Rudolf Presber
Der Rubin der Herzogin
Rudolf Presber

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel.

»Du muß dich etwas beeilen, Selma!« mahnte Scupinsky. Er stand, schon im hellen Flanellanzug mit rindsledernen Reitgamaschen, vor dem Spiegel in der Luxuskabine, kam sich sehr ritterlich vor und färbte seinen Spitzbart ein bißchen nach.

»Wenn du schwitzest, fließt dir wieder die Schokoladesauce ums Kinn«, rügte Selma, die in zwei Koffern alles mögliche durcheinander warf, um eine in Granada gekaufte Mantilla zu finden, die sie auf dem Eselritt durch die marokkanische Stadt malerisch um die Fülle ihres Oberkörpers zu drapieren dachte. »Wann kommen wir eigentlich nach Tanger?«

»In 'ner halben Stunde werden wir ausgebootet. Der Lotse ist längst an Bord. Wir können nicht anlegen wegen der Mittagbrandung, die hier besonders heftig ist.«

»Blöd mit den ewigen Brandungen! Überhaupt diese Seefahrten! Worin da schon das Vergnügen besteht? Hüte kann man keine tragen, weil sie einem der Wind kaputt fegt. Das Seewasser spritzt die Farben aus den Stoffen. Die Kleider in den Koffern werden verdrückt; und es lohnt kaum, sich zum Diner umzuziehen.«

»Schließlich fahren wir ja nicht zum Vergnügen zur See.« Scupinskys Stimme war ärgerlich, als er das sagte. »Deine Künste, holde Kirke, scheinen aber diesmal zu versagen. Der Überraschungstrick wird bis Amsterdam im Kasten bleiben müssen.«

»Wie deine gezinkten Karten.«

»Schrei nicht so!«

»Ich schrei' nicht.«

»Doch, du schreist.«

»Und wenn ich schon schrei' – wer soll uns denn hier hören?«

»Mindestens Fritzchen. Der dumme Bengel spielt stets im Gang zwischen den Luxuskabinen. Wenn ich den mal vertobaken könnte, ohne daß er mich erkennt!«

»Pah. Fritzchen! Wer soll uns sonst hören? Du schließt ja die Fenster und die Läden am hellichten Tage, daß man fast erstickt auf dem Meer! Und da hast du mich noch aus dem festen Engagement gelockt mit der ›gesunden Luft‹. Also – deine Bartwichse hätt' ich auch am Lande riechen können! Und sehen tut man bei den paar elektrischen Lampen auch nichts! Und übrigens, wenn diese blonde Pute nicht an Bord wäre, in deren falsche Haare diese Narren alle verschossen sind . . .«

»Sie sind nicht falsch«, warf Scupinsky kühl ein.

»Ha – du weißt's wieder. Du!« Selma drehte höhnisch lachend ihre Brennschere über der Spiritusflamme. Sie neigte dazu, an Geschlechtsgenossinnen zunächst mal alle Vorzüge für unecht zu halten: bis das Gegenteil erwiesen war. »Willst du mir den unbesiegbaren Don Juan vormimen? Mir! Willst mir etwa erzählen, daß du die schöne Tilly im Negligé gesehen hast? Daß die blonde Venus dich, den ungarischen Adonis . . .«

»Gar nichts will ich dir erzählen. Aber du weißt so gut wie ich, daß wir sie zusammen . . . in Barcelona nach dem Stierkampf, als sie ohnmächtig war . . .«

»Pscht –!«

»Aha! Na also – da faßte ich hilfreich unter ihren dummen Kopf, dahin, wo, wie ich wußte, der blonde Schildplattkamm saß mit den kleinen echten Brillanten drin . . .«

»Saß? Du, der sitzt heut noch drin!« höhnte Selma.

»Weil die Haare eben echt sind – nicht, wie du immer wieder behauptet hast, falsch.«

»Ich bin natürlich wieder schuld – natürlich: ich! Ich bin vielleicht auch daran schuld, daß sich der dürre Mücke, dieser Patentochse, nicht erschießt? Mußte er doch, nicht wahr? Prompt. Weil er die schwarze Kugel gezogen hat – die eine schwarze – und die andre, Edler von Scupinsky, war doch auch schwarz!«

»Schrei nicht so!«

»Ich sprech' so laut, wie ich will, Ganz Edler von Scupinsky. Ich hab das verflixte Geflüster satt! Ich bin schon ganz heiser von dem ewigen Flüstern.«

»So ein Blödsinn! Vom Schreien wird man heiser, aber doch nicht vom Flüstern!«

»Du vielleicht. Ich werde vom Flüstern heiser!« Wenn das der Wahrheit entsprach, lief Scupinsky eben durchaus nicht Gefahr, heiser zu werden.

»Also ich verbiete dir, so viehisch zu brüllen . . . Ich verbiete . . .« Scupinsky, krebsrot vor Ärger und mit geschwollenen Stirnadern, hatte Selma mit einem eisernen Griff am Handgelenk gefaßt.

Selmas Augen funkelten grün. Mit einer knapp drehenden Bewegung der rechten freien Hand führte sie die erhitzte Brennschere so ruhig, als geschähe die holde Neckerei mit einem Kaffeelöffelchen, auf Scupinskys schwarzbehaarten Handrücken. Ein kurzes Aufzischen der verbrannten Haut.

»Donnerwetter – verflucht! – Du verbrennst mich ja!«

»Was du nicht sagst!« Die Schere lag schon wieder an den Stirnlöckchen. »Was machst du dir auch so unnütz an meinem Handgelenk zu schaffen!«

»Du bist eine Kanaille!«

»Sehr glaubhaft. Was solltest du aber, Hochgeborener, mit einer anfangen, mein Lieber, die das nicht ist? Und die Hauptsache bleibt: ich kann's gut verbergen. Hätte ich ihm nicht so sanfte Augen gemacht, wäre dieser Pilsener-Bier-Philister mit den andern heute früh nach Gibraltar hinübergefahren, um sich den kahlen Affenfelsen anzusehen und die englischen Strandkanonen und den maurischen Turm, und von den Galerien hinüberzuglotzen nach Algeciras. So aber hat er in der Schwemme festgesessen beim faden Pilsener: hat mit mir gefußelt – ich spüre seine gräßlichen schweren Wichsstiefel noch, den halben Knöchel hat er mir kaputt getreten – und du hast ihm derweil im harmlosen Sechsundsechzig fünf blaue Lappen abgenommen.«

»Vier. Das erste glatte Geschäft auf der ganzen Reise. Aber damit hat's auch geschnappt. Denn der Idiot hat's sofort überall herumerzählt.«

»Der wird's bei sich behalten!«

»Der Kapitän hat mich beiseite genommen und höflich gebeten, nicht so hoch zu spielen. Es solle eine Vergnügungsreise sein für alle, keine Verlustreise. Hinter dem scherzhaften Ton lauerte aber so etwas wie eine Drohung. Ich hab' feine Ohren für solche Sachen.«

»Hast du?!« höhnte Selma.

»Ja. Und dieser elende Mücke macht spitze Anspielungen, das hört' ich auch . . . In Granada im Gesandtensaal hat der Kerl doch von ›Irrtümern‹ gesprochen – von ›Täuschungen‹, denen man sich in Einschätzung seiner Umgebung zuweilen hingibt, und die dann von blitzartigen Erkenntnissen zerstört werden.«

»So 'n Quatsch!« Das Wienertum Selmas changierte im Alleinsein mit Scupinsky rasch und seltsam. »Was hat er hier auf dem Schiff schon ›blitzartig erkennen‹ können, der Lackstiefelprinz, der Krawattenfatzke, wenn er da unten an der Riviera nichts blitzartig gemerkt hat? Du wirst nervös, mein Lieber. Alterserscheinungen – was? Auch deine Finger sind nicht mehr so sicher. Bloß noch lang. Du mischst schon schlecht, wenn du mit einem ausgesuchten Blödian à la Zwingenberg spielst, der vom vielen Pilsener den Gehirndrall hat. Da wird bei größeren Unternehmungen nicht viel herausschauen.«

»Daraus soll ich wohl die Drohung hören, daß du spätestens in Amsterdam . . .?«

»Hör' was du willst mit deinen feinen Ohren. Aber möglich – spätestens . . .«

»Ach – du bildest dir wohl ein – dieser Nußknacker, der Zwingenberg . . .«

»Onkel Scupinsky!« ertönte Fritzchens Stimme von draußen, und gleichzeitig bearbeitete der Absatz eines Kinderstiefels energisch die verschlossene Kabinentür.

»Da hör mal – ›Onkel‹ nennt er mich schon, dieser miserable Bengel! Könnt' ihm so passen – keinen Vater und zwei Dutzend reiche Onkels!« Scupinsky zog wütend die Enden seines violetten Selbstbinders zusammen, als wolle er sich erwürgen.

»Wenn er so viel echte und so nette Onkels hat wie dich, kann er lachen.« Selma befestigte einen koketten florentinischen Strohhut mit einer langen Nadel auf ihrem Kopf, als sie diese Überzeugung äußerte; und sie genoß dabei im Schrankspiegel das Bild, wie Scupinsky sich ärgerte.

Scupinsky haßte den Jungen, der überall herumkroch und herumspionierte, um dann, wie aus der Pistole geschossen, immer die unangenehmsten Dinge zu sagen und zu fragen. Aber er hatte Gründe, es mit diesem zudringlichen Sprößling seiner Nachbarin von der Luxuskabine nicht zu verderben. Er steckte sogar beim Diner Mandeln und Schokoladenplätzchen für ihn ein und schenkte ihm Münzen, die nichts wert waren, und gestempelte Briefmarken von seinen ungarischen und italienischen Drucksachen.

»Onkel Scupinsky!« Der Absatz polterte wieder an die Korridortür. »Ihr sollt kommen, läßt Herr Hobsen euch sagen. Wir fahren nun an Land zu den Negern.«

Diesen Irrtum, daß Marokko ganz von Negern bevölkert sei, ließ sich Fritzchen nicht nehmen. Als ihm Grabusch gestern über die Hautfarbe der Einwohner Marokkos einige der Wahrheit entsprechende Mitteilungen gemacht, hatte er plötzlich losgebrüllt, so daß der verblüffte Amtsgerichtsrat in den Verdacht kam, er hätte in einer sadistischen Regung den lieben Jungen mißhandelt. Es war nicht abzusehen, wie Fritzchen sich benehmen würde, wenn er nun wirkliche Marokkaner, die nicht ganz schwarz waren, in Tanger zu sehen bekam.

Selma hatte sich lächelnd und hingebungsvoll in Scupinsky eingehakt, als sie – das Bild eines in Liebe einigen Paares auf der Vergnügungsreise – an der Schiffstreppe erschienen. Scupinsky zog mit ermunterndem Scherzwort an der freien Hand Fritzchen hinter sich her, der den schwierigen Versuch machte, dem Onkel Scupinsky beim Nachzotteln hinten auf die gelben Stiefel zu treten. Es war ein sehr liebes und rührendes Schauspiel für alle, die nicht wußten, daß dieser in väterlicher Nachsicht lächelnde Scupinsky soeben Selma mehrfach und mit dem Nachdruck der Überzeugung eine »Kanaille« genannt und den dringenden Wunsch ausgesprochen hatte, das liebe Fritzchen mal im Dunkeln nach Herzenslust zu vertobaken.

Die meisten Passagiere drängten sich noch an der Treppe zusammen, wie Schafe vor dem Gewitter, und spähten hinüber nach der im Sonnenglanz des Mittags weiß und fremdartig im Halbrund aufsteigenden Stadt.

»Als ob das alles aus schlechtem Zucker wäre!« sagte Kloppenbusch.

Herr von Öltzendorff hatte wiederum die vom breitrandigen Panama beschattete Schwester am Arm. Er rief über die Köpfe der andern hinüber zu Hobsen, der, wichtig die Uhr in der Hand, mit dem Kapitän die Stunde der Rückkehr besprach: »Hallo, Mister Hobsen, was werden Sie uns zeigen?«

Hobsen, ohne sich umzuwenden, rief zurück zur Orientierung für alle: »Unser Programm ist das folgende: Am Bab el Marsa erwarten uns die Esel.«

»Wer erwartet uns?« fragte Viktoria, die beim Schwanken ihres Bades etwas Wasser ins Ohr bekommen halte.

»Die Esel.«

»Wir besuchen dann den kleinen Socco, großen Socco, Kasbah, Gefängnis, Bab el Dakhl, Plaza grande, Garten der deutschen Gesandtschaft und das Kap Spartel.«

»Aha!« nickte Herr von Öltzendorff, der keine Ahnung hatte, was eigentlich der »kleine Socco« oder was die »Kasbah« war.

»Na, die Esel werden's schon wissen, wie ich auf den großen Sacco komme und auf den Kaspar«, meinte Kloppenbusch und schickte sich an, vorsichtig die steile Treppe hinunterzusteigen in das mutwillig schaukelnde Boot.

»Zuerst bitte die Damen!« rief der Kapitän. Er stand ordnend, überschauend oben an der Treppe. Schon in Zivil, denn er wollte den Ritt durch Tanger mitmachen, ein weiches, breitrandiges Filzhütchen verwegen auf dem Kopf und in seinem ungewohnten, hellbraunen Sakko nicht ganz so gut und forsch aussehend wie in seiner blauen Uniform.

»Sagen S', bitt' schön, Mister Hobsen –« in Schwammerl war der Reitergeist seiner Dienstzeit bei den Trani-Ulanen erwacht –, »bitt' schön, wär's nicht möglich, daß ich, anstatt so einen dummen Esel, einen echten Araber reiten möcht'?«

»Die Esel im Orient sind nicht so dumm wie bei uns«, belehrte ihn der Kapitän, während er galant Tilly Schuch auf die ersten Stufen der knarrend in den Eisenketten schwankenden Treppe half.

»Mag schon sein, Herr Kapitän. Aber für einen alten Kavalleristen ist halt doch ein Esel ein Esel.«

Kloppenbusch war kein Kavallerist; aber er dachte, daß das für ihn nicht anders sei. War aber sehr zufrieden, daß ihn ein Grautier und kein feuriger Araber erwartete.

»Wir woll'n schließlich auf dem Socco doch keine Kostümquadrille reiten, sondern uns Tanger anschauen«, meinte Reubke etwas ärgerlich. Denn ihn peinigte der Gedanke, daß Schwammerl in seiner nachlässigen wienerischen Schlankheit auf einem arabischen Vollblüter eine ganz gute Figur machen würde; was auch Tilly Schuch kaum entgehen konnte. »Und schließlich wollen wir doch auch ein bißchen Afrika photographieren, nicht wahr? Das kann man doch auf keinem arabischen Renner.«

Hierbei verschwieg er, daß er persönlich auf einem arabischen Renner auch andere Dinge nicht konnte. Zum Beispiel: reiten.

Im Hinabsteigen sagte Mücke gönnerhaft zu den Herren: »Im Gewühl der Straßen da drüben vorsichtig sein mit Börsen und Juwelen, mit Uhren – Ringen und so!«

Erich war es, als ob der blasse Jüngling ihn dabei mit etwas zugekniffenen Augen spöttisch fixierte, wie er das schon am Morgen auf dem Weg über die Felsgalerien Gibraltars mehrfach getan hatte. Aber da gerade, von hinten geschoben, die junonische Frau Tiegs mit einem »Pardon!« seinen Arm nahm, beachtete er Mücke nicht weiter und führte, galant von Stufe zu Stufe vorgehend, die Dame die schwankende Treppe hinab.

Das breite Boot, in dem sechs Matrosen unter Aufsicht des dritten Offiziers mit Rudern und Tauen hantierten, tanzte höchst verwegen auf der Mittagbrandung. Bald schien es tief unter dem Treppenrand für immer in einem Wellental verschwinden zu wollen, bald wurde es vom anbrandenden Wasser so dicht an das Geländer getragen, als ob es unbedingt da oben kleben bleiben sollte.

Geschoben, gehoben, gehalten, geschubst, jetzt mit den Beinen in der Luft schwebend, jetzt wieder mitgenommen von dem ins Wellental zurückgehenden Bootboden, waren die Passagiere schließlich glücklich untergebracht. Eng wie die Salzheringe verstaut, aber heilfroh, nicht in das unruhige Wasser gefallen zu sein.

Gesprochen wurde wenig während der Fahrt von der offenen Reede nach dem Landungsplatz am Hafentor. Und die Gedanken der in der breiten Nußschale in kurzen heftigen Stößen über die kleinen weißen Wellenberge Hingetragenen waren recht verschieden.

Wenn ich da drüben keinen echten Araber zwischen die Schenkel kriege, dachte Schwammerl, so geh ich schon lieber zu Fuß. Meine alten Regimentskameraden möchten ja lachen, wenn sie erfahren, daß der Josef Schwammerl auf einem Esel wie das Christkind . . . und erfahren tun sie's sicher; denn was sie schon bei uns alles schwatzen in den Cafés und bei der Menge von Kodaks, die wir mithaben . . .

Hobsen dachte, daß er froh wäre, wenn er alle wieder glücklich auf dem Schiff hätte. Daß ihn Elisabeth Hunneberg ohne viel Komplimente ersucht hatte, Fritzchen mit vorn auf seinen Reitesel zu setzen, während die ihm sympathische Agnes Hennerich auf dem Schiff Handschuhe mit Benzin reinigen sollte, machte ihm das marokkanische Abenteuer nicht genußreicher. Er beschloß, das Programm zu kürzen und der Kavalkade nur den Marktplatz, das Villenviertel, die Kasbah, das Gefängnis und die Judenstadt zu zeigen. Fritzchen aber unter dem Vorwand des väterlichen Festhaltens kräftig in die Weichteile zu kneifen, wenn der liebe Junge nicht aufhörte, dumme Fragen zu stellen.

Reubke dachte, daß er – für den Fall, daß Schwammerl sich wirklich in so imponierender Weise beritten machen sollte – nicht mitkonkurrieren, sondern Mückes leise vorhin geäußertem Vorschlage nähertreten wollte. Diese verwegene Proposition aber ging dahin, sich unvermerkt von der Gesellschaft zu trennen und mit einem eigenen Dragoman rasch mal jene arabischen Caféhäuser aufzusuchen, in denen der echte Bauchtanz exekutiert wurde, von dem man zuweilen in europäischen Tingeltangels bescheidene, von der Polizei streng zensierte Imitationen sah. Die durchaus nicht schüchternen Aufnahmen, die Reubke von dieser echt orientalischen Veranstaltung zu nehmen gedachte, würden sicherlich in verschwiegenen Freundeskreisen Aufsehen machen und seinen Ruhm als Reisenden und Schwerenöter an Stammtischen und in Rauchzimmern ins Unmeßbare steigern.

Tilly Schuch dachte, daß sie, um in dieser tanzenden Nußschale ja nicht wieder seekrank zu werden, immerzu nach der klassischen Nase der gegenübersitzenden Frau Tiegs schauen wollte und beileibe nicht auf die Wellen, die ihr leider vorkamen wie wahnsinnig gewordenes Fleischgelee. Und auch nicht nach den in der Mittagssonne leuchtenden blendend weißen Häusern von Tanger, die sie enggereiht angrinsten wie gefletschte Zähne.

Viktoria von Öltzendorff dachte, daß der Riesenkasten mit den zwei Panzertürmen, der dort links, unbewegt wie eingerammt, über dem schaukelnden Hafengewässer ragte, ein englisches Kriegsschiff sei; und daß es einen zuzeiten wie ein heller Blödsinn anmute, wenn man von Berlin nach England wollte, die Route über ein schlechtes Hotel in Genua, die blutige Arena von Barcelona und die beunruhigte Reede von Tanger zu wählen.

Zwingenberg dachte, daß er nun – da ihm dieser üble Scupinsky vierhundert Mark im Kartenspiel abgenommen – sich in Tanger erst vorsichtig nach den Bierpreisen erkundigen wollte, ehe er ein echtes Pilsener bestellte. Das kostete gewiß in diesen käseweißen Spelunken so viel wie französischer Sekt in Deutschland. Eis würden sie wohl auch keines haben und bloß Flaschen. Und das nach dem Pfropfen schmeckende würden sie nicht zurücknehmen. Der Teufel mochte wissen, wie der Pfropfen auf arabisch hieß. Vielleicht gab es »Einheimisches«, von dem er sich allerdings keinen rechten Genuß versprach.

Kloppenbusch dachte, daß wenn er, was Gott verhüten möge, eine Hochzeitsreise zu machen hätte – wie dort das Ehepaar Häfele, das mit verschlungenen Händen und geschlossenen Augen dasaß, als erwarte es die Mitteilung seiner bevorstehenden Hinrichtung –, just die Stadt Tanger kaum das Vergnügen haben würde, seine Eheliebste in der Blüte ihres Glückes zu begrüßen. Dann fiel ihm ein, daß der Hafen hier »bloß« einige dreißig Meter tief sein solle, daß er persönlich aber nur ein Meter fünfundsechzig groß war; was für den Fall des Umkippens dieses Bootes, womit er stark rechnete, ein peinliches Mißverhältnis zu seinen Ungunsten ergab.

Scupinsky dachte, daß er eine seiner blödesten Stunden gehabt haben müsse, als er Selma an der Singspielhalle zu Nizza, für die sie schon engagiert war, kontraktbrüchig werden ließ und mitnahm auf diese Seereise, bei der ihm noch keiner der Kavaliere den erwünschten Anlaß gegeben hatte, als erzürnter Ehemann eine Buße für seine verletzte oder schwer gefährdete »Gattenehre« zu fordern. Und daß er weder Mücke veranlassen konnte, seinen Tod zu beschleunigen, noch Selma, auszusteigen, verbitterte ihm die kleine Freude an dem leichten Gewinn der vierhundert Mark und an dem Bewußtsein, daß den Rubinring der Herzogin niemand im doppelten Boden seines in der Kabinenecke stehenden Zylinders vermuten oder gar finden werde.

Erich empfand das starke Schaukeln des Bootes wie ein angenehmes Wiegen, das seine verwirrten und verirrten Gedanken und Gefühle beruhigte. Was ging ihn eigentlich diese ganze dumme Geschichte mit dem Brief Hildes an? Wer war denn Hilde? Eine Stewardeß, eine frühere Krankenschwester – was auch in vielen Fällen nur ein besseres Dienstmädchen bedeutet, oder –? Pfui, er schämte sich dieses Gedankenganges. Hilde hätte, ein bißchen modisch zurechtgemacht, hier überall zwischen diesen Passagieren sitzen können, die ihr Glück, ihr Geld, ihre gesellschaftliche Stellung um Europas Westspitze auf eine Luxusjacht führte. Sie hätte mit ihrem feinen, ein bißchen blassen Gesichtchen und den schönen langbewimperten Augen darin, mit ihren knospenden Formen und ihren leichten, sicheren Bewegungen zehnmal lebensfrischer ausgesehen als Frau Tiegs, deren steinerne Noblesse eine nach dem Museumskatalog brüllende Langeweile war; und hundertmal vornehmer als diese krähende Signora di Venticinque, deren stupsnäsiges Soubrettengesicht sich ausnahm wie eine billige Friseurreklame zur Karnevalszeit in Berlin NO. Aber der Brief . . . Und die verworrene, Reue stammelnde Rede von dem Gift . . . er konnte sich nicht getäuscht haben – sie hatte »Gift« gesagt – es gab ja auch gar kein deutsches Wort, das ähnlich zum Verwechseln klang . . . Und dann wieder heute morgen, als er, aus dem Kabinengang heraustretend, die hübsche Kleine fand, wie sie, frisch wie der Morgen selbst, Hänschen ein gespartes Stückchen Zucker mit spitzen Fingern zwischen die Stäbe des Bauers steckte und sich von Peterle lachend die krumme Pfote geben ließ . . .

»Aussteigen, vorsichtig aussteigen!« mahnte der Offizier, der schon auf die Balken der Landungsbrücke gesprungen war.

Und der Kapitän, der die ganze Fahrt über ärgerlich seinen ungewohnten Hut festgehalten hatte, sprang jetzt leicht wie ein Gummiball zuerst an Land und rief: »Erst die Damen! . . . Geben Sie mir beide Hände – sooo!«

Alle stiegen aus, als Letzter Adam Balzer, der abgesägte kleine Kapellmeister, von dem eigentlich keiner bemerkt hatte, daß er mitgefahren war, da er, schmal und bescheiden, hinter den rudernden Matrosen gesessen, und der jetzt gleich, schüchtern den Hut ziehend, sich in der Menge verlor, um auf eigne Gefahr für das Honorar des Kapitäns sich sein Teil Afrika anzusehen.

Ein bunter, zudringlicher Haufe umschwirrte und umschwatzte die etwas steif von der Überfahrt ans Land Gestiegenen.

Bunte Burnusse, aus denen braune, gelbe, schwarze Köpfe wie aus Säcken wuchsen. Schmutzige Turbane wie Riesenwülste über verschmitzten, dunklen Augen. Das weiße Wolfgebiß eines herkulischen Negers, der immer dasselbe unverständliche Wort schrie. Das feine, schlaue Lächeln eines gebückten Juden über dem glänzend schwarzen Kaftan. Unbewegt, wie weißumwickelte Bronzefiguren, um die Lippen ein verächtliches Lächeln für diese vorwärts geschobene Europäerherde, ein paar hochstämmige Kabylen bei den alten rostigen Kanonen am Hafentor . . . Und jetzt vor ihnen das Gewühl bei Hauptstraße. Nickende weiße Esel mit hochbepackten geflochtenen Körben. Schreiende Wasserverkäufer, den rindsledernen Schlauch über der tiefhängenden Schulter, mit den Kupferbechern klappernd. Bis zu den unruhig flackernden Augen weißverhüllte Weiber, eine braune, grellberingte Hand, wie eine Agraffe im Schleier unter dem Kinn, auf dottergelben Pantöffelchen vorbeihuschend. Ein gemästeter Neger, in den ebenholzschwarzen Backen die Narben des Familienzeichens wie schlecht geheilte Mensurschmisse. Und ein Geruch über allem von Zichorie, Fett, Staub, Schweiß. Häuten, Wolle.

Da in den Säcken mußte Kaffee liegen und dort in den verschnürten Packen Tabak. Und trotz der niederbrennenden weißen Sonne die Steine glitschig von verschütteten Flüssigkeiten, zertretenen Früchten und gequetschten Gemüseblättern.

»Hier sind die Esel – hier!« schrie Hobsen, einen in wüstem Sprachengemisch mit ein paar marokkanischen Treibern, meist jungen Kerlen, deren tiefbraune Brust offen lag, geführten Zank unterbrechend.

Jeder suchte sich nun, von arabischem Geschrei beraten, von hilfreichen Händen in alle möglichen Körpergegenden gegriffen und geboxt, ein Reittier aus. Kräftige, gutgehaltene Esel waren's, die ihre Stadt kannten und ihre winkligen, gebirgigen Gassen, an denen steil, glatt und weiß die Häuser aufsteigen, als müßten sie da oben den blauen Himmel tragen. Diese Gassen, in deren beklemmender Enge kein Wagen fahren kann und in denen ein ewiges Geschrei und Gelärm brandet, von dem man nicht weiß, wer es verursacht und wozu es gemacht wird.

In langem Zug, Esel hinter Esel, bewegte sich die Gesellschaft durch die von tausend Gerüchen erfüllten Sträßchen.

Nur Frau Tiegs und Zwingenberg hatten Maultiere erwischt. Die üppige Bankdirektorsgattin bildete durch ihren höheren Sitz ein imposantes Mittelstück für die wunderliche Karawane. Sie schien die Königin, die hier geleitet wurde; und sie war schweigsam, wie die Majestät sein soll. Zwingenberg aber machte trübe Erfahrungen mit seinem stolz eroberten Reittier, indem dieses die unbezwingliche Neigung bezeigte, in verschiedene Haustore einzukehren, an denen die andern längst vorüber waren. Auch schlug es hier und da plötzlich nach hinten aus und warf gleichzeitig den Kopf zurück.

Kloppenbusch hatte nur noch einen unansehnlichen Esel mit Damensattel gefunden. Er hockte tief in der roten Lehne wie in einem geräumigen Kinderstuhl. Die Angst peinigte ihn, daß der Leibgurt seines Reittiers reißen und er nach hinten fallen könnte.

»Tief fällt man ja nicht, aber dreckig«, sagte er aus diesem Gedankengang heraus und fügte seufzend hinzu: »Das ist nu mal so: wären die Esel verlost worden, hätt' ist sicherlich den besten gewonnen, den dort der lange Öltzendorff reitet. Aber das weiß ich im voraus: wenn keine Lotterie gemacht wird, saus' ich allemal rein.«

»Wo ist denn Schwammerl?« fragte Reubke den hinter ihm sein phlegmatisches Grautier mit seinem Spazierstock bearbeitenden Mücke.

»Er ist zurückgeblieben. Verhandelt am Hafentor mit einem Kabylen, der aussieht wie ein Straßenräuber. Will partout auf einem feurigen Araber durch Tanger reiten.«

Bergemann ritt auf seinem schäbigen, aber ganz munteren und zum Trab geneigten Tier bei einer Straßenkreuzung an dem Ehepaar Häfele vorbei, das mit seinen, von dicken, unangenehm summenden Mücken belästigten Eseln viel Last hatte. Er reihte sich dicht hinter Erich wieder ein.

»Sie sind verstimmt, lieber Erich?«

»Vielleicht ein wenig.« Und unbekümmert darum, daß es der vor ihm reitende Mücke wohl hören konnte und auf sich beziehen mußte, fügte er scharf akzentuierend hinzu: »Es ist da ein Herrchen in der Gesellschaft, das scheint's das warme Klima nicht vertragen kann. Es hat, wie Hamlet, ›zu viel Sonne‹. Anders wüßte ich mir gewisse kleine Belästigungen in Blick und Wort nicht zu deuten, mit denen der taktvolle Mann mich seit gestern beehrt. Ich werde noch ein Weilchen zusehen und dann . . .«

»Das ist der Markt!« schrie Hobsen an der Spitze, seinen Esel durch ein Tor lenkend, wozu er Fritzchen, der unruhig und ewig quängelnd vor ihm im Sattel hing, stark in den Hinterbacken kniff. Und das Gequietsch des Jungen übertönend, wiederholte er, sich in den Steigbügeln aufrichtend, überlaut: »Der – Markt!«

Die Erklärung war ziemlich überflüssig. Denn dieses Gewühl von Feilschenden, Schreienden, Herumlungernden zwischen Hühnern, Eiern, Datteln, Tauben, Warenballen, Maiskolben auf dem unebenen großen Platz hätte auch ohne Hobsens gütige Erklärung gewiß niemand für eine Sonntagsschule oder für einen botanischen Garten gehalten.

»Das weiße Tempelchen in der Mitte ist das Heiligtum des Marktheiligen, des Siri Makhi.« Hobsen gebärdete sich wie ein Ausrufer und wiederholte den Kniff in Fritzchens Kehrseite.

Elisabeth Hunneberg, der Grabuschs Esel mit weitgeöffneten Nüstern in den Nacken prustete, begriff nicht, warum der liebe Junge so heftig aufschrie, als das Heiligtum des ihr ziemlich gleichgültigen Siri Makhi genannt wurde. Die Enttäuschung darüber, daß nur ein Bruchteil der Bevölkerung hier ganz schwarz war, ergab doch keinen zureichenden Grund zu dem Gebrüll. Aber schließlich: hier brüllte alles.

Kloppenbusch aber erklärte, daß er sich der gehörten Deutung des runden Häuschens freue, da er diese merkwürdige Gebäulichkeit sonst für etwas ganz andres, er wolle nicht sagen was, gehalten habe: obschon ihn gewisse Einblicke in wunderlich ungenierte Straßengewohnheiten dieser marokkanischen Herrschaften doch wieder den gedachten Zweck des Häuschens hätten anzweifeln lassen.

Mücke überlegte. Er hatte Erichs leise drohende Worte ganz gut gehört. Der falsche Assessor ahnte offenbar noch nicht, daß er erkannt und wie nah ihm das Verderben war. Hier in Tanger aber schien es ein Unsinn, den Hochstapler zu stellen und zu entlarven. Der Gauner hatte hier Möglichkeiten, zu entkommen. Und die große Aktion wäre im Gewühl dieser steilen Gassen verpufft. Die große Szene, die Mücke vorbereitete, verlangte die Schiffskulissen.

So trieb er sein Tier dicht an Reubke heran, der mit einem baumlangen Araber geräuschvoll um eine grobbestickte rote Ledertasche handelte, ohne daß einer den andern verstand oder ausreden ließ.

»Ich habe mich schon mit meinem Eseljungen verständigt, Herr von Reubke,« sagte Mücke, indem er den Kauflustigen mit dem blanken Goldknopf seines Lordmayorstockes an der Schulter berührte, so leise es der Lärm erlaubte, »der Bursche – Hassan heißt er natürlich – spricht gottlob ein paar Brocken Französisch. Er hat mir gesagt –«

Hassan stand schon dabei, ein halbnackter, sehniger kleiner Kerl mit verschmitzt-lustigen Augen, von denen das eine heller war als das andere, und einem etwas kürzeren Bein, das seinem Gang etwas mephistophelisch Hüpfendes gab. Er hatte schon verstanden, daß von ihm die Rede war, und all seine Kenntnisse und sein schönstes Französisch zusammenraffend, eiferte er: »oui, messieh – oui – moi – vous – Café – avec – danse – comme ça . . . oui, belles femmes – oui – danse – comme ça . . .«

Und sein schmieriges Oberkleid, an dem nicht mehr viel zu verderben war, mit rücksichtslosem Griff bis unter den Nabel einreißend, begann er, breitbeinig zwischen den beiden Eseln stehend, mit vorgestrecktem Bauch, zurückgenommenen Schultern und die Ellbogen hochziehend, die wunderlich schlotternden und wabbelnden Bewegungen der Bauchmuskulatur nachzuahmen, die von den bescheidenen Orientalen ein Tanz genannt und als solcher mit heißen Augen bestaunt werden.

»Shocking!« sagte Viktoria von Öltzendorff, die ihr eigensinniges Grautier direkt in die Gruppe führte.

Mücke griff den eifrigen Hassan rasch an der Schulter und unterbrach die künstlerische Darstellung, ehe sie von dem Markt, seinen bunten Bildern und wilden Gerüchen befangenen andern Mitreisenden aufgefallen war. Ein paar sanfte Rippenstöße und geflüsterte französische Ermahnungen belehrten den braunen Jüngling, daß es Zeit sei, die Führung zu übernehmen.

Unbemerkt von den andern verließen Kreuzwendedich von Reubke und Arthur Mücke auf sanft trabenden Eseln den an Geräusch und Gerüchen reichen Markt von Tanger. Auf steilen, glitschigen Sträßchen, an Schustern, Garküchen, Moscheen, Fesbüglern und Gewürzkrämern vorbei strebten sie einem jener Häuser zu, in deren verschwiegenen, von schmutzigen Galerien umzogenen Höfen ein duftender Kaffee in kleinen, henkellosen Täßchen gereicht wird und zu einer gräßlich eintönigen Musik alter, stumpfsinniger Neger ein paar feiste Weiber, die hennagefärbten Hände schwingend, den Bauch und seinen Gegenpol in jene lebhaften, zuckenden Schwingungen versetzen, aus denen der berühmte Bauchtanz der Orientalen besteht.

Im letzten Moment, als die Flüchtlinge eben, auf die Hälse ihrer Tiere gebückt, um die Ecke trabten, hatte Tilly Schuch die beiden enteilen sehen. Sie wußte sich nicht zu erklären, wie es kam, daß sie gerade hier in der fremden Stadt, die ihr unappetitlich, wüst und unheimlich erschien, von allen denen sich verlassen sah, die sie bisher so heftig umschwärmt hatten. Schwammerl war aus ihr unbekannten Gründen schon seit der Landung verschwunden. Und jetzt ritten Reubke und Mücke dort sorglos und ohne sich umzusehen davon.

In ihrem Stolze gekränkt, achtete die schöne Blondine kaum der Rede des neben ihr haltenden Kapitäns, der ihr meldete, er habe heute morgen während des Ausflugs der meisten Reisenden nach Gibraltar weiter nach dem Ringe forschen lassen. Leider ohne Erfolg. Aber er gebe die Hoffnung nicht auf und bäte sie, nach der Abfahrt von Tanger ihre Kabine gegen eine bessere zu vertauschen, damit noch einmal gründlich in allen Winkeln und Ritzen geforscht werden könne. Denn er wolle noch immer nicht an einen Diebstahl glauben.

Der Rubin! Auf der Lafette einer Kanone im Botanischen Garten von Gibraltar sitzend, zwischen Rosen und Kakteen – das fiel ihr jetzt wieder ein – hatte Kloppenbusch heute morgen in einer poetischen Anwandlung erzählt, er habe in seiner Jugend ein seltsames Märchen gelesen. In dieser sicher erlogenen Geschichte habe eine Königstochter von unermeßlicher Schönheit am Nil oder wo einen Zauberring verloren, der ihr lieber war als all ihr Schmuck. Und nachdem sie vierzig Nächte oder siebzig – genau wußte das Kloppenbusch nicht mehr – geweint, habe sie den zehn oder zwölf Prinzen, die sie umworben, gesagt: Wer mir den Ring zur Stelle schafft, den, nur den, beglücke ich mit meiner Hand. Und da seien die zwölf Prinzen denn augenblicklich losgezogen . . . Wie das Märchen aber geendet, wußte der Nacherzähler dieser wundervollen Begebenheit nicht zu sagen, da seine ältere Schwester, als sie ganz klein war, die betreffende Seite aus dem Buche gerissen, zerknüllt und in den Mund gesteckt hatte. Aber Kloppenbusch meinte, auch der Anfang sei doch schon sehr schön; und Frau Tilly Schuch könne vielleicht Ähnliches in Erwägung ziehen, wie die Prinzessin am Nil oder wo . . . Darauf war dann Tilly Schuch, sie fühlte das, sehr rot geworden, und Kloppenbusch hatte sich verlegen im Kreise umgesehen. Die Herren Schwammerl, Reubke, Hobsen und Mücke aber hatten sehr verwegen dreingeblickt und Zustimmendes geäußert. Bloß Erich Eckardt, der merkwürdige Assessor, hatte sein Marineglas am Auge gehabt und zu dem Sanitätsrat Bergemann gesagt: sein Glas sei so scharf, daß er dort die Wand am Bootsdeck erkenne, an der des Kapitäns Hänschen in der Sonne hänge. Den Vogel selbst könne er freilich nicht erkennen; aber ihm sei es, als bewege sich dort eine Gestalt. Das werde wohl die Stewardeß sein, die dem Tierchen immer Zucker gebe.

Nun wären ja die Ritter von Gibraltar schon in Tanger in alle Winde, wie Kloppenbusch das nach dem Märchen vorgeschrieben, dachte Tilly Schuch; aber den Rubin konnten sie doch hier in dem Schmutz der marokkanischen Stadt unmöglich suchen . . . Da war ja Elisabeth Hunneberg heut besser dran. Der alte Amtsgerichtsrat blieb dicht an den Gurten ihres Reittiers. Und Tilly überlegte sich gerade im Weiterreiten nach der Kasbah, der verfallenen Burg von Tanger, ob dies nun in der Verliebtheit des alten Herrn seine tiefere Begründung haben möge oder aber in einer rührenden Stallfreundschaft der beiden Esel.

Da geschah etwas sehr Seltsames. Oder eigentlich eine Reihe von seltsamen Begebenheiten jagte sich mit so affenartiger Geschwindigkeit, daß später erst – auf das Schiff zurückgekehrt – die einzelnen, die sie miterlebt, durch Rede und Gegenrede so etwas wie Ordnung und Folgerichtigkeit in das Erlebte und Geschaute brachten. Das Genaueste aber konnte später Viktoria von Öltzendorff aussagen, die mit Hilfe ihres Bruders gerade vom Esel gestiegen war und gegen entsprechenden Backschisch einige interessante Volkstypen und maurische Gruppen photographierte.

Dieses aber waren die alle in Erstaunen sehenden Ereignisse auf dem Markte von Tanger.

Aus einer Sackgasse kam bergab galoppierend, ohne Hut und mit nachfliegenden Bügeln, ein Europäer. Ein fluchender Araber lief auf nackten dürren Beinen hinterher. Der Reiter war Josef Schwammerl, der seinen gemieteten echten Araber, einen hochknochigen, hartmäuligen Schimmel, für die raffinierte Reitkunst der Trani-Ulanen nicht geeignet gefunden. Von einer Bremse nicht weniger als von Schwammerls ungewohnten Sporen beunruhigt, die der Wiener in der Tasche mit vom Schiff gebracht, ließ sich der eigensinnige Gaul aus einem kurzen, werfenden Galopp nicht mehr in friedlichen Trab zurückzwingen. Beim unfreiwilligen Sprung über einen Korb mit Kürbissen hatte Schwammerl den einen Steigbügel verloren; der blutige Hase an der Reklamestange eines Wildbrethändlers hatte ihm unsanft den Hut heruntergeschlagen und die Stirne mit Hasenblut beschmiert; und als der rabiate Schinder einen Märchenerzähler überritt, verlor Schwammerl auch noch den zweiten und letzten Steigbügel. Nun galoppierte der unglückliche Kavallerist, von der schreienden jugendlichen Hörerschar des Märchenerzählers, einem Eierhändler und einigen zerlumpten Tagedieben mit schrecklichem Geschrei und Gejohle verfolgt, ohne Hut und Bügel und ohne jede Ähnlichkeit mit einem Trani-Ulanen die glitschige, hüglige Gasse herunter und mitten hinein in den feierlichen Zug seiner Fahrtgenossen, die er gesucht und durch seinen imposanten Anblick hatte überraschen wollen. Hobsen und Kloppenbusch ritten an der Tete. Hobsen war mit dem Studium des Stadtplans beschäftigt, und Kloppenbusch hatte sich in froher Laune den Turban seines Eselführers aufgestülpt, ohne sich recht darüber klar zu werden, daß diese Kopfbedeckung auf einem recht ungepflegten Schädel schon lange im Gebrauch war. Noch ehe die beiden Herren recht wußten, wer dieser verwegene Reitkünstler war, der an ihnen wie das Ungewitter vorbeisauste, hatte Schwammerl schon die ganze Linie der verblüfften Europäer passiert, einen Wasserträger umgeworfen und nahm seinen wilden Ritt mitten durch die kreischende, fluchende, mit Kohlstrünken nach ihm werfende Menge des Marktes nach dem von Kloppenbusch verkannten, unansehnlichen Heiligtum des Siri Makhi.

Aus unerfindlichen Ursachen aber hatte sich der Esel Anna Häfeles, die gerade friedlich, den vor ihr trabenden Gatten bewundernd, um die Ecke biegen wollte, mit einer Schnelligkeit, die ihm niemand zugetraut hätte, auf der Hinterhand gedreht. Er galoppierte wie irrsinnig und unbekümmert um die seinen Hals schreiend umklammernde Reiterin hinter dem Araber her, dem Heiligtum des Siri Makhi zu.

Hätte auch wohl sein Ziel erreicht, wenn da nicht ein unscheinbarer Europäer im Wege gestanden hätte, der gerade beim Einkauf von zwei Bananen betrogen wurde. Annas rabiater Esel aber hatte keinen Respekt mehr vor Europäern, er riß den Erschreckten, an dem eben erst ein Araber en pleine carrière vorbeigesaust war, rücksichtslos um. Dieser griff fallend in seiner Todesangst nach den herabhängenden Zügeln, wurde zwei, drei Schritte durch faules Obst geschleift und brachte dann allein durch sein Gewicht den Esel zum Stehen.

Als sich aber der unscheinbare Europäer in seinem vom Sturz beschmutzten und in den Nähten zerrissenen Sommerpaletot erhob, war es kein andrer als der Kapellmeister Adam Balzer, der nach dem Stadtplan zu Fuß auf den Markt gefunden und zur Erinnerung für seine Familie einige seltene, in Nordhausen weniger bekannte Früchte hier zu erhandeln gedachte.

Balzer wurde umringt und beglückwünscht. Und obschon ein alter Araber, dem ein Auge und alle Vorderzähne fehlten, sehr lebhaft behauptete, er sei der kühne Bändiger des rabiaten Esels – was kaum stimmen konnte, da er drei Meter davon auf einer Hühnerkiste geschlafen hatte –, wurde Adam Balzer allgemein als Retter Anna Häfeles gefeiert.

In dem unbeschreiblichen Tumult, der nun entstand, verlor Zwingenberg seine mitgeführte Frühstückstasche, Elisabeth Hunneberg einen Halbschuh, Grabusch seinen Zwicker und der Kapitän seine Geduld. Mit Hobsens Hilfe und eines stämmigen Marokkaners, der so etwas wie Polizist sein mußte und mit einem Stock rücksichtslos in den Knäuel der kreischenden Marktleute hieb, gelang es Jürgens endlich, seine Truppe wieder zusammenzutreiben und unter Verzicht auf die übrigen Sehenswürdigkeiten nach dem Hafentor zu steuern. Womit alle sehr zufrieden waren, besonders Kloppenbusch, der in Erfahrung gebracht hatte, daß zwei der nicht genossenen Hauptsehenswürdigkeiten ein Gefängnis und ein arabischer Friedhof seien. Gefängnisse aber interessierten ihn nicht, da sie seiner Meinung nach nur eine Ansammlung nicht immer zuverlässig verwahrter, schlechter Menschen zu bieten hatten; und der arabische Friedhof konnte schließlich nicht reizvoller sein als der Genueser Campo santo, der auch Cimiterio hieß, und den er durch Schicksalsfügung und Unkenntnis der Landessprache an einem Tage zweimal besichtigt hatte.

. . . Das Diner an Bord stand ganz unter dem Eindruck der Erlebnisse auf dem Markte von Tanger.

Die Anker waren schon gelichtet, die Fahrt nach Kadiz, das am andern Morgen in der Frühe erreicht werden sollte, hatte begonnen. Der Kapitän erschien nicht bei Tisch.

Elisabeth Hunneberg schilderte beredt die Ängste, die sie ausgestanden, als sie plötzlich Fritzchen, den lieben Jungen, nicht mehr vorn auf Hobsens Sattel sah. Worauf Viktoria von Öltzendorff kühl bemerkte, daß es auch ihr lieber gewesen, wenn Fritzchen auf Hobsens Esel seßhaft geblieben wäre; denn dann wäre er nun nicht auf den Platten, die sie Beppo Marlettino vorhin zum Entwickeln gegeben hatte und auf denen der Junge sicher die rein marokkanisch gedachten Gruppenbilder durch seinen europäischen Lausbubeneinschlag störte.

Reubke hatte an Tillys eisiger Art, mit der sie ihm die Tomatensauce zu der Pièce de bœuf braisée à la Châtelaine weitergab, bemerkt, daß er in Ungnade gefallen war. Er war etwas ermattet von dem fleißigen Photographieren in dem merkwürdigen Hause in Tanger. Auch litt er unter der angstvollen Vorstellung, man müsse es sehen, daß ihn eine der Tänzerinnen – sie hieß Fatme und war von einer unaussprechbaren Oase – ins Ohrläppchen gebissen. Auch zu allem Unglück noch in das rechte, das Frau Tilly Schuch zugekehrt war.

Diese aber beachtete ihn nicht mehr, als ob eine Porzellanpagode neben ihr sitze. Sie unterhielt sich eifrig mit Bergemann und Erich, den sie auch durch eine in Tanger gekaufte etwas welke Blume von ihrer Brust mit bezauberndem Lächeln auszeichnete.

Durch die Gespräche bei Tisch erfuhr Kreuzwendedich von Reubke erst, daß es auf dem Markte beinahe ein Malheur gegeben hatte. Es war ihm nicht ganz unlieb, zu erfahren, daß gerade Schwammerl an der raschen Beendigung der Entdeckung der marokkanischen Hauptstadt die Schuld trug.

»Wenn man nicht reiten kann, soll man zu Fuß gehen«, sagte Herr von Öltzendorff scharf, indem er zum Ärger Viktorias, die nach ihm bedient wurde, das letzte Bruststück von der Poularde nahm.

»I kann au net reite,« gestand Otto Häfele treuherzig, »aber i weiß net, es ischt ganz gut gange.«

»Sie haben ja an Ihrer Frau Gemahlin gesehen, daß es auch anders gehen kann als ganz gut«, bemerkte Grabusch.

Das Annale errötete. Denn sie wurde den beschämenden Gedanken nicht los, daß bei ihrem wilden Ritt allerlei an ihrer Toilette nicht in Ordnung gewesen sei, und daß sich den Gaffern von Tanger manches enthüllt habe, was in Cannstatt noch kein Mensch gesehen.

»Es ist ein Unterschied, ob man im Gelände bei Wien einen Tattersallgaul reitet oder einen Vollblutaraber in den Straßen von Tanger«, entschied Öltzendorff und bediente sich reichlich mit Kompott.

Schwammerl am Nebentisch, für den schließlich alle diese Bemerkungen bestimmt waren, saß, vom Hasenblut gereinigt, sehr klein und still vor seinem unergiebigen Hühnerknochen, auf den er in begreiflicher Zerstreutheit einen Berg von Senf gehäuft hatte. Er selbst hatte sich einen Vollblutaraber anders gedacht und die Straßen von Tanger auch. Er wußte heute abend überhaupt nur das eine: daß der Ritt nicht die fünfundzwanzig Franken wert war, die er gekostet, und daß es für die nächste Zeit keinen fanatischeren Fußgänger geben würde als Josef Schwammerl aus Wien. Immerhin tröstete ihn in seinen wehmütigen und beschämten Betrachtungen eins: Tilly Schuch hatte vorhin auf der Treppe sehr teilnahmsvoll gefragt, wie ihm der Sturz in die Rübenkiste – mit der sein Abenteuer am merkwürdigen Heiligtum des Siri Makhi geendet hatte – bekommen sei. Er wußte nicht, daß Reubke und Mücke eine wissenschaftliche Privatexkursion ins Innerste der Stadt unternommen hatten, und daß er somit der verlassenen Witwe, die den für sie schmeichelhaften Zweck seiner verwegenen Reitkünste wohl ahnte, immer noch als der Getreueste ihrer Gefolgschaft erschien.

Mücke aber verstand von all dem gar nichts, da er, etwas ermattet, als letzter aufs Schiff gekommen war und – aus Reinlichkeitsbedürfnis nach den gründlichen Erforschungen der orientalischen Tanzkunst – vor dem Diner noch rasch ein warmes Bad genommen hatte.

»Es ist schön, zu denken,« sagte Tilly Schuch und fuhr über ihr blondes Haar, das heute abend so herrlich golden glitzerte, als habe es von der Sonne von Tanger neue Kraft in sich gesogen, »schön, zu denken, daß es noch wahre Ritterlichkeit in der Welt gibt.«

»Haben Sie das je bezweifelt?« fragte Herr von Öltzendorff nicht ohne Schärfe, indem er sich, um seine Verdauung besorgt, ein zweites Töpfchen Gelee neben den Rehrücken auf seinen Teller stellte. Und es lag in seiner Frage eine härtere Zurechtweisung für eine Dame, die das Glück hatte, nun schon mehrere Tage mit einem aus dem Geschlechte von Öltzendorff zu reisen und noch an der wahren Ritterlichkeit zweifeln konnte.

»Ich meine,« erläuterte Tilly Schuch, indem sie an Reubkes Nasenspitze vorbei träumerisch ins Leere sah, »ich meine, die Ritterlichkeit in schlichtem Gewande überrascht uns Frauen doch immer – nimmt uns ein . . . erobert uns.«

Zum Teufel, dachte Kreuzwendedich von Reubke, wer ist denn da von wem erobert worden? Und wer hat ein schlichtes Gewand angehabt, während ich Esel fette Araberinnen, die mit dem Bauche wackelten, photographieren mußte? Und er warf Mücke, der mit offenem Mund herüberhorchte, einen hilflos fragenden Blick zu.

Aber der Gent zuckte nur die mageren Achseln und machte ein Gesicht, als hätte die ganze Tischgesellschaft plötzlich angefangen, Chinesisch zu sprechen.

Frau Tiegs, die bisher von dem Vorrecht der Statuen, nicht zu reden, einen reichlichen Gebrauch gemacht hatte, öffnete jetzt zu aller Erstaunen den schönen Mund, in den sie bis jetzt nur Céleri à la Demi-Glace geschoben, zu einer gemessenen Frage:

»Und was haben Sie eigentlich empfunden, Frau Häfele, als der Herr sie rettete?«

Es war merkwürdig, wie Frau Tiegs an Hoheit verlor, ja wie schlankweg dumm sie aussah, sobald sie das majestätische Schweigen brach. Das lag zum Teil daran, daß das wenige, was sie redete, auch nicht gescheit war.

Reubke und Mücke wechselten wieder einen erstaunten Blick über die Tische. Es war nicht mißzuverstehen: jemand war »gerettet« worden. Anna Häfele war gerettet worden. Wovor? Wieso? Von wem?

Anna Häfele war nicht gern angeredet. Außer von Otto. Weil sie das zu Antworten zwang, deren Formulierung ihr nicht leicht fiel. Sie war in der Schule, die sie vor zwei Jahren verlassen, im deutschen Aufsatz nie so gut gewesen wie im Singen und im Handarbeiten.

»Ja – also erst hab' i denkt, es ischt der Otto . . . aber dann war i doch froh, daß es e anderer war – weil er so unte g'lege ischt im Dreck . . .«

Diese treuherzige Offenheit der Frau Anna Häfele fand ungeteilten Beifall; obschon sich eigentlich in dieser ihrer Auffassung mehr ehrliche Fürsorge für den geliebten Gatten, als opferbereite Erkenntlichkeit für den kühnen Lebensretter aussprach. Daran war aber nur die Ausdrucksweise, nicht die Gesinnung der Frau Anna Häfele schuld. Denn in der Kabine hatte sie lang und breit mit dem liebevoll um sie besorgten Ehemann, der durchaus annahm, daß sie etwas gebrochen haben müsse, über die an den Tag zu legende Dankbarkeit gesprochen. Die Art der Rettungsaktion war Kreuzwendedich noch immer nicht klar, so sehr er sich auch geistig anstrengte, um hinter dies Geheimnis zu kommen. Aber schlimmer war, daß er nicht ahnte, wer eigentlich hier als der von allen bewunderte Held ohne Furcht und Tadel in Betracht komme. Er ließ suchend die Blicke schweifen. Einer von den Ungarn? Kaum. Die hielten sich ganz für sich, man sah sie nur bei den Mahlzeiten, bei denen nichts zu retten war. Grabusch? Der sah etwas verändert aus, da er statt des verlorenen Zwickers eine goldene Brille trug, aber durchaus nicht wie ein gefeierter Held. Erich? Der unterhielt sich so harmlos kühl mit Bergemann, daß er schon ein unglaublicher Poseur hätte sein müssen, wenn eben hier von ihm und seinem Ruhm die Rede war. Der Kapitän? Er war nicht anwesend . . . Das war allerdings immer so, wenn das Schiff aus dem Hafen fuhr . . . aber diesmal? Vielleicht blieb er fern, um sich Dankesovationen zu entziehen . . .? Vielleicht . . .

Da hörte man Hobsens Stimme: »Ja, meine Herrschaften, wer hätte so viel Mut und Entschlossenheit hinter dem kleinen Kerl gesucht, als er ›Des Negers Traum‹ so gräßlich konfus dirigierte?«

Dirigierte . . .? Wer? . . . »Des Negers Traum« . . .? Einen Augenblick glaubte Kreuzwendedich von Reubke, er sei in der Eile der Rückkehr auf ein Hospitalschiff für Geisteskranke geraten.

»Ja, ja«, nickte Viktoria von Öltzendorff und sah sich unbestimmt im Kreise um. »Der Held dringt kühn voran, der Schwächling bleibt zurück.«

Grabusch sah von seiner Ananasscheibe auf und dachte, daß sie das wohl aus Erfahrung wissen müsse. Es war kein Held so kühn vorangedrungen, daß er sie heiratete, übrigens klang ihm der Ausspruch nach Schiller.

»Man denke,« philosophierte Viktoria von Öltzendorff weiter, »da lebt so ein unbedeutender Mensch in Nordhausen und wächst vielleicht nach unerforschlichem Ratschlusse nur auf, um einmal einer Dame, Tausende von Meilen von seiner Heimat entfernt, das Leben zu retten.«

Elisabeth Hunneberg dachte, daß, wenn Viktoria von Öltzendorff mit dieser Vermutung recht hatte, der unerforschliche Ratschluß eben doch schon erforscht war. Es ärgerte sie ein wenig, daß ein Kollege in der Kunst, wenn auch ein so untergeordneter, der nicht einmal »Des Negers Traum« dirigieren konnte, von dieser hochmütigen Dame gering geschätzt wurde. Deshalb sagte sie: »Musik erzieht zur Güte. Musik ist Edelsinn.«

»Sie werden uns noch die ganze Weisheit des Brahmanen an den Kopf werfen«, raunte Bergemann leise Erich zu, den die Unterhaltung belustigte. Er hörte mit Staunen, wie jetzt Viktoria von Öltzendorff, zum ersten Male herablassend in der Unterhaltung, fast gesprächig, Frau Anna Häfele ermahnte, recht freigebig in der Bemessung ihrer Dankbarkeit zu sein. Der Himmel müsse daraus ersehen, wie hoch sie ihr Dasein und die Freude am Weiterleben einschätze.

Otto Häfele nickte feierlich. im stillen aber überlegte er, daß solche Reise, die an sich nicht billig war, durch gänzlich außerhalb des Programms liegende Lebensrettungen in einer Weise verteuert werden könnten, die den Plan eines anschließenden Aufenthaltes in einem holländischen Seebad illusorisch machen dürften.

. . . Während dieser interessant sich fortspinnenden Debatten über die Esel von Tanger, den Wert des Menschenlebens und die Pflicht der Dankbarkeit, saß der Verursacher all dieses Gedankenaustauschs oben auf dem Bootsdeck bei dem baumlangen Funkentelegraphisten Drüsseler, der gerade aus Langeweile dem Kollegen auf einem Ozeandampfer auf der Höhe von Madeira das Menü des heutigen Diners der »Astarte« zugefunkt hatte. Hier oben hatte der Held des Tages Ruhe vor den Neckereien der Stewards und Matrosen, die von Beppo Marlettino, dem alles wissenden Friseur, das Abenteuer Adam Balzers erfahren hatten, und zwar in einer weit simpleren Fassung als der im Speisesaal kursierenden. Nach dieser Meldung, die vielleicht der Wahrheit näher kam, war der Exdirigent der Schiffskapelle von dem rabiat gewordenen Reitesel der Madame Häfele umgerissen worden, als er eben, beglückt über das Geschäft, zwei faule Bananen um das Achtzehnfache ihres Wertes erstanden hatte. Verzweifelt hatte der Stürzende einen Halt in den Zügeln gesucht und dabei die aus dem Sattel gleitende Anna Häfele an den Beinen zu fassen bekommen.

»Ich habe kein Glück«, sagte der kleine Kapellmeister zu dem Funkentelegraphisten, indem er mit der Bürste Drüsselers seinen arg mitgenommenen Paletot reinigte. »Bleibe ich auf dem Schiff, so stehe ich unnütz herum; und wenn ich an Land gehe, stoßen mich die Esel in den Dreck!«

Adam Balzer konnte, als er betrübt so sprach, nicht hören, daß auf demselben Schiff, zwei Etagen tiefer, soeben Herr von Öltzendorff an das letzte Glas seiner Flasche Grand Vin Château Yquem mit dem Messer klopfte und sich erhebend, von der Schwester durch bewundernde Blicke gestärkt, die Tischgesellschaft also anredete:

»Meine sehr verehrten Damen – ehem – und meine geehrten Herren! Gestatten Sie – gestatten Sie einem alten Militär ein paar Worte. Wir haben heute eine . . . ehem – eine Stadt gesehen. Haben wir. Eine fremde Stadt, ich möchte sagen: eine afrikanische Stadt. Ich glaube – glaube in dem Sinne aller Anwesenden zu sprechen, wenn ich sage – ehem . . . Gott sei Dank, daß wir da nicht wohnen müssen! Afrika – schön; Marokko – gut. Aber –! Die deutsche Sauberkeit fehlt. Da sollten Sie mal zu uns nach Berlin kommen!«

Gibt das 'ne Rede auf die Berliner Straßenreinigung? dachte Erich. Und im Kreise umblickend, erfuhr er, daß auch die andern sich über Ziel und Zweck dieser merkwürdigen Ansprache bis jetzt noch nicht recht klar waren.

»Aber – ehem,« fuhr Herr von Öltzendorff mit Nachdruck fort, »dahin wollte ich gar nicht. Ich wollte vielmehr sagen – meine Damen und Herren, was hat uns heute in all dem Lärm und . . . verzeihen Sie das üble Wort Gestank – so sympathisch berührt? Das Heldentum. Jawohl – ehem ich darf das wohl sagen: es gibt auch im Frieden noch wahre Heldengröße . . . Ein . . . sagen wir: ein einfacher Mann, der – ehem der kein guter Musikant ist – braucht er auch nicht – ich habe auch drei Jahre Klavier gespielt und's zu nischt gebracht . . . bitte, ich wollte sagen: aber ein Mann ist er, nehmt alles nur in allem, wie Don Carlos sagt . . .«

»Hamlet.« Wer da korrigiert hatte, war den steinernen Gesichtern der Lauschenden nicht mehr anzusehen.

»– ehem oder Hamlet – egal, auf dem Theater ist das Wort gefallen. Dieser schlichte Mann – es freut mich, das aussprechen zu dürfen, ist ein Deutscher. Ist er. Er hat einer Dame – wenn auch vielleicht nicht das Leben, so doch die Knochen . . . Pardon – die Gesundheit gerettet. Hat er. Indem er sich selbst . . . ehem – in Gefahr stürzte . . . In ansehnliche Gefahr. Meine Damen und Herren, der Respekt vor der . . . ehem – vor der Tapferkeit, vor der, möcht' ich sagen, selbstlosen Hingabe – Hingebung des wahren Mutes . . . Ein Ahne von mir, der – ehem, wie wir Öltzendorffs alle –, anständigerweise – für seinen König geblutet hat, . . . hat, ehem – nach der Schlacht bei Roßbach einen braven Wachtmeister von seinem Regiment mitten – ehem – auf den Mund – jawohl, auf den Mund geküßt. Hat er.«

Reubke war nun ganz konfus. Er löffelte mechanisch die Kirschen von seiner Ananasscheibe ab und schluckte sie mit den Kernen, während er dachte: Jetzt wird also der alte Öltzendorff gleich vor der Front oder vor der Tischgesellschaft die Anna Häfele auf den Mund küssen. Wird er.

Herr von Öltzendorff hatte sein Glas in der Hand. »Da unser verehrter Genosse – ehem, ich werde wohl nicht mißverstanden, wenn ich das Wort ›Genosse‹ brauche – da, muß ich sagen – unser verehrter Fahrtgenosse, Herr Häfele . . . der vielleicht – ehem – der Nächste zur Sache gewesen wäre, das Glas nicht erhoben hat . . . so scheint es mir – ehem – dem alten Soldaten, der den Mut hochstellt und die Tapferkeit und . . . na ja. Ich wollte sagen – ehem, mir scheint es eine Ehrenpflicht, Sie aufzufordern – meine Damen und Herren, mit mir einzustimmen in den Ruf: der kleine schneidige Kapellmeister Schmalzer . . .«

»Balzer!«

»– oder Balzer – egal. Er lebe – hurra, hurra, hurra!«

»Eljen!« Die Ungarn beteiligten sich so lebhaft am Hoch dieser Rede, die sie nicht verstanden hatten, daß ein Uneingeweihter hätte glauben müssen, hier werde die Wiederkehr von Rákóczys Geburtstag gefeiert oder ein Denkmal für Maurus Jokai enthüllt.

Alle stießen mit ihren Nachbarn an und neigten ihre Gläser dem Redner zu.

Viktoria von Öltzendorff hatte Tränen in den Augen. Sie hatte schon manche Rede ihres Bruders gehört, und der geküßte Wachtmeister von Roßbach war ihr schon öfter bei feierlichen Anlässen begegnet, aber so schön, so adlig, so formvollendet hatte der Bruder doch noch selten gesprochen! Sie war stolz und freute sich, nicht direkt nach England gefahren zu sein.

»Lassen Sie mich bitte, vorbei,« sagte Tilly Schuch zu Kreuzwendedich von Reubke, »ich muß Herrn von Öltzendorff sagen, wie er mir aus dem Herzen gesprochen hat! Ich bin tief ergriffen . . .«

Sie wird doch nicht den Nordhäuser Musikgnomen heiraten, dachte Reubke, indem er wortlos seinen Stuhl drehte. Sein Blick traf Arthur Mücke, der, schon eine brennende Zigarette zwischen den Zähnen, dem Ausgang des Speisesaals zuschritt, lässig, korrekt, interesselos, als habe er nicht eben erst das Triumphlied der männlichsten Tugend, der Tapferkeit, aus berufenem Munde gehört.

. . . Oben aber auf dem Bootsdeck vor der Kabine des Funkentelegraphisten sagte der kleine Kapellmeister: »Ich wollte mich erst für eine Ausreise nach Indien melden. Ich dachte mir – so Palmen und der Ganges und Bajaderen . . . Aber denken Sie bloß, da wäre die Sache am Ende statt mit Eseln mit Elefanten passiert. Ach, du lieber Gott, wie möchte da mein Paletot erst aussehen!«

Der Funkentelegraphist dachte, daß in diesem Fall der kleine Kapellmeister keine Gelegenheit mehr hätte, über das Aussehen seines Paletots nachzudenken, weil seine Rippen und inneren Organe innerhalb dieses Kleidungsstückes jetzt einen Brei bildeten, aus dem nach physischen Gesetzen wohl Gedanken und Gefühle irgendwelcher Art nicht mehr an die Oberfläche steigen.

. . . Der Abend war kühler, als man erwartet. Aber die Sterne standen wunderhell am dunklen Samt des Himmels. Die Damen holten sich Tücher, die Herren zogen ihre Paletots über den Smoking. So wandelte man auf dem Promenadendeck umher, rauchend, plaudernd, die Kaffeeschälchen in der Hand. Und überall hörte man: ». . . Tanger . . . Esel . . . Balzer . . . Tapferkeit . . . Wachtmeister . . .«

Auch Otto und Anna Häfele wollten noch nicht in ihre etwas beengte Kabine hinten auf dem Hauptdeck kriechen. Es roch da so abscheulich nach dem umgefallenen Benzin, mit dem Anna eigentlich ihre Handschuhe hatte reinigen wollen. Die beiden stiegen Arm in Arm nach dem Bootsdeck hinauf und setzten sich, ernst beratend, in den Schatten des hier in den Schwingen hängenden Motorboots. Sie überlegten, wie sie ihre Dankbarkeit gegen Retter und Kapellmeister wohl am besten zum Ausdruck bringen könnten.

»Weischt, Annale,« sagte Otto Häfele nachdenklich, »die andern, die wo's nix angeht, sind halt allemal sehr freigebig mit dem, was sie nix koscht.«

Nachdem er diese allgemeine Wahrheit ausgesprochen, wandte sich Otto Häfele wieder dem Spezialfall zu.

Das Annale hatte seinen Handschuh abgestreift, um festzustellen, wie weit unter der günstigen Einwirkung der vom Doktor Lux verordneten Salbe der Rückgang der Röte auf dem Handrücken schon vorgeschritten sei. Kaum aber hatte sie ihre noch nesselartig gesprenkelten Finger entblößt, da tat sie einen freudigen Aufschrei.

»Ottole – i hab's!« Sie kniff ihn dabei selig ins Bein, so daß seine Freude über ihre Freude zunächst durch körperlichen Schmerz kompensiert wurde. »Weischt, was wir em gäbe?«

»Nein. Der Mister Hobsen hat g'meint: Geld . . . Aber so Amerikaner sind halt nie für das Sinnige.« Otto Häfele aber war, wie seine ganze Familie seit Jahrhunderten, sehr für das Sinnige bei Geschenken, weil es sich meist billiger stellte und viel Spaß machte.

»Ach, was – Geld!« wehrte Annale. »Den Ring schenke wir em. Den Zigeunerring!«

»Den Glücksring –?«

»E schöner Glücksring! Das erschte Mal, wo i en trag, fall i vom Esel!«

»Aber das liegt doch daran, daß du früher nie Esel g'ritte bischt, Annale!«

»Ja, i weiß scho, woran's liegt. Die Zigeunerring bringe ebe bloß de Zigeuner Glück. So hab i auch emal wo g'lese.«

In Otto zuckte der Gedanke auf, daß – wenn sich die Sache so verhielt, wie das Annale mal wo gelesen – schließlich das Präsent des Ringes keine allzu herzliche Gabe genannt werden könne. Aber er schwieg. Das Abenteuer in Tanger sprach wirklich nicht für die Wunderkraft des Ringes, der ja auch gar kein Zigeunerring war. In Nordhausen mochte er weitere Proben seines Zaubers üben.

»Du bischt halt . . . bischt halt . . .« und da Otto Häfele keinen adäquaten Vergleich fand, so sagte er nur beglückt: »du bischt halt – 's Annale!«

Womit er seine Bewunderung für die hohen Geistesgaben und schönen Herzensqualitäten seiner Gattin und zugleich seine Zustimmung zu ihrem vortrefflichen Vorschlag ausdrücken wollte.

In diesem Augenblick kam langsam und feierlich eine schmale, schwarze Gestalt die Reihe der schwebenden Rettungsboote entlang. Die weiße Hemdbrust leuchtete, im Gesicht funkelte ein rundes Glas. Arthur Mücke, der Gent, hatte Schwammerl und Reubke gebeten, sich im Rauchzimmer bereit zu halten und auch den Amtsgerichtsrat mitzubringen, da man vielleicht eines juristischen Beirats bedürfe. Er werde mit einem Herrn kommen und habe eine außerordentliche Überraschung für alle.

Dann hatte er Erich überall vergeblich gesucht. Ein Zimmersteward wußte schließlich, der Herr Assessor habe sich nach seiner Kabine begeben. Aha, dachte Mücke, dem wird's brenzlig! Höflich und die Form wahrend, wollte er ihn zu einer kleinen Aussprache ins Rauchzimmer bitten. Er labte sich schon innerlich an der kühlen, ironischen Art, mit der er ihn zu entlarven dachte. »Mein werter Herr Assessor« – wollte er sagen – »ich darf Sie doch so nennen – mein werter Herr Assessor . . .« Da links mußte doch gleich die Tür zu den Kabinen Erichs und Bergemanns kommen? . . .

Aber da saß jemand. Im Schatten des Motorboots. Zwei. Häfeles.

Mücke wollte leicht grüßend vorüber. Zufällig sah er dabei auf Annales linke Hand, die, zum erstenmal unbehandschuht, auf Ottos rechtem Knie lag.

Was war denn jetzt das! Mücke wurzelte, wie ein Standbild. Das war ja noch einmal der langgeschliffene, blutfunkelnde Rubin – der Ring der Herzogin!

»Pardon . . . Herr . . . Herr Häfele« – Mücke fühlte selbst, daß er stotterte. Die Kiefer klapperten ihm, und es fror ihn über den Haarboden. »Pardon . . . aber Ihre Frau Gemahlin . . . trägt da einen – einen so selten schönen Ring . . .?«

»Er ischt betrunke –« flüsterte Annale, sich schutzsuchend an Otto Häfele schmiegend, der derselben Ansicht war.

Die beiden erhoben sich.

»Der Ring –?« wiederholte Mücke schlotternd.

»Ein Familienstück . . . i hab ihn ihr g'schenkt«, sagte Otto Häfele rasch und ärgerlich, indem er, den Arm Annales fest an sich pressend, den offenbar schwer bezechten Dandy sich selbst überließ.

Eilig entfernten sich die beiden.

Mücke stand da, als sei ihm ein Klotz von beträchtlicher Schwere mitten auf den Kopf gefallen. Ein Irrtum war nicht möglich. Er hatte doch zwei Augen und ein Glas! Das war doch wieder derselbe Ring, den er in Barcelona am Finger Tillys, dann in Granada am Finger Erichs gesehen . . . Damals war's Nacht, wie jetzt. Er hatte getrunken – damals viel, heute wenig. Aber auch der Bauchtanz und all das hatte seine Nerven angestrengt. Sollte er am Ende halluzinieren? Sollte der Gedanke des nahen Todes ihn, den selbstsicheren Gent, dem alles Ablehnen, Wegwerfen, Verachten – auch des Lebens – nur eine Geste sein durfte, verwirren, zerrütten, zu falschen Beobachtungen, Vorstellungen, Folgerungen verführen? . . .

Eines war sicher: er durfte jetzt den Zusammenstoß mit Erich nicht herbeiführen. Ehe er wußte, ob er damals – ob er heute richtig gesehen . . . ob dieser rote Teufelsring einmal – zweimal – dreimal – – wahrhaftig, er hätte sich jetzt nicht gewundert, wenn dort plötzlich hinter dem massigen Schornstein die tote Herzogin selbst hervorgetreten wäre und hätte an ihrer weißen Hand den Ring getragen – noch einmal den Ring – den vierten! . . .

. . . In der Schwemme saßen Reubke, Schwammerl und Grabusch wartend vor ihren Pilsenern.

»Mir scheint,« äußerte Reubke, »die außerordentliche Überraschung Mückes besteht darin, daß er nicht kommt.«

»Dazu braucht er doch keinen juristischen Beirat«, grollte Grabusch.

Hilde Pauly näherte sich rasch, aber bescheiden dem Tisch: »Wollen die Herren nicht vielleicht das Meerleuchten sehen?«

»Wo is a Meerleuchten?« – Schwammerl sprang auf.

»Nu, auf dem Wasser vermutlich.« Grabusch ging mit langen Schritten hinaus.

Hilde trat einen Augenblick zu Reubke, der rasch dem Barsteward sein Bier bezahlte: »Verzeihung, Herr von Reubke, wissen Sie nicht, wo Herr Assessor Eckardt ist?«

»Nein. Warum?«

»Ich hätt' ihm auch gern . . .« Hilde errötete ein wenig, obschon sie durchaus die Wahrheit sprach, »hätt' ihm halt auch gern das Meerleuchten gezeigt. Ich glaub', er interessiert sich für so was.«


Erich sah das Meerleuchten nicht mehr in dieser Nacht.

Er lag schon, ein wenig abgespannt von Gibraltar und Tanger, von Bootfahrt, Eselritt, Schauen und Reden, in seinem schmalen, sauberen Kabinenbett, das ihm nach dem Schmutz Marokkos wie ein Göttergeschenk vorkam. Und er las in Bergemanns Odyssee, die er sich wieder ausgeliehen für den Abend. Er war gerade gekommen bis zum Ende des siebenten Gesanges:

Jetzo gebot Arete mit Lilienarmen den Mägden,
Unter die Halle zu stellen sein Bett, dann unten von Purpur
Prächtige Polster zu legen und Teppiche drüber zu breiten,
Drauf auch zottige Mäntel zur oberen Hülle zu legen.
Und sie enteilten dem Saal, in der Hand die leuchtende Fackel.
Aber nachdem sie gebettet das tüchtige Lager mit Sorgfalt,
Traten sie hin und ermahnten den göttergleichen Odysseus:
»Gehe zur Ruh', o Fremdling; dir ist dein Bette bereitet.«
Also die Mägd'; und ihm war sehr willkommen das Lager.
Also schlummerte dort der herrliche Dulder Odysseus
Unter der tönenden Hall', im schöngebildeten Bette.
Aber Alkinoos ruht' im innern Saal des Palastes;
Auch die Königin schmückte gesellt sein eh'liches Lager.«

Erich knipste, wohlig sich unter den sauberen Linnen dehnend, das Lämpchen aus.

Alkinoos hat's gut, dachte er.

Und schlief schon halb. Und sah immer noch Arete, die mit Lilienarmen den Mägden gebot . . . Und er sprach mit ihr. Ganz homerisch stilisiert. Und sie sagte, sie sei Pflegerin der Kranken gewesen, ehe sie hier im Hause des Alkinoos die Aufsicht über die dienenden Mägde bekam. Und so hübsche lange dunkle Augenwimpern wie sie habe keine der Mägde – er solle nur vergleichen – und die Königin auch nicht.

Und da sah er die Königin scharf an. Sie war groß und blond und hatte sicher einmal früher den »Eugenienhof« bei Büssigheim beherrscht, ehe sie zu Alkinoos als Königin kam, ihm das Lager zu schmücken.

Er gönnte sie dem Alkinoos.

Aber die lilienarmige Arete . . .

Warum galoppierte ihm nun Schwammerl in den schönen Traum! Als Trani-Ulan auf einem arabischen Vollblüter, hinter einem abgezogenen Hasen her, wahrhaftig . . .

Und Arete reichte dem Trani-Ulanen einen goldenen Becher.

»Geben Sie acht, Herr Schwammerl« – sie lachte schalkhaft, und unter den langen, dunklen Augenwimpern zuckte ein schelmischer Blick zu dem friedlich auf schöngebildetem Bette ausgestreckten Gast in des Alkinoos Schlosse – »geben Sie gut acht, ehe Sie trinken, Herr Schwammerl! Der Herr Odysseus dort aus Berlin, der glaubt, es ist Gift drin!«

 


 << zurück weiter >>