losgeht. Eh' sich die Herrschaften seemännisch verkleidet haben. Ich weiß oft schon, wenn ich sie die lange hohe Treppe heraufkraxeln sehe, wen ich werde zu vermelden haben . . .«

Eilig, als ob er verhüten wolle, daß es ihm passiere, vermieden zu werden, verbeugte sich Erichs neuer Bekannter vor Bergemann und meldete sehr höflich: »Kloppenbusch – Otto Kloppenbusch.« Worauf er auch Bergemann erzählte, daß er zweimal auf dem Friedhof gewesen, den er wegen seiner düstern Stimmung nicht empfehlen könne, obschon dieser Platz zwei ganz verschiedene Benennungen führe und, wie er nachher gesehen habe, im Reisebuch einen Stern habe, überhaupt Genua hin – Genua her, er sei froh, wenn der Kasten schwimme!

»Ich habe übrigens eben den Kapitän kennengelernt,« sagte Bergemann zu Erich gewendet, »seine Kabinen sind ja auch oben auf Bootsdeck, dicht bei den unsern. Ein jovialer alter Herr. Lustige Augen. Fröhlicher Österreicher. Die Welt ist klein: wir haben gemeinsame Bekannte in Wien. Er lud mich ein, meinen Platz an seinem Tisch zu nehmen für die Mahlzeiten. Ich habe gleich – für Sie mit – beim Obersteward belegt.«

Erich dankte. Kloppenbusch aber schob eilig das Glas ins Futteral und sagte, sich verabschiedend: »Donner ja, das werd' ich auch machen. Hatte mir's schon notiert, bloß das Notizbuch hab' ich verlegt. Der Platz bei Tisch ist sehr wichtig. Man muß beachten, von welcher Seite serviert wird. Der vierte Gang ist allemal Geflügel. Wenn man da auf der falschen Seite sitzt, besieht man egal nur Beine. Ich esse die Brust lieber.« Mit diesem verständlichen Bekenntnis verschwand Herr Kloppenbusch, die Finger militärisch an den phantastischen Schmuck seiner Seemütze legend, mit kurzen Schritten nach der Tür zur Treppe, um im Dining-Room den Obersteward zu suchen.

Bergemann sah ihm belustigt nach. »Ich hab' solche sonderbaren Schlafgesellen, zu denen einen nicht die Not, sondern die See bringt, zu gern. Auf dem Festland trifft man nicht halb so viele Originale. In den großen Städten schon gar nicht. Und bei allen Verschrobenheiten eine Masse netter Kerle darunter. Zum Beispiel . . .«

»Zum Beispiel – um's Himmels willen, die fahren richtig auch mit!« Erich hatte unwillkürlich mit kräftigem Druck den Arm des Sanitätsrats gefaßt. Als dieser den erschreckten Augen des jungen Freundes folgte, gewahrte er von der Dogana her über den Kai des Ponte Federico Guglielmo ein überaus schickes Paar kommen, das dort die Droschke verlassen hatte, deren Kutscher in üblicher Weise hinter ihm her schimpfte. Ein paar schmierige Fachinos schleppten auf breiten Schultern das sehr reichliche Gepäck. Zerlumpte Buben suchten durch Purzelbäume die bewundernde Aufmerksamkeit der nach der »Astarte« Eilenden zu erregen, ohne daß die Künstler, auf den Händen stehend, mit den meuchlings in das Gesicht der Fremden gestreckten nackten schmutzigen Füßen auf eine in Geldgeschenken zum Ausdruck kommende Gegenliebe stießen.

Bergemann erkannte den wehenden weißen Schleier der für ihre jungen Jahre beträchtlich korpulenten Dame, den weißen Wiener Filz auf dem rostrot gefärbten Haar und die über den spitzen Lackschuhen leuchtenden Gamaschen des übertrieben eleganten Kavaliers.

»Wahrhaftig – la Signora di Venticinque! Mit Gemahl.«

Die beiden Herren sahen sich an und lachten. Im »Hotel des Princes«, wo sie die Nacht logiert und nach anstrengender Fahrt gut geschlafen halten, war alles heute morgen auf ihrem Korridor stundenlang in Bewegung gewesen. Der Zimmerkellner, das Zimmermädchen, der Hausknecht, der Liftboy – alle rannten sie verwirrt durcheinander, gerufen, beschäftigt, gehetzt von einer anspruchsvollen Dame, die in ihrem Zimmer immerzu klingelte, wenn sie nicht gerade auf dem Korridor in schlechtem Französisch schimpfte. »La Signora di Venticinque!« – Die Dame von Nummer fünfundzwanzig . . . Das war der Schreckensruf gewesen, den ein Angestellter des Hotels dem andern weitergab auf Treppen und Korridoren. Und noch als die Herren unten ihre Rechnungen zahlten und das Gepäck fürs Schiff aufladen ließen, hörten sie den Manager sehr erregt mit dem Portier konferieren; und la Signora di Venticinque spielte wieder die dominierende Rolle in diesem heftigen Gespräch.

»Gott gebe, daß dies Paar nicht für die zweieinhalb Wochen an unsern Tisch kommt!«

»Nein.« Bergemann hatte sich schon mit der Routine des Vielgereisten orientiert. »Sie sitzen woanders. Der Mann heißt von Scupinsky. Und die Gattin – wenn sie's ist –, die liebenswürdige Dame mit der Stimme wie eine Kreuzertrompete, heißt Selma. Dieser Name war ja schon das Geheimnis der Korridore im Hotel. Der Kapitäntisch hat, wie alle sechs Längstische im Speisesaal, Platz für zwölf Personen. Die zwölf Rundtische nur für sechs. An unserm Tisch liegen nun überall schon die Visitenkarten. Das Diner beginnt gleich nach der Abfahrt. Des Ritters von Scupinsky wappengeschmückte Karte sah ich gottlob in unsrer Nähe nicht.«

»Gut bürgerlich ist mir der Tisch auch lieber!«

»Nein, bürgerlich ist er auch nicht. So durchwachsen. Zwei Adlige hab' ich gelesen – warten Sie mal – ja, ein Herr von Reubke und ein Herr und Fräulein von . . . von . . . wie war's doch? . . . tja, das Gedächtnis läßt nach. Ach, richtig: von Öltzendorff.«

»Von – Öltzendorff?« Erich prallte von der Reling so heftig zurück, daß er beinahe einen sehr schlanken, bartlosen Herrn hinterrücks umgerannt hätte, der eben eine besonders stattliche Dame, die, weiß der Himmel warum, einen Pelzmantel trug, nach der Luxuskabine des Promenadendecks geleitete. »Pardon, mein Herr.«

Bergemann sah den beiden nach. »Die sitzen auch bei uns. Sie ist die bekannte Primadonna und Wagnersängerin Elisabeth Hunneberg. Und er scheint ihr Impresario zu sein oder so etwas. Ich sah gerade, wie er am Kapitäntisch die Karten auf die Gläser legte, nachdem er nach allen Seiten erprobt, ob's nicht ziehe.«

Erich hörte nicht zu. Mit dem Namen Öltzendorff war ihm das Abtzimmer im »Roß« zu Büssigheim wieder emporgestiegen. Die blauen Brieffetzen höhnten ihn aus dem Kamin. Und dort drüben, wo eigentlich das Denkmal Christoph Kolumbus', des Genuesers, zwischen Palmen auf der Piazza Acquarda den Westbahnhof kontrollierte, schien ihm plötzlich der erleuchtete Eugenienhof des ahnungslosen Bräutigams zu warten.

»Öltzendorff sagten Sie . . .? Von Öltzendorff? Das wäre ja aber ein Zufall von ausgesuchtester Abscheulichkeit. Wäre – ist der Mann denn Rittmeister?«

»Rittmeister?« Der Sanitätsrat begriff nicht recht, warum sich Erich so aufregte. Denn als ihm der Erregte vorgestern abend beim »Türkenblut« von Büssigheim die Gründe seines plötzlichen Entschlusses angedeutet, hatte er von dem Brief im Kamin nichts gesagt und einen Namen nicht genannt. »Rittmeister – kann er gewesen sein – vielleicht. Ich weiß nur, daß er auf dem Hauptdeck seine Kabine hat und behauptet, er bekomme nur die dicke Luft vom Korridor und müsse mithin von zwölf Nachbarn die hinausgestellten Stiefel mitriechen nachts. Was ihn nicht zu entzücken scheint. Ist übrigens, wenn er Rittmeister ist, längst a. D. Starker Sechziger, taxier' ich. Kann mich sogar in die Kanne steigen lassen, wenn's ihm einfällt, mit seinen Semestern zu protzen . . . Nein, sehen Sie – Barmherziger! – was unsre Signora di Venticinque für ein Gepäck mitschleppt! Wenn wir die Modehelme alle bewundern sollen, die in den Hutschachteln verstaut sind – dann dürfen wir in ganz Spanien und Portugal keinen Hafen auslassen! übrigens – wer weiß, wie oft und wie lange wir die erlesene Freude haben, die lieben Damens auf Deck zu sehn«, fügte er hinzu mit einem listigen Blinzeln nach den Wolken, die sich vom Kamm des Gebirges her langsam, wie schwer schwebende Kissen, auf die Bastionen und die oberen Stadtteile senkten.

Erich richtete seine Blicke nach dem gegenüberliegenden Kai, an dem der Riesendampfer einer Ostasienlinie festgemacht hatte. Um seine drei maisgelben Schornsteine huschten koboldartig säbelbeinige Chinesen in blauen Jacken. Heizer und Wäscher, die aus den Tiefen dieses träg ausruhenden Riesen gekrochen waren, um in Abwesenheit des Kapitäns und der Passagiere nach beschwerlicher Fahrt durchs Rote Meer allerlei Ausgelassenheit zu treiben.

»Unruhige See? Angenehme Aussicht für einen, der noch nicht auf Seetüchtigkeit erprobt ist. Da wär' man fast lieber auf so einem Koloß da drüben, neben dem sich unsre ›Astarte‹ ausnimmt wie ein Delphin neben dem Walfisch –«

»Ach was, die Seekrankheit packt nur den, der sich vor ihr grault. Ich hab sie nie gespürt. Aber dort – sehen Sie dort hinüber – für die möcht' ich nicht garantieren.«

Tilly Schuch hatte aus dem Fenster ihrer Kabine auf dem Promenadendeck den langsam mit dem Wiener Joseph Schwammerl vorbeipromenierenden Schiffsarzt an der goldgestickten Äskulapschlange vorn an seiner Dienstmütze erkannt. Ohne viel Einleitung, mit der ungenierten Sicherheit einer Frau, die mit ihren fünfundzwanzig zugegebenen und dreißig wirklichen Jahren noch jung und hübsch ist und sich Formlosigkeiten erlauben kann, griff sie, die beiden einholend, in ihr Gespräch ein:

»Sie reden von der Seekrankheit, meine Herren – und Sie sind der Doktor, nicht wahr?«

Sie strich sich kleine Fahnen des erstaunlich goldblonden Haares aus der Stirn, wohin sie ihr der Wind eigensinnig immer wieder werfen wollte. Und sie lächelte dazu freundlich und ängstlich zugleich mit halb offenem Mund, aus dem die kräftigen weißen Zähne blitzten, erst den einen, dann den andern an.

»Lux, Doktor, Schiffsarzt«, stellte sich der schwarzbärtige junge Herr mit der Äskulapschlange an der Mütze salutierend vor. Und des andern stumm bewundernde Verbeugungen erklärend, fügte er hinzu: »Herr Schwimmer aus Wien.«

»Schwammerl, wenn ich bitten darf. Zu dienen: Schwammerl«, wiederholte der Wiener und kaute seinen Namen, den er selbst nicht schön fand, wie eine klebrige Arznei. Er war ein hübscher, geradegewachsener Mensch, etwas zu weich und biegsam in den Bewegungen vielleicht, und in der Sprache manchmal, wenn er die vergnügtesten Dinge sagte, von einer singenden Melancholie, als ob er einem zu früh dahingerafften Onkel die Grabrede halte. Wenn er verlegen wurde – und er wurde leicht verlegen – liebkoste er mit nervösen Fingern seine kurzgehaltenen Franz-Josephs-Koteletten und tänzelte leise von einem Fuß auf den andern, als ob er ungeduldig den Beginn einer Tanzmusik erwarte.

»Also, bitt' schön, gnä' Frau, grad als ob Sie Gedanken lesen könnten. Also grad hab i zum Doktor g'sagt: eine Tante von mir ist dreimal in Valparaiso g'wesen und hat unterwegs nix als rohes Fleisch und wachsweiche Eier gegessen. Und erst am Ende der dritten Reise hat sie im Kanal . . . na, Gnädigste verstehen schon.«

»Um Gottes willen, das ist aber eine gräßliche Ernährung für eine Vergnügungsreise – ich reise nämlich zum Vergnügen – die Herren doch auch?«

»Ich bin im Dienst«, lächelte Doktor Lux, wie Harun al Raschid gelächelt haben mag, wenn die Einfalt von Bagdad Seine Majestät in der Verkleidung nicht erkannte.

»Ich fahr' schon fürs Pläsier«, bestätigte Schwammerl und fügte in einem Anfall von Ehrlichkeit hinzu: »Wenigstens so halb und halb. Mit der G'sundheit steht's nämlich nit zum besten bei mir. Ich hab mit der Nasen . . .«

Der Doktor lachte. »Wenn's weiter nichts ist, als die Nase!«

»Ja, die Nase is aber sehr wichtig bei mir. Is g'wissermaßen mein G'schäft, ja –«

Schwammerls Gesundheit inklusive der merkwürdigen Nase, die sein Geschäft war, interessierte die schöne Frau nicht so sehr, als die Eventualitäten der Seekrankheit und ihre Verhütung. Sie unterbreitete mit größter Zungengeläufigkeit die verschiedensten Rezepte, die man ihr genannt, der Entscheidung des Doktors. Der ringelte geschmeichelt seinen kurzen Vollbart um den Zeigefinger und begleitete jede neue Hypothese mit dem Achselzucken eines Mannes, der ja nicht jeden Narren gleich ins Irrenhaus sperren will. Man sollte nur Rotwein trinken, hatte eine vielgereiste Dame aus Neubrandenburg ihr verraten. Und ein Herr, der oft in London zu tun hatte, nahm drei Tage, eh er sich dem Kanal anvertraute, immerzu Natron. Eine amerikanische Millionärin hatte ganz heiße Fußbäder mit Sodazusatz als beste Prophylaxe gerühmt; und von einem Marinepfarrer, den später die Zulus erschlagen hatten oder die Eskimos – genau wußte sie das nicht mehr –, wollte eine Kusine gehört haben, daß in Abständen von drei bis vier Stunden ein angewärmter Kognak mit einem Eidotter, der aber ganz frisch sein müsse, die Widerstandskraft wunderbar erhalte. Hingegen hatte ein begüterter Rentier aus Bückeburg, den sie voriges Jahr in Luzern an der Table d'hote kennengelernt, behauptet, nur wenn man sich sofort beim Beginn der Meeresunruhe in der sorgsam verdunkelten Kabine niederlege, die Füße etwas höher als den Kopf, damit das Blut nicht aus dem Hirn trete, könne man die Gefahr bestehen.

Schwammerl stand während dieser Darlegungen, deren jede ihm Unbequemlichkeiten zu empfehlen schien, mit hängender Unterlippe da und sah angestrengt forschend in das unbewegliche Gesicht des Schiffsarztes.

Dieser aber, als die schöne Frau endlich schwieg, zuckte nur stärker mit den Achseln und gab die pythische Erklärung ab: »Wissen Sie, Gnädige, das is halt so mit der Seekrankheit: wer's kriegen soll, der kriegt's. Und wer's nit kriegen soll, der kann die Füße so viel und so heiß baden, als er mag, und danach so hoch hinauslegen, als er lustig is; und kann warmen oder kalten Kognak dazu trinken mit und ohne frischen oder faulen Eidotter – er kriegt's halt nit.«

Nach Verabreichung dieses Trostes ließ er mit kleiner Verbeugung Joseph Schwammerl bei Tilly Schuch stehen, die immer noch mit nervösen Fingern ihre blonden Haare im Winde fing, und wandte sich unvermittelt Bergemann und Erich zu, die aus der Nähe belustigt der Konsultation beigewohnt.

»Lux, Schiffsarzt,« fügte er und griff an die Mütze, und dann ohne Komma weiter: »also wissen Sie – so geht das nun, wenn ein Lüfterl blast – und es wird schon eins blasen – egal weiter. Jessas, die Damen! Also voriges Jahr hatt' ich eine an Bord, die hat immer dazwischen gestöhnt: ›Sieben Kinder will ich lieber bekommen, als daß mir so übel ist!‹ Also über Bord hätt' ich sie schließlich werfen können mitsamt ihren sieben Kindern! Aber für nächstes Jahr – da hab' ich mich nach Ostasien gemeldet. Küstenfahrer. Mit Kulis. Das denk' ich mir fein. Die Kerle versteht man kein Wort. Und wenn sie wirklich krank sind, da kann man ruhig seine Diagnose stellen, ohne daß die Patienten mit ihrem chinesischen Quatsch einem das Krankheitsbild verwirren.«

In diesem Augenblick wurde der Doktor von einem Matrosen abgerufen. Der Lotse, der schon an Bord war, ließ ihn bitten.

»Ha, den kenn' ich schon, den Lotsen. Er hat immer Leibgrimmen, und ich muß ihm einen Kümmel aus der Apotheke verschreiben.« Mit langen, schlenkernden Schlitten eilte der Medizinmann davon, um die Beschwerden des Lotsen zu lindern.

Es war plötzlich, als ob ein Bienenschwarm ausschwirren wollte. Aus allen Türen von der Treppe her kamen Passagiere. Die meisten hatten schon den Reisestaub der D-Züge, die sie hergebracht, den Schmutz der verrauchten Tunnels abgeschüttelt: hatten sportmäßige Mützen auf und helle Beinkleider zu blauen Jacketts angezogen. Einige liefen wichtig und zwecklos Leitern hinauf nach dem Bootsdeck: andere liefen ebenso wichtig und zwecklos Treppen hinunter nach dem Oberdeck. Alte Reisepraktiker suchten sich einen guten Platz, die Abfahrt zu sehen. Andere stellten sich Mitpassagieren und Kabinennachbarn vor. Und wieder andere liefen hinten am Heck den Matrosen, die die Anker an rasselnden Ketten aufwanden, in die Quere, bis sie der dritte Offizier höflich grüßend nach vorn schickte.

Drei Engländer, die glattrasiert, in ihren kurzen blauen Jacketts, den gelben Stiefeln und den platten karierten Mützen aussahen, als sei es eigentlich dreimal derselbe Engländer in drei verschiedenen Lebensaltern, standen schweigsam, aus kurzen Pfeifen rauchend, um eine korpulente, schwarzgekleidete Lady herum. Diese Dame saß würdevoll gereckt auf einer Bank, wie eine Figur im Panoptikum. Sie trug einen langen Witwenschleier und eine goldene Brille. Sie hatte bereits, unbekümmert um das sie umgebende Leben und die hastigen Vorbereitungen für die Abfahrt, eine Handarbeit vorgezogen, an der sie, ohne aufzublicken, ohne zu reden, mit gemessenen, automatischen Bewegungen stickte.

»Penelope«, sagte Bergemann zu Erich.

»Und die Freier –?«

»Wer weiß. Jedenfalls –« Bergemann tönte die Arie aus dem Bruchschen Odysseusoratorium leise an: »Sie wob ein Gewand mit Trä–nen am Stran–de . . .« »Oh, ich höre das noch von der herrlichen Altstimme der Adele Aßmann! Aber das können Sie sich natürlich nicht erinnern. Sie sind ja so jung noch – so herrlich jung, Sie Glücklicher! Und doch – heute nicht so jung wie die beiden dort!«

Erich folgte Bergemanns diskret anweisendem Blick.

Ein junges Ehepaar ging untergefaßt und verträumt in zerknitterten Reisekleidern, Tritt haltend, immer rund ums Promenadendeck herum. Die beiden sahen nichts von dem bewegten Hafen, durch den die kleinen Barkassen schossen, nichts von den Wolken, die drohend hinter dem Häusergewirr der steil ansteigenden, stolzen Stadt in den dunklen Schluchten der Felsen lagen, nichts von der Hast der breitbeinig über das Deck hineilenden Matrosen und Schiffsjungen, nichts von der Unruhe der an der Reling wie aneinander gebundene Ausstellungspuppen neugierig sich hinziehenden Passagiere. Sie merkten gar nicht, daß das Schiff ganz langsam, zitternd vor Ungeduld, ein wenig stampfend und wie sich selber zur Bewegung ermunternd, von dem breiten Steinkai sich löste, während vorn am Promenadendeck vor dem Rauchsalon die aus Kammerstewards gebildete Kapelle unter Leitung eines sehr blassen, pockennarbigen Jünglings, dem die zu knappe Mütze schief auf der schweißglänzenden Stirn saß, erst die deutsche und dann die italienische Nationalhymne spielte. Dies glückliche Paar war Otto Häfele aus Cannstatt bei Stuttgart mit seiner ihm vor drei Tagen angetrauten jungen Frau. Die beiden genügten sich. Sie hatten nicht das Bedürfnis, Genua zu betrachten oder das Meer oder die mitfahrende Menschheit. Otto Häfele sah Anna Häfele an, und Anna Häfele sah Otto Häfele an.

Und so fuhren Anna und Otto Häfele, ohne es zu wissen, die Hände verschlungen und die Augen selig ineinander versenkt, langsam aus dem Hafen von Genova la Superba hinaus ins Mittelländische Meer.

Nur eine Sorge bedrückte Otto Häfeles liebeerfüllles Herz. Und er gab ihr Ausdruck.

»Ob wir net doch emal hier den Schiffsarzt frage sollte, Annale?«

»Ja, du meinscht wege meiner Hand? Aber der Doktor in Luzern, wo mir g'fragt habe, hat uns doch g'sagt: 's ischt nur so rot, weil i in eine giftige Pflanz griffe hab'! Und gar net g'fährlich ischt's, hat er g'sagt. Bloß wüscht. Und die Salb, wo i's mit einschmier', wird's scho bald vergehe lasse.«

»Aber daß du alleweil Handschuhle trage sollscht, Annale, das ischt halt zu schad.« Otto Häfele streichelte den perlgrauen Damenhandschuh, der seiner Gattin rechte Hand sorglich umschloß. »Du hascht halt gar so liebe Fingerle, und weischt, die tät i halt arg gern manchmal küsse.«

»So hascht auch noch was Neues, wenn wir wieder heim komme, Ottole, gelt?« schäkerte das Annale. Und ahnte wohl nicht, daß sie damit zur Physiologie der Liebe einen kleinen, aber wichtigen Beitrag lieferte.

Der scharfe Bug der leuchtend weißen »Astarte« schnitt durch das seltsam graue, schwerfällig zur Seite rollende Wasser. Das imposante Rundbild der Stadt mit ihren hohen grauen Häusern und weißen Palästen verschwand, wie hinter rasch und unheimlich sich vorziehenden Schleiern. Nur ein paar trotzige Krane reckten noch schwarze, unheimliche Arme daraus hervor.

Es war, als ob das elegante Schiff, das schmuck und schlank, wie die Luxusjacht eines amerikanischen Nabobs, an den grauen, gelben, schwarzen, wie Riesen nach schwerer Arbeit im Wellenbett liegenden englischen, deutschen und italienischen Dampfern vorbeigezogen war, ein böses Wetter hinter sich lasse und selber, glückbeflügelt, in die Herrlichkeit des lachenden Frühlings fahre.

In einem lilafarbenen Streifen ruhte fern im Westen am Horizont, wie ein goldenes Tor in den Himmel öffnend, die Halbscheibe der Sonne auf dem Wasser. Als ob sie ins Land der Seligen führten, breiteten sich goldene zitternde Wege über die leicht schwankenden Wellen. Dann plötzlich schien sich die Scheibe zu einer goldenen Pyramide zu dehnen und zu spitzen, wie ein feierliches Grabmal in weiter Ferne.

Nur wenige Minuten hatte das wundervolle Schauspiel dieses Sonnenunterganges gedauert, des ersten, den Erich auf dem Mittelmeer sah. Er war ergriffen von der Schönheit dieses Wunders und drückte unwillkürlich die Hand, die Bergemann leicht in seinen Arm gelegt hatte, fester an seinen Körper.

Der Sanitätsrat nickte und sprach die Worte vor sich hin: »Was vergangen, kehrt nicht wieder – aber ging es leuchtend nieder . . .«

»Ausgezeichnet gesagt«, lobte Kloppenbusch, der zu den Herren getreten war. »Bloß – der Sonnenuntergang ist schuld, daß wir nun alle keinen Smoking angezogen haben zum Diner. Und« – fügte er belehrend hinzu, denn eben hatte er darüber einen Steward befragt – »das ist bei diesen Fahrten Sitte.«

Der Sanitätsrat tröstete den Betrübten. Am ersten Tage und in den Häfen werde es nicht so streng genommen. Übrigens dort wandelten ja zwei Gentlemen, die die Ehre des Schicks retteten.

Zwei junge Herren, tadellos im Abenddreß, Smoking und Lackstiefeln, ohne Mütze, korrekt, Schritt haltend, kamen vorbei. Kloppenbusch sah ihnen mit gesenktem Kopf nach, wie einem unerreichbaren Ideal.

»Der eine,« sagte Kloppenbusch, »der linke, der etwas stattlichere, ist ein Herr von Reubke. Sie müssen mal in der Passagierliste nachlesen, was der für einen verrückten Vornamen hat. Mir werden Sie's nicht glauben. Kreuzwendedich, so wahr ich lebe. Klingt wie ein Vogel, nicht? Aber er ist gar nicht stolz, der Herr Kreuzwendedich von Reubke. Sehr nett sogar. Ich hab ihm beim Ankommen meine Handschuhe auf den Fuß fallen lassen. Nicht angenehm, weil auch meine Hanteln drin sind. Er hat's gar nicht übelgenommen. Scheint immer vergnügt – hören Sie, nu lacht er wieder. Der andere, wissen Sie, das ist nu nicht so meine Nummer. Mücke heißt er, bloß Mücke. Und tut wie ein Großfürst. Hat oben bei Ihnen auf Bootsdeck seine Kabine, grad nur getrennt durch die Treppe vom Gesellschaftszimmer und der Bar. Auf der andern Seite schlafen die Ungarn. Muß ein Verein sein oder ein Klub. Ganz nette Leute – sieht immer einer aus wie der andere. Und rufen immerzu: ›Eljen . . .‹ Auch vorhin, wie wir abfuhren: ›Eljen!‹ Das muß 'ne sehr einfache Sprache sein, das Ungarische. Alles heißt ›Eljen . . .‹ Nein, was ich sagen wollte, dieser Herr Mücke –« Kloppenbusch zog die Passagierliste heraus und kontrollierte, »Artur heißt er mit Vornamen – ist ein komischer Kauz. Adlig ist er nicht, und Kreuzwendedich heißt er auch nicht – aber arrogant scheint er mir für den halben Gotha. Und wenn Sie mal da oben einen Rundgang machen ums Bootseck – ich bin vorhin oben gewesen und hab mich mal umgesehen, wo die Rettungsboote hängen, man kann nie wissen, nicht wahr; und wenn's schief geht, läuft man nicht gern die falsche Treppe . . . ja, was ich sagen wollte, ich geh also da oben so 'rum und gucke so 'n bißchen durch die Luken in die Kabinen. Na, da stand ja nun der Herr Mücke, ziemlich ungeniert – und zog sich an. Kann froh sein, daß ich keine Dame war, mein' ich. Aber Unterzeug hat der Mann – sapristi, also ich sag' Ihnen: alles Seide, resedafarbene Seide . . . also ein Page in den ›Hugenotten‹ kann darin auf 'ner Hofbühne 'rumspringen! Na, das kann er ja nun halten, wie er will, der Herr Mücke . . . Aber auf dem Tisch, da liegt – also so wie ein Briefbeschwerer, verstehen Sie – ein Revolver. Na, ich bitte Sie, ich hab ja auch einen bei mir – denn man kann nie wissen auf Reisen, und nach Afrika kommen wir schließlich auch – aber meinen hab ich bloß gewonnen in der Jagdausstellungslotterie. Ich möchte schwören: er geht gar nicht los. Jedenfalls, man legt doch so was nicht offen hin – und Patronen dazu läßt man nicht 'rumfahren wie Pfeffermünzplätzchen.«

Das Trompetensignal rief zum Diner.

Die Passagiere lösten sich von der Reling und aus den Stühlen, die die Deckstewards schon an den weißgestrichenen Wänden entlang gestellt hatten.

Auf der Treppe zum Oberdeck berührte Bergemann leicht Erichs Arm und sagte, mit einer Kopfbewegung deutend: »Der dort ist der Herr von Öltzendorff.«

Erich, dem bei diesem Namen etwas wie Weh und Ärger aus dem Magen stieg, sah einen eleganten alten Herrn, der sich den Frack zur Mahlzeit angezogen hatte. Die rosafarbige Rosette in der Rockklappe, die gestraffte Haltung des hohen, schlanken Körpers deuteten auf den alten Offizier oder Diplomaten. Der weiße Bart unter dem verwitterten Gesicht lief in zwei langen weißen Spitzen zur Seite. Neben ihm schritt die Schwester. Es sah eigentlich aus, als ob sie an ihm hänge. Denn sie war klein und rundlich und hatte sich mit einem weißen Handschuh in des Bruders Arm gehakt.

Der Obersteward erwartete die Gäste an der rechten Tür zum Speisesaal. Die linke war durch die Musiker versperrt, die schon, diskret die Instrumente prüfend, vor ihren eisernen Notenhaltern saßen und neugierige Blicke über Geigen und Trompeten hinweg zu den in langsamem Zug wie zur Polonäse vorbeidefilierenden Passagieren schickten.

Die Tafeln waren alle reizend mit Blumen geschmückt, die noch duftende Grüße von der Riviera herbrachten.

Erich und Bergemann stellten sich der Gesellschaft ihres Tisches vor. Erich verstand nicht alle Namen. Aber Bergemann, der mit der Erfahrung des Vielgereisten sich vorher mit Zuhilfenahme der gedruckten Passagierliste orientiert hatte, erklärte ihm mit gedämpfter Stimme, während die Stewards auf ein Glockenzeichen ihres Meisters in zwei langen Reihen, gerichtet und im Tritt, hübsch anzusehen in ihren knappen blauen Jacken mit den Goldknöpfen und den schwarzen Krawatten über weißer Hemdbrust, mit der Suppe kamen.

»Potage œufs fillé«, nickte dem Sitze Erichs gegenüber ein etwas gelblich und leberleidend aussehender alter Herr und schob sich diskret den Serviettenzipfel in den Ausschnitt der weißen Weste.

»Das ist ein Amtsgerichtsrat a. D.«, erläuterte Bergemann, der Erichs Blick gefolgt war. »Heißt Bernhard Grabusch. Scheint ein bißchen Raunzer. Ich hätte nicht Referendar bei ihm sein mögen. Neben ihm die schöne, stattliche Frau, die so ein bißchen aussieht wie eine Karyatide vom Erechtheustempel, halb stolz, halb mißvergnügt, als ob man ihre steinerne Herrlichkeit auf der athenischen Akropolis gestohlen und ins Britische Museum gebracht hätte –, das ist die Gattin des links von ihr sitzenden Herrn, eines Bankdirektors Theodor Tiegs. Ich bin im allgemeinen mißtrauisch gegen Banken, deren ›Direktoren‹ ich nur aus Passagierlisten kenne. Aber der Mann sieht aus wie die personifizierte Solidität. Ob er freilich das edle Fräulein von Öltzendorff, das auf seiner andern Seite sitzt, sehr berauschend unterhalten wird im Laufe der Fahrt, der Lunchs und Diners, das ist freilich eine andere Frage. Er hat so einen hohlen Blick, als läse er innerlich immer die Kursberichte.«

Wenn der Sanitätsrat mit seiner Prophezeiung recht hatte, so waren die Aussichten für Viktoria von Öltzendorff, auf dieser Reise bei Tisch gut unterhalten zu werden, überhaupt recht gering. Denn ihr Bruder beschränkte sich darauf, an der Schmalseite des Tisches, dem Stuhl des Kapitäns gegenüber, der bei der Ausfahrt leer blieb, wortkarg zu repräsentieren. Und Otto und Anna Häfele aus Cannstatt bei Stuttgart, die gegenüber saßen, begnügten sich auch bei der Mahlzeit durchaus mit sich und schienen, die Drehstühle einander zugekehrt, in leisen Bemerkungen, im wechselseitigen Zulächeln, Anprosten und kleinen, nur ihnen verständlichen Neckereien sich vollständig genugzutun.

Der glattrasierte Mister Hobsen, der zur Linken Otto Häfeles saß, fühlte sich keineswegs verletzt durch dieses etwas ungesellige Benehmen des ungeniert seiner jungen Liebe lebenden Paares. Er kümmerte sich nur um Elisabeth Hunneberg, die große Wagnersängerin, der er von ihrem Impresario, seinem Chef in Neuyork, zum Begleiter und, wenn man so will, zum Aufseher und Reisemarschall bestellt war. Elisabeth Hunneberg war von der Firma Clark & Co. für die kommende Saison engagiert, achtzig Abende in den größeren Städten Amerikas abwechselnd die Isolde und die Brunhilde zu singen. Eine kleine, aber lästige Indisposition zu besiegen, die ihren wertvollen Kehlkopf seit einiger Zeit inkommodierte – sie nannte es Kitzelhusten –, unternahm sie diese Seereise mit ihrem Söhnchen, dem sechsjährigen Fritzchen, einem unausstehlichen, verzogenen Bengel, seiner Kindergärtnerin, Fräulein Agnes Hennerich, dem ihr von der Firma Clark & Co. als Begleiter gestellten Mister Hobsen und mit einer entsetzlichen Angst vor der Seekrankheit. Diese von keiner Vernunft zu dämmende Angst verekelte ihr jetzt schon die Noisette de veau à la Duchesse, die sie sonst leidenschaftlich gern aß. Diese Angst vor der Seekrankheit verband aber die Diva auch schon bei diesem ersten Diner schwesterlich mit der ihr sonst ganz fremden Tilly Schuch, die mit der unerhört blonden Krone ihres in schwere Zöpfe gelegten herrlichen Haares dasaß, bleich und gereckt wie eine unselige Königin, die ihr Todesurteil vom Tribunal der Revolutionäre jeden Augenblick erwartet. Die Blicke der beiden Damen begegneten sich über den Tisch hin oft; und die beiden lächelten dann ein krampfhaftes Lächeln, ein Lächeln der Genossinnen, die kommendes Leid schon verbindet, ein Lächeln, das hinüber und herüber fragte und antwortete: »Geht's Ihnen noch gut?« – »Bis jetzt, ja – aber . . .« – »Es wird doch nicht?« – »Ich fürchte, es wird!«

Kreuzwendedich von Reubke neben Tilly gab sich die erdenklichste Mühe, die geschätzte Nachbarin, deren Seelenzustand er genau so richtig taxierte, wie der gegenübersitzende und verschmitzt in seinen Rotspon lächelnde Bergemann, über die Besorgnisse dieser ersten Stunden der Lustfahrt hinwegzuplaudern. Gleich zu Beginn der Mahlzeit hatte er sich heftig in die Konversation gestürzt und seine angenehmsten Qualitäten leuchten lassen. Er wußte, warum, der gute Kreuzwendedich von Reubke! Gewohnt, gut zu leben, war er mit dem Vermögen, das ihm beim Tode seiner Eltern zugefallen, so ziemlich am Ende. Eine geizige Erbtante in sehr hohen Jahren erfreute sich einer Lebenszähigkeit, die ihr in der Familie den Beinamen »die Fischotter« verschafft hatte. Die robuste Gesundheit der Dame ließ hoffen, daß sie das schöne Alter der von Maria Theresia mehrfach ausgezeichneten Ahne Ursula von Reubke erreichen würde, die acht Wochen nach ihrem hundertsten Geburtstag, am 20. Juni 1757, auf ihrem Gut in Schlesien ihren ersten Schlaganfall erlitten hatte aus Freude über die Nachricht, daß der österreichische Feldmarschall Daun vor zwei Tagen den Preußenkönig bei Kolin geschlagen habe. Und die Geschichte mit Kreuzwendedichs Erbanspruch an ein Drittel der Hinterlassenschaft des närrischen Onkels Roderich, der aus Neigung für Fuchsjagden und Fleischpasteten in England gelebt hatte, war schon rein zum Verzweifeln. Das jedenfalls recht beträchtliche Bankdepot des verstorbenen Sonderlings war einfach nicht zu eruieren! In den Notizbüchern des Onkels Roderich waren seine Wertpapiere korrekt angeführt; alles war angegeben, bloß nicht die Bank, bei der er, seit Jahren bloß von einer deutschen Pension als Legationsrat a. D. lebend, Zins auf Zins hatte anlaufen lassen. Kreuzwendedich und seine Vettern hatten gemeinsam in großen Londoner und deutschen Zeitungen auffallende Annoncen erlassen und demjenigen eine Belohnung erst von fünf, dann von zehn Prozent zugesichert, der ihnen die Bank nennen wollte, bei der das Zinsen und Zinseszinsen sammelnde Depot des seligen Legationsrats a. D. Roderich von Reubke ruhe. Alles umsonst. Die Bank selbst handelte, wie Fachmänner versicherten, korrekt, indem sie schwieg und weiter »verwaltete«. Denn zu den Pflichten der Banken gehört auch die, unter keinen Umständen irgendwelche Auskunft über den Namen ihrer Kunden und die von diesen hinterlegten Depots zu geben. Ein ausgezeichneter Anwalt in London hatte den Erben dann geraten, einmal aufs Geratewohl gegen ein paar der wesentlichsten englischen Banken auf Herausgabe des Nachlasses zu prozessieren; die richtige Bank würde dann vielleicht darunter sein und ihr Direktor zur eidlichen Aussage gezwungen werden können. Aber zu solchem Prozeß war es durchaus nötig, daß alle Erben gemeinsam vorgingen; und der Himmel hatte es gefügt, daß eine Base Kreuzwendedichs, die vortreffliche Veronika von Reubke, Miterbin war. Diese von jeher sehr gottergebene Dame aber hatte sich seit Jahren als schlichte Schwester Veronika in ein Kloster zurückgezogen, dessen fromme Oberin sie nun war. Prozesse durfte sie nach den Ordensregeln nicht führen; aber sie war bereit, ganz auf die Erbschaft zu verzichten. Dazu bedurfte es eines notariellen Aktes. Ein Mann aber – und ein solcher war schließlich der älteste Notar, sowohl vom physiologischen Standpunkt als vom Klostergesichtspunkt aus betrachtet, immer noch – durfte keinesfalls ins Kloster, ihre Unterschrift zu beglaubigen. Und sie durfte nicht heraus. So schrieb denn die ehrwürdige Dame aus ihrer Zelle dem Vetter Kreuzwendedich immerzu sehr gütige, etwas salbungsvolle Briefe, vergaß auch selten, ein buntes Heiligenbildchen beizulegen, das ihren Segen für Kreuzwendedichs Tun und Lassen auf der Rückseite vermerkt trug. Bloß die für den rettenden Prozeß unerläßliche beglaubigte Unterschrift unter eine Verzichtsurkunde oder unter eine Prozeßvollmacht war in diesem irdischen Leben nicht mehr von der Weltflüchtigen zu erreichen. Und in jenem besseren Leben, auf das Veronika des öfteren in ihren Briefen ebenso zuversichtlich wie ausführlich zu sprechen kam, war es, was auch sie betonte, gänzlich gleichgültig, bei welcher englischen Bank das irdische Depot des Onkels Roderich so gewissenhaft und sicher gegen Rost und Motten geschützt und verwahrt wurde. So blieb Kreuzwendedichs letzte Hoffnung eine angenehme, vermögliche Frau, die sich in seine vom Adel und gewissen gesellschaftlichen Talenten angenehm unterstützte Männlichkeit sterblich verlieben würde. Eine Seereise auf einem Luxusdampfer schien ihm – nach Erfahrungen, die zwei Freunde von der Garde mit amerikanischen Millionärinnen gemacht – verständig und aussichtsvoll. So hatte er ein paar der wenigen städtischen Pfandbriefe verkauft, die ihm noch geblieben waren, hatte sich neu, gut und einer so wichtigen Fahrt angepaßt equipiert und war mit dem ganzen Leichtsinn seiner sechsundzwanzig angenehm durchbummelten Lenze nach einem fidelen Abend in Genua an Bord der »Astarte« gestiegen. Hier hatte er sofort dem Obersteward in einer lauschigen Ecke das letzte italienische Goldstück in die Hand gedrückt und mit dem offenen Lachen, das ihm Männer leicht zu Freunden gemacht, Frauen oft in die Arme geführt hatte, ganz geradezu gefragt: »Fährt vielleicht eine Dame mit, die hübsch und nicht alt und, sagen wir, reichlich begütert und – ohne ehelichen Anhang ist?« Worauf der Obersteward verständnisvoll und ohne eine Miene zu verziehen geantwortet hatte: »Ich werde den Herrn an den Kapitänstisch placieren. Neben Frau Tilly Schuch aus Berlin. Soviel ich weiß, ist sie Witwe und vermögend. Und soviel ich sehe, ist sie eine der hübschesten und sicherlich die blondeste Frau, die in den letzten zehn Jahren mit der ›Astarte‹ gefahren ist.« Woraus Kreuzwendedich erfreut entnahm, daß der Obersteward seine Worte so gut wie seine Gäste zu setzen verstand. So weit war ja also der Anfang nicht übel. Weniger angenehm war, daß ein Fahrtgenosse, Herr Artur Mücke, auch durchaus nicht zur Entdeckung Spaniens auszog, auch eigentlich keine Murillos oder maurischen Architekturen zu studieren wünschte. Dieselben Gründe, die Kreuzwendedich die erfrischende Seefahrt nahelegten, hatten vielmehr auch diesen jungen Mann veranlaßt, zu Schiff um Spanien zu fahren. Oder eigentlich hatten es seine Gläubiger unternommen, ihn auszurüsten, nachdem er verschiedene unsympathische Papiere eigenhändig unterschrieben hatte. Darüber war Kreuzwendedich genau so gut orientiert wie Artur Mücke, der rastlose Gent, über Kreuzwendedichs nicht uneigennützige Motive und Absichten. Die beiden jungen Herren hatten sich nämlich am Abend vor der Abfahrt in Genua in einem gastlichen Hause getroffen, in das beinahe auch Kloppenbusch von einem gewissenlosen Kutscher verschleppt worden wäre, wenn er nicht eine zweite Besichtigung des Campo santo vorgezogen hätte. In ein etwas abgelegenes, aber die ganze Nacht geöffnetes Haus, in dem es keiner besonderen Einführung für gut gekleidete Fremde bedarf. Und die stark parfümierten, reichlich gepuderten Damen, die in dem schrecklich vergoldeten Saal dieses Heims ohne jede Ziererei die Honneurs machten, hatten bei einem zwar sehr berauschenden, aber dafür auch entsprechend wertvollen Capriwein – die Flasche wurde später mit fünfzehn Franken bezahlt, so daß die Wirtin sicher keinen Schaden an diesem Ausschank hatte – die Bekanntschaft der Herren vermittelt. Wobei sich's rasch herausgestellt hatte, daß sie beide morgen denselben ungewissen Weg auf das balkenlose Meer vor sich hatten. Eine Entdeckung, die erst eine ausgelassene Freude in diesem den Temperamenten keine Schranken setzenden Salon, dann aber eine fast melancholische Stimmung hervorgerufen hatte. Eines der grell, aber leicht gekleideten Mädchen sang sehr gefühlvoll »Addio, mia bella Napoli . . .«; und obschon die »Astarte« Neapel gar nicht berührte, also auch ein wehmütiger Abschied von dieser gewiß schönen Stadt gar nicht zu nehmen war, bemächtigte sich eine herzliche Rührung aller Festteilnehmer. Ein Artillerieleutnant, der, unbehindert durch Landessitten, in Uniform das Fest verschönte, schwur in gebrochenem Deutsch: wenn das Schiff untergehe, werde er für die beiden Herren in S. Matteo auf dem Grabstein des Andrea Doria eine Messe lesen lassen. Warum das gerade auf dem Grabe des Andrea Doria sein mußte, begriff zwar in dieser verzwickten Stunde niemand; aber man fand den Entschluß des Artillerieleutnants hochherzig; und die Padrona gab ihr Ehrenwort, daß sie allen ihren Mädchen erlauben würde, dieser Messe beizuwohnen – wofür Mücke und Kreuzwendedich sich herzlichst bedankten. Dann war noch eine Flasche sehr üblen Vermouts di Torino getrunken worden, und dann . . . hatten die Herren sich am nächsten Morgen beim Frühstück im Hotel wiedergetroffen und sich etwas geniert erinnert, daß sie in dieser Nacht sehr offenherzig zueinander gewesen waren; wodurch sich die Übereinstimmung ihrer Absichten und Gedanken, die Fahrt durchs Mittelmeer betreffend, ergeben hatte. Nur eines konnte sich Kreuzwendedich nicht mehr recht entsinnen, und während er jetzt in dem Vol-au-vent à la Toulouse herumstocherte, als erwarte er, darin auf eine Goldader zu stoßen, wälzte er sein Gedächtnis um und um, wie das war. Hatte Mücke gesagt: er habe sich gerade duelliert, oder er wolle sich duellieren, oder er müsse das auf dem Schiff tun, oder . . . Irgendeine Duellsache war dagewesen. Bestimmt. Denn der Artillerieleutnant hatte für den Fall eines üblen Ausganges noch sehr warm ein Grab in Italien empfohlen; weil hier der Marmor so edel und so billig wäre und die huschenden Eidechsen so niedlich aussähen auf den sonnenheißen Grabsteinen. In Deutschland konnte er sich's lange nicht so schön denken, begraben zu sein. Worin ihm die Mädchen auch zugestimmt hatten.

»Mein Gott, was ist das für ein Lied, das die Kapelle spielt?« fragte Grabusch über den Tisch herüber Erich, der das Musikprogramm studierte.

»Es heißt ›Wenn ich ein Mann wäre . . .‹ von Ehrich«, antwortete Erich höflich und reichte das Programm hinüber. Im stillen freute er sich, daß dieser Ehrich sich mit einem »h« schrieb und nicht mit ihm verwechselt werden konnte; denn das Lied gefiel ihm nicht sehr.

»Wenn ich ein Mann wäre . . .,« bemerkte Elisabeth Hunnebusch trocken, indem sie sich mit Spinat bediente, »so würde ich den Kapellmeister ins Meer werfen. Der junge Mann kann ja die beste Kapelle wahnsinnig machen mit seinen Tempi.«

»Erregen Sie sich nicht, verehrte Diva«, beruhigte sie Hobsen, der als erfahrener Seefahrer bemerkte, daß das Meer unter dem Speisesaal unruhig und die Nasenspitze der ihm gegenüber in stolzer Majestät thronenden Frau Tiegs grünlich wurde.

Otto Häfele aber sah Anna Häfele tief in die Augen und sagte: »Choux fleurs, das ischt Blumenkohl, Annale; also den hascht du doch so arg gern!« Und er versorgte Annale von der Silberplatte mit Blumenkohl, als ob er erwarte, daß bis zur Einfahrt in den Atlantischen Ozean keinesfalls mehr gespeist werde.

»Ich finde es nicht richtig,« tadelte Herr von Öltzendorff, zu seiner Schwester gewandt, »daß auf deutschen und österreichischen Schiffen die Menüs immer noch in französischer Sprache abgefaßt werden. Man sollte dagegen protestieren. Eventuell durch einen Hungerstreik.«

Otto Häfele schien so entsetzt von diesem Gedanken, daß er dem Annale eine der Blumenkohlportion entsprechende Lage Kartoffeln auf den Teller häufte, wozu er empfehlend bemerkte: »Iß nur ordentlich, Annale, 's ischt alles im Billettpreis einbegriffe.«

Frau Tiegs sah mißbilligend, wie eine gekränkte Königin, zu dem Ehepaar aus Cannstatt hinüber und ließ aus dem linken Mundwinkel eine französische Bemerkung zu ihrem Gatten hinfallen, die dieser mit stummem Nicken beantwortete, indem er Viktoria von Öltzendorff die nicht sehr imponierenden Reste des Blumenkohls abnahm.

»Es fängt an – zu schaukeln«, sagte Tilly Schuch und duckte ihre wundervolle blonde Haarkrone ängstlich über den leeren Teller. »Und ich habe mich schon so gefreut, daß ich neben dem Kapitän sitze – und jetzt ist sein Stuhl leer.«

»Der Kapitän muß bei der Ausfahrt auf der Kommandobrücke sein. Mit dem Lotsen«, erklärte Bergemann höflich.

»O Gott – o Gott – auf der Kommandobrücke – das ist gewiß ein schlechtes Zeichen. Da gibt's Sturm – und . . . wir werden alle seekrank.«

Viktoria von Öltzendorff wandte sich an ihren Bruder, der ihr allein für die Konversation in Betracht zu kommen schien: »Es wäre vielleicht gut, wenn wir ein bißchen bewegte See bekämen. Man unterscheidet dann leicht den gesellschaftlichen Wert der Passagiere. Die wahre Erziehung zeigt sich erst in schwierigen Sonderfällen. Und ein solcher schwieriger Sonderfall scheint mir für den Binnenländer die Seekrankheit.«

Tilly Schuch hatte die dunkle Ahnung, daß sie sich in dem geschilderten schwierigen Sonderfall nicht allzu gut benehmen würde. Sie hatte schon jetzt das Gefühl, als hätte sie einen ziemlich umfangreichen Drehkreisel verschluckt. Sie beschloß, um sich Haltung zu geben, eine starke und energische Geschlechtsgenossin immer anzuschauen, damit sich ihre Standhaftigkeit an dem Anblick kräftige. Leider wählte sie sich dazu Elisabeth Hunneberg aus, die schon eine Weile, anstatt das Diner fortzusetzen, schweratmend die Schiffsbewegung durch leichtes Rumpfkreisen markieren zu müssen glaubte. Sie war sehr blaß geworden; und Grabusch, der gerade an seiner Burgunderflasche vorbei zu ihr hinübersah, dachte, daß ihr jetzt kein Mensch das »Hoiotoho!« der Walküre glauben würde. Schon eher den Schmerz um den von Melots Verräterschwert verwundeten Tristan. Bloß singen könnte sie dieses Weh auch nicht mehr, dachte Grabusch. Und er trank betrübt seinen Pommard und wartete auf die Bestätigung der alten Erfahrung.

Als begüterter Junggeselle und Amtsgerichtsrat a. D. war Grabusch in seinem von Importen etwas angerauchten gemütlichen Heim in der Adolfsallee in Wiesbaden seines Junggesellenlebens schon seit Jahren überdrüssig. Die Jagd freute ihn nicht mehr, seit der Ischiasnerv ihn empfindlich zwickte, sobald er durch feuchtes Gras gepirscht oder ein bißchen in den Herbstnebel gekommen war. Das Kegeln füllte immerhin nur drei Abende aus. Die Lektüre mußte auf Rat des Augenarztes etwas eingeschränkt werden. Sein einst sehr liebenswürdiger Pudel wurde alt, faul, genäschig und roch nicht schön. So dachte Grabusch ernstlich daran, sich noch im Anfang seiner Fünfziger zu verheiraten. Aber da es seine heilige Überzeugung war, in der ihn das Studium Schopenhauers bestärkte, daß alle Frauen Meisterinnen der Verstellungskünste seien und diese Künste insbesondere üben, wenn sie Ehemöglichkeiten riechen, so beschloß er, die Frau ohne Maske zu suchen. Die Maske legte eine Frau nur ab, wenn sie krank war und zu schwach, eine mühsame Komödie der Sanftmut, Güte und Wohlerzogenheit zu spielen. Da sich Grabusch aber mit der scharfen Logik, die ihm eigen war, selber sagte, daß er Frauen, die etwa in Betracht kämen, nicht leicht gerade in leidendem Zustand würde zu sehen bekommen, so hatte er beschlossen, nicht in den Salons oder auf Gesellschaften oder in Bädern sich nach einer passenden Gefährtin umzutun, sondern auf der See. Das Meer bot, wenn es andern tückisch und treulos zu sein schien, die ehrlichste Gelegenheit, Frauen zu sehen, wie sie in Wahrheit waren. Die Seekrankheit mußte die verstecktesten Qualitäten ihrer Psyche enthüllen. Aller Egoismus, alle Kratzbürstigkeit, alle Unleidlichkeit mußte klar zutageliegen, wenn der Wille zur Verstellung in einer Dame so weit gebrochen war, daß sie sogar auf dem Liegestuhl in der Lichtfülle des Sonnendecks kleine Toilettegeheimnisse reuelos preisgab. Aus diesen Erwägungen heraus hatte Grabusch schon sieben Seereisen gemacht. Hatte Ägypten besucht und das Nordkap, war in Konstantinopel gewesen und in Athen. Er hatte auf diesen Entdeckungsfahrten die Pharaonen im Museum von Giseh, die Tempeltrümmer der Akropolis, die Hagia Sophia und die Mitternachtssonne so nebenher betrachtet, in der Hauptsache aber doch sein Augenmerk kritisch prüfend auf die mitfahrenden Damen gerichtet, die unverheiratet, verwitwet oder geschieden waren, und hatte listig gelauert, wie sie sich bei unruhiger See benehmen würden. Dabei hatte er neue Erfahrungen gesammelt, die ihn leider noch nie zu einem abschließenden kühnen Entschluß halten kommen lassen. Denn es ergab sich, wenn das Schiff »rollte«, daß recht ansehnliche Damen von Welt plötzlich aussahen wie die verreckten Vögel, unansehnlich, zerzaust und gerupft; und daß weibliche Wesen von schmelzender Liebenswürdigkeit unwirsch und unleidlich wurden, die Stewardessen herumkommandierten wie die Sklavinnen und unter Seufzern über das Leben und die Welt und die Menschheit die abfälligsten und törichtsten Bemerkungen laut werden ließen.

Und jetzt hatte es den Anschein, als ob der erste Abend auf der ›Astarte‹ ihm schon neue Erfahrungen in dieser betrüblichen Richtung bringen sollte. Denn eben erhob sich Elisabeth Hunneberg und teilte Mister Hobsen, der bekümmert dreinschaute, mit forciert lauter Stimme mit, daß sie unbedingt den Sonnenuntergang oben an Deck ansehen müsse. Eine Mitteilung, die nur scheinbar Geistesgegenwart bewies. Denn nach einigem Nachdenken mußte dieser Entschluß die Hörer am Tische wundernehmen insofern, als die Sonne seit einer halben Stunde bereits untergegangen war. Trotzdem äußerte sofort nach der Isolde leidlich würdigem Verschwinden auch Tilly Schuch den Entschluß, sich ebenfalls den Anblick dieses vielgerühmten Naturschauspiels zu gönnen, und verschwand in raschen, vom engen Rock ein wenig behinderten Schritten, ihr Taschentuch an den Mund pressend, an der Musik vorbei auf der Treppe zum Promenadendeck.

Die Musik aber spielte »Des Negers Traum« von Middleton; und es war aus der Art, wie der quittengelbe Kapellmeister dieses Musikstück auffaßte, zu entnehmen, daß nach seiner Ansicht der Neger sehr aufgeregt und nicht sehr musikalisch geträumt hatte.

Noch während die Blasinstrumente sich geräuschvoll mit dem Ende des Negertraums beschäftigten, sah Reubke am Nebentisch Herrn Artur Mücke sich erheben und mit der gut gespielten Gleichgültigkeit eines Kavaliers, der sich aus Süßspeisen nichts macht und den Genuß des Abends im Freien vorzieht, an den höflich zur Seite weichenden Stewards vorbei der Treppe zustreben. Dabei trug er das spiegelnde Monokel im rechten Auge und entnahm einem flachen silbernen Etui eine Zigarette; womit er sein körperliches Wohlbefinden einwandfrei zum Ausdruck brachte, ehe er draußen seinen Ulster vom Haken nahm und auf dem Promenadendeck verschwand.

»Diese geölten Gents,« sagte Bergemann leise zu Erich, »die es sich zur Aufgabe machen, die Internationalität der Blödigkeit auf Weltreisen zu beweisen, sind mir in der Seele zuwider. Da ist mir Kloppenbusch mit seiner erfrischenden Art, Friedhöfe zu besichtigen, lieber.«

Hinter ihm am Tisch lachte Selma ihre Lachsalve, die sie für sehr verführerisch hielt, die aber in ihrer schrillen Höhe das Ohr sehr ermüdete. Dann hörte man Scupinskys tiefe, etwas schnarrende Stimme: »Also, bitte, einen guten Tokaier Ausbruch aus den Kaiserlichen Weingärten Bajoka müssen Sie kosten – Steht natürlich nicht auf der Weinkarte vom Schiff! Oder einen neunzehnhundertsechser Tokaier Ausbruch Creszenz Graf Csaky Vidor – also, bitte, dann werden Sie staunen.«

Worauf man Kloppenbuschs Stimme vernahm, der sich dahin äußerte, er zweifle nicht, daß er staunen werde, wenn er derartig merkwürdig klingende Dessertweine kosten werde: nur sei es ihm unklar, wo er sie genießen solle.

»Also wenn Sie einmal nach Ungarn kommen, äh – in die Nähe von meinen Gütern . . .«

Man erfuhr an Erichs Tisch nicht, wo die Güter des Herrn von Scupinsky lägen und welche Bahnlinie der so herzlich geladene Kloppenbusch benutzen müsse, um in ihre Nähe zu kommen. Denn Hobsen führte ein ziemlich aufgeregtes Gespräch mit einem recht hübschen und, wie ihr Schneiderkleid auswies, besonders gut gewachsenen Fräulein Mitte der Zwanzig, das hinter ihn getreten war. Agnes Hennerich, in Magdeburg geprüfte Kindergärtnerin und im Fröbelsystem ausgebildet, teilte Mister Hobsen in einem leidenschaftlichen Flüsterton mit, daß Fritzchen, der liebe Junge, absolut nicht einschlafen wolle; daß er leider das Bett zu schmal und die Kabine zu klein finde und dringend verlange, auszusteigen. Die Gnädige, der es nicht zum besten gehe und die hinter dem Schornstein auf Deck liege, lasse Mister Hobsen bitten, auf Fritzchen beruhigend zu wirken und ihm klarzumachen, daß er ertrinken müsse, wenn er jetzt aussteige.

Mister Hobsen erhob sich, von diesen Mitteilungen wenig ergötzt. Er hatte sich gerade zum zweitenmal Galinotte rôtie aux croûtons auf den Teller gelegt und verließ ungern das Diner, das noch Ploumpouding à l'anglaise, den er schätzte, und Früchte, die ihm auf Seereisen bekömmlich waren, versprach. Aber die Pflicht über alles! In diesem Sinne äußerte sich Mister Hobsen auch, als er sich höflich verbeugte, links nach Erich und Bergemann, hinüber nach Reubke, Grabusch und dem Ehepaar Tiegs und nach rechts, wo Otto Häfele eben seiner Anna eine Auswahl von Kompott auf den Teller schichtete, als gedenke er sein Eheweib von nun an nur noch vegetarisch zu ernähren.

Indem Mister Hobsen hinter Agnes Hennerich herschritt über die Treppe und das im Schein der elektrischen Lampen freundlich sich dehnende Promenadendeck zur letzten Luxuskabine, in der Fritzchen mit der betreuenden Kindergärtnerin, nur durch das Privatbad von seiner berühmten Mutter getrennt, für das Geld des amerikanischen Impresarios untergebracht war, bewegten allerlei Gedanken sein Herz. Wenn nun die Renitenz des infamen Bengels noch zu dem Seeübel der nervösen Primadonna hinzukommt – das kann eine reizende Fahrt für mich werden! übrigens ist dieses Fräulein aus dem Kindergarten sehr gut gewachsen; und nach der Art zu urteilen, mit der sie sich vor mir her bewegt, weiß sie das auch. Ich werde mich mit dem Jungen eingehend beschäftigen müssen; und es ist eine noch offene Frage, ob ich nicht gut daran tat, auf den Ploumpouding à l'anglaise, der doch selten gut gerät auf nichtenglischen Schiffen, zu verzichten und mich dafür in der abgelegenen Luxuskabine an Fritzchens Bett mit Miß Agnes über die lyrischen Qualitäten der Sternennächte auf dem Mittelmeer zu besprechen. Gott gebe, daß der widerwärtige Bengel der Suggestion meiner Rede, die schon so oft auf Stars der Musik ihre Wirkung in nervösen Attacken ausgeübt hat, willig unterliegt, und daß mir noch Zeit bleibt, anknüpfend an pädagogische Themen, der hübschen Miß Agnes einige angenehme Dinge zu sagen. Es wäre dabei zu wünschen, daß uns die Diva nicht stört; und was mich angeht, und von meinen Gefühlen als Mensch und Geschäftsmann und Angestellter der Firma Clark & Co. abgesehen, kann sie noch einige wohltuende Abendstunden hinter dem Schornstein auf dem Promenadendeck ihre Übelkeit bekämpfen.

So dachte Mister Hobsen aus Cincinnati, als er hinter der wohlgebauten Kindergärtnerin aus Magdeburg am Abend des 16. Mai nach der Luxuskabine schritt, in der Fritzchen, der liebe Junge, von einer Stewardeß unterhalten, in seinem Bett lag, das sich zu seinem Unbehagen hin und her bewegte und dazu knackte.

Unterdessen hatte sich der Tisch, den Mister Hobsen unmutig verlassen, noch mehr gelichtet. Frau Tiegs fand, daß die Schiffsbewegungen sich vielleicht doch nicht mit dem Dessert vertragen würden. Sie entfernte sich mit fürstlichem Anstand, ihren Gatten hinter sich, der allerdings noch zweimal flüchtig wiederkam, um erst einen Schal, dann ein goldenes Täschchen zu holen, das seine Gemahlin beim Aufbruch vergessen hatte. Er tat dies mit der sicheren Ruhe eines Mannes, der gewohnt ist, die Örtlichkeiten, die seine Frau verlassen hat, noch öfter und gründlich nach ihrem vergessenen Eigentum abzusuchen. Da es auch Reubke für seine Pflicht hielt, sich teilnehmend nach dem Befinden Tillys zu erkundigen – um so mehr für seine Pflicht, als er Herrn Mücke schon bei diesem leicht Sympathie erwerbenden Samariteramt vermutete –, und da die Öltzendorffs es überhaupt nicht für vornehm hielten, ein Diner bis zum letzten Ende zu genießen, so fand der Kapitän, als er den Lotsen von Bord gelassen und das Kommando über das Schiff an seinen ersten Offizier abgetreten hatte, nur noch eine recht spärliche Tafelrunde.

Grabusch saß, mit genüßlicher Ruhe seinen Pommard schlürfend, ganz allein auf der einen Seite der Tafel, an der andern Seite aber war außer Bergemann und Erich nur noch das Ehepaar Häfele anwesend; soweit man solches von zwei Leuten behaupten kann, die aus Liebe geheiratet und bis jetzt nur im D-Zug gesessen haben.

Komisches Entsetzen markierend, schlug Kapitän Jürgens in seine breiten Hände: »Was ist denn das? Schon alles untreu geworden?«

Er winkte dem Obersteward und ließ sich rasch ein paar Gänge nachservieren, von denen er mit dem schönen Appetit eines Mannes, der seine Arbeit getan hat, und mit dem Schmunzeln eines Kenners tüchtige Portionen zu sich nahm.

»Die Damen meinten, wir bekommen Sturm«, lächelte Grabusch diabolisch vor sich hin.

Der Kapitän behandelte ein Hühnerbein mit der Sicherheit eines geübten Anatomen und zwinkerte listig mit den Augen: »Haben Sie viele Damen gekannt, die am ersten Abend ihrer Seefahrt andrer Ansicht waren? Ich nicht.«

»Na, Herr Kapitän, ein bißchen unruhig scheint's doch zu werden?« Bergemann wartete vergebens auf eine Antwort. Der Kapitän machte sich mit dem Salat zu schaffen, den er sich selbst mit Pfeffer, Salz, Senf und englischer Sauce in einer umständlichen Weise, die er »serbisch« nannte, anrichtete.

»Die Damen ahnen eben« – Grabusch verfolgte wie immer in den ersten Tagen auf See als Monomane seine Theorie – »ahnen eben, daß manche Politur von ihnen abfällt, wenn erst die Tücken des Meeres . . .«

»Pah, Tücken« – der Kapitän aß den scharfen Senf wie Schlagsahne – »wir haben doch sogar einen Sanitätsrat am Tisch. Praesente medico nil nocet

»Der Sanitätsrat praktiziert nicht mehr.«

»Nanu, mein Verehrtester, in so rüstigen Jahren? Sie könnten ja mein Sohn sein.«

Alle lachten. Nur das Ehepaar Häfele blickte sich ernst in die Augen. Denn Otto Häfele hatte eben Anna Häfele aufs Gewissen gefragt, ob sie ihn liebe; und Anna Häfele hatte leis, aber mit allen Zeichen der Aufrichtigkeit, gestanden, daß dies der Fall sei.

»Darf ich indiskret sein? Warum haben Sie schon Schicht gemacht, Herr Sanitätsrat?«

»Ganz ehrlich: ich hatte genug. So und so. Als Junggeselle . . .«

»Ah. Sie sind ohne Familie?«

»Ja. Wenigstens ohne Familie, die ich kenne . . .«

Eine Weile war eine Stille am Tisch, Grabusch hielt es für möglich, daß Bergemann Alimente an eine Deckadresse zahlte. Der Kapitän vermutete, daß er gar kein Junggeselle, sondern geschieden sei; was nach seiner Erfahrung auf Schiffsreisen häufig beobachtet wurde. Anna Häfele aber hatte eben an Otto Häfele nun auch ihrerseits die ernste Frage gerichtet, ob er sie liebe; und Otto Häfele wartete eine wieder beginnende geräuschvolle Unterhaltung der andern ab, dicht am Ohr von Anna Häfele, um zu dieser Frage Stellung zu nehmen.

»Den letzten Anstoß zu meinem Entschluß, aufzuhören mit dem Verarzten, hat allerdings ein widerlicher Ärger gegeben. Ein Prozeß.«

»Nanu!« Der Kapitän, der bei und nach der Mahlzeit ein Freund von Geschichten war, lehnte sich behaglich in seinen Drehstuhl zurück, wischte sich den breiten, sauber rasierten Geheimratsmund und schien begierig, Näheres zu erfahren. »Ich denke, Prozesse führen die Juristen und nicht die Ärzte.«

»Besser wär's jedenfalls, die Ärzte ließen's. Aber manchmal . . .« Bergemann kämpfte einen Augenblick mit sich, ob er die ärgerliche Geschichte dieses merkwürdigen Prozesses preisgeben sollte. Dann siegte der mitteilsame Humor: »Ich bin nämlich beleidigt worden. Von der Witwe eines Patienten. Einer Rechnungsrätin, die mir's sehr übelnahm, daß ihr Gatte an einer Arterienverkalkung starb. Ganz knapp, ehe er Geheimer Rechnungsrat wurde. Was seiner Witwe nicht nur das Ansehen in unsrem titelfreudigen Vaterlande, sondern auch die Witwenpension erhöht hätte. Mein Gott, Beleidigungen . . . Man bekommt ein dickes Fell als Arzt, und in Sterbezimmern muß man sich schon auf seine ehrlich erworbene Schwerhörigkeit verlassen. Sobald einer stirbt, hat unsereiner ihn grundfalsch behandelt. Wird der Mann aber gesund, ja, dann hat ihm seine gute Natur geholfen. Dem Rechnungsrat half sie nicht; und ich konnt' ihm auch nicht helfen, Arteriitis chronica deformans – der Teufel soll sie holen; ich hab' sie nicht erfunden. Der Rechnungsrat ließ die gegorenen Getränke nicht, an die er sich gewöhnt hatte, und seine Gattin war der irrigen Ansicht, daß er sie zur Stärkung brauche. Nach einer besonders kräftigen Stärkung kam der unausbleibliche Schlaganfall. Die Sache ging rasch zu Ende; und es war nutzlos, dem Bewußtlosen noch etwas zu verschreiben und einzuflößen, wozu die Frau in ihrer Kopflosigkeit immerzu drängte. Als der Mann begraben wurde, gab mir keiner der Verwandten am Grabe die Hand. Die Witwe aber drückte die Mißbilligung meiner ärztlichen Bemühungen dadurch aus, daß sie mich in keiner Form honorierte. Schön. Mochte sie's lassen. Da fragt mich nach einiger Zelt ein Bekannter, ob ich das Kreuz auf dem Hügel meines Patienten gesehen und seine wunderliche Aufschrift gelesen? Nein. Aber ich fuhr gegen Abend hinaus vor die Stadt, fand das Grab und das Kreuz darauf. Und die Inschrift:

Ruh sanft in deiner Blüte!
Dein Leben war lauter Güte.
Mit Edelsinn gewürzt –
Fahrlässigkeit hat's gekürzt!«

»Donnerwetter!« sagte Kapitän Jürgens.

Und Grabusch, den die juristische Seite dieser Sache sehr interessierte, bestellte in der Zerstreutheit noch eine Flasche Pommard.

Otto Häfele aber sah unten am Tische Anna Häfele tief in die Augen und fragte sie, ob »Eberhard« ihr nicht ein schöner Name dünke. Eberhard Häfele für den Fall, daß . . . Anna Häfele aber erwiderte, daß sie keinen männlichen Namen so sehr schätze wie Otto.

»Na, da mußt' ich ja wohl was dagegen tun«, fuhr der Sanitätsrat fort. »Und wenn der zivilisierte Mensch etwas gegen etwas tun will, so geht er schnurstracks zum Anwalt. Tat ich. Der sagte: ›Beleidigung. Paragraph einhundertsiebenundachtzig des Strafgesetzbuches.‹«

Grabusch nickte. Sein vom Burgunder lebhaft gefärbtes Gesicht war streng und ernst, als er wie eine eiserne Formel den Wortlaut des Gesetzes sprach: »Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen andern eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet ist, wird wegen verleumderischer Beleidigung mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn die Verleumdung öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften, Abbildungen oder Darstellungen begangen ist, mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestraft.«

»Tja, er wird.« Bergemann lächelte resigniert. »Das heißt, zunächst kommt die Klage, der Prozeß. Mein Anwalt beteuerte: Sichere Sache. Aber der Anwalt der Angeklagten behauptete, die Witwe des Rechnungsrates habe diesen Spruch persönlich gedichtet – na, für einen Spruch aus der Weisheit des Brahmanen hatt' ich den Vierzeiler auch nicht gehalten. Ihre tiefe Trauer um den teuren Gefährten habe sich hier des Rechtes der poetischen Lizenz bedient und einen schmerzlichen Selbstvorwurf in die Worte gekleidet: Fahrlässigkeit habe dieses wertvolle Leben gekürzt. Nämlich ihre, der Gattin, Fahrlässigkeit, da sie kurz vor seinem Tode noch zwölf Flaschen Ingelheimer aus einer Konkursmasse gekauft habe, die nach ihrer nunmehr gewonnenen Ansicht dem Patienten nicht zuträglich gewesen seien. Ende des Prozesses? Vergleich. Die Dichterin verpflichtet sich, auf dem Grabkreuz die auf das teure Leben bezüglichen Worte: ›Fahrlässigkeit hat's gekürzt‹ innerhalb acht Tagen abzuändern in: ›Der Tod hat's gekürzt‹; was auf alle Fälle unstreitbar und für mich – da der Tod in dieser Weise auch andern Kollegen den Beruf stört – nicht beleidigend war. Und ich trug die Kosten und zog die Klage zurück . . . Aber die Eventualität, mich in der öffentlichen Meinung, insbesondere in der Schätzung der Friedhofsgärtner, herabsetzen zu lassen, mocht' ich mich doch nicht mehr aussetzen. So hab' ich meine Praxis verkauft – nicht glänzend, aber anständig – und hab' mir vorgenommen, in Ruhe ein bißchen was von der Welt zu sehen. Allein oder mit guten Freunden. Und da hab' ich denn gleich Glück gehabt. Mahlzeit, meine Herren!«

Aufstehend, schlug der Sanitätsrat Erich freundschaftlich auf die Schulter.

Auch Grabusch und der Kapitän tranken aus und gingen.

»Dieser Beleidigungsparagraph ist eine dehnbare Sache«, erläuterte Grabusch mit kühler Sachlichkeit. »Wenn ich zum Exempel zu Ihnen, Herr Kapitän, laut sage: Sie Ochse . . .«

Der Friseur, der eben im Piano der letzten Musikpiece, der Fantasie aus der »Bohème«, mitspielte, nahm verblüfft die nasse Flöte vom Mund, als er diese respektlose Äußerung eines vorübergehenden Passagiers zum Kapitän hörte. Zu seinem Kapitän, mit dem er nun schon sieben Jahre fuhr und zu dem er aufschaute wie zu einem Herrn der Meere und Winde! Dieses Mannes Protektion hatte ihn, den kleinen, beweglichen Triestiner Barbier, in diese nette, einträgliche Stellung auf dem schmucken Schiffe des Österreichischen Lloyd gebracht. Seine nautischen Kenntnisse hatten das nur hundert Meter lange Fahrzeug bis heute durch Sturm und Wetter sicher gesteuert. Seine unverwüstliche Wiener Fröhlichkeit teilte sich in schlimmen Tagen der Mannschaft und den verzagtesten Passagieren mit. Seine Umsicht kümmerte sich um alles hier auf dem Schiffe, bis in die Details der Küchen und Waschräume. Er verstand auch von allem etwas, sprach alle Sprachen, die an den Küsten des Mittelmeeres gehört werden – und das sind nicht wenige –, wußte von allen Angelegenheiten in seinem kleinen schwimmenden Reiche und hatte sicherlich heute schon gemerkt, daß der neue Kapellmeister aus Nordhausen – wo mochte das wohl liegen? – nichts tauge und die ganzen Musiker bis an den Rand des Veitstanzes konfus mache. Und jetzt wagte ein fremder, griesgrämiger, glattrasierter Herr zu diesem Urbild eines Gentlemans und eines Seemanns, zu seinem Kapitän, die – wenn auch in hypothetischer Form gehaltene – Äußerung zu tun: »Sie Ochse!« . . . Beppo Marlettino, der Friseur, beschloß in seiner Entrüstung, diesen unerhörten Herrn für den Fall, daß ihn bis dahin noch keiner ins Meer geworfen, morgen nur mäßig einzuseifen und dann energisch gegen den Strich zu rasieren.

In dieser Nacht war an Bord nicht alles, wie's sein sollte. Das Meer, so schön der Sternenhimmel funkelte, der sich darüberspannte, war sehr unfreundlich. Die Wellen kamen breit von der Seite und veranlaßten merkwürdige Bewegungen des Schiffskörpers, die für eine erste Nacht auf See unerfreulich genannt werden mußten.

Der Rentier Zwingenberg, der als Letzter die Bar verließ, wo er seine sechs Pilsner zur Lektüre einer italienischen Zeitung, die er nicht verstand, schweigsam hinuntergespült hatte, war nicht der einzige, dem seine Kabine auf dem Hauptdeck etwas zu eng für ihre unliebliche Beweglichkeit in dieser Nacht vorkam. Sein Kabinengenosse, der Amtsgerichtsrat a. D. Grabusch, hatte gerade vom Bett aus das Licht abgestellt und die Augen geschlossen. Er war wenig entzückt davon, daß nun ein dicker Herr, dessen Kugelkopf ganz ohne Halsverbindung mitten in die Schultern gepflanzt zu sein schien, geräuschvoll hereinpolterte, wider den Waschschrank fiel und dann Unterschiedliches umwarf, ehe er die Lichtdose gefunden, die Lampe an der Decke wieder angeknipst und sich orientiert hatte. Und wenn es schon nicht zu den erlesenen Lebensgenüssen gehört für einen älteren Herrn, in einem engen, stark bewegten Raum der umständlichen Entkleidungsszene eines andern älteren Herrn, der viel ächzt und sich schwer bücken kann, beizuwohnen, so wuchs diese Zellengemeinschaft ins Unerträgliche durch das infernalische Geschnarche, mit dem der Rentier Zwingenberg fast unmittelbar begann, nachdem er, mühsam die Lichtdose ertastend, Dunkelheit erzielt und Grabusch den nicht ganz überflüssigen Wunsch einer geruhsamen Nacht zugestöhnt hatte.

Aus der Luxuskabine, die Scupinsky mit dem Geruch seiner Bartwichse und Selma mit ihren starken Parfümen füllte, wurde viel geklingelt in dieser Nacht; und man sah eine hübsche Stewardeß, die von den Kolleginnen Fräulein Hilde genannt wurde, etwas blaß und müde, aber freundlich und dienstfertig, bald in Selmas Kabine verschwinden, bald in das gegenüberliegende Luxuszimmer, in dem Elisabeth Hunneberg das Meer, Richard Wagner, ihren Impresario, das Diner, Amerika und die Stunde ihrer Geburt abwechselnd verwünschte, um dann wieder Agnes Hennerich und Hilde je eine Brillantbrosche zu versprechen, wenn sie ihr endlich einmal den infamen Knödel festhielten, der immerzu von ihrem Magen in ihre Kehle mit einem schlecht geölten Lift zu fahren schien.

Oben auf dem Bootsdeck aber, hinten vor der Kabine des baumlangen Funkentelegraphisten, der noch, den Abend zu genießen, im Sweater auf seinem Liegestuhl seine Knochen geordnet hatte, stand zwischen zwei Rettungsbooten, die ihm eine gewisse Garantie persönlicher Fortdauer über diese Nacht hinaus zu geben schienen, Otto Kloppenbusch. Er beugte sich von Zeit zu Zeit weit über die Reling, als hätte er den Fischen da unten noch eine eilige und wichtige Mitteilung zu machen. Dann und wann aber trat er, das Taschentuch in feuchten, zitternden Fingern an Mund und Schläfe pressend, an Herrn Drüsseler, den überlebensgroßen Funkentelegraphisten, heran, der zu seinem maßlosen Erstaunen in solch bewegter Nacht daran Pläsier fand, im Sweater aus einer kurzen englischen Pfeife zu rauchen. Und wie einst König Midas jemand haben mußte, dem er sein furchtbares Weh flüsternd mitteilte, so stöhnte Kloppenbusch zu dem mitleidlos Rauchenden hin: »Und wenn Sie sich vorstellen, daß ich – hupp . . . daß ich die Karte zu dieser – dieser Vergnügungsfahrt in einer Wohltätigkeitslotterie gewonnen habe . . . Ich habe – ja ich hab' überhaupt – hupp – so ein entsetzliches Glück in – in der Lotterie.« –

Zu den wenigen, die in dieser ersten Nacht auf dem Mittelmeer gut und friedlich geschlafen hatten, gehörten der Sanitätsrat und Erich.

»Famos!« lobte der joviale Kapitän, als er frühmorgens kurz nach acht aus dem sauberen Turnsaal, wo er seinen kleinen Spazierritt auf dem elektrisch betriebenen Kamel gemacht hatte, an Erich vorüberkam, der gerade sein Glas auf einen in weiter Ferne wie ein Insekt am Horizont hinkriechenden Dreimaster einstellte. »Famos! Nichts gespürt?«

»Gar nichts, Herr Kapitän. Geschlafen wie ein Gott.«

»So ist's recht.«

»Und das Wunderlichste – wie ich wach wurde: das erste war, mitten auf dem Meer, ein Vögelchen, das entzückend sang.«

»Können Sie noch mehr in der Mitte vom Meer haben«, lachte der Kapitän. »War mein Hänschen. Hab' den gelben Kerl schon um fünf Uhr oben vors Gesellschaftszimmer in die Morgensonne gehängt. Dachte mir, vielleicht tröstet's einen oder den andern: Land, Land! Hat er sie geniert?«

»Aber nein. Er schlägt ja reizend.«

»Ja. Immer auf der Hinfahrt, je näher wir der Straße von Gibraltar, je näher wir seiner Heimat kommen, verstehen Sie – den Kanarischen Inseln. Auf der Heimfahrt, nach Triest zu, schlägt er kaum. Und auf der Nordlandreise hat der Kerl noch keinen Ton gesungen: da protestiert er. Da frißt er bloß.«

Vergnügt salutierend war der Kapitän nach der Kommandobrücke verschwunden. Ein famoser alter Bursche, dachte Erich, wie ihn die Herrschaft über die See braucht. Voller Leben und Erlebnisse, voller Zuversicht und Geschichten.

Der Morgen war überaus herrlich. Das Meer noch immer nicht ganz ruhig, aber viel freundlicher als in der Nacht. Die Sonne, klar am unbewölkten Himmel, versprach einen heiteren, warmen Tag. Das Weiß der Schiffswände, die blankgeputzten Messingschrauben und -griffe, die blanken Augen der Luken, das alles leuchtete und blitzte urfröhlich in die strahlende Frühe.

Bergemann kam schon vom Barbier, lachend und beglückt wie immer, wenn er einen Menschen, was er so einen »Menschen« nannte, gefunden.

»Also, Erich, Sie dürfen sich hier nicht selber rasieren! Sonst versäumen Sie den famosesten Kerl an Bord. Beppo Marlettino, den Friseur, dreimal in Indien gewesen, fünfmal am Nordkap, siebenmal in Konstantinopel, oder umgekehrt. Also neben diesem Triestiner Bartkratzer gehen fünfzehn Kavaliere à la Mücke, Reubke, Schwammerl aufs Dutzend.«

»Rasiert er so gut?«

»Das auch. Das Messer geht wie durch Butter. Das heißt, jeder Bart scheint ihm nicht zu liegen. Der Amtsgerichtsrat Grabusch hat geflucht auf seinem Stuhl: ›Non contra pelo! – Non contra pelo!‹ Spricht übrigens ganz gut Deutsch, der Barbuzzo, und ist nebenbei, wie Hamlet sagen würde, der Spiegel und die abgekürzte Chronik dieses Schiffes, seiner Besatzung und Gesellschaft. Großartiger Kerl! Hat die Ansichtskarten aller Häfen, die wir anlaufen, vorrätig, ebenso alle Toilettengegenstände. Und entwickelt im Nebenamt Filme für die Passagiere. Die Wand seiner Werkstatt, wie er stolz seine Barbierkabine nennt, ist eine Sehenswürdigkeit für sich – verziert mit den Bildern aller berühmten Kollegen, die er auftreiben konnte. Da hängt der Barbier Ludwigs XI., der nebenbei ein bißchen sein Henker war, zwischen dem berühmten Figaro und La Vienne, dem Barbier des Sonnenkönigs. Also, sehen Sie, das nenn' ich Standesbewußtsein! Und wer das nicht hat, der sollte als Rentier oder überhaupt nicht auf die Welt kommen. Denn er hat bloß Talent, sich zu ärgern.«

»Unter Juristen selten.«

»Unter Medizinern auch. Jedes Grabkreuz kann unser Standesbewußtsein erschüttern . . . Vorüber! Aber der Mann hat auch künstlerische Interessen. Spielt die Flöte mit im Schiffsorchester. Und ist demgemäß geladen auf den neuen Kapellmeister, dem er, wie er behauptet, den Rat erteilt hat, er solle einen Flohzirkus aufmachen in Ragusa, anstatt anständige Leute, die Musik machen wollen, auf der Fahrt nach Spanien mit seinem Nervenzucken zu verwirren. Seine einzige Hoffnung ist die Seekrankheit für den Mann. Aber – haben Sie schon gefrühstückt?«

»Ja. Mit bestem Appetit. Dreimal mehr wie an Land. Sogar Rühreier!«

»Na also! Dann können Sie ruhig mit hinunterkommen aufs Promenadendeck, die – Leichenparade abnehmen. Was sich da tut in den Liegestühlen heut morgen . . .!«

Bergemann hatte nicht zuviel gesagt. Die Sonnenseite des Promenadendecks bot einen sehr seltsamen Anblick. In Schals und Tücher eingehüllt und fest verwickelt, als ob man Spitzbergen und nicht Korsika im Rücken habe und den schrecklichen Regionen des ewigen Eises zusteure, lagen menschgewordene Häuflein Unglück in den langen Stühlen und ließen sich das warme, goldene Licht auf gelbgrüne Nasen und krampfhaft geschlossene Augenlider fluten.

Elisabeth Hunneberg hatte noch einen schwachen Versuch gemacht, sich malerisch zu drapieren. Die dunkle Vorstellung mochte sie dabei geleitet haben, daß sich für den Vorüberwandelnden eine Erinnerung wecken ließe an ihre Glanzleistung, die Walküre, wie sie, von Wodan in Schlaf versenkt, unter Helm und Schild der wabernden Lohe wartet, die feurig den Fels umlodern soll. Der erzielte Eindruck auf Bergemann und Erich war nicht ganz der erwünschte. Es war ersichtlich, Elisabeth Hunneberg, gleichviel ob sie auf eine wabernde Lohe wartete oder auf etwas andres, befand sich unter dem hermelinbesetzten Pelz recht übel.

Kloppenbusch im nächsten Stuhl gab Lebenszeichen. Aber eine rechte Freudigkeit fehlte auch seiner Stimme, als sie schwach und schmelzlos die Herren grüßte: »Gott, ich bin so viel beneidet worden – daß ich das Los gewonnen. Es war die Nummer dreitausendvierundzwanzig . . . Eigentlich gehörte es meinem Vetter, und meins war Nummer eintausendsiebenhundertachtundvierzig. Aber der Vetter sagte: ›Du hast immer so viel Glück, Kloppenbusch, ich will auch mal Glück haben. Gib mir dein Los!‹ . . . Da gab ich ihm Nummer eintausendsiebenhundertachtundvierzig – und der Vetter war noch auf dem Bahnhof, als ich abfuhr, und sagte: ›Eigentlich ist's 'ne Gemeinheit, Kloppenbusch, daß du . . . du – eigentlich sollte ich . . .‹ Uijeh – ich stell' ihm sehr gern den Stuhl zur Verfügung . . .«

Die lange Rede, die offenbar von Bergemann und Erich nicht genug gewürdigt wurde, weil sie nicht wußten, daß Kloppenbusch die Lustfahrt in der Lotterie gewonnen, hatte den guten Kloppenbusch sehr angestrengt. Er drehte den Kopf auf seinem Luftkissen zur Seite und sagte nur noch: »Wenn mich jetzt einer auf den Campo santo fahren will . . . oder auf den Cimiterio – mir is beides recht.«

Tilly Schuch schien im Nachbarstuhl derselben Ansicht. Aber die sprach das nicht aus. Sie sprach überhaupt nichts. Ihr hübscher Kopf unter der fabelhaft schweren und fabelhaft blonden Haarkrone war blaß wie feines Wachs, und die langen seidigen Wimpern lagen tiefgezogen, blond über den veilchenhellen Augen, die nicht sehen mochten, wie schön der Morgen war. Die nicht glauben wollten, daß das Meer sich wirklich langsam beruhigte. Die keinen Blick hatten für Artur Mücke, der, das Monokel im Auge, sich ebenso eifrig wie unnütz damit beschäftigte, Tillys schlanke Füße noch fester in die bunte italienische Decke zu packen, oder für Josef Schwammerl, der, seine kurzen Franz-Josefs-Koteletten liebkosend, ziemlich ratlos dabeistand und von Zeit zu Zeit in blitzartiger Erleuchtung einen gar nicht beachteten Vorschlag tat, wie diesen: eine Bouillon mit Ei zu holen oder die Stewardeß zu rufen oder ein bisserl aus der »Neuen Freien Presse« vorzulesen.

Die beiden letzten Vorschläge wären allerdings auch gar nicht in die Samaritertat umzusetzen gewesen, denn Fritzchen hatte bereits aus Schwammerls Exemplar der »Neuen Freien Presse« ein Schiff gemacht, welches er über Bord warf, sehr verwundert und entrüstet, daß es ohne jeden Ehrgeiz rasch hinter der »Astarte« zurückblieb und als unansehnlicher Papierklumpen in einem Wellenberg verschwand. Die Stewardeß aber, die Schwammerl im Auge hatte, die hübsche Hilde mit dem schwarzgescheitelten Haar und der feinen, etwas gebogenen Nase zwischen den edel geschweiften Augenbrauen – lauter Vorzüge, die Schwammerl sehr wohl bemerkt hatte –, war durchaus von Selma in Anspruch genommen, die in einem reich mit Valenciennesspitzen besetzten Morgenrock in einem Korbsessel saß und bald einen Schemel unter die Füße, bald ein Kissen in den Rücken, bald ein in Kölnisches Wasser getränktes Taschentuch auf die Stirn, bald ein Pfefferminzplätzchen zwischen die Zähne verlangte – lauter ziemlich wirkungslose Handreichungen, die ihr Hilde mit Engelsgeduld leistete, ohne andern Dank zu ernten als zuweilen die mürrische Bemerkung: »Aber gehn S', sein S' net so ungeschickt!«

Ungeschickt aber war Hilde gar nicht. Die kaum mittelgroße, in ihrer anmutigen Fülle jugendlich biegsame Stewardeß war erfreulich anzusehen in ihren behutsam sicheren Bewegungen.

Mit wohlgefälligem Lächeln machte Bergemann Erich auf die Gruppe aufmerksam: »La Signora di Venticinque hat eine Griseldis gefunden!« Und dann, näher tretend, zu Hilde mit sichtlichem Wohlgefallen: »Ich freue mich als Arzt – als Arzt a. D. – der sanften Sicherheit Ihrer hübschen Hände, liebes Fräulein. Wahrhaftig, eine gelernte Krankenschwester macht das nicht besser – für eine wirkliche Kranke.

Eine Blutwelle stieg Hilde über das zarte Gesichtchen bis in die unter leichtem dunklem Flaum liegenden Schläfen. Die Zweiundzwanzigjährige erschien noch jünger als ihre Jahre, noch mädchenhafter, als sie rasch ihre klugen, dunklen Augen zu den beiden Herren hob und etwas befangen sagte: »Ich bin als Krankenschwester ausgebildet.«

»Es muß ja ein Vergnügen sein, krank zu werden, wenn Sie pflegen.«

Hilde hörte diese freundliche Bemerkung des alten Herrn nicht mehr, denn die Signora di Venticinque verlangte stürmisch nach einem Tee mit Arrak, nach ihrem Riechsalz, einem seidenen Kissen und den englischen Natronpastillen. Und sie vergaß nicht, der enteilenden Hilde, die von einer unruhigen Nacht eigentlich schon Bescheid wissen mußte, nachzurufen, daß sie alle diese wichtigen Gegenstände in der Luxuskabine Nummer fünf dicht bei dem goldenen Toilettespiegel finden werde.

»Nun wissen wir's – in der Luxuskabine!« sagte Bergemann lächelnd zu Erich, indem er behaglich seinen Arm in den Arm des jungen Freundes schob und mit ihm weiterschlenderte das Deck entlang.

»Ja. Und der Toilettespiegel ist von purem Gold. Wie der Kamm der Loreley. Gott sei Dank! Ich hätte sonst Silber befürchtet.«

Die Herren kamen an Reubke vorbei, der sehr erhitzt und unglücklich war. Er hatte so schöne Aufnahmen von den Seekranken gemacht, aber leider die Platte zu wechseln vergessen. So war zu befürchten, daß Kloppenbusch und die Walküre auf dieselbe Platte gekommen waren, auf der dann später Selma, die sich gerade mit Scupinsky gezankt, und Herr und Frau Bankdirektor Tiegs, die blaß, aber kerzengerade im Gleichschritt wie aufgezogene Puppen in der Sonne wandelten, und Tilly, die von Mücke und Schwammerl erfolglos mit Essenzen angestäubt wurde, ihren Platz fanden. Jetzt mußte er in die Dunkelkammer zum Plattenumtausch. versprach sich aber wenig Genuß von diesem Aufenthalt in dem engen, lichtlosen und heißen Raum, in dem es nach den unauffindbaren Zigarrenstummeln eines Vorgängers roch.

Lux, der Schiffsarzt, kam mit Grabusch vorbei, der ihn für etwas blutstillende Watte in Anspruch genommen hatte und jetzt wegen eines Mittels gegen das Schnarchen konsultierte. Entweder für den einen, daß er's unterlasse, oder für den andern, daß er's nicht mehr höre.

»Freut mich, daß Sie wenigstens gesund sind!« rief der Arzt zu den beiden Herren hinüber. »Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich gottlob in Ostasien bei den Kulis.«

Und bei diesem seinem Lieblingsgespräch angelangt, ließ der eigensinnige Doktor den ärgerlichen Grabusch sein Schnarchthema durchaus nicht mehr erschöpfen, sondern schilderte ihm mit Begeisterung, wie nahe die Möglichkeit liege, daß er dort unten bald mal die Cholera asiatica an Bord habe. Dieses werde ihm als gelerntem Bakteriologen eine besondere Genugtuung sein. Auf die noch interessantere asiatische Pest könne er ja nicht gleich hoffen. Obschon zwei Kollegen von ihm auch dieses neidenswerte Glück gehabt hätten. Von denen allerdings nur der eine wieder in Europa angekommen sei, da der andre durch einen bedauerlichen, aber interessanten Formfehler bei der Impfung selber unter den ersten Opfern der Seuche gewesen sei.

Grabusch hatte keine Lust, sich diesen schönen und ihm wohlbekommenden Frühlingsmorgen durch detaillierte Auseinandersetzungen über Pestpneumonie, Bubonen und Versuche an kranken Meerschweinchen ausfüllen zu lassen. Er entfloh nach der Schwemme, wo er ein warmes Pastetchen mit einem Glas alten Sherrys begießen wollte. Konnte dort aber nicht verhindern, daß sich alsbald sein Kabinengenosse Adolf Zwingenberg mit einem Frühtrunk Pilsener zu ihm setzte, um ihm das merkwürdige Martyrium oder den Circulus vitiosus seiner sonst gesunden Natur, oder wie er es nennen solle, zu schildern. Dieser Circulus vitiosus bestehe nämlich darin, klagte Adolf Zwingenberg mit düsterem Blick in sein Stengelglas, daß er allemal nach seinem kräftigen Abendtrunk, an den er seit Jahren gewöhnt sei, heftig schnarche; vom heftigen Schnarchen aber bekomme er Halsweh, und dieses Halsweh wiederum könne er nur durch Flüssigkeiten, unter denen er den gegorenen den Vorzug gebe, wirksam vertreiben. Worauf Grabusch nicht ohne Gereiztheit bemerkte, daß er sich die Erfordernisse der Konstitution Adolf Zwingenbergs bereits ähnlich vorgestellt, solche aber zu seiner Freude noch bei keinem andern lebenden Menschen auf dem Festland oder auf Seereisen bis heute jemals angetroffen habe.

Dieses nahm Adolf Zwingenberg wiederum für eine Schmeichelei, als welche es eigentlich nicht gedacht war. Er kam deshalb dem Herrn Amtsgerichtsrat, dankbar sich neigend, seine Blume.

Unterdessen waren Bergemann und Erich, des Morgens, der Sonne, der frischen Brise sich freuend, durch das ganze Schiff gepilgert. Bergemann hatte mit der Befriedigung eines Mannes, der sich in der Sauberkeit dieses schwimmenden Hotelchens durchaus zu Hause fühlt, die Honneurs gemacht; hatte Erich das behagliche Schreibzimmer auf dem Bootsdeck gezeigt, in dem das Geschwisterpaar von Öltzendorff, schweigend sich gegenübersitzend, wappengeschmückte Bogen mit großen, energischen Schriftzügen füllte; dann den Rauchsalon auf dem Promenadendeck, von dessen Fenstern aus man über die Spitze des Schiffes hinaussehen konnte. Ganz vorn hatte er lange mit Erich gestanden zwischen Tauen und Ankerketten in der Spitze, die sich, die weiß zur Seite fließenden Wellen messerscharf teilend, langsam und majestätisch auf und ab bewegte in der unterjochten Flut.

Jetzt saßen die beiden plaudernd in dem in seiner Bequemlichkeit fast koketten Musiksalon einander gegenüber, Erich auf dem mattgrünen Sofa, Bergemann auf dem Stuhl vor dem Klavier, dessen Deckel er absichtslos geöffnet hatte.

In einer Ecke kauerte Mister Hobsen und blätterte zerstreut in einem Klavierauszug der »Braut von Lammermoor«. In der Hoffnung, daß zu dieser Stunde und wie die Dinge lagen, niemand auf den befremdlichen Einfall kommen werde, ausgerechnet Musik zu machen, hatte er Agnes Hennerich hierher bestellt, um einige pädagogische Gedanken über Fritzchens, des lieben Jungen, Erziehung mit ihr zu tauschen. Da er nun die beiden Herren sich hier seßhaft machen sah, verließ er, ärgerlich und nicht ganz einwandfrei die Arie des Bajazzo pfeifend, den Musiksalon, um einen stimmungsvollen, minder bevölkerten Ort für die wichtige Besprechung auszusuchen.

»Sie sind hier wie zu Hause«, sagte Erich lächelnd zu Bergemann. »Es ist eine wahre Freude, zu sehen, wie wohl Sie sich auf der ›Astarte‹ fühlen.«

»Sie etwa nicht?«

»Doch, doch – manchmal nur denk' ich noch, daß das Land hinter mir liegt. Denke an ein Abenteuer und eine Enttäuschung.«

»War's das wirklich? Lieber junger Freund, saß es wirklich so fest schon, daß . . . Hat nicht ein ganz klein wenig – seien Sie nicht bös, ja? – die gekränkte liebe Eitelkeit mit schuld an dem bittern Restchen Groll, das noch im Herzen haftet?«

»Möglich. Ob ich die Frau geliebt habe . . .? Geglaubt hab' ich's jedenfalls, sonst hätt' ich nicht die andre, die Kleine, verabschiedet.« Und plötzlich seinen Gedanken folgend: »Ich weiß übrigens immer noch nicht, wie dieser alte Herr von Öltzendorff, der den Ladestock verschluckt hat, verwandt ist mit dem – mit meinem . . . nun, sagen wir, mit dem Sieger von Büssigheim.«

»Sehen Sie, nun machen Sie schon Witze über den noch rechtzeitig entlarvten Rivalen. Somit ist er erledigt, ist sein Fall und sein Glück abgetan. Aber über die Verwandtschaft mit dem edlen Geschwisterpaar kann ich Sie beruhigen. Ihrer – ist doch der Kavalier, der . . .«

»Der Rennen reitet, Briefe ungenügend verbrennt und Apfelschimmel beinahe kauft, ja. Ulan und . . .«

»Dann ist unser Passagier der Onkel. Und die holde Schwester, die mich immer erinnert an einen zur Puppe gewickelten Fleischknäuel, aus dem oben ein rotlackierter Kopf herausschaut, hat das Glück, die Tante zu sein.«

»Hm. Ob . . . ob der Rittmeister sie jetzt heiratet, die Herrin vom Eugenienhof?«

»Er wird sich's überlegen. Sie, mein lieber Erich, der Sie das Vermögen Ihres Vaters und eine gütige Mutter hinter sich haben, hätten's riskieren können, mit einem tüchtigen Verwalter diese – gestehen wir's uns doch schon ein – diese stark verlotterte Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Und die Dame Eugenie wußte das. Freilich, die Juristerei, eventuell auch die Konsulatskarriere, an die Sie dachten, wäre daneben unmöglich gewesen. Von Guatemala oder Bolivia aus läßt sich kein Gut in Büssigheim in Schwung bringen.«

»Wer weiß, ob ich nicht – meinen, das heißt Ihren Kohl bauend – ein besserer Landwirt geworden wäre, als Jurist.«

Bergemann lächelte. »Das kenn' ich. Das hat das Meer so an sich in den ersten Tagen.«

»Das Meer . . .?«

»Ja. Es holt aus dem Menschen, der es befährt, so allerlei alte Pläne und friedlich entschlafene Neigungen heraus, die sich auf dem Asphalt und zwischen den Mietkasernen und Kaufhäusern der Großstädte gar nicht hervorwagen. Vielleicht ist's der wundervolle weite Horizont, der auch dem Blick ins eigne Leben die großen Maße gibt. Vielleicht ist's die herrliche Stille, die endlich mal erlaubt, andachtsvoll auf leise Stimmen in uns selbst zu hören, die von dem Gequietsch der Stadtbahn, dem Rattern der Elektrischen, dem Tuten der Autos, dem Geschnatter der Geselligkeit und nicht zum wenigsten dem Klirren der Berufsketten in der Mauerwüste des Festlandes übertönt werden.«

Sie waren wieder hinausgetreten aufs Promenadendeck und nahmen ihren Rundgang wieder auf. Der Sanitätsrat liebkoste mit zärtlichen Augen die fast ganz beruhigte weite Wasserfläche und schien ganz zu vergessen, daß jemand neben ihm ging.

»Das Meer ist Ihre Liebe, Sanitätsrat.«

»Ja. Unsern Gedanken, find' ich, unsrer Sehnsucht, unsrer Hoffnung gibt es die großen freien Linien. Es weckt nur die Lust an allem, was von seiner Art ist, was – wenn ich so sagen darf – seinen Stil hat. Wenn jetzt die Damen da unten wieder gesund sind und Sie, mein lieber Junge, flirten und Scheffelbord spielen und um die Wette Trauringe nach Holzpflöcken werfen und . . .«

»Werd' ich nicht!«

»Sie werden. Dafür sind Sie halb so alt wie ich. Wissen Sie aber, was ich dann hier oben in meinem einsamen Stuhl auf dem Sonnendeck unternehme?«

»Sie lesen.«

»Richtig. Und was . . .?«

Bergemann zog, fast ein wenig geniert, ein schlicht in Leinwand gebundenes Buch aus der Tasche seines Sakkos. Neugierig nahm es Erich, schlug es auf und blätterte erstaunt darin.

»Griechisch? . . . Die Odyssee . . .?«

Bergemann nickte. »Ja. Und warum? Weil der Graf August von Platen, für dessen formschöne Dichtungen ich eine ganz unmoderne Schwäche habe, recht hatte, als er die Verse schrieb, die ich mir da auf die erste Seite notiert habe.«

Und ohne hinzusehen, sprach Bergemann langsam, ohne Feierlichkeit, aber im Rezitieren sich der Rhythmen kennerhaft freuend, die Verse vor sich hin:

Dich zum Begleiter empfehl' ich dem Reisenden! Aber vor allem,
Wenn des italischen Meers hohes Gestad' er umschifft:
Wunder und doch Wahrheit, Ehrfurcht vor dem Göttlichen lern' er,
Lerne das Menschengemüt kennen und Menschengeschick . . .
Schönstes Gedicht! Nichts kommt dir gleich an Behagen und Anmut.
Unter den neuen erschuf ähnliches bloß Ariost!

»Wenn Sie mal keine Lust haben zu lesen, Sanitätsrat, leihen Sie mir das Buch ein wenig. Vielleicht reicht mein Griechisch noch.«

»Man liest sich rasch wieder ein. Aber, junger Freund – hüten Sie sich, daß Ihnen auf dieser Meerfahrt keiner dieser Gesänge zum Symbol der Erlebnisse werde! Nicht das Abenteuer mit der göttlichen Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia – und noch weniger der üble Zauber der Circe.«

»Ich glaube, das ganz unhomerische Büssigheim hat mich gegen solche Zauber für ein Weilchen gefeit, überhaupt, ich bin kein Mensch für plötzliche Wandlungen.«

»Das kann man nie wissen in Ihren Jahren.« Bergemann lächelte seltsam vor sich hin.

»Ach – Sie meinen, weil ich vorgestern so rasch . . . Sie glauben nicht, wie blamiert ich mir vorkam! Als wär' ich in einer dunklen Gasse von oben her begossen worden mit etwas Widerlichem. Es war mir, als könnt' ich nicht rasch genug möglichst weit wegfahren von diesem Blick aus dem Abtzimmer hinüber nach Eugenienhof.«

»Blamiert sein – das ist's. Das fürchten wir alle in jungen Jahren mehr als die Sünde.«

Sie standen wieder in der Spitze. Hatten nichts und niemand vor sich. Hoch über den Wassern schob sie das fahrende Schiff, wie ein Luftbrecher, in den Morgen. An die dünnen Eisenstäbe des Geländers gelehnt, sahen sie hinaus auf das Meer, das jetzt in einem fünften Blau erstrahlte wie ein riesiger Schild, aus einem einzigen Edelstein geschliffen, ohne Fehler, ohne Muster, ohne Buckel.

»Gestern abend, eh ich einschlief,« sagte Bergemann langsam, und es war, als ob er mit den Worten kämpfte, als ob der Zauber der Stunde das Geständnis aus ihm herausholte, der es nur widerwillig preisgab, »ehe ich einschlief – es war nicht sehr früh – die Ungarn gegenüber waren noch so laut –, da hab ich mir ausgerechnet, daß ich genau so alt war wie Sie, als ich meine Erniedrigung erlebte. Meine Blamage, wie Sie's nennen. Und vielleicht auch meine höchste Höhe – meinen Verzicht auf ein großes Glück.«

»Und genau so alt war mein Vater, als er sein Lebensglück begründete und mit meiner Mutter sich verlobte.«

»Ich weiß. Wir waren ja gleichaltrig. Im selben Jahr, im selben Monat sogar geboren.« Der Sanitätsrat sah Erich nicht an. Es war, als ob er das alles dem Meer anvertraute, sich selbst erzählte, im Angesichte der Sonne und dieser strahlenden Bläue. »Ich liebte damals ein Mädchen von ganzem Herzen. Sie war aus guter, etwas altmodischer Familie, erzogen in der bürgerlichen Reputierlichkeit eines deutschen Gelehrtenhauses. Heute schätzt man so was nicht mehr so hoch ein, spöttelt ein bißchen und vergißt, daß uns solche Häuser in ernsten Zeiten unsre besten Männer gegeben – und fast immer unsre besten Mütter.«

»Auch meine ist ja aus solchem Haus.«

»Auch Ihre . . . Ich hatte eine Schwester. Eine einzige. Liebte sie abgöttisch, denn sie war klug und schön. Aber ein romantisches Hirnchen. Und wie immer, wenn die Mutter früh gestorben, der Vater ein lieber Phantast und Eigenbrötler ist – das Mädel durfte tun und lassen, was sie wollte. Als sie achtzehn war, hatte sie Vaters ganze Bibliothek gelesen – da stand die Bibel neben dem Boccaccio und Goethe neben Sacchettis Novellen und Straparolas ›Ergötzlichen Nächten‹. Schopenhauer bei Schiller, Grabbe bei Poe, der Don Quichotte beim Hamlet und Napoleon neben Casanova. Was Wunder, daß dem Mädel das Abenteuer im Blut lebte – und das Blut war heiß. Und der Vater liebte, lächelte und vertraute . . . Sie war schlank, wie eine Gerte, und hatte die lebhaftesten Augen, die ich je gesehen . . . Einer meiner Freunde – alle machten ihr den Hof – bewarb sich ernstlich um sie. Zäh, gründlich und pedantisch, wie die Deutschen lieben, die früh Brillen und wollige Vollbärte tragen. Er hatte sein Staatsexamen gemacht, sah nicht sehr gut aus, war aber ein anständiger Kerl. Der Vater riet zu. Sie lachte und schüttelte den Kopf. Ihre Jugend wollte sie genießen. Reiten wollte sie lernen. Es war eine ausgezeichnete Gelegenheit. Ein Zirkus – man sagte damals noch: eine englische Reiterhütte – war für ein paar Wochen in der Stadt.

Der Schulreiter der Truppe, ein Señor Cenzano – er war gewiß kein Spanier, aber er galt dafür – gab frühmorgens Reitunterricht. Mein Vater schwankte, wollte nicht erlauben, kämpfte mit seiner Schwäche – aber Gertrud bat, bettelte, schmeichelte, bis . . . Er hat's schwer bereut, daß er nachgab . . . Gertruds Leidenschaft für den Sport, für die Pferde wuchs beängstigend. Ihre Sprache, ihre Bewegungen, der Duft ihrer Kleider – alles erinnerte mit einmal an den Stall. Sie war kaum mehr ohne Reitgerte und dänische Stulphandschuhe zu sehen. Es kam ein harter, gespannter Zug in ihr schönes Gesicht. Ihre Hände wurden fest und rauh . . . Eines Tages hatte sie eine Aussprache mit dem Vater – später erst erfuhr ich's: sie wollte den Señor Cenzano heiraten. Ob er's wollte . . .? Der Vater war außer sich. Aller Hochmut der Gelehrtenkaste, alle bodenständige Bürgerlichkeit, alle Angst vor Zigeunertum und Bohème empörten sich in dem aufgeklärten, sonst so sanften Mann. Es muß eine furchtbare Szene gewesen sein – ich war in der Universität und erlebte sie nicht. Aber die Dienstboten zitterten noch davon, als ich heimkam . . . Am nächsten Tage war Gertrud verschwunden. Ohne Abschied, ohne Brief, ohne jede sentimentale Regung, fast ohne Gepäck. Mit dem Spanier, der seine beiden edlen Schulpferde am Abend vorher noch rasch für ein Spottgeld verkauft hatte . . . Ich wollte ihr nach, wollte sie suchen, fassen – unsanft fassen mit Hilfe der Behörden, der Polizei, der Detektivs, des Telegraphen . . . an was dacht' ich alles! Der Vater – müde, gealtert, kalt, weiß und starr geworden in einer Nacht – befahl: ›Nein! Nichts! Mag sie gehn. Mag sie wiederkommen! Das Haus ist leer und weiß nichts mehr von ihr. Das Haus ist offen und, wenn sie's sucht, mag sie eintreten . . .‹ Sie hat's nie mehr gesucht, nie mehr betreten. Aus Gram – aus Verzweiflung – aus Unvermögen? Niemand weiß es . . . Der Vater hat nichts mehr von ihr gehört. Als er tot in seinem grünen Sessel saß, in dem schon Großvater gestorben war, fand ich ihr Kinderbild in seiner Brieftasche . . . Und ich . . .? Ich habe mich, als ich den müden alten Mann begraben, an artistische Zeitschriften, an Sportblätter, an Koryphäen der Manege gewandt. Niemand wußte mehr etwas von Señor Cenzano. Vor Jahren hatten ihn manche gekannt und seine arabischen Pferde, Hassan und Mustapha, das war lang her. Er war verschollen und blieb's. Und sie mit ihm . . . Mein Leben aber hatte seinen Knacks. Wie soll ein junger Kerl, dessen Schwester ohne Ring am Finger herumzigeunert mit einem spanischen Schulleiter, sich eine Braut aus einem deutschen Bürgerhaus holen, aus einem Haus mit grünen Läden und Geranientöpfen an den Fenstern, um dessen Lampe es kein Geheimnis gibt und nichts zu vertuschen! Aus einem Haus, in dem alles gute Familientradition ist. In dem jedes alte Bild aus seinem Rahmen klar und anständig alle Daten und Taten seines Lebens erzählen kann. In dem alle Lebensläufe langsam und stetig bergauf führen . . . Ich hab verzichtet. Leicht ist mir's nicht geworden: aber mein Studium, mein Beruf hat mir die harten Notwendigkeiten des Lebens früher und energischer als manchem andern vor Augen gerückt. Nun war ich selbst an der Reihe, mich zu beugen. Ich hab's getan – und ein halbes Leben daran getragen. Denn diese Liebe – seien Sie mir nicht bös – hatte nicht in Heringsdorf begonnen als Strandflirt beim Muschelsuchen und beim Souperchen.

Im dummen Buben hatte diese Liebe gekeimt, den Jüngling hatte sie ahnungsvoll durchleuchtet – den Mann hat sie geschüttelt und geheizt – und nun blieb ihm die Aufgabe, sie zu ersticken.«

»Und das – Mädchen . . .?«

»Hat geheiratet.«

»Und ist glücklich geworden?«

»Ich glaube.«

In diesem Augenblick kam Hilde, die hübsche Stewardeß, leichtfüßig über Taue und Ketten kletternd, nach der Spitze. Sie war etwas erhitzt vom raschen Gang durch die Gesellschaftsräume und ums Promenadendeck, wo sie den Sanitätsrat gesucht. Endlich hatten ihre guten Augen von einem Fenster des Rauchzimmers aus die beiden Herren hier erspäht.

»Herr Sanitätsrat,« sagte sie respektvoll, aber mit einem ganz kleinen, feinen Lächeln um die Mundwinkel, »Frau von Scupinsky befindet sich nicht sehr wohl . . . Es ist nicht schlimm, aber . . . sie hat aus der Passagierliste ersehen, daß Sie Arzt sind . . .«

»Nicht Schiffsarzt.«

»Herrn Doktor Lux lehnt sie ab. Er versteht nichts, sagt sie. Sie hat in Wien auch einen Sanitätsrat . . . und Herr von Scupinsky . . .«

»Nun?«

»Ich glaube, er ist etwas eifersüchtig und . . .«

»Ach so – und ich bin ein alter Herr.«

»Aber nein –« Hilde wurde rot . . . »Ich hab das nicht gesagt.«

»Unhöflich gegen eine Dame mag ich nicht sein.« Bergemann wog seufzend seinen Homer in der Hand. Dann reichte er Erich das Buch: »Da wäre schon der Moment gekommen für Ihre Lektüre!« Und damit ging er vorsichtig über Taue und Ketten nach der kleinen Brücke, die hinüberführte zum Promenadendeck.

»Kommen Sie heil zurück – von der Insel Ogygia!« rief Erich munter dem sich Entfernenden nach. Und dann plötzlich, wie von einer Eingebung gepackt: »Fräulein –!«

Die Stewardeß, die dem Sanitätsrat folgen wollte, sah sich um: »Bitte?« Sie stand, ihre weiße Schleife festhaltend, die Stirn von eigenwilligen dunklen Haaren umflattert, im Wind.

»Ich muß Ihr Gesicht schon einmal gesehen haben –«

»Ich glaube, es ist kein seltenes, Herr Doktor.«

»O doch – und . . . wenn Sie sprechen . . . Fahren Sie schon lange auf dem Schiff?«

Das Gespräch schien Hilde nicht angenehm. Sie zögerte mit der Antwort, dann sagte sie: »Nein. Es ist meine zweite Fahrt. Vor dieser war ich in Dalmatien.«

Erichs Gedanken waren nicht in Dalmatien, sie suchten in Berlin herum: und er ärgerte sich, daß ihm die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche einfiel, mit der doch sicher dieses hübsche Mädchen nichts zu tun hatte.

»Sie kennen Berlin?«

»Ja. Ein wenig. Aber Sie entschuldigen, Frau von Scupinsky erwartet mich. Ich muß ihr Kompressen machen.«

Erich sah ihr nach. Diese bescheidene, doch sichere Art gefiel ihm. Mädels aus der Gesellschaft hätten davon lernen können!

Was war eigentlich der Bildungsgang solcher Stewardeß? War sie ein besseres Zimmermädchen . . . oder –? Sie mußte doch sicherlich Sprachen sprechen und etwas schneidern können . . . überhaupt etwas können . . . War es nicht einerlei, ob man dieses konnte oder jenes – ob man erbüffelte Paragraphen des Bürgerlichen Gesetzbuches im Hirn hatte oder . . .

»Eine nette Krabbe – nicht?« sagte jetzt jemand dicht neben Erich, der sein Kommen nicht bemerkt hatte. Es war die Stimme des Herrn Mücke, der die Morgenstunde benutzt hatte, sich ganz in weißen Flanell zu kleiden und in einem roten Foulardschlips eine ansehnliche Perlennadel zu befestigen.

Der enteilenden Hilde nachsehend, der ein frischer, lustiger Wind die Röcke fest an die gutgeformten Schenkel legte, wiederholte er im Ton eines wägenden Preisrichters, der einen mehrfach prämiierten Dobermannpinscher zu begutachten hat: »Eine nette Krabbe.«

Erich hatte das Gefühl, daß es ihm große Erleichterung bereiten könnte, wenn er diesen öden Gent jetzt meuchlings an den Unterschenkeln um die weiße Hose fassen und in weitem Bogen ein bißchen über Bord werfen dürfte.

In diese Erwägungen paßte seltsam eine Äußerung Mückes, der, scheinbar auf der Suche nach einem andern Gesprächsthema, auf die Schönheit dieses Morgens gekommen war und, während er sein Einglas mit einem Seidentuch putzte, abschließend bemerkte: »Tja – man kann ja nie wissen, wie viele solcher Vormittage man noch genießen wird!«

Erich sah den etwas verlebten, aber durchaus nicht kränklich aussehenden Sprecher an und fragte, einen leisen Spott in der Stimme: »Sind Sie Hypochonder?«

»Nein,« erwiderte Mücke breit und ruhig und hauchte interessevoll die runde Glasscheibe an, um eine neue Reinigung vorzunehmen, »das nicht – bloß überzeugt, daß diese Fahrt meine letzte ist.«

Es war ersichtlich, daß er so redend einen heroischen Eindruck bezweckte. Aber im Tone lag doch etwas, das eine glatt posierende Verlogenheit ausschloß.

Ein Narr, dachte Erich und drehte Herrn Artur Mücke den Rücken. Seine letzte Fahrt! Und das legt der Kerl so hin, als ob er sagte: Ich esse von morgen an kein Quittengelee mehr . . . oder auf Eichhörnchen werd' ich nicht mehr schießen . . . Fatzke! – Seine letzte Fahrt! . . .

Übrigens – wenn schon!

 


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