Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Rudolf Presber

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Der alte Uhlich war bereits acht Tage in Berlin.

Er hatte sich ausgesprochen mit seinem Sohn. Mehrfach, ruhig und gründlich. Hatte ihm den Zweck seiner Reise erklärt. Ohne große Worte. Bloß die Veranlassung hatte er – um Addo, dessen besorgte Freundschaft jetzt noch von dem seelisch Verwirrten nicht verstanden und richtig gewertet würde, nicht zu verraten – auf hellseherische Träume der Mutter zurückgeführt. Träume, die Veit, der ähnliches mit seiner Mutter in der Kindheit oft erlebt und der jetzt besonders für das Wunderbare empfänglich war, ohne weiteres als Erklärung hinnahm.

Als seine persönliche Willensmeinung, die Gestaltung von Veits Zukunft betreffend, hatte der Vater geäußert: daß er seiner ganzen Erziehungsmethode untreu werden würde, wenn er nicht auch in Liebes- und Heiratsangelegenheiten seine Sprößlinge, wie der Alte Fritz seine Untertanen, nach ihrer Fasson selig werden lasse. Wie sich dann das spätere Verhältnis der ihre eigenen Wege gehenden Kinder zu ihm und der Mutter regle, das sei mehr oder minder Angelegenheit des von der Tochter gewählten Schwiegersohnes oder der vom Sohn dem Hause Uhlich zugeführten Schwiegertochter. Da Veit aber durch ihn als Vater und durch seine immerhin ganz hübsche Erbschaft vom Onkel Wilhelm ziemlich sichergestellt sei und auf eine Mitgift nicht zu sehen brauche, so solle ihm, dem Vater, auch die mittellose Tochter eines kleinen Privatbeamten als Familienzuwachs willkommen sein, wenn sich all das Gute bewahrheite, das er von den äußeren und inneren Qualitäten der emsig Gesuchten vernommen habe. Wichtigste Voraussetzung sei freilich, daß man sie überhaupt finde und daß sie die ihm bekannte Verirrung ihres Herzens verschmerzen und Veit ehrlich lieben könne.

Auch von seiner ersten Zusammenkunft mit dem braven Siegmund Kern und – was er als Folge der Mitteilungen des Rendanten darstellte – seiner Sitzung mit der »Dame mit der silbernen Maske« hatte der alte Herr nichts verschwiegen. In seiner jovialen Art, leicht humoristisch färbend, ohne den ernsten Anlaß der Unterhaltung ins Lächerliche zu ziehen, hatte er dem blaß und schweigend zuhörenden Sohne erzählt, wie eine kleine List – die dem Rendanten niemals offenbart werden dürfe – ihn mit Kern bekannt gemacht; und wie er über dessen Tochter Klara alles ihm notwendig erscheinende und eigentlich nur Gutes erfahren habe. Dann die wunderliche Sitzung mit Ilia, der er schließlich Erstaunlicheres mitgeteilt habe als sie ihm. Später – als sie beide, man könne schon sagen, gute Freunde und Bundesgenossen geworden waren, die immer noch anmutige Hexe und er – hatten sie sich wechselseitig die nichts weniger als übersinnliche Herkunft ihrer Weisheiten lächelnd gestanden. Ilia, die ein ganz ausgezeichnetes Gedächtnis für Physiognomien besaß, hatte sofort, als sie Uhlichs Zimmer im Hotel betrat, eine Familienähnlichkeit ihres »Klienten« mit jenem jugendlichen Besucher, dem sie damals die Klara hatte »erscheinen« lassen, zu erkennen geglaubt. Die Vermutung war zur Gewißheit geworden, als sie dann Uhlichs Kopf im Profil betrachten konnte und sich des Bildes erinnerte, das ihr damals Veit nicht ohne Stolz auf den Tisch gelegt: »Mein Vater.« Daß der alte Herr in Angelegenheit seines Sohnes hier in Berlin sei, stand für die gewohnheitsmäßig rasch und sicher Kombinierende sofort fest. Damit war die Richtung der hier von ihr erwarteten »Visionen« gegeben. Der alte Uhlich seinerseits kannte durch Addos ausführlichen Brief so ziemlich alle Einzelheiten jener Sitzung seines Sohnes bei der Seherin. Und über Ilias Privatverhältnisse, ihre abgebrochene Bühnenlaufbahn und all diese Dinge hatte ihn der vom Chambertin selig besiegte Rendant Kern in holder Ahnungslosigkeit orientiert, während das Hugochen mit dem Affen im Zoo um den gepumpten Schlips der Dame Melusine kämpfte.

So war in dieser Angelegenheit so ziemlich alles entwirrt und erklärt. Alles – bis auf das Wichtigste. Niemand wußte etwas, niemand erfuhr etwas von Klara und ihrem Aufenthalt.

Ohne seine schwere, innere Unruhe zu verraten, ging der alte Herr seinen Geschäften nach. Prüfte die nicht überwältigende Tätigkeit seines »Ostseebadebüros«. Regelte gütlich den Abgang des Fräulein Butte, die seit ihrer Verlobung, im Innersten aufgewühlt, auf ihrer Maschine nie erlebte Konfusionen verübte. Schrieb die Stellung in drei Berliner Zeitungen aus und sichtete mit seinem schweigend und ernst seine Pflichten erfüllenden Sohne die haufenweis eingehenden Offerten.

Aber in den Stunden, in denen der alte Herr angeblich in Angelegenheit seiner sonstigen Unternehmungen mit Geschäftsfreunden, unter denen auch der unvermeidliche Polzig wieder auftauchte, zu tun hatte, forschte er unablässig nach dem Schicksal und Aufenthalt Klaras. Zwei Detektivbüros beschäftigte er für ziemlich teures Geld in der rätselhaften Sache. Der eine Detektiv, Fritz Bernau mit Namen, ein gerissener Junge, hatte herausgebracht, daß die gesuchte junge Dame dieselbe sein müsse, die bei der Verhaftung des Wiener Juwelendiebs und Heiratsschwindlers Visatzky, dessen Prozeß demnächst bevorstand, am Anhalter Bahnhof anwesend war. Der andere Detektiv, Arnold Butzcke, ein älterer, behäbiger, abgebauter Kriminalbeamter, den Uhlich – ohne ihm von Bernaus geleisteter Arbeit und dem Fall der Klara Kern zu berichten – mit Nachforschungen nach dem Liebesleben des Herrn von Visatzky betraut hatte – brachte den verblüffenden Bericht, daß Visatzkys letzte »Liebe« oder besser: der letzte in sein Garn gegangene weibliche Gimpel eine nicht mehr junge und auch nicht mehr hübsche Schauspielerin vom »Grabbe-Theater« gewesen sei, eine gewisse Melusine Kern-Möller, die Gattin eines biederen Kassenbeamten. Diese Dame besitze ein uneheliches Kind, als dessen Vater aber keinesfalls Herr von Visatzky in Frage käme. Die einen behaupteten, der Vater sei ein bei Budapest ein fabelhaftes Schloß bewohnender ungarischer Magnat; andere wieder glaubten beweisen zu können, der Erzeuger sei ein im »Trinkerasyl« von Chemnitz vor drei Jahren gestorbener Theaterarbeiter.

Da Uhlich es für möglich hielt und in den Bereich seiner Nachforschungen einschließen zu müssen glaubte, daß sich das verzweifelte Mädel etwas angetan haben könnte, so fuhr er auch in die Morgue, besah die dort noch nicht erkannten Toten und verglich sie mit dem Bild, das er im Zimmer seines Sohnes sich genau betrachtet und – nicht ohne Bewunderung für die liebliche Jugend – seinem Gedächtnis eingeprägt hatte.

Jedesmal verließ er mit einem Seufzer der Erleichterung das frostige Halbdunkel dieses traurigen Saales, in dem hinter Glas die unzähligen noch von keinem Gesuchten, von keinem Gefundenen lagen, die, am Glück verzweifelnd, in der Spree oder unter einer Kiefer des Grunewalds ihrem verfehlten Leben selbst ein Ende bereitet hatten. Nein, auch unter diesen Toten war das schöne Mädchen nicht.

Und es geschah das Merkwürdige! der nüchterne alte Kaufmann, der dem Wunderbaren nie besonders geneigt war, dem diese seltsame, ihn zunächst närrisch anmutende Liebe seines Sohnes zu einer kaum gemerkten, zunächst nur Ärger und Störung in die reichliche und geregelte Arbeit seines Lebens trug, begann – je mehr er sich mit diesem Mädchen beschäftigte, ihre letzten Bilder und bei Kern ihre Kinderbilder betrachtete, kleine Züge aus ihrem Leben sich erzählen ließ und die tragische Wendung ihres Schicksals überdachte – sich rein menschlich für dieses hübsche junge Geschöpf, das da unschuldig vor die Hunde gegangen sein sollte, zu interessieren. Und ein anderes: er wußte, Veits Mutter saß zu Hause, und wenn sie die Gicht in den Fingern spürte und nicht mehr Schumann spielen konnte, und wenn ihr die Augen wehtaten und sie die Lupe ausruhend auf die alten Stiche legte, dann hatte sie nur einen Gedanken, mit dem sie spielte: »Veit soll heiraten. Ich will noch ein Enkelchen sehen, lieben und betreuen.« Ihre Henny aber kam leider für Lieferung dieses Enkelchens nicht in Betracht, da die Mutter seltsamerweise annahm, daß das Leben ihrer vielseitigen, zum Erschrecken modernen Tochter so sehr von Sport, Ehrgeiz und Wagnis ausgefüllt sei, daß ein Wäscheschrank, ein Schlüsselbund und eine Wiege kaum je für dieses seltsame Wesen, das einmal unter ihrem verträumten Herzen gelegen, etwas bedeuteten. Daß in dem Herzen des Mädels, das ihren eigenen Jugendbildern so lächerlich ähnlich sah, neben Sport, Konkurrenzen und Rekorden noch Platz war für einen Jugendfreund, der eben seinen Referendar und Doktor »cum laude« gebaut hatte, das blieb der Mutter gänzlich verborgen.

Der alte Uhlich hatte für diesen Abend seinem Sohne Veit, dem Doktor Addo Ahrens und – ärgerlich über die Dringlichkeit der vom Büro des Hotels übermittelten Telephonate – seinem Geschäftsfreund Polzig das Weinhaus Hock in der Potsdamer Straße als Treffpunkt zum Abendessen angegeben.

Als Uhlich kurz nach acht Uhr das Weinhaus betrat, von dessen vornehm gedeckten Tischen bereits eine größere Anzahl von gutem Publikum besetzt war, gewahrte er in einer Nische einen Herrn, der heftige Signale mit den Armen gab, als wolle er einen in voller Fahrt befindlichen D-Zug vor drohendem Unheil bewahren. Es war der unvermeidliche Polzig, der als erster erschienen war und sich für die Einladung bedankte, die Uhlich eigentlich weder ausgesprochen noch bezweckt hatte. Noch ehe Uhlich richtig saß und den Wein gewählt, unterbreitete ihm Polzig bereits den Plan für Ankauf eines verkrachten Tattersalls im Westen Berlins. Zum Zwecke, daraus eine Rollschuhbahn zu machen, von welchem verschollenen, aber leicht wieder zu belebenden Sport er sich, wenn man erst die Presse dafür begeistere und die nötigen Annoncen und Freikarten ausgäbe, eine neue Blüte des Nachtlebens der Reichshauptstadt verspräche. Natürlich in Verbindung mit glänzendem Restaurationsbetrieb auf den Galerien, der entweder geschickt in eigene Regie zu nehmen oder für fabelhafte Summen zu verpachten wäre.

Uhlich hörte nur zerstreut den erregten Ausführungen zu. Der Rollschuhsport hatte ihn nie sonderlich interessiert und die Lage dieses Objekts in der unmittelbaren Nähe längst bestehender, zum Teil mäßig florierender großer Vergnügungsetablissements des Westens hatte nichts Hinreißendes. Außerdem war er aber unruhig, weil der sonst mit der Höflichkeit der Könige pünktliche Veit noch nicht zu sehen war.

»Ich habe«, sagte er als einzige Antwort auf die beweglichen Ausführungen des Geschäftsfreundes, indem er dessen neben dem Teller ausgebreiteten Pläne der Grundstücke mit dem Handrücken einfach beiseite schob, »habe für heute abend – er kann allerdings erst nach dem Theater – auch noch Herrn Kern bitten lassen.«

»Wer ist Herr Kern?« fragte Polzig erstaunt, »käme der etwa für Übernahme des Restaurationsbetriebes in Betracht?«

Trotz seines Ärgers mußte Uhlich lächeln: »Nee, dann noch eher als Kunstläufer auf der Rollschuhbahn – vielleicht in Doppelproduktion mit dem Hugochen.«

»So was brauchen wir auch«, nickte Polzig eifrig, dem jede Möglichkeit recht war, den Unternehmungsgeist Uhlichs zu interessieren für dieses Prosekt, bei dem für ihn erhebliche Prozente zu verdienen waren.

In diesem Augenblick trat in ausgezeichnet geschnittenem Cut der Herr Hock, der geschäftstüchtige Besitzer des Lokals, an den Tisch der Herren heran, die ihm beide bekannt waren. Er erkundigte sich erst nach ihrer werten Gesundheit, dann nach ihren Wünschen, winkte wichtig den Ober heran, ihm besonders aufmerksame Bedienung anempfehlend, und machte auf einige heute besonders zu beachtende Tagesplatten aufmerksam. Diskret hinter der Speisekarte auf den Nachbartisch links deutend, erklärte er, daß dieser bereits mit roten Nelken geschmückte Tisch für neun Uhr von dem berühmten Tenor Walter Wendland bestellt sei. Dieser aufgehende Stern der deutschen Operettenbühne verzehre hier jeden dritten Abend mit einer sehr hübschen Dame – nicht immer derselben – eine Poularde in Reis und trinke dazu französischen Sekt – auch nicht immer dieselbe Marke. Rechts an dem Tischchen aber der elegante Herr mit den schon etwas ergrauten Schläfen, der jetzt eben Platz nehme und nach dem Menü greife, das sei ein berühmter Schriftsteller, den Namen habe er im Augenblick vergessen – er selber habe ja noch nichts von dem Mann gelesen, mein Gott, ihm fehle die Zeit – aber der bekannte Autor werde immer hier im Lokal viel bemerkt und auch zuweilen in späten Abendstunden um Autogramme auf dem Rücken der Speisekarte gebeten. Er warte – Herr Hock erläuterte das, indem er mit weltmännischer Höflichkeit zu dem Behandelten hinüber grüßte – zweifellos auf eine Dame. Er wolle nichts sagen, aber zuletzt sei er mit einer sehr bekannten, etwas extravaganten Filmdiva erschienen, und die Herren würden sicher an diesem gutgewählten Platz, wenn die temperamentvolle Dame wieder in Form sei, ihre Unterhaltung finden.

Den alten Uhlich schien die Nachbarschaft des Prominenten nicht sonderlich zu begeistern. Er sagte nur: »Soso« und »aha« und sah sich dabei in den fernsten Ecken des trotz seiner Größe behaglichen Raumes um. »Sind das dort nicht«, fragte er plötzlich leicht erstaunt, »sind das dort hinten nicht zwei Schwestern von der Heilsarmee?«

»Nicht Schwestern«, korrigierte Herr Hock, »weibliche Soldaten – ja, das ist ihr offizieller Titel. Stille, gute Mädchen. Sie verkaufen den ›Kriegsruf‹, die friedlichste Zeitung der Welt. Die großen Lokale, namentlich hier im Westen, sind ihnen verboten. Angeblich belästigen sie die Gäste – ich hab' das nie bemerkt. Eher umgekehrt. Aber ich gab der Heilsarmee die Erlaubnis, hier ihre stille Propaganda zu betreiben, denn – wenn ich das erwähnen darf – ich hatte einen Bruder, einen Zwillingsbruder sogar, der wie ich das Gastwirtsgewerbe gelernt hatte. Aber wie das so geht, es gibt Wirte und Wirte. Auch dazu muß man schließlich Talent haben. Er hatte eine unglückliche Hand, der arme Otto, in der Wahl seiner Lokale. Huldigte – was schlimmer war – dem törichten Glauben, daß man die Gäste am besten dadurch ans Lokal feßle, daß man sich selber zu ihnen setze und mit ihnen kneipe. So ging er – ohne aufdringlich zu sein, das muß man sagen – aber er hatte ja auch nicht das Publikum wie ich hier – ging er von Tisch zu Tisch. Ja, und wenn man das so von abends acht Uhr bis ein, zwei Uhr in der Nacht durchführen will und hier ein Glas Scharzhofberger, dort einen Tokaier Ausbruch, einen Mouton Rothschild, dazwischen einen Old Sherry und ein paar Allaschs trinkt . . . Kam der üble Geschäftsgang hinzu, die böse Zeit. Die Sorgen ließen ihn, auch wenn er nicht bei den Gästen saß, Vergessenheit in Getränken suchen. Er hatte da eine besondere Marke, einen schweren alten Pfälzer, einen Deidesheimer Kieselberg, billig gekauft, den er eigentlich nur selber und ganz allein . . . Schließlich hatte er sogar nachts neben dem Bett eine Flasche stehen, damit er, wenn er vor Sorgen nicht schlafen konnte . . . Dann kam der Zusammenbruch. Wir haben ihn, die Familie, zweimal wieder mühsam auf die Beine gestellt – aber lieber Gott, die Beine waren nicht mehr ganz sicher. Schließlich entzog er sich unseren Blicken und Nachforschungen. Ist, ohne daß wir ihn halten konnten – er wollte nicht mehr geholfen haben – ist er zusammengebrochen. Die Lieferanten haben ihm die Lieferungen gesperrt. Man hat ihm die Möbel zwangsversteigert. Schließlich hat er – schrecklich zu sagen – mehrfach sinnlos betrunken in der Gosse gelegen. Da hat ihn eines Nachts, als er schon eine Lungenentzündung weghatte und halberfroren, röchelnd in einem Hausgang hockte, die Heilsarmee aufgelesen. Hat ihn ohne Zwang in das Asyl für Trinker aufgenommen. Hat ihn in rührender Weise gesundgepflegt. Hat den langsam Genesenden durch Zuspruch, Beispiel, vielleicht auch durch religiöse Einflüsse von seinem Laster zurückgebracht; und – was soll ich Ihnen sagen – eines Tages ist er völlig verändert, ein ernster, stiller Mensch mit flackernden Augen, freilich mit einem Knacks, aber doch wieder repräsentabel, wieder bei mir erschienen. Als Agent für kleine Neuheiten für Haushaltungen und Gastwirtsbetriebe. Auch das hatte ihm die Heilsarmee vermittelt. Er hat nichts mehr getrunken – keinen Tropfen mehr. Hat freundlich aber bestimmt jede andere Hilfe der Familie als den Ankauf einiger seiner Waren abgelehnt, Und bei jedem Besuch hat er ein paar Traktätchen zurückgelassen, so auf die Stühle verteilt, ohne was davon zu sagen . . . Ja, meine Herren, es gibt natürlich Leute, die lachen über diese frommen Geschichtchen und Wunderhistörchen. Aber schließlich, wenn man sieht, wie diese seltsam gekleideten, seltsam redenden, wunderliche Lieder singenden Menschen einen armen Teufel, der verloren in der Gosse liegt, aufheben, gleichviel, wie er heißt, wer er ist und was er auf dem Kerbholz hat; wie sie ihn nähren, kleiden, ihm ein sauberes Bett und ein warmes Frühstück geben, ohne zu fragen, ohne was zu verlangen, ja ohne Dank zu erwarten – bloß, weil's ein Mensch ist . . . Ja, also – ich kann nicht mehr lachen über die Tellermützen der schlecht rasierten singenden Männer, über die Schippenhüte der blaß und bescheiden ihre Groschen sammelnden mageren Frauen. Ich habe meinen Bruder zwei Jahre, nachdem ihn die Heilsarmee aufgelesen – friedlich in seinem Stübchen wiedergefunden, im vierten Stock hinter der Belle-Alliance-Straße. Da saß er, der arme Otto, ein Traktätchen in der Hand und als einzigen Schmuck lauter fromme Bilder, den ›guten Hirten‹ und solche Sachen aus dem Heilsarmeevorrat, an die rissige Tapete gesteckt. Ganz zufrieden, ganz glücklich, ganz mit der Welt versöhnt, saß er da, der arme Otto, sauber und schlicht wie ein kleiner Rentner. Du lieber Gott, sieben Mark sechzig hat er in einer Federbüchse hinterlassen. So hat er dagesessen; und das Rotkehlchen am Fenster, das er sich gezähmt hatte, das hat geschmettert und hat nichts davon gewußt, daß sein Futtergeber ihm nie mehr zuhörte . . . Seit dem Tage hab' ich – wenn's mir auch ein paar närrische Gäste verübelten – der Heilsarmee erlaubt, durch mein Lokal ein paarmal am Abend ihre Leute mit dem ›Kriegsruf‹ und den kleinen Broschüren von Tisch zu Tisch gehen zu lassen.«

»Rufen Sie mir mal die Schwestern oder vielmehr die beiden Helferinnen hierher«, sagte Uhlich zu einem vorbeiflitzenden Kellner. Die Mitteilungen des Wirtes hatten ihn mehr gefesselt als Polzigs verwegene Rollschuhpläne.

»Zu spät«, sagte Polzig nicht unfroh. Denn ihm waren die hübschen Mädchen, die nachts auf der Rheinterrasse im »Haus Vaterland« zwischen den Tischen sangen, lieber als diese leise redenden Frauen mit den häßlichen Wichsstiefeln und den Halleluja-Hüten, »zu spät, eben haben die beiden heiligen Weiberchen das weltliche Lokal verlassen.«

»Da kommt, glaub' ich, Ihr Herr Sohn, Herr Uhlich.« Der Wirt wies nach dem anderen Eingang des Lokals. »Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: ein sehr scharmanter junger Herr! – Er hat mich schon mehrfach beehrt. In der letzten Zeit sieht er ein bißchen spitz, ein bißchen angegriffen aus. Ja, ja, die Großstadt – Vielleicht überarbeitet?«

»Das wird's wohl sein«, nickte Uhlich und erhob den Arm, um Veit und Addo, die mit suchenden Augen langsam durch den Mittelgang kamen, ein Zeichen zu geben.

Die jungen Leute begrüßten die Herren und setzten sich zu ihnen an den Tisch. Addo war froh und gut gestimmt. Er hatte mit der letzten Post eine Bildkarte von Henny bekommen; sie trug, im Tenniskostüm, lächelnd eine eben »ersiegte« Bowle in den Händen. Veit war blaß und ernst, wie immer in der letzten Zeit. Höflich und doch sichtlich abwesend hörte er den umständlichen Darlegungen Polzigs zu, der seine knusprige halbe Ente kalt werden ließ, um ihm die unerhörten Chancen des Rollschuhpalastes im Westen Berlins in glühenden Farben zu schildern.

Dann sprach man ohne Leidenschaft von Politik, von Premieren und ein paar Überfällen und Kapitalverbrechen aus den letzten Tagen.

Polzig, der zum dritten Male Himbeereis aß – angeblich zur Kühlung einer entzündeten Zahnlücke, in der heute morgen noch ein schmerzender Backenzahn gestanden hatte – erwähnte so nebenher den »bevorstehenden Prozeß Visatzky« und tadelte das unbegreifliche Glück solcher Abenteurer bei den Frauen.

Uhlich beobachtete beunruhigt seinen Sohn. Der nickte nur höflich zu Polzigs Ausführungen und sah mit leeren Blicken in den Saal. Er wußte von nichts.

Das Lokal füllte sich. Herren und Damen in großer Toilette nahmen plaudernd und lachend an den benachbarten Tischen Platz. Der von Hock der Beachtung empfohlene Schriftsteller nebenan sah in seiner seelischen Unruhe häufig auf die Uhr, las zerstreut, das Einglas einklemmend, wohl zum siebenten Male die Speisekarte durch und goß aus der zweiten Flasche »Piesporter Goldtröpfchen« ein.

Auf der anderen Seite war – vielbemerkt schon auf seinem Weg durch den Saal – der Tenor in die Erscheinung getreten. In Frack und weißer Binde. Die pechschwarzen Haare glatt zurückgestrichen, daß sie wie eine Lackkappe wirkten. Seine Begleiterin, mehr ausgeschnitten als angezogen, war eine quecksilbrige Brünette, die französisch, deutsch und, ja, war es – russisch oder polnisch, durcheinandersprach. Durch die verschiedensten und bizarrsten Wünsche Änderungen an Tisch, Lampe, Gedeck und Blumenschmuck treffend, hielt sie mehrere Kellner in Atem und lenkte die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich und ihren in ernster Pose verweilenden Kavalier. Erst als so ziemlich alle Gäste im Lokal aufmerksam geworden und über die Prominenz des ungewöhnlichen Paares aufgeklärt waren, setzten sich die beiden, und der Tenor sprach mit seiner berufsmäßig wohltönenden Stimme, das weithin tönende Wort: »Ober, Heidsieck, Goût américain!«

Und jetzt kam auch, langsam und etwas eingeschüchtert von dem ungewohnten Trubel und der blendenden Eleganz des ihm unbekannten Lokals, der Rendant Kern. Er hatte einen langen alten Gehrock angelegt, der, bis an den Hals geschlossen, in den Nähten voll gefährlicher Spannungen, ihm das Ansehen eines Angestellten der Beerdigungsgesellschaft »Pietät« verlieh. Und sein Gesichtsausdruck, wie er so ernstlich suchend durch die Reihen der Tische ging, widersprach solcher Annahme kaum.

Der alte UhIich hatte ihn kaum gesehen, da ging er ihm entgegen und führte ihn mit gewinnender Höflichkeit an seinen Tisch. Der brave Kern begrüßte die jungen Leute erfreut. Den schlürfend und auch sonst nicht allzu manierlich Himbeereis löffelnden Polzig zeichnete er durch tiefe Verbeugungen aus, als wisse er genau, daß es sich hier um einen inkognito reisenden russischen Großfürsten handle. Polzig aber, dem ein flüchtiger Blick auf die bescheidene Erscheinung des neuen Gastes eine Illusion genommen hatte und der nicht mehr an die Künste eines Rollschuhläufers glaubte, behandelte den Kömmling von oben herab.

Um so liebenswürdiger war der alte Uhlich, der dem von all der Vornehmheit etwas benommenen Rendanten sofort das Glas mit feinster Spätlese Rauenthaler Rothenberg füllte und dem in seiner Bescheidenheit immer wieder Beteuernden, daß er »eigentlich« zu Hause schon ein Butterbrot gegessen habe, alsbald eine halbe Ente bestellte, indem er die Hoffnung aussprach, daß sie die andere Hälfte des von Polzig verspeisten Vogels darstellen könne, die einen guten Eindruck gemacht habe und von dem Geschäftsfreund bis auf die Knochen erledigt worden sei. Dann fragte er höflich nach der Gattin und erfuhr, daß Frau Melusine nicht mehr so lange schlafe wie früher und sich – gegen frühere Gewohnheit – im Haushalt betätige. Auch habe sie gar nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß er, Kern, heute abend zu so ungewohnter Stunde noch ausgehe. Freilich habe er betont, daß er eingeladen sei. Das liebe Hugochen aber habe ganz besonders herzliche Grüße aufgetragen, nachdem es gehört, daß der Vater die Ehre habe, mit dem Spender seiner Fahrt zu den Affen und Eisbären ein Glas Wein zu trinken.

Am Nebentisch die ausgeschnittene Dame, die mit dem schönen Tenor gekommen war, hatte schon einen kleinen Schwips. Man sah es. Bereits die Ankunft des Rendanten Kern in seinem langen, hochgeknöpften Bratenrock und seine Verbeugungen vor dem seine Eismedizin schlürfenden Polzig hatte sie als eine Art »Komisches Entree« gewertet und begrüßt. Und als jetzt der gute Kern, von zwei Gläsern Rauenthaler schon beträchtlich erhitzt, sich etwas allzu hastig vom Stuhl erhob, um einen Zutrunk des ironisch lächelnden Herrn Polzig gebührend zu erwidern, warf sie aus beträchtlicher Entfernung einen Sektpropfen so geschickt, wie es jeder Kenner ihrer Varietenummer erwartet hatte, ins Glas, daß der aufspritzende Rheinwein dem verblüfft zurückzuckenden Siegmund Kern reichlich das frisch rasierte Gesicht benetzte.

Veit, der – seit er die Geschichte jener Photographie in seinem Zimmer kannte – in dem alten Kern viel mehr Klaras Vater ehrte, als seinen Hauswirt sah, war sofort zornig aufgesprungen. Er wollte sich, Rechenschaft fordernd, an den Nebentisch begeben. Aber schon stand, ihm zuvorkommend, der schöne Tenor vor dem alten Uhlich, der am Kopf des Tisches saß, verbeugte sich mit hoheitsvoller Würde und sagte das, wie es schien, für ihn nicht neue Sprüchlein auf: »Mein Name ist Wendland« – kleine Pause, um die Mitteilung voll wirken zu lassen, dann: »Ich bitte um Entschuldigung, meine Herren. Die Dame dort ist Rheinländerin –«

»Daher spricht sie wohl so gut polnisch«, nickte Uhlich senior trocken.

»Sie spricht – als bekannte Varietékünstlerin – viele Sprachen, aber ihr Blut und ihre Lebensauffassung ist rheinisch, – immer ein wenig karnevalistisch gestimmt und –«

Von diesem Augenblick an verstand kein Mensch an dem Tisch mehr, was der Tenor mit seiner klangvollen Stimme zur Entschuldigung der karnevalistisch gestimmten Rheinländerin, die so gut Polnisch sprach, noch vorzubringen wußte.

Denn an dem Nebentisch, den der prominente Gesangskünstler eben verlassen, begab sich höchst Seltsames. Und dieses Seltsame sollte noch viel Seltsameres an dem Tisch der Uhlichs zur Folge haben.

Leise, bescheiden und unauffällig waren wieder zwei Heilsarmeeschwestern – andere, als die vorhin – die Reihe der weißgedeckten Tische entlanggegangen. So waren sie auch jetzt zu der überaus munteren Dame des Tenors gekommen, mit gedämpften Worten ihre Traktätchen anbietend und um einen kleinen Beitrag für die »Kinderhilfe« bittend. Die Diva aber warf plötzlich ihre halbgerauchte Zigarette, an der sie, ärgerlich über ihres Kavaliers Canossagang, gesogen hatte, in das gefüllte Sektglas des Tenors, wo sie aufqualmend verzischte. Dann ließ sie ihrem vom Champagner und Ärger gepeitschten Übermut vollends die Zügel schießen.

Die beiden weiblichen Heilsarmeesoldaten, die zu Uhlichs Tisch mit dem Rücken standen, rührten sich nicht. Sie hatten die Disziplin des Leidens jedem Hohn gegenüber und die selbstsichere Ruhe der Abstinenz im Anblick unbeherrschter Trunkenheit.

»Ich gebe Ihnen zwanzig Mark – –« Die kleine Polin suchte in ihrer Börse – »Ach, ich habe nur Dollar. Schade! Aber Sie werden schließlich auch amerikanisches Geld nehmen. Ich werfe Ihnen fünf Dollar in Ihre Büchse, wenn Sie mich Ihren ulkigen Schippenhut mal aufsetzen lassen! Ich möchte sehen, wie er mich kleidet.«

Und ehe die eine der Heilsarmeeschwestern, die schlankere, jüngere, sich noch dessen erwehren konnte, hatte die rabiate Kleine schon mit einem heftigen Griff das schmale rote Band unterm Kinn des Mädchens zerrissen und den Hut von dem schlicht gescheitelten schwarzen Haar heruntergeholt. Jetzt suchte sie ihn, immer nervös lachend und sichtlich vom Staunen der Tische um sie herum zu kühneren Taten gereizt, auf den eigenen Bubikopf zu stülpen.

In diesem Augenblick sah man vom Tische Uhlichs aus das herrlich gewachsene Heilsarmeemädchen einen Augenblick im Profil.

Veit, der sich noch nicht gesetzt hatte, starren Auges wie zu einer Erscheinung hinübersehend, griff mit unsicherer Hand nach einer Stütze und faßte unglücklicherweise dabei mit kräftigem Griff in des sitzenden Polzig noch ziemlich stattliches Haupthaar.

Polzig schrie auf.

Sein Schmerzensschrei aber wurde übertönt durch das Aufspringen des Rendanten Kern, der, den Stuhl umwerfend, das gefüllte Glas auf den Tisch fallen und zerschellen ließ und mit zitternder Stimme in den Saal rief: »Klara – meine Klara!«

Der eindringliche Schmerz und Jammer, der sich in diesen Aufschrei mischte, brachte rings die Tische in heftigsten Aufruhr.

»Was ist geschehen?« . . . »Was soll das?« . . . »Einen Arzt!« . . . »Schupo!« . . . »Was will der Mann?« . . . So ging das durcheinander. Hysterische Frauenstimmen mischten sich in den Groll und Ärger der im Flirt gestörten Kavaliere.

Der Schriftsteller am Nebentisch war, die Serviette in der Hand, höchste Spannung in Augen und Mienen, an den Tisch der Uhlichs herangetreten.

Das Heilsarmeemädchen aber hatte unter dem Zwang der Stimme Kerns rasch den schönen blassen Kopf dahin gewendet. Einen Augenblick nur ließ sie die großen dunklen Augen forschend, erkennend, erschrocken im Kreise gehen. Dann lief ein Zucken durch ihren jungen Körper. Wortlos riß sie, in wildem Entschluß, der Polin den Hut aus den gepuderten Händen und floh, laufend, rasend, wie ein verfolgtes Wild den roten Teppich entlang zum Ausgang.

Wo die andere Heilsarmeeschwester, die kleinere, pumpligere, um die sich keiner kümmerte, eigentlich hingekommen war, das wußte später niemand mehr zu sagen.

Aus dem wogenden Stimmengewirr, dem Lärm der geschobenen Tische, des im raschen Aufbruch stürzenden Geschirrs, der durcheinander redenden und rufenden Gäste, der zur Ruhe mahnenden Angestellten, tönte mächtig wie das Triumphgeschrei eines Siegers Veits jubelnde Stimme. Beide Hände wie wehende Fahnen in der Luft, rief er, alle gute Erziehung vergessend, zu seinem unwillkürlich den Arm des Tenors in die Zange seiner kräftigen Finger fassenden Vater hinüber: »Das ist sie – Vater, ich habe sie gefunden – ich hole sie!«

Und schon raste er, Erstaunte, Erschreckte, Entrüstete unsanft zur Seite drückend, wie ein vom Wahn befallener Amokläufer in der Richtung zum Ausgang.

Er hätte die Fliehende vielleicht noch im Saal oder wenigstens auf der Treppe eingeholt, wenn nicht – in gänzlichem Mißverstehen der Geschehnisse – Herr Hock und zwei kräftige jüngere Kellner sich dem Enteilenden entgegengeworfen hätten, beschwichtigende, versöhnliche Worte verschwendend: »Aber beruhigen Sie sich doch, werter Herr! Es wird sich alles aufklären – Lassen Sie sich nicht zu Tätlichkeiten hinreißen! – Es können tatsächlich doch Mißverständnisse sein – Das Fräulein hat bestimmt niemand beleidigen wollen!«

»Wer spricht von Tätlichkeiten?« Der eine Kellner flog mit zerrissenem Frack links gegen den Tisch eines exotischen Gesandten, der hier seinen Geburtstag im gelbhäutigen, schlitzäugigen Familienkreise feierte. »Wer redet von Mißverständnissen?!« Der andere Kellner stürzte rechts mit geborstener Hemdbrust einem aus dem Glück befriedigter Liebe aufgestörten Hochzeitspaar aus Bautzen zu Füßen. Nur Herr Hock, im verzweifelten Kampf um die Reputation seiner vornehmen Weinstube, klammerte sich – auch schon zu Boden geworfen – an die Unterschenkel Veits. Er ließ erst los, als ihm eine resolut zu Hilfe eilende, fast zwei Zentner schwere Garderobefrau im Eifer ihrer Hilfsaktion heftig in die Wade trat.

Jetzt war für Veit der Weg frei. Aber kostbare Minuten waren verloren. Das Gewühl des Nachtbetriebes der Potsdamer Straße nahm den Suchenden auf.

An Uhlichs Tisch kämpfte der alte Kern mit einer Ohnmacht. Polzig glaubte die Lebensgeister des tief in seinen Sessel Zurückgesunkenen zurückrufen zu können, indem er ihm Eisstückchen aus dem Weinkühler in den zu weiten Kragen und unter das offenstehende Hemd aufs Herz schob. Wobei ihn eine unbekannte junge Dame liebreich unterstützte, indem sie immer wieder versicherte, sie sei Säuglingsschwester und habe auch einen Samariterkurs mitgemacht.

Addo stand neben dem alten Uhlich, den der bis aufs Blut gekniffene Tenor verlassen hatte, um mit seiner Dame Krach zu machen. Einen Krach, der in seiner anschwellenden Heftigkeit den Wohllaut des berühmten Organs nicht mehr zur Geltung kommen ließ.

»Herr Uhlich – Herr Uhlich, das war sie wirklich!« stöhnte Addo, dem vor Aufregung die Stimme versagte und die Hände zitterten.

»Sie war's«, nickte Uhlich. Er war, wie immer, wenn sich die Geschichte zuspitzte und der Energie des Überlegenen bedurfte, ganz ruhig.

Der Schriftsteller vom Nebentisch trat, sichtlich erregt, an die beiden heran. Er nannte seinen Namen, den beide kannten, aber jetzt nicht verstanden, und sagte, einen in der seelischen Aufregung begründeten Schluckser niederkämpfend: »Gestatten Sie mir – ich bin Schriftsteller von Beruf –«

»Was hab' ich dabei zu gestatten?« Uhlich sah zu dem alten Kern hinüber, der mit nassem Hemd unter den eifrigen Händen Polzigs langsam zur Wirklichkeit zurückfand; während ihm die Dame, die den Samariterkursus mitgemacht hatte, aus nicht ohne weiteres ersichtlichen Gründen die Schnürstiefel auszog.

»Ich meine – gestatten Sie mir – was ich eben – ich warte eigentlich hier auf eine Dame, sonst hätte ich es als taktlos empfunden – als einziger Fremder – so dicht an Ihrem lebhaft konversierenden Tisch – aber ich bin froh, daß ich es miterlebte . . . Ich glaube, hier liegt ein Stoff – ein fabelhafter Stoff für meine Kunst – geben Sie mir – schließlich gehört er ja als Erlebnis Ihnen, der Stoff – geben Sie mir die Erlaubnis, ihn zu verwerten –?«

»Das können Sie halten, wie Sie wollen!«

»Glauben Sie, daß der Herr, der da eben – offenbar ein für unsere Zeit selten schwärmerisch – man könnte sagen vulkanisch veranlagter junger Mann –«

»Mein Sohn. Aber ich speie seltener Feuer.«

»Ihr Sohn – ich dachte mir's. Glauben Sie, daß er sie einholt – daß er sie findet?«

»Lieber Herr, Berlin ist eine verdammt weitläufige Stadt. Aber eine Heilsarmeeuniform ist, gottlob, keine Tarnkappe. Im Gegenteil!«

»Der bloße Zufall den wir, wenn er Günstiges bringt, Glück nennen, darf allerdings – wenigstens in der künstlerischen Behandlung solch menschlicher Schicksale – keine Rolle mehr spielen heutzutage. Freilich – was heißt überhaupt Glück?«

»Glück heißt«, Uhlich sagte das, als ob er die einfachste These der Welt feststellte, »Glück heißt: nach einem längst ungültig gewordenen Fahrplan in einen falschen Zug einsteigen und doch pünktlich ans Ziel kommen.«

»Eine etwas kühne – aber bewundernswerte Definition. Das heißt: ›ankommen‹? Das liefe auf ein ›Happy-end‹ hinaus. Das ist, wenn ich ehrlich sein darf, vieux genre. Ist heute durchaus nicht mehr beliebt beim Publikum.«

»So? Da müßte man erst feststellen: was will das sagen: ›Happy-end‹?« – Herrn Uhlich tat die Rückkehr in eine theoretische Unterhaltung nach den Aufregungen der letzten Minuten sichtlich wohl. In den sich langsam wieder beruhigenden Saal hineinschauend, wiederholte er, mehr sich selbst Rechenschaft gebend als antwortend: »Was geht das Leben meines Jungen die Kunst an? Und was heißt für seinen Fall: ›Happy-end‹? Daß der närrische Bursch das schöne Mädel – sie ist wirklich bildhübsch – daß er sie widerfindet, ist seine Sache. Daß er die endlich Gefundene dann auch heiratet, wird meine Sache sein. Was weiter geschieht, ob sie ihm früh wegstirbt – oder er ihr – ob sie Zwillinge haben werden, die alle Kinderkrankheiten durchmachen – oder ob sie kinderlos bleiben und einmal als verkalkte goldene Hochzeiter in myrtenbekränzten Ehrenstühlen sitzen – das geht uns heut und hier nichts an. Wir schließen nur ein Kapitel – das Leben dichtet weiter, wie es und solang es ihm beliebt.«

»Aber, mein Herr, wenn ich – immer wieder muß ich für die nur beruflich entschuldbare Indiskretion um Verzeihung bitten – wenn ich am Nebentisch aus den verschiedenen Gesprächen, dann aus den etwas turbulenten Ereignissen richtige Schlüsse gezogen habe, so handelt es sich hier um die unhemmbare Liebe, man kann schon sagen: Leidenschaft eines jungen Mannes. Die aber – wie soll ich's nennen – etwas unmodern Mystisches hat.«

Der alte UIich nickte mit freundlichem Ernst. »Wir alle – ich vielleicht mehr als mancher andere hier im Saal – stehen mitten im Leben und rechnen offenen Auges nur mit Realitäten. Aber, werter Herr, wenn uns in besinnlichen Stunden die Bereitschaft für das Wunderbare völlig abgeht, so fehlt unserem Erdengang vielleicht das Schönste und das Wichtigste. Fehlt uns, was den damit Begnadeten, fühlbar und erkennbar, verbindet mit dem ewig Unerforschten, aus dem wir kommen, und mit dem nur Geahnten, in das wir zurückkehren . . . Ober, zahlen!«

 

Ende

 


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