Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

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Erstes Kapitel.

Erich trat nicht vom Fenster zurück, als er »Herein« rief.

Er konnte sich nicht losreißen von dem hübschen Bild. In die silberne Schlinge des Flusses hineingezwängt unter ihm das alte Städtchen. Bröckelnde Reste rissiger Mauern, noch dunkel vom Efeu umsponnen. Friedlich den Hügel ankletternde Sträßchen, die alle Geradlingkeit zu scheuen schienen. Schieferdächer und Ziegeldächer gemischt, über kleinen Gärtchen alte Nußbäume und Linden im jungen Grün. Und die breitere Hauptstraße, deutlich überschaubar von hier oben aus dem Erkerfenster des Gasthofes, der ehemals ein Franziskanerkloster war. Der Apotheker stand dort unten breitbeinig vor seiner Tür und ärgerte sich gewiß, daß die lieben Mitbürger so gesund und der anbrechende Maiabend so lieblich und gar kein Katarrhträger war. Und die riesige gelbe Dogge des Herrn Bürgermeisters lag auf der Steintreppe und schnappte nach Fliegen, die vor ihrer Nase den ersten Tanz wagten. Ein paar kurzhosige Schüler mit dottergelben Mützen sprangen in weiten Sätzen, die Ranzen schief auf dem Rücken, aus dem Tor der massig in ihrem roten Sandstein zwischen bescheidenen Bürgerhäusern thronenden Realschule. Der blaue Briefkasten und der gelbe Karren setzten hübsche Farbenflecke an die graue Mauer der Post . . . Und drüben über dem Fluß, in den im Abendwind zitternden Laubwald eingestreut, die schmucken kleinen Villen der Fabrikanten und Großkaufleute, die sich aus dem Lärm und Qualm der Großstadt hierher in Stille und Frieden geflüchtet hatten. Links am Ufer aber, als letztes Gebäude an der beginnenden Ebene, weiß im flachen englischen Landhausstil, von Ställen und Scheuern durch Gartenanlagen getrennt, das Gutshaus, in dem Erich vor wenigen Stunden in der großen Diele einer jungen Frau die schlanke beringte Hand geküßt hatte, die . . .

»He–em!« Der Wirt des Gasthofes »Zum Roß« räusperte sich zum dritten Male. Sein wohlgemästetes, glattrasiertes Gesicht, dem man die Freude am eigenen Weinkeller ansah, zeigte ein wenig den Ärger, den Herr Alois Radecke über die wunderliche Situation empfand. Schließlich – der Herr bewohnte Nummer sieben, das beste und demgemäß auch teuerste Zimmer im »Roß«, des Abtes ehemaliges Gemach, in dem an den geweißten Wänden noch schwere alte Stühle aus der Klosterzeit standen und tief nachgedunkelte Bilder hingen, auf denen man außer einigen Heiligenscheinen wenig mehr erkannte. Aber wenn einer, der selbst Nummer sieben gemietet hatte, auf höfliches Klopfen an der Tür »Herein« rief, übernahm er doch gewissermaßen die Verpflichtung, auch hinzusehen, wer durch die Tür komme, und anzuhören, was der Eintretende wolle. Anstatt aus dem Fenster in eine Landschaft zu starren, an der sich der Roßwirt in dreißig Jahren schon ziemlich sattgesehen hatte. Aus allen diesen Erwägungen heraus hatte Herr Alois Radecke zum dritten Male »He–em« gehustet.

»Schon gut! Sie bringen den aufgebügelten Frack? Legen Sie ihn nur dort . . .« Jetzt erst wandte Erich den Kopf und entdeckte, daß es gar nicht das Zimmermädchen war, mit dem er redete, sondern ein untersetzter älterer Herr mit weinfrohem, glattem Gesicht über einer vom schwarzen Rock in diskretem Ausschnitt gezeigten apfelgrünen Wollweste, der sich immerfort die kurzen dicken Hände rieb, als wasche er sich Tinte von den Fingern.

Die beiden Männer betrachteten sich. So höflich und tief die Verbeugung war, die der Roßwirt seinem Gaste im Abteizimmer machte, er behielt die volle Möglichkeit, ihn mit dem Kennerblick des im Geschäftsbetriebe Großgewordenen zu mustern. Auguste, das Zimmermädchen, hatte recht: es konnte ein Offizier in Zivil sein. Die straffe, sichere Haltung sprach nicht dagegen. Aber auch Oskar, der bewährte Oberkellner, hatte recht: dieser Kavalier, dessen eleganter Rohrplattenkoffer, ebenso wie seine Handtasche aus echtem Krokodilleder, das schlichte Monogramm E. E. aufwies, trug für einen aktiven Offizier das »Zivil« zu selbstverständlich; hatte für einen Kaufmann zu wenig Interesse für die Höhe des Preises gezeigt, als er das beste Zimmer im Hause mit Aussicht nach dem Fluß sich geben ließ, und war für einen Vergnügungsreisenden, der von hier aus die üblichen Fußtouren ins Gebirge unternehmen wollte, denn doch zu reichlich mit Gepäck versehen. Als Jagdgast des Grafen drüben in Kautzdorff kam er schon gar nicht in Betracht, denn er führte weder Flinte noch Rucksack mit; und daß dieser junge Herr mit dem sanft gewellten braunen Haar, dem englisch geschnittenen Schnurrbart und dem andeutungsweise auf Taille gearbeiteten dunkelblauen Sakkoanzug zur Pastorenkonferenz nach Treuenhagen weiterfahren wollte, schien gänzlich ausgeschlossen.

»Pardon«, sagte Erich, indem er vom Fenster weg auf den Roßwirt zutrat und dessen Verbeugungen durch eine Ansprache zu beenden suchte. »Pardon, mit wem hab' ich das Vergnügen?«

»Ich bin der Wirt, bitte zu gestatten – nur der Wirt. Besitzer des ›Rosses‹ schon seit beinahe dreißig Jahren. Unter meinem Vater hieß es das ›Goldene Roß‹. Aber ›goldene‹ klingt etwas abschreckend für die Herren Geschäftsreisenden, die unsere Gegend besuchen . . . Bei Gold denkt man immer an große Depensen, nicht wahr? So hab' ich das ›Gold‹ gestrichen, und das ›Roß‹ ist geblieben . . .« Und da Herr Alois Radecke zu bemerken glaubte, daß Erich über die Umtaufe seines Gasthofes sich nun genügend orientiert fühlte, so wechselte er alsbald den Gesprächsstoff. »Ich wollte mich nur, bitte zu gestatten – wollte mich nur gehorsamst erkundigen, ob der Herr zufrieden sind mit der Unterkunft.«

»Danke, danke, Herr Wirt. Die Aussicht ist herrlich.«

»Sollt' ich meinen, ja. Ist allerdings nicht unser Verdienst.« Herr Alois Radecke schien es sehr zu bedauern, daß er persönlich die Abendlandschaft draußen, über die sich jetzt das zarte Rot des Sonnenunterganges breitete, nicht entworfen. Er zog bescheiden mit einer Bewegung, die er von einer alten Schildkröte gelernt haben mußte, seinen weinroten Kopf in die Schultern. »Aber die Herren Franziskaner, ja, die haben gewußt, wo sie bauen! Immer büßen und beten, nicht wahr, das geht nicht – der frömmste Mann sieht auch mal aus dem Fenster, nicht wahr . . .«

Erich war über die Gewohnheiten des frömmsten Mannes nicht unterrichtet und hatte auch keine große Neigung, die Mutmaßungen des Roßwirtes darüber zu hören. Er sagte daher höflich und nach seiner Meinung das Gespräch beendend: »Ich danke Ihnen jedenfalls für Ihre Fürsorge. Ich fühle mich hier gut aufgehoben. Wenn ich etwas brauche, werde ich dort die Klingel benutzen.«

»Sehr wohl. Die Klingeln sind natürlich erst von uns angebracht. Überhaupt der Komfort des Hauses ist durchaus unser Werk. Die Herren Franziskaner haben darauf wenig gegeben. Oder ich denke: ihre Ordensregeln verbieten ihnen vielleicht Klingelzüge und all so was. Oder weil sie doch alle gleich sind untereinander, wäre doch keiner gekommen, wenn ein anderer klingelte. Freilich, hier in diesem Zimmer, bitte zu gestatten, hat der Abt jahrhundertelang gewohnt . . . Nicht immer derselbe natürlich.«

»Ich dachte mir's.«

»Ja. Die Bilder an der Wand hier sind zum Beispiel von einem Abt im siebzehnten Jahrhundert gemalt. Dieses dort stellt die heilige Ursula dar, die – der Herr wissen das vielleicht nicht . . . Ist der Herr katholisch?«

»Nein, evangelisch.«

»Ich dacht' mir das. Bitte zu gestatten, die heilige Ursula soll – Gewisses weiß man nicht – soll eine Königstochter gewesen sein. In England. Und sie ist mit elftausend Jungfrauen, als sie von Rom zurückkam, getötet worden, sagt man, ja, von den Hunnen. Sehr schrecklich. Die elftausend Jungfrauen hat der Abt ja nun nicht alle gemalt. Dazu reicht ein Leben nicht aus, nicht wahr. Aber einige davon und die Ursula selber hat er gemalt. Man sieht's zwar auch nicht mehr recht; aber im Vorjahr hat ein Professor hier gewohnt, der hat eine Vorlesung im Literaturverein gehalten – unten in unserm Saal –, und der hat das Bild betrachtet und gesagt, es sei ein Meisterwerk, und früher habe man sicherlich auch was darauf gesehen.«

Erich hatte den Blick von dem Meisterwerk des Abtes, das von dem Professor gelobt worden war und auf dem man nichts sah, auf die Rechte des Roßwirts gelenkt, der aus der apfelgrünen Westentasche eine Visitenkarte gezogen hatte, die er beim Sprechen bog und rollte. Er wollte gerade sich nach der Bestimmung dieses Blättchens erkundigen, als der redefrohe Wirt wieder begann:

»Ja, in diesem Zimmer haben sich noch alle Gäste wohl gefühlt. Versteht sich, immer die distinguierten. Andere kommen mir nicht hinein. Bis gestern hat ein Rittmeister hier gewohnt. Herr von Öltzendorff, ja. Ulan, ja. Wollte, glaub' ich, Pferde kaufen vom ›Eugenienhof‹. Apfelschimmel – ganz versessen auf Apfelschimmel ist der Mann. Ein äußerst scharmanter Herr, der Rittmeister. Überhaupt, unsere Armee – ich sag' immer: die Armee, den Rheinwein und den Speirer Dom macht uns eben doch kein Franzose nach. Sag' ich.«

In anderer Zeit hätte dieser Ausspruch des Herrn in der apfelgrünen Weste vielleicht durch seine wunderliche Zusammenstellung Erichs besondere Beachtung gefunden. Jetzt aber klang ihm nur der Name Öltzendorff ins Ohr. Wie ein Echo von heute morgen. Hatte nicht Frau von Hallerstedt . . .? Das Fingerspiel des Wirts mit der Karte machte ihn nervös.

»Ist die Karte vielleicht für mich?«

»Allerdings. Bitte zu gestatten – ein sehr feiner Herr – man kann schon sagen: distinguiert – auf der Durchreise, wie er sagt. Er hat den Namen des Herrn auf der Gasttafel gelesen und hat gleich gefragt: ›Kommt der Herr aus Berlin?‹ Haben wir pflichtschuldigst bejaht. Wieso? Mein Gott, wenn Herren mit Krokodiltaschen mal hier in Büssigheim absteigen, sind sie immer aus Berlin. Der Herr bewohnt das Zimmer Nummer einundzwanzig, das nach dem Garten hinausgeht. Früher, in der Klosterzeit, Sie verstehen, soll dort immer der Bruder Kellermeister gewohnt haben, weil nämlich eine steile Wendeltreppe . . .«

Erich hörte nicht mehr, welche merkwürdigen Beziehungen der Bruder Kellermeister zu der steilen Wendeltreppe hatte. Er las auf der durch die Fingerübungen des Roßwirts etwas angeschmutzten Karte: Gustav Bergemann, Sanitätsrat.

Und da sah er seinen Vater wieder vor sich, den seit zehn Jahren nun schon hart am geräuschvollen Leben der Belle-Alliance-Straße, nicht weit vom Grabe Felix Mendelssohn-Bartholdys, der Rasen des schönen, stillen Friedhofs deckte. Er hörte den Gutgelaunten nach der behaglichen Mahlzeit von seinen Studentenjahren erzählen mit jenem Lächeln des Gedenkenden, der die letzten Fröhlichkeiten der Erinnerung in Worten doch nicht ausschöpfen kann vor den Ohren der Gattin und des halbwüchsigen Sohnes. Bei solchen Gelegenheiten fiel dann oft der Name Gustav: und zu der Mutter gewendet, fügte der Erzähler hinzu: »Du weißt, Gustav Bergemann, den du auch gekannt hast!« – »Gewiß«, sagte die Mutter und lächelte. »Ihr zwei wart ja unzertrennlich in den Primen und auf Universität. Schade, daß euch das Leben später getrennt hat.« – »Ja, das Leben«, nickte dann wohl der Vater. Und es war, als ob ein Schatten hinhuschte über die Stirn des sonst so Fröhlichen, der sich nach seinem eignen Ausspruch »gar keine schönere Institution denken konnte als das Leben«. Er hatte es geliebt, das Leben, glühend, verständnisvoll geliebt, bis zu der bösen Stunde im März. Da hatte er, eben von einer schweren Rippenfellentzündung nach Ansicht des Arztes genesend, ein geleertes Gläschen mit kräftigendem Sherry zurück auf den Teller gesetzt, den die Mutter, blaß von Angst und Nachtwachen, ihm geduldig hinhielt. Und während er der treuen Pflegerin dankbar die Hand tätschelte, sagte er, »Heut geht es mir viel, viel besser. Und in drei Wochen, Mutter, sitzen wir in Sestri Levante und schauen in die Sonne und hinüber nach Genua!« Dann hatte er sich lächelnd zurückgelehnt, tief, tiefer in die Kissen, und die Augen geschlossen. Und mit dem Blick auf Genua, in der Sonne von Sestri Levante, ist er gestorben . . . Unter den vielen Briefen, die eine herzliche Teilnahme am Tode des erst fünfzigjährigen Mannes, der kaum einen Feind gehabt hatte, in das schöne, einst so gastliche Haus in der Fasanenstraße trugen, war auch einer gewesen, der – wie sich das Erich plötzlich wieder so deutlich erinnerte! – auf der Rückseite den Absender nannte: Bergemann, Sanitätsrat. Der Name eines thüringischen Städtchens stand dahinter. Die Mutter hatte lange geweint, als sie diesen Brief gelesen; und da der fünfzehnjährige Sohn, ihr einziger, an sie herantrat und sagte: »Muttchen, du wolltest doch tapfer sein!« da hat sie unter Tränen, mit dem Versuch, dankbar zu lächeln, den Brief in das Kuvert zurückgeschoben und zu ihrem Jungen gesprochen: »Ich will ja auch. Aber siehst du – der mir da schreibt, der hat deinen vortrefflichen Vater lieber gehabt als viele, viele, die die großen Kränze schicken und ihre Equipagen hinter dem Sarg fahren lassen.«

»Man kann schon sagen, er ist ein distinguierter Herr«, wiederholte der Roßwirt seine empfehlende Einschätzung des Gastes und weckte damit Erich aus seiner Versunkenheit.

»Wann hat der Herr Sanitätsrat nach mir gefragt?«

»Vorhin, als der Herr in der Stadt waren – oder, wenn ich recht unterrichtet bin, der Herr waren auf dem Gutshof der Frau von Hollerstedt.«

Erich mußte lächeln, als er Eugeniens Namen so neugierig lauernd von diesem dicken Philister genannt hörte. »Die guten Spießer werden morgen was zu klatschen haben, wenn Sie heute abend schon wieder hier erscheinen. Aber wenn's mir gleichgültig ist, die ich hier meine Hüte, meine Pferde, meine Reisen, meine Einkäufe und meine Moral muß kritisieren lassen – wieviel gleichgültiger kann's Ihnen sein, der sie morgen, übermorgen Gott weiß wo sind und nicht mehr an mich, an das weltverlorene Büsigheim und meinen stillen Eugenienhof denken.« Ob sie's selbst geglaubt, was sie sagte?

»Eine sehr vornehme Dame«, rühmte der Roßwirt gerade, als Erich sich von seinen Gedanken, die um den stolzen, blonden Gemmenkopf Eugeniens gespielt hatten, losriß und wieder zuhörte. »Auch eine tapfere Dame . . . Aber der Herr sind ja zweifellos orientiert.«

Es schien Erich nicht anständig, diesen Mann in der apfelgrünen Weste auszufragen oder durch ein Wort zu seinen Erzählungen, die er offenbar bereit hielt, zu ermuntern. Er schwieg und sah wieder aus dem Fenster. Woraus der Roßwirt nicht ganz ohne Grund entnahm, daß weitere Mitteilungen nicht unerwünscht wären.

»Der Vater der Frau von Hallerstedt war ja ein ganz famoser alter Herr. Ein bißchen toll gewirtschaftet hat er ja. Aber wenn ich als Wirt spreche, so kann ich schon sagen: er verstand was vom Rotspon. Vom Mosel nicht. Rheinwein trank er nie. Bloß Rotspon und zuweilen Sekt. Ineinandergegossen hat er's und nannte das ›Türkenblut‹. Wenn er Sorgen hatte, trank er's. Und wenn er vergnügt war, trank er's erst recht. Aber am liebsten trank er's, wenn er eine Dummheit hinter sich hatte, ja. Es war eine Weile sehr populär bei mir unten, das Türkenblut. Denn die Herren aus der Umgegend machten's ihm nach. In der Wirtschaft war er nicht ganz so glücklich, der gnädige Herr. Hatte immer so seine wunderlichen Ideen mit Kreuzungsversuchen. Kreuzte Jagdhunde mit Pudeln – Pudel-Pointer nannte er dann die Tiere, die schlecht apportieren, wie der Vater, und ohne Nase waren, wie die Mutter. Statt umgekehrt, Sie verstehen. Und mit Schweinen hat er's ähnlich erlebt, und mit Schafen. Immer verkehrt gekreuzt. Leider. Und wenn's wieder mal nichts war mit dem Wurf, dann kam er hierher und mischte Türkenblut. Schließlich hatte er's arg mit der Gicht. Wurde von seinem Anton im Wägelchen gefahren. Badete in Oeynhausen oder wie das Teufelsnest heißt, wo die Lahmen zusammenkommen und mit warmem Wasser allerlei anstellen. Einmal war die Tochter mit. Auf der Fahrt hat er dann den Schwiegersohn kennengelernt. Baron war der, schön. Sonst war er aber nicht viel. Und daß der windige Herr, der hier im Städtchen hinter jeder Schürze her war, nun gerade das schöne schlanke Fräulein Eugenie kriegen sollte, das hat keinem hier gefallen. Sogar dem Pastor nicht, für den doch sonst alles direkt vom lieben Gott kommt. Ja, der Pastor, der hat sogar bei der Trauung 'ne Rede gehalten, als ob er 'nen Schwerverbrecher kopuliert. So voller Ermahnungen und solchen Dingen. Freilich ist er früher Zuchthausgeistlicher in Marienschloß gewesen. Da mag er ja noch so den Ton und die Wendungen her gehabt haben. Na, und schon wie sie von der Hochzeitsreise gekommen sind, hat man's sich zusammengereimt: da stimmt was nicht. Wenn der alte Herr im Garten bloß den Baron von fernher kommen sah, hat er seinen Anton – was der Diener war, krumm wie ein Schraubenzieher, aber treu –, den hat er das Wägelchen umdrehen lassen, damit er den Tochtermann bloß nicht zu sprechen braucht. Und der Baron, der hat's nun wieder mit den neumodischen Maschinen gehabt: egal so toll, wie der alte Herr mit den Kreuzungen. Und hat der alte Herr den Viehstand ruiniert, so hat der junge Herr die Äcker verdorben. Schließlich ist er nach einer furchtbaren Szene – der alte Herr soll mit dem Krückstock nach ihm geworfen haben – ganz plötzlich abgedampft. Nach Brasilien oder so wohin. Und aus der Kreisstadt ist eine Friseuse mit ihm gefahren. Natürlich nicht für die Frisur, denn der Mann war schon kahl, als er heiratete. Die Frau Eugenie . . . Pardon, wenn ich sie so nenne, aber sie heißt hier allgemein so; wir haben sie ja noch als Kind gekannt . . . oh, sie war ein sehr schönes Kind, na, Sie können sich ja denken: Wo nichts war, wird nichts, hat meine selige Mutter immer gesagt. Das war überhaupt eine merkwürdig kluge Frau – wenn man denkt, daß sie eigentlich nie aus dem ›Roß‹ herausgekommen ist, immer so zwischen Küche und Leinenkammer hin und her . . .«

Die pietätvollen Erinnerungen führten Herrn Alois Radecke nunmehr eine gute Weile im Kreise herum um das »Roß«, die Küche und die Leinenkammer, um dann schließlich doch wieder zu dem Gutshof einzulenken. Erich, der mit dem gewissen Unbehagen, das jeder Anständige dem nicht ganz taktsicheren Nebenmenschen entgegenbringt, den Darlegungen des Mannes in der grünen Weste folgte, erfuhr schließlich noch, daß Eugenie nach dieser kurzen, unerquicklichen Eheepisode ihren Mädchennamen wieder angenommen habe. Die »Freifrau« sei dabei in die Binsen gegangen; und man erzählte sich, daß die Friseuse jetzt »da drüben« die deutsche Baronin spiele. Einige sagten in einem Blumenladen, andre in einem Schnittwarengeschäft. Aber die Baronie des windigen Herrn, der den alten Hallerstedt aus dem Wägelchen unter den großen Marmorstein hinter der evangelischen Kirche geärgert habe, sei am Ende so unecht gewesen wie die fünffache Perlenkette der Dame, die vor drei Jahren unten im Saal des »Rosses« ein Konzert gegeben und so falsch gesungen habe, daß der Kellner, der früher einmal Klavierstunden hatte und musikalisch war, schließlich den Pikkolo geohrfeigt habe, weil er sich gar nicht mehr zu helfen wußte.

Und während Herr Alois Radecke, froh, einen so guten Zuhörer zu haben, noch viel von der merkwürdigen Konzertgeberin erzählte, die am andern Tage heimlich davongefahren war und nur ein altes Korsett und eine fast borstenlose Zahnbürste im Zimmer des Abtes hinterlassen hatte, rief sich Erich den wundervollen Septemberabend des Vorjahres auf der Terrasse des Heringsdorfer Kurhotels wieder ins Gedächtnis. Der neugebackene Assessor, der sich von den Strapazen der Examensarbeit erholen wollte, hatte dort nicht ohne Stolz mit der eleganten Frau, der er durch Berliner Freunde am Strande vorgestellt war, soupiert, und mit dem Blick auf den herrlichen Sternhimmel über der silbern glitzernden See hatten sie beim Schein des roten Tischlämpchens in angeregtem Gespräch alle die Themen berührt, die den Menschen von Welt zu denken, zu wünschen und zu reden geben: den Wintersport von St. Moritz und die Rennen in Baden, den argentinischen Modetanz und die Fortschritte im Lichtspiel, die großen Premieren der letzten Saison und die neuen Orchideensorten. Schließlich sprachen sie auch von Liebe und Ehe. Und es ergab sich zwischen Lachs und Pute, daß die Erfahrungen Erichs auf dem ersten Gebiete, die er diskret im Hintergrund der Debatte ließ, die reicheren waren; während über das Lotteriespiel der Ehe die junge, schöne Frau mit jener Malice reden konnte, die nur der vom Glück nicht Begünstigte aufbringt, der eigensinnig gespielt und um hohen Kaufpreis eine üble Niete gezogen hat.

»Frau Wörle ist wohl eine Jugendfreundin der Frau von Hallerstedt?« Mit dieser Frage, die ihm so aus seinem eignen Gedankengang herausblitzte, unterbrach Erich Herrn Alois Radeckes schmerzvolle Erinnerungen an die Konzertgeberin, die – angeblich zur Erhaltung ihrer Altstimme – sehr viel und sehr Teures gegessen und dann bloß die für ihn wertlosen Toilettengegenstände zurückgelassen hatte.

»Frau Dorothea Wörle« – Herr Alois Radecke zog die apfelgrüne Weste glatt und nahm die Hacken zusammen, als ob er der Dame persönlich gegenüber stehend seinen Respekt bezeugen wolle –, »Frau Dorothea Wörle ist eine sehr achtbare Dame. Aber ich glaube eher, daß sie zu Frau von Hallerstedt durch die Zeitung kam – ich meine durch eine Annonce oder so. Sie ist nicht aus der Gegend. Ist die Witwe eines Postdirektors und . . .«

»Sammelt leidenschaftlich Briefmarken, das weiß ich bereits.«

»Nun, ich denke – das ist für eine Witwe, die schließlich noch nicht so alt ist, eine ziemlich harmlose Leidenschaft.« Alois Radecke war der Ansicht, daß er einen Witz gemacht hatte, und stieß aus offenem Mund ein helles, eigentümliches Gelächter aus, das sich anhörte, als ob er jemand erschrecken wollte.

Erich war, ohne sich an der Heiterkeit des Wirts zu beteiligen, wieder an das Fenster getreten. Jetzt winkte er, lebhaft interessiert, Herrn Radecke heran, der mit hüpfenden Zehenschritten, als gelte es die listige Beschleichung eines Feindes, zu ihm trat.

»Sehen Sie den Herrn dort, der über den Platz auf das Hotel zukommt?«

»Pardon, das ist die Eierfrau.«

»Nein doch, hier links. Jetzt bleibt er einen Augenblick stehen und sieht über die Stadt. Ist das . . .«

»Ja, ja, das ist der Herr Sanitätsrat, der nach Ihnen gefragt hat. Zuversichtlich.«

»Sie würden mir einen Gefallen erweisen, Herr Radecke, wenn Sie ihm sagten, daß ich nach Hause gekommen sei. Oder nein, das ist nicht höflich. Ich kann ja selbst zu ihm . . .«

»Würde ich nicht raten. Ich sagte schon, der Herr Rat wohnen auf Nummer siebzehn. Das Zimmer ist etwas beengt im Raum. Schon durch die Wendeltreppe, die nicht mehr benutzt wird, aber sehr hübsches Schnitzwerk zeigt. Und dann – der Herr Rat hat zwei Koffer – flach, aber groß – mitgebracht und die Einsätze mit den Kleidern und der Wäsche, sehr gute Wäsche – überhaupt ein feiner Herr – ja, die Wäsche, die hat er überall herumgelegt. Mir scheint, er hat eine sehr weite Reise vor, der Herr Rat. Vielleicht nach Australien oder so, vielleicht auch bloß nach Kalifornien oder . . .«

»Sehr glaublich. Jedenfalls aber möchte ich den Herrn Rat noch begrüßen, ehe er nach Australien oder Kalifornien reist. Vielleicht haben Sie die Freundlichkeit . . .«

Der Roßwirt war schon an der Tür, und seine Abschiedsverbeugung, mit der er, leicht gekränkt, sagte: »Unverzüglich – unverzüglich!« hätte nicht ausdrucksvoller sein können, wenn der Auftrag dahin gelautet hätte, einen Maurenkönig lebend oder tot in das Gemach des Abtes auszuliefern.

Als Erich allein war, nahm er seinen Feldstecher vom Tisch und stellte ihn am Fenster sorgfältig auf den Gutshof ein, der jetzt im Sonnengold des Abends gebadet lag. So am waldigen Abhang mit dem Blick über Fluß und Ebene zu wohnen, ei ja, das war doch etwas andres, als tagtäglich auf den Kurfürstendamm hinunterzusehen mit den ratternden Elektrischen, den stinkenden Autos, den auf dem Reitweg englisch trabenden dicken Kommerzienrätinnen und den frühreifen Gören mit den Flackeraugen aus den Protzenkasernen des Westens! Ein Stückchen Romantik lag da drüben. Und wenn er an die blonde, schlankgewachsene Frau dachte – wahrhaftig, sie mußte ein halbes Zentimeterchen oder ein ganzes größer sein als er . . . aber das ließ sich durch Absätze und Zylinder ausgleichen . . . ja, dann kam ihm das Wort wieder auf die Lippen, das er heute früh nicht ausgesprochen, aber empfunden hatte, als sie ihm gemessenen Schrittes bis an die von ruhenden Steinpanthern flankierte Rampe der Freitreppe entgegenkam: die Burgfrau.

Fast schien ihm sein nach langer Unschlüssigkeit gewähltes Brautgeschenk, das er mit hinübernehmen wollte nachher, jetzt gar zu bescheiden. Er ging zum Tisch und öffnete das kleine Samtetui. Aufmerksam schaute er in das dunkle Feuer des Rubins, den der Schleifer – nach altem indischem Modell, hatte der Juwelier gerühmt – en cabochon geschliffen hatte. Wie ein Auge schien er ihm in seiner mattgoldenen Fessel, und wieder wie ein erstarrter Blutstropfen. Ob Eugenie Kennerin von solchen Steinen war? Ob sie wußte, daß dieser im tiefen Dunkelkarmin leuchtende Korund, der Antrax des Theophrast der indische Carbunculus des Plinius, weit edler, viel wertvoller war als ein um manchen Karat schwererer Diamant? Ob sie ahnte, daß das wundersüchtige Mittelalter solchen Rubin zu den vornehmsten Zaubersteinen gezählt, der kräftig wie kein anderer gegen den bösen Blick schützte, und der dunkler wurde und warnend den Glanz verlor, sobald seinem Träger ernste Gefahr drohte? Ein Arzneimittel am Finger des beschwörenden Arztes war solcher Rubin gewesen; und unbezwingliche Gegenliebe für den Spender hatte er im Herzen seiner Trägerin entfacht. So hatten's die Mystiker gelehrt, so hatte das Volk es geglaubt.

Brauchte er noch Gegenliebe? . . . Er schloß mit einem glücklichen Lächeln das Etui. Leise sprach er das Verschen – war es nicht aus einer Übersetzung des alten Hafis? – vor sich hin:

Wem der Seligkeiten Born
Ein einz'ger Trunk verliehn.
Dem wird zur Rose jeder Dorn
Und jeder Stein – Rubin!

Es klopfte. Das mußte der Sanitätsrat sein.

Erich legte das Etui mit dem Ring beiseite und ging dem Eintretenden höflich entgegen. Und dabei dachte er: So imponierend wie Frau Eugenie kann ich einem Gaste nicht entgegenschreiten. Allerdings, der olivengrüne holländische Teppich, der den Fußboden des Abtzimmers deckte, war ja auch keine Freitreppe eines Gutshauses.

»Als ob ich ihn wiedersähe – Ihren Vater!« Das war das erste Wort, das der Sanitätsrat sprach. Es kam so freudig, so warm heraus, daß Erich, dem alten Herrn zulachend wie einem bewährten Freunde, ohne Besinnen seine beiden Hände in die hingestreckten dunklen Handschuhe legte.

»Ich freue mich so sehr, Sie persönlich kennenzulernen, Herr Sanitätsrat. Meine Eltern haben so oft von Ihnen gesprochen – beide.«

»Haben sie? Beide? . . . Wissen Sie, es hätte mir nichts Lieberes passieren können, junger Freund, darf ich so sagen . . .«

»Aber gewiß!«

»Nichts Lieberes, als daß mir der Zufall diese Begegnung noch vor meiner Abreise schenkt.«

»Ach, Sie fahren – nach Australien?« Schon im Aussprechen ärgerte sich Erich, daß er in das blöde Gedankengeleise des Roßwirts geraten war.

»Nach Australien? Wie kommen Sie darauf? Nein, so schlimm hab' ich's nicht vor. Ich fahre nur ein bißchen um Europa herum. Hab' die Sache schon ein paarmal gemacht. Von Hamburg oder Bremen aus um Spanien 'rum nach Genua. Die Ostasienfahrer des Norddeutschen Lloyd nehmen die meisten ihrer Passagiere für Indien und Japan erst in Genua oder Neapel an Bord. Wer die ganz große Seereise vor sich hat, der schenkt sich den Kanal, den Golf von Biskaya und die Säulen des Herkules. So bleiben viele schöne Kabinen leer bis zu den italienischen Häfen. Da kann nun unsereiner, für den das Land der Kirschblüte und das Gangestal ewig ein sehnsüchtiger Traum bleiben muß, um relativ billiges Geld zwei wundervolle Wochen auf See genießen. Und ein paar Stunden Aufenthalt in Gibraltar und Algier würzen die köstliche Reise. So hab' ich sie schon dreimal gemacht, wenn die Nerven nicht mehr recht wollten, und bin braun und vergnügt heimgekommen. Diesmal aber mach' ich's ganz raffiniert. Anders 'rum, wissen Sie. Ich komme mir selbst dabei vor wie der Mann, der immer die Daumen umeinander drehte, und den sein Gegenüber schließlich verzweifelt anschrie: ›Herr, können Sie denn nichts andres?‹ ›Doch,‹ sagte der seelenruhig, ›anders 'rum kann ich's auch!‹ Also da läßt jetzt der Österreichische Lloyd so eine hübsche Luxusjacht oder wie Sie's nennen wollen – zwar nicht befrachtet, wie die ernsten Ostasienfahrer, mit Hölzern und Klavieren und Mähmaschinen und Goldbarren für die englischen Kolonien – sondern bloß so zum Pläsier von Genua nach Amsterdam fahren. Mit Aufenthalt in Barcelona, Malaga, Gibraltar, Tanger, Kadiz, Lissabon, Arosa Bay und Cowes . . . Mach' ich Ihnen den Mund nicht wässerig nach all den Herrlichkeiten, nach all den Kathedralen, Stiergefechten, Murillos, Serenaden . . . Aber mein Gott, ich rede da und rede! Und sie interessieren sich den Teufel für die monomane Reiseliebe eines alten Herrn, von dem Sie schließlich nur aus den Kindertagen den Namen kennen und bis heute nur die Visitenkarte gesehen haben.«

Wie jung ist der Weißkopf! hatte Erich die ganze Zeit über gedacht. Wie fröhlich diese blauen, klugen, gutherzigen Augen unter den buschigen Brauen, die ihre weißen Linien ganz fein über der Nasenwurzel ineinander schwangen. Das silberne Haar war noch stark, und der Scheitel schien's mühsam zu bändigen. Der knappgeschorene Spitzbart rahmte ein fröhliches, vielleicht jetzt vom raschen Gang besonders gerötetes Gesicht, das oft von der Schalkheit liebenswürdiger Selbstironie überblitzt war. Es war Erich, als ob die Symptome des Alters, die weißen Haare, die Fältchen um die Augen hier nur Maske wären, hinter der listig und unternehmungslustig die Jugend lauere, siegreich hervorzubrechen. Die Jugend, die dem Vater einst Kamerad war.

»Und erlauben Ihnen Ihre Patienten so lange Reisen, Herr Sanitätsrat?«

»Früher – um der Wahrheit die Ehre zu geben und um ein bißchen zu prahlen – war's manchem nicht recht. Obschon's ein Unsinn ist. Denn ob ich in Osnabrück sitze oder in Santiago di Compostella, das kann für einen, der in Darmstadt den Ziegenpeter hat, doch ganz gleichgültig sein, nicht wahr? Aber jetzt bleibt's ihnen ganz egal. Ich bin, wie Sie da sehen, neugebackener Freiherr. Bin – ein bißchen spät oder ein bißchen früh – der Arbeit davongelaufen. Hab' meine Praxis ganz und gar einem jungen Kollegen übergeben, der's gewiß nicht schlechter macht als ich. Gott, was ein Junggeselle braucht, der keine Pferde in Hoppegarten laufen läßt, keine spanische Tänzerin aushält, keine Importen raucht und bloß Tischweine zu sieben Groschen den Schoppen trinkt, das hab' ich mir in fleißigen Jahren erspart. Für wen soll ich Schätze sammeln, die bloß die Motten und der Rost fressen? Ich hab' mir nie was aus Motten gemacht und aus Rost schon gar nicht.«

Ganz leise und von fernher – so kam's Erich vor – zitterte eine Resignation durch die letzten fröhlichen Worte. So nickte er nur und sagte: »Sie haben gewiß recht.«

»Hab' ich! Und was treiben Sie hier, junger Freund? Oder ist es indiskret, zu fragen? Dann nehm' ich's sofort zurück.«

»Durchaus nicht. Ich . . .«

Hier unterbrach der Zimmerkellner, der aussah wie ein unglücklicher Konfirmand. Er brachte auf einem mit Röschen bemalten Teller einen Brief und bemühte sich, aus dieser Zeremonie alles an Würde herauszuschlagen, was die Standesehre nach seiner Ansicht für solch schwierigen Fall erfordert.

»Von meiner Mutter – Sie gestatten?«

»Aber gewiß.« Während Erich las und in den Brief hineinlächelte, der so ganz der Mutter Wesen spiegelte, betrachtete sich der Sanitätsrat die Gemälde des Abtes aus dem siebzehnten Jahrhundert, ohne daraus klug zu werden. Gerade, als er die Überzeugung gewonnen hatte, daß das Bild, so der heiligen Ursula mit ihren elftausend Leidensgenossinnen Martyrium darstellte, den Zug der Israeliten durch das Rote Meer versinnbildlichte, rief ihn Erich an, der, den Brief in der Hand, auf ihn zutrat.

»Sie fragten mich gerade, Herr Sanitätsrat, was ich hier mache. Ich freue mich, daß ich mit jemand davon reden kann. Freue mich besonders, daß dieser Jemand der alte, vertraute Freund meines Vaters ist. Und – da Sie ja meine Mutter auch gekannt und vielleicht nicht vergessen haben . . .«

Der Sanitätsrat wandte den Blick zu den elftausend Jungfrauen und nickte: »Ich hab' sie nicht vergessen.«

». . . so darf ich's Ihnen vielleicht mit den Worten meiner Mutter sagen . . .« Und die erste Seite überschlagend, las Erich hastig und der Erregung nicht ganz Herr werdend in der Stimme die wesentlichste Stelle aus der Mutter Brief:

». . . und wenn Du dann, mein guter Junge, der Frau, die Du liebst und zu Deiner Gefährtin machen willst, gesagt hast, was Dein Vater mir gesagt hat am glücklichsten Tag meines Lebens, dann füg' gleich hinzu, daß Du eine Mutter hast. Eine Mutter, die nicht eifersüchtig ist auf das, was ihr die andre, die Neue, die noch Fremde nimmt. Eine Mutter, die alles liebt, was ihrem Sohn ein Glück bringt und die Freude am Leben mehrt. Eine Mutter, die es nicht erwarten kann, bis sie der Nachfolgerin in ihrer Liebe zu Dir sagen darf: ›Lieb ihn, wie ich seinen Vater geliebt habe! Und wenn Deine Liebe sichtbar wird und in einem hilflosen Menschlein Gestalt angenommen hat, das die Welt noch nicht versteht, dann denk', daß ich Deinem Liebsten gewesen bin, was Du dem Kleinen bist. Werd' meine junge Freundin, verbunden mit mir durch die Liebe zu dem, den ich geboren, genährt und großgezogen habe, um ihn froh und neidlos an Dich und an sein Glück abzutreten . . .‹«

Erich unterbrach sich einen Augenblick beim Lesen. Leis und zärtlich war seine Stimme; etwas Scheues, Bittendes war darin, als er sagte: »Herr Sanitätsrat – ist es nicht . . .«

»Eine Mutter ist das. Eine deutsche Mutter. Es gibt sie noch in tausend Exemplaren. Ich, der ich oft an Kinderbetten gesessen habe, weiß es. Aber Ihre Mutter ist eine der besten.« Und ganz langsam fügte er hinzu: »Ich hab' sie nur als Mädchen gekannt. Aber ich hätte darauf geschworen, wie sie sich entfalten wird. Ich hatte früh den Blick für die Knospen und hab' mich nie geirrt.«

Die Sonne war untergegangen. Draußen webte nur noch ihr Abglanz über den Dächern. Das Zimmer lag schon im Dunkel. Und die elftausend Jungfrauen waren eine einzige goldbraune Fläche an der kalkweißen Wand im Zimmer des Abtes.

Erich mußte ans Fenster treten, um diese Stelle im Brief noch zu lesen:

»Heute abend laß ich mir von Fräulein Berka – sie ist lieb und spricht mit der ganzen Güte eines alten Mädchens von Dir – aus dem Buche vorlesen: ›Deutsche Liebesbriefe aus neun Jahrhunderten.‹ Wir haben schon die Briefe von Ulrich von Lichtenstein, von Heinrich von Nördlingen an die Gottesbraut Margarete Ebner hinter uns; auch Luthers prächtige Zuschriften an seine herzliebe Frau Käthe Lutherin zu Wittenberg und des steifen Gottsched mit Luise Adelgunde Viktoria Kulmus gewechselte, gar so gedrechselte Stilübungen. Jetzt halten wir bei Johann Heinrich Voß und seinem Ernestinchen – wir sehen ihn Tabak dazu aus billiger Pfeife rauchen, Kaffee trinken, in den Mond schauen und in feierlicher Heiterkeit Leisewitz zitieren . . . Aber meine eigensinnigen Gedanken schweifen immer ab von der verwehten Liebe der Berühmten. Sind ja heut nur noch Namen für die Buben in der Schule! Und ich denk' mir: wie wird's mein Junge ihr sagen? Was wird er für Worte finden für das uralte köstliche Lied, das durch die Zeiten klingt? Und ich werd' nicht schlafen können, Lieber, weil ich hundert Meilen entfernt hinlausche mit meiner ganzen Seele: ob ich das Glück auch so recht jubeln höre aus ihrer Antwort? Denn nur dann sollst Du den Arm um sie legen und sagen: »Mein!« Telegraphiere mir, bitte, ja, wie spät's auch sein mag, Erich. Ich bin wach. Ich brauche so wenig Schlaf mehr und schlummere dann lieber beruhigt ein wenig noch in den Morgen. Ich verlier' nichts, wenn ich die Unglücksfälle und die Verzweiflungstaten in den Morgenblättern ein Stündchen später lese und den ekelhaften politischen Klatsch. Nur ein paar Worte depeschier' mir, daß ich Bescheid weiß und froh bin mit Dir. Denn das hab' ich doch immer gekonnt, gelt, froh sein mit Dir . . .«

Erich faltete den Brief zusammen und lächelte verlegen vor sich hin.

»Eine prächtige Frau!« Der Sanitätsrat rieb ganz leicht mit einer Fingerspitze das Auge, als er so sprach. »Es muß eine Freude sein, ihr die Braut zu bringen. Und wie ich aus dem Brief heraushöre, fällt heute abend die große Entscheidung.«

Erich wiegte verschmitzt lächelnd den Kopf: »Tja – wer weiß Gewisses?«

»Ich!« nickte der Sanitätsrat. »Ist's nicht merkwürdig« – er sagte das ganz langsam, und es war, als ob er dabei seinen Blick durch die Wand weit, weit auf alte Bilder hefte –, »ich habe auch Ihrem Vater damals in den Frack geholfen, als er . . . nun, als er um Ihre Frau Mutter anhalten ging. Gleich nach dem Examen. Ja, er hatt's eilig. Denn sonst, wer weiß . . . Ein schönes Mädchen war sie, Ihre Mutter. Na, dann haben sie noch drei Jahre warten müssen, bis er – fast durch Zufall – die Brandsalbe fand, die ihn ja rasch zum Fabrikdirektor und zum reichen Mann gemacht hat. Drei Jahre, ja. Sein Vater war halt kein Chemiker. Bloß Pastor: und Pastoren erfinden keine Brandsalben. Der begnügte sich als wackerer Imker mit seinen Bienenstöcken. Und da er sehr kurzsichtig war, kam es oft zu Mißverständnissen zwischen ihm und seinen Pfleglingen. Er hatte davon immer ein bißchen ein verschwollenes Gesicht. So oft ich auch im Sommer zu Besuch draußen auf der Pfarrei war – wie das Gesicht Ihres Großvaters eigentlich normal aussah, hab' ich nie ergründen können. Aber ich verplaudere mich da in die Vergangenheit, ich alter taktloser Esel, und – bei Ihnen drängt alles nach dem Heute, nach dem: Heute abend! Nach der Entscheidungsschlacht fürs Leben. Nun, wie sie ausfällt, ist wohl nicht zweifelhaft.«

Erich hatte das elektrische Licht angeknipst und saß in dem hochlehnigen Stuhl, der mit seltsam geschnitztem Wappen den Rücken drückte, dem Sanitätsrat gegenüber.

»Ich glaube selbst, daß ich heute abend als Verlobter ins ›Roß‹ zurückkehre. Aber in die Freude mischt sich mir ein eigenartiges Gefühl. Ich bin . . . ich habe . . . wie soll ich es sagen? Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und habe, ohne die Blödigkeiten der Nachtlokale und die Vergnügungen der Nepper und Geneppten mitzumachen, nicht wie ein Einsiedler gelebt.«

Der Sanitätsrat nickte. »Sie haben kleine Freundinnen gehabt . . .«

»Eine.«

»Eine – ist schlimm. Denn das saß fest.«

»Ja. Es war ein nettes Kerlchen. Ich verdank' ihr viel Fröhlichkeit, der Änne – Anne hieß sie eigentlich, und der Nachname war noch gräßlicher. Sie verstand sich zu kleiden und zu benehmen – zu interessieren sogar für manches, was mich bewegte – Gott, alles war vielleicht ein bißchen Tünche und saß nicht eben sehr fest. Aber für mich war's doch aufgetragen. Sie wußte ja, daß das nie ernst wird. Man heiratet ja nicht das – vielleicht erziehbare – Mädel allein. Man heiratet die Verwandtschaft mit in solchen Fällen, Leute mit kleinem Gesichtskreis, ohne Kinderstube . . . Ich hab' nichts versprochen, verstehen Sie, sie hat nichts verlangt. – Wir haben lachend von unsrer »Scheidung« gesprochen . . . Und da sie wirklich kam, zu kommen drohte – vorigen Herbst, als ich von Heringsdorf kam, das Bild der andern im Herzen, der . . . es klingt so dumm, es zu sagen, der Ebenbürtigen, der Frau aus der gleichen Kaste – sogar noch ein Kästchen höher, um korrekt zu sein . . . Es war kein angenehmer Abschied. Ein Geschenk scheint einem schmutzig – je größer es ist. Und man gibt, und sie nimmt doch. Und das Schlußsouperchen, das man sich oft lachend ausgemalt hat, ist anders; ganz ohne Galgenhumor und plumper, wie ein Bauernbegräbnis. Man will und muß mit seinen Hoffnungen los – und hängt noch mit seinen Erinnerungen fest – Sie verstehen?«

»Ganz gut.«

»Ja und dann – nun bin ich hier. Nun hab' ich die stolze, schöne Frau – dieses elegante, fertige Weib wiedergesehen – ganz Dame, ganz Welt – und da meldet sich leicht, wie eine ärgerliche Sentimentalität, wie eine unbezahlte Rechnung, das Abenteuer, das nie was andres sein sollte als eben ein Abenteuer. Können Sie sich vorstellen – heute morgen, als ich meinen Besuch machte auf dem Gutshof . . .«

»Gutshof? Ach – es ist die Herrin vom Eugenienhof?«

»Ja.«

Erich sah den Sanitätsrat nicht an. Sonst wäre ihm vielleicht nicht entgangen, daß es dem wie eine Wolke über die Stirn zog und in den Augen eine seltsame Nachdenklichkeit das eben noch so vergnügte Blitzen löschte. Bergemann, der eine alte Zuneigung hatte für das Flußtal und das Städtchen, in dem vor vielen Jahren seiner Mutter Schwester ein hübsches Häuschen mit Garten besaß und den Jungen oft in den Ferien beherbergte, hatte sich eine starke Vorliebe für das Städtchen bewahrt. Er benutzte oft und gern einmal die Gelegenheit, es wieder aufzusuchen und, durch die Gassen schlendernd, Bubenerinnerungen wieder aufzufrischen. So kannte er einigermaßen die leicht überschaubaren Verhältnisse hier. Wußte auch, wie schlecht Eugeniens phantastischer Vater gewirtschaftet hatte; kannte die Geschichte ihrer kurzen, unglücklichen und brüsk beendeten Ehe. Hatte sie selbst einmal, noch in Halbtrauer um ihren vor Monaten verstorbenen Vater, mit ein paar jungen Offizieren der benachbarten Garnison und mit ihrer Gesellschafterin auf der Terrasse der Alten Bastion eine Pfirsichbowle trinken sehen, bei der alles in den Grenzen des Anstandes, aber doch ein bißchen laut und ungeniert für Ort und Umgebung zuging. Er dachte an die Braut, die sich einst Erichs Vater aus dem preußischen Professorenhaus geholt; sah Klara Winternitz wieder vor sich, das blonde Köpfchen schlicht gescheitelt, die feingeschwungenen Lippen ein wenig geöffnet und die braunen Augen so klar, so rein, so mädchenhaft aufgeschlagen, als wollten sie alle Fröhlichkeit der Welt in sich hineintrinken . . . Ob sich Frau Klara Eckart, wenn ihr Fräulein Berta heute nacht weiter vorlas in den Liebesbriefen aus neun Jahrhunderten, die Braut ihres Sohnes so vorstellte, wie er sie flüchtig auf der »Alten Schanze« zwischen lachenden, prostenden Reitern gesehen? Wie sie war?

»Sehen Sie, Herr Sanitätsrat, die alte Liebe, die nie eine Ehe werden sollte, nie könnte, stört mir jetzt noch ein bißchen die heiße Freude an dem, was ich heute abend ersehne und erwarte. Sie begreifen das.«

»Ja und nein. Ich begreif's, weil Sie mir's sagen. Aber in der berühmtesten Liebestragödie der Welt, die aller Liebesleute Brevier ist seit drei Jahrhunderten, liest man's anders. Da geht der junge Romeo heimlich, von Benvolio geleitet, auf das Fest der Capulets – warum? Benvolio sagt's etwa so: ›Auf diesem hergebrachten Gastgebet – Der Capulets speist deine Rosalinde – Mit allen Schönen, die Verona preist. – Geh hin, vergleich mit unbefangnem Auge – Die andern, die du sehen sollst, mit ihr!‹ Und er vergleicht; sieht Julie als weiße Taub' in einer Krähenschar – und vergißt die andere für immer . . .«

»Ach ja, Herr Sanitätsrat – bloß: das sanfte Flüßchen da unten ist nicht die reißende Etsch, Büssigheim ist kein Verona. Und – so verliebt ich sein kann, war und bin – ich bin kein Romeo.«

»Die Rolle, die einer im Leben zu spielen hat, kennt er oft selbst nicht. Erst wenn er angeschminkt und verkleidet ist . . . Aber da kommt, wie aufs Stichwort, Ihr Frack – Gott sei Dank, das zeigt mir, daß Sie, auch wenn ich Sie nicht besucht und aufgehalten hätte, noch nicht da drüben sein könnten. Sehen Sie nur hinüber – es ist schon alles dort erleuchtet – man erwartet Sie. Gewiß mit Ungeduld. Leben Sie recht wohl und« – mit einem diskreten Blick nach dem Kellner, der den aufgebügelten Frack mit einer Sorgfalt über die Stuhllehne hing, als stelle er den Mantel des Propheten den Augen der Gläubigen aus – »und Sie wissen, was ich Ihnen wünsche, von Herzen wünsche. Für heut – und immer.«

»Vielen Dank. Sehe ich Sie nicht nachher, Herr Sanitätsrat?«

»Kaum. Ich habe mir für acht Uhr mein Abendbrot bestellt. Und will nicht zu spät zu Bett gehen – man weiß ja auch hier nicht recht, was man anfangen soll. Der Tag ist voller Gnaden, aber der Abend ist zum Sterben langweilig hier. Wenn man nicht, wie Sie . . . Und morgen geht um sieben Uhr früh schon mein Zug nach Basel und über den Gotthard.«

»Gute, fröhliche Fahrt, Herr Sanitätsrat!«

»Ich dank' Ihnen.«

»Und wenn Sie wieder den Fuß auf deutschen Boden gesetzt, dürfen wir nicht hoffen, Sie einmal in Berlin zu sehen?«

»Wir?«

»Die Mutter, ich – und vielleicht noch wer.«

»Ich bin lange nicht dagewesen.«

»Ich weiß. Ein Grund mehr. Und meine alte Dame würde sich gewiß so sehr freuen.«

»Würde sie – die alte Dame . . .?« Einen Moment ruhten die Blicke des Sanitätsrats in blauer, strahlender Güte in Erichs Augen. »Sie sehen Ihrem Vater sehr, sehr ähnlich. Auch Ihre Stimme erinnert an ihn. Meine Jugend, meine schönste Zeit grüßt mich in Ihnen. Ich bin froh, Ihnen begegnet zu sein.«

Ein Händedruck, und er ging. Der Kellner ließ ihn mit tiefem Bückling vorbei und schloß hinter beiden die Tür.

Eine Turmuhr schlug irgendwoher halb.

Halb acht! Es war hohe Zeit, sich umzukleiden. Er legte mit der Pedanterie, die ihm bei der Toilette eigen, Wäsche und Kleider zurecht. Dann wusch er sich und sang dazu nach alter Gewohnheit leise vor sich hin. Warum es gerade die Arie des Eleazar aus der »Jüdin« sein mußte, war ihm selbst nicht klar. Aber er summte: »Recha, als Go–o–ott dich einst zur To–ochter mi–ir ge–geben . . .« Und dachte dabei: Ob ich den Ring gleich mitnehme? Den Rubinring? Es sieht am Ende so vorbereitet aus. Nun, es ist doch auch vorbereitet! Unvorbereitet wär's doch nur eine Dummheit. Und sie ahnt oder weiß doch auch schon. In ihrem Brief war doch bereits so eine leicht andeutende Wendung. Wo ist eigentlich der Brief . . .? Ach ja, in der Brieftasche hier – wo er hingehört. – »Zur To–ochter mi–ir ge–ge–ben . . .« Blaue Tinte – Riesenbuchstaben . . . Was forciert Energisches, was Primadonnenhaftes drin . . . »Ach, wir ar–men Pri–ma–donnen . . .« Woher ist jetzt das wieder? Richtig: aus dem »Armen Jonathan«. Als er ein Kind war, hat er ihn mal gesehen. Irrtümlich. Es sollte eigentlich »Don Carlos« sein, und der Posa war heiser. Don Carlos – ach, ja – o Königin, das Leben ist doch . . . Er will doch lieber den Rubinring mitnehmen. Ein herrliches Feuer hat er bei Abend – blutrot – wie gefrorener Rotwein. Feuer von gefrorenem Rotwein – blöd! Und dieser ovale Schnitt wirkt in dem schmalen mattgoldenen Reif einfach wundervoll. Marquisenform. Ob, sie könnte ganz gut eine Marquise sein! Auch nach der großen blauen Schrift. Bloß nicht die Haare pudern – die schönen, aschblonden Haare, die . . . Wo sind jetzt die Perlenknöpfchen fürs Hemd? Doch nicht am Ende vergessen –? Aber nein, Friedrich hat gepackt; Friedrich vergißt nichts. Diesmal schon gar nicht. Er hat so listig geschmunzelt über den ganzen Kugelkopf, als er, die blaue Dienermütze ziehend, am Bahnhof stand: »Gute Reise und angenehme Heimkehr!« . . . Er wollte der Mutter den Friedrich ausspannen für den jungen Haushalt. Das heißt, wo wurde der eigentlich etabliert? Die Aussichten für die Konsulatskarriere waren ja gut. Der Dezernent im Auswärtigen Amt hatte es ihm selbst gesagt. Ein netter Mann übrigens, der . . . bloß . . . Wo war denn jetzt der andere Lackstiefel . . . Wie kam der auf den Kamin? Ulkig überhaupt so Kamine. Gut, daß das Ding nicht mehr zu heizen brauchte. Links wird man gebraten – rechts setzt man Eiskruste an – oder umgekehrt. Jetzt alles unnötig – »Der Mai ist gekom–men – die . . .« Eugenie war ein schöner Name, ein wunderhübscher Name. Und wie er paßt! Lilli hätte auch gepaßt – klingt aber so dumm . . . Das Gurgelwasser ist doch wieder ein bißchen ausgelaufen! »Ich hör' ein Bächlein ra–u–uschen . . .« Hübsch sind diese Volkslieder. Ob sie singt? Sicher. Sie hat so einen Mund dafür – und, richtig, ein Flügel steht ja im grünen Salon. Und dann sitzt die Postdirektorswitwe dabei und schmilzt vor Bewunderung. Diese ewige Bewunderung ist überhaupt ein bißchen lästig. Donnerwetter, was geschieht eigentlich mit der Postdirektorswitwe, wenn . . . Natürlich bindet sich der Schlips wieder schlecht! Was sich die Männer in ihrer Mode für ein Kreuz – Teufel, der Daumennagel knickt an dem verdammten Kragenknopf ab. Immer vom Eisenbahnfahren werden die Nägel so spröde. Aber wenn er wieder Eisenbahn fährt – lange fährt – nach dem Süden, dann . . . dann ist's die Hochzeitsreise. »Wenn du fein fro–omm bist – will ich dich le–ehren . . .« Reizend hat das der Mozart gemacht, überhaupt der Mozart! Da kann der Strauß nicht ran. »Ich weiß ein Mi–i–ittel, das alles heilt.« Als Berufskonsul kann man schließlich auch nach Bolivia kommen oder nach Ecuador. Ecuador – Anne hatte das mal für einen Pudding gehalten, als er's bei Kempinsky gesprächsweise erwähnte, und hatte gesagt: »Kellner, bringen Sie mir schon auch so einen Ecuador!« Und dann war sie ganz bös und zornig gewesen, weil er gelacht hatte. Und weil er den Sächsisch sprechenden Rechtsanwalt am Nebentisch nicht ohrfeigen wollte, der auch gelacht hatte. Aber sonst war Anne schließlich . . . Anne war . . . Anne! . . . Teufel, Teufel, in der Brusttasche war ja noch ihr Bild – bei Wertheim gemacht – sechs Stück eine Mark . . . Er konnte doch nicht gut mit dem Bild auf der Brust zu Eugenie . . . Gott, später könnt' er ja mal von Anne reden. Das wollt' er sogar. Eugenie war schließlich auch verheiratet gewesen vorher. Aber heute mit dem Bild nach Eugenienhof fahren – den Rubinring in der Tasche – nein, das ging nicht! Das war dumm – das war schlimmer: unschick. Wenn's auch niemand wußte. Also – das Bild mußte zerrissen werden. Schade – aber . . . Sie, die Anne, würde es ja später auch so machen mit seinem Bild – als Leutnant der Reserve. Beim Train. Das war nun mal so, wenn man nicht adlig war und bei den Gardedragonern sein Jahr diente. Der Train ist übrigens heutzutage für den Krieg notwendiger als die Gardereiterei. Man kann das bloß nicht jedem klarmachen. Und dann . . . Aber Ännes Bild mußte er doch zerreißen. Nicht mit Geschmacklosigkeiten eine Ehe anfangen. Bloß nicht! Reinen Tisch . . . Also – ritsch – ratsch – Schade, der Riß geht gerade durch die Nase. Durch Ännes keckes, fideles Stumpfnäschen. Er hat es so gern mit spitzen Lippen geküßt. Ganz vorn auf die Spitze, die immer so nett kalt war . . . Noch ein Riß quer durch – durchs Kinn tief in die Bluse. Sie war aus dem Libertyhaus und kostete . . . Und jetzt ins Feuer. Brennt ja keins! Aber doch in dem Kamin. »Adieu, Änne!«

Schon völlig angekleidet bis auf den Frack, der noch steif und würdig hinten überm Stuhl hängt, beugt sich Erich nieder zu der Feueröffnung des Kamins und will die Fetzen von Ännes Bildchen hineinwerfen.

Er stutzt. Da liegt schon mehr. Zerrissenes graues Leinenpapier. Er kennt die Bogen und die großen Schriftzüge. Das ist denn doch . . .

Er hat doch hier noch keinen Brief Eugeniens zerrissen? Oder hat er?

Ist er denn verrückt? Das sind doch – er hebt ein paar Fetzen auf – ihre Bogen, ihre Schriftzüge . . . Und da ist auch ein Kuvert. Das ist nicht zerrissen, nur zerknäult, wie von hastiger, ärgerlicher Hand.

»Hochwohlgeboren Herrn Rittmeister von Öltzendorff. Durch Boten. Eilt.«

Das ist doch seltsam! Der Rittmeister . . . Ja, ja, hat hier gewohnt. Bis gestern. Der geschwätzige Wirt hat's ja erzählt. Hat Pferde kaufen wollen – Apfelschimmel, war's nicht so? Hat dort verkehrt. Also eine Einladung . . .

Ein bißchen lang für eine Einladung – auf beiden Seiten beschrieben . . . Zwei, drei Bogen müssen's schon gewesen sein nach den Schnitzeln.

Er hebt die Papierfetzen behutsam heraus. Ein paar sind stark angekohlt.

Sie sollten verbrannt werden, aber das Feuer ging nicht recht ran. Ja, so Kamine, nicht mal zum Verbrennen von alten Briefen sind sie recht zu brauchen!

Mechanisch, ohne sich selbst genaue Rechenschaft zu geben, setzt er zusammen. Das ist eine Ecke – gehört dahin – das ist aus der Mitte – hier fehlt ein Stück. Da auch – aber hier ist wieder ein passendes Ende – anders rum – so –

Er ist bemüht, sich einzureden, daß das eine lustige Arbeit sei; aber sie ist nicht sehr lustig. Und er singt auch nichts mehr. Wie ein Geduldspiel, das Eile hat, gelöst zu werden, betreibt er's. Und plötzlich zittern seine Finger ein bißchen. Denn mitten auf einem der Fetzen liest er ein Wort, ein Wörtchen, ein knappes, einziges: »Du . . .«

Genug! Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und zieht den schweren Stuhl des Abtes heran an den Tisch. Es muß sich trotz der Lücken und Brandspuren – etwas herauslesen lassen. Und er liest:

»Max! Es muß . . . Ende sein. Daß . . . heiraten geht ja doch nicht . . . Du hast nichts, ich . . . verschuldet . . . Spekulation und Versuche des Vaters und meines . . . Das Schönste haben wir . . . Freiheit gegeben . . . vergessen werden wir uns nicht. Aber Du . . . für mich Deinen bunten Rock ausziehen . . . nicht die Person, für eine Liebe zu hungern. Morgen . . . mein kleiner Assessor aus Heringsdorf. Er . . . ein liebes Dutzendkerlchen . . . verliebt . . . genau erkundigt bei Schimmelpfeng in Berlin . . . Vater war Chemiker, hat . . . Brandsalbe erfunden . . . geworden . . . Liebling und einziger Sohn der Mutter – also. Ob er . . . zieht später und Landwirt . . . auch bloß aus den Schulden losgeeist und zur Frau Assessor . . . egal. Raus muß ich aus dem Druck . . . auch immer gewußt, daß es . . . vernünftig, Max . . . die schönen Tage von Aranjuez-Lido-Venedig im März . . . unvergeßlich . . . Und wer weiß, vielleicht . . . und zu ein Plätzchen frei für einen alten . . .«

Eine kleine Weile sah Erich da wie sein eignes Standbild. Aber der Künstler dieses Standbildes hatte keinen sehr intelligenten Moment gewählt.

Dann stand er langsam auf, schob mit dem Handrücken die Papierfetzen zusammen, legte den Brief, den Eugenie ihm selbst geschrieben, dazu und alles in eine Nummer der Kölnischen Zeitung, die bei seiner Reiselektüre lag. Dann verbrannte er's sorgsam in dem Kamin. Alles.

Seltsam, er dachte über den Fall, als ob ein Fremder darin die Hauptrolle spielte: Leichtsinnig sind die Kavalleristen; das sind sie, weiß Gott! Aber leichtsinniger noch sind die Assessoren, die heiraten wollen, was sie nicht kennen, nachdem sie verlassen haben, was sie kannten. So dachte er.

Er schloß den großen Koffer auf und legte den Rubinring ganz unten hin und deckte ihn mit sechs Paar buntseidenen Socken zu. Und legte Unterkleider darüber und Krawatten. Dann zog er sich langsam die weiße Weste und die Frackhose wieder aus und schlüpfte in seinen blauen Sakkoanzug.

Am wackligen Schreibtisch schrieb er an Eugenie ein paar höflich-kühle Zeilen. Dringende Geschäfte – mochte sie sich darunter bei einem Assessor mit acht Wochen Urlaub denken, was sie wollte – hielten ihn im Hotel zurück. Er bedaure, so spät absagen zu müssen, erbitte Vergebung und sage ihr hiermit Lebewohl, da er morgen abreise.

Dann riß er ein Formular von dem Telegraphenblock und schrieb darauf: »Klara Eckart, Berlin W, Fasanenstraße 215. Kannst Buch zuklappen und ruhig schlafen. Mache Dummheit nicht. Aber andre. Fahre morgen mit Vaters altem Freund Bergemann um Europa. Brief erbitte Barcelona an Bord der ›Astarte‹. Mehr von unterwegs. Gute Nacht, Mutter. Erich.«

Er klingelte dem Kellner. »Brief und Depesche sofort besorgen, bitte. Und – hören Sie doch! Ist der Herr Sanitätsrat Bergemann schon im Speisesaal?«

»Es wird eben für ihn gedeckt.«

»Gut. Legen Sie an seinem Tisch noch ein Gedeck auf und sagen Sie ihm, wenn er gestatte, äße ich mit ihm zu Nacht. Ich komme gleich hinunter.«

Und während er mit ruhigen Fingern die Handtasche schloß und ein paar Kleinigkeiten im Zimmer ordnete, als ob nichts geschehen wäre, sprach Erich mit sich selbst:

»Sokrates hätte in dem Fall gesagt: ›Mein Daimonion hat mich noch rechtzeitig an diesen Kamin geführt. Allerdings – gerade in Liebesangelegenheiten scheint das Daimonion manchmal zu versagen. Selbst bei den Sokratessen. Denn die Dame Xanthippe hatte zwar gewiß keinen athenischen Rittmeister an der Hinterhand; aber was man so einen ›Fund‹ nennt, war sie gerade auch nicht.«

Mit dieser Betrachtung über eine unglückliche Ehe im alten Athen knipste Erich das Licht im Abtzimmer ab und stieg die Treppe hinunter. An zwei spündeldürren Engländerinnen vorbei, die hier in der Nähe von Büssigheim die berühmte Ruine malten, die noch älter war als sie.

»Was denn – Sie?« Der Sanitätsrat, der gerade Platz genommen und das zweite Kuvert an seinem Tisch mißtrauisch betrachtet hatte, empfing Erich mit einer Mischung von Staunen und Freude.

»Ja, ich, verehrter Herr Sanitätsrat.«

»Sie sind nicht . . .?«

»Nein. Ich bin nicht. Und gehe auch nicht.«

»Ja aber, wie kommt denn das?«

»Ich hatte nämlich nach Ihrem lieben Besuch noch einen andern. Mein Daimonion gab mir die Ehre.«

»Ihr – was?«

»Mein Daimonion. Und riet mir: nicht nach Eugenienhof heute abend!«

»Aber morgen . . .«

»Nein. Morgen – riet das Daimonion – morgen früh mit dem Freund deines alten Herrn, der ihm damals in den Frack geholfen, nach Genua.«

Der Sanitätsrat strich mit der feinen Greisenhand den weißen Spitzbart und lächelte ein glückliches Lächeln vor sich hin: »Ich weiß nicht, ob Sie an gewisse Einflüsse in die Ferne glauben, junger Freund, an Gedankenübertragungen und . . .«

»Aber gewiß.«

»Nun – ich habe vorhin, als ich von Ihnen gegangen war, eine Weile da unten auf dem Platz gestanden und zu Ihrem erleuchteten Eckfenster hinaufgeschaut. Und ich glaube, ich hab' mir gedacht – und gewünscht: Wenn doch der junge Mensch mit mir aufs Meer gehen möchte, anstatt . . .«

»Was befehlen die Herren zu trinken?« Der Roßwirt selbst bemühte sich händereibend um die Gäste.

Der Sanitätsrat setzte einen Zwicker auf. »Abstinent sind wir beide nicht – was? Also schlagen Sie vor. Alles Gute soll mir heute recht sein!«

Mit einem sanften Zwang nahm Erich dem Sanitätsrat die in gepreßtes Leder gebundene Weinkarte aus der Hand und klappte sie mit einem listigen Lächeln zu.

»Türkenblut, Herr Wirt. Ich denke, es ist heute so ein Abend, Türkenblut zu trinken!«

 


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