Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Rudolf Presber

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»Ich glaube«, sagte Veit, indem er sich ohne Eile hinter seinem Diplomatenpult erhob und bedächtig die Schublade verschloß, »ich glaube, ich kann heute, ohne meinen alten Herrn geschäftlich zu schädigen, mal die Bude hier ein Stündchen früher zumachen.«

»Ist Fräulein Butte heute gar nicht dagewesen?« Addo, der, Hut und Stock über den Knien, im Paletot auf dem Sofa hinter dem mit bunten Prospekten und Broschüren belegten Tisch saß, sah zu der mit Wachstuch überzogenen Schreibmaschine hinüber, hinter der ein Stuhl mit buntgesticktem Kissen stand.

»Fräulein Antonie Butte ist eine der vielen Töchter – hoffentlich nicht die jüngste und hübscheste – der kopfreichen Familie Butte. Mehrere ihrer Schwestern sind vermählt, von diesen haben einige schon Kinder; andere sind, soviel ich weiß, noch Jungfrauen. Alle aber, die jungfräulichen Schwestern, die verheirateten, die Männer dieser Damen und die Kinder haben ihre Geburtstage, wie ich konstatiere, in den Monaten September, Oktober, November. Das scheint Tradition und Vorschrift in der Familie Butte. Und jeden zweiten Tag fragt mich das liebe, aber etwas späte Mädchen – ich hab' sie engagiert, weil sie schon mal in einem Reisebüro, allerdings für das Mittelmeer, tätig war – ob sie nicht ›etwas früher‹ heute Schluß machen könne, weil ihre Schwester Agathe oder Hulda oder ihr Schwager Max oder Heinrich oder ihre Nichte Annemarie oder Rosemarie Geburtstag habe. Am selben Tag erscheint sie – das bereitet mich immer schon diskret auf diesen Wunsch vor – schon vormittags besonders geschmückt, mit bloßen Armen und einem diskreten Ausschnitt, an dem sich an einem vergoldeten Kettchen der Kopf eines römischen Imperators im Steinschnitt über dem Flachland ihres Busens langweilt, und ihr ganzes Wesen strömt bereits Festlichkeit aus. Heute aber ist, wie sie mir erregt mitgeteilt hat, ein besonders hoher Feiertag. Die Großmutter hat Geburtstag. Und da diese alte Dame gewohnheitsmäßig – um vielleicht ihr neunzigstes Jahr zu erreichen, sie wird heute neunundachtzig – nicht spät zu Bett geht, findet die Familienfeier entsprechend früh am Nachmittag statt.«

»Sie arbeitet sich hier wohl überhaupt nicht tot, das Fräulein Butte?«

»Nein, Addo, das kann man eigentlich nicht sagen. Ich auch nicht. Aus Verzweiflung spielen wir manchmal Halma zusammen – dort hinter dem Wandschrank. Es könnte ja schließlich doch mal jemand . . . Und es ist die fixe Idee meines alten Herrn, wenn wir im Winter hier die Reklamebude für die Ostseebäder schließen, dann leidet das Sommergeschäft darunter. Nun bitt' ich dich, wer kümmert sich im November um die herrlichsten Prospekte der Seebäder, unter denen er sich im nächsten Jahr vielleicht eins aussuchen wird! Und wer gibt seiner Frau einen Strandkorb oder einen Bon für acht Tage Buckenhagener ›Strandhotel‹ zu Weihnachten!«

»Buckenhagen? Das ist der neue Badeort, den dein Vater – gewissermaßen gegründet hat?«

»Na – der Strand und die Dünen und die See, das war ja schon alles da. Die wunderschönen Wälder – gemischt Kiefern, Buchen, Eichen, Birken – fast so schön wie hinter Graal und in der Rostocker Heide – die sind ja auch nicht von ihm gepflanzt. Aber sonst – sonst kann man wohl sagen, das Bad Buckenhagen ist meines alten Herrn Werk, Schöpfung, Liebling und Marotte. Schließlich die großen Hotels in Frankfurt, Köln, Hamburg und Bremen – die beiden letzteren hat er jetzt zu Aktiengesellschaften gemacht – könnten ihm, seinem Tätigkeitstrieb und seiner Fürsorge für seine beiden Kinder ja genügen. Gehen auch trotz der schlechten Zeiten, über die er natürlich als braver Geschäftsmann weidlich mitschimpft, eigentlich glänzend. Daneben das Weingeschäft. Aber – wie das oft ist, eines Tages im Sommer fährt mein alter Herr zu seiner Erholung – du mußt wissen, wenn mein Vater sich nämlich ›erholt‹, dann kommt immer eine neue Arbeit dabei heraus für ihn und die anderen – fährt er also da oben, von Heringsdorf, los, die Küste entlang. Und nichts zu suchen, das war sein Sinn – wie es, glaub' ich, bei Goethe heißt. Immer so möglichst nah am Wasser her fährt er. Da hat er – ausgerechnet bei Buckenhagen, dessen Namen er zum erstenmal auf seiner Autokarte liest – eine üble Panne. Muß da in einem Elendsgasthöfchen übernachten. Sieht abends einen wundervollen Sonnenuntergang, erlebt einen stillen goldenen Morgen, nimmt aus Langerweile ohne Badeanzug ein Bad, das ihm glänzend bekommt. Und – am Abend des zweiten Tages hat er von Fischern und Bauern Terrain zusammengekauft, um ein neues Haus und ein halbes Dutzend Villen und was weiß ich daraufzustellen. Das war vor drei Jahren. Voriges Jahr waren schon einmal eine Woche lang in der Hochsaison die fünfundsiebzig Zimmer des Hotels – die meisten zweibettig – alle besetzt bis unters Dach und die Villen auch . . . Das war ein Triumph. Und das muß nun so werden und bleiben, das ist seine fixe Idee von Anfang Juni bis Mitte September. Die Welt muß sprechen von Buckenhagen und dem Strandhotel, wie sie von Trouville, Norderney und Scheveningen spricht – oder mindestens von Warnemünde, Kolberg und Zinnowitz . . . Und von wo aus wird sowas gemacht? Natürlich von Berlin aus. Und wie wird's gemacht? Man setzt seinen leiblichen einzigen Sohn – der kaufmännisch vorgebildet ist, erst Rostocker Bank, dann in Hamburg Hotelfach – den setzt man im Berliner Westen in ein schick ausgestattetes appetitliches Lokälchen – zum Beispiel hier in ein Eckhaus an der Kaiserallee . . . Na, Mensch, das ist so ungefähr wie der Frankfurter, der seinem Bub den Weg nach Amerika beschreibt: ›Also, da gehste zunächst bis Offebach, und nachher streckt sich's.‹«

»Na ja, aber du vertrittst doch schließlich hier nicht allein das noch wenig bekannte Buckenhagen?«

»Wenig bekannt? Also du, lieber Addo, laß das meinen alten Herrn nicht hören, wenn du – wie ich das durch deine Anhänglichkeit an mich fast vermute – meine hübsche Schwester heiraten willst. Buckenhagen – der alte Herr annonciert doch schon zwei Sommer lang in allen großen Blättern – Also, ich sage immer, die Anna Zcillag seligen Angedenkens – heißt sie nicht so? – und die Eule auf der Döhringseife und die Schweizer Pillen des tüchtigen Apothekers Brandt, das waren unmündige Kinder gegen die Reklame.«

»Schön – aber ich meine, du – oder Ihr – wie sagt man da eigentlich?«

»Na ja, wenn du mich meinst, dann sagst du besser ›du‹. Aber wenn du Fräulein Butte und mich meinst, dann mußt du schon ein ›ihr‹ spendieren. Und ich weiß auch, was du sagen willst: wir beide arbeiten in fieberhafter Tätigkeit im Berliner November für ein halbes Dutzend Ostseebäder, unter denen Buckenhagen allerdings – ganz unter uns – noch das kleinste ist. Aber die Instruktion meines Vaters – ›streng geheim‹ wie alle Instruktionen, die irgendeinen Wert haben – lautet: jeder, der hier hereinkommt, gleichviel, wohin er eigentlich möchte, muß sanft und sachte – je nachdem es seine Natur vertragen kann, auch nachdrücklich und andauernd bis zum Irrsinn – darauf hingewiesen werden, daß gerade für ihn und seine Frau und seine Schwiegermutter und seine liebe Familie und sein Personal, das er vielleicht mitnimmt, und seine Freunde, die ihn vielleicht besuchen wollen, kein Seebad dieses Planeten sich durch seine Luft, seinen Strand, seine Wälder, seine Geselligkeit, seine Witterungsverhältnisse und überhaupt durch die Gnade Gottes und der Menschen so herrlich eignet wie das unerhört aufblühende, gesegnete Buckenhagen.«

Während der Freund so redete und dabei erst einen Haufen Berliner Zeitungen, mit deren Lektüre er anscheinend seine Mußestunden ausgefüllt, beiseite legte, dann die Rolläden an den Erkerfenstern nach beiden Fronten herunterließ, sah sich Addo in dem nicht großen, aber behaglich eingerichteten Geschäftsraum um. Karten für Wanderer, Pfadfinder, Autos und Räder an den Wänden wechselten mit flotten Aquarellen und außerordentlich farbigen Ölskizzen, die den Ostseestrand im Sonnenschein und im hohen Wellengang zeigten. Dazwischen Bilder hübscher Frauen in prallsitzenden Badeanzügen und fröhlicher nackter Jugend, die als Vertreter gutgewachsener, sportlich trainierter deutscher Menschheit den weit sich dehnenden Strand bevölkerte. Dazwischen hier und da gutmütige Karikaturen, die auch dem humorvollen Betrachter Spaß und Unterhaltung am Strand der deutschen See versprachen. Die größten und besten Bilder aber, die auch von besonderer Liebe ins vorteilhafteste Licht gehängt waren, stellten das Strandhotel in Buckenhagen dar. Vor diesem wahrhaft eleganten Neubau gab sich – wenn die Begeisterung des Malers nicht übertrieb – unter bunten Schirmen und wehenden Wimpeln an kleinen Tischen eine sorglose Menschheit, der das Seebad den Appetit gekräftigt hatte, den Freuden der Abendmahlzeit hin, während ein Mond, um den Venedig im Mai und Taormina im Herbst das freundliche Buckenhagen beneiden könnten, aus heiterstem Sternenhimmel eine goldene Brücke auf die leicht bewegten Wellen legte. Hinüber nach – – ja, nach Dänemark oder nach Schweden? Das wußte Addo nicht, der persönlich die Reize Buckenhagens weder bei Tag noch bei Nacht je geschaut hatte. Gerade wollte er seine geographischen Kenntnisse in dieser Richtung vervollkommnen, als sein Freund Veit, der schon in Hut und Mantel bereitstand, ihm auf die Schulter schlug:

»Reiß' dich los, geliebter Sohn, von den Herrlichkeiten des Ostseestrandes, der dir in dieser Jahreszeit nicht die reine Freude spenden würde, die du hier abgemalt siehst. Und der auch nicht ganz so viel Unterhaltlichkeit jetzt bietet, wie der viel beschimpfte Berliner Westen. Aber sag's meinem Vater nicht weiter, denn er sucht schon – in Chiffreannoncen und ohne zunächst ganz deutlich zu werden – ein oder zwei junge unternehmungslustige Ärzte, Fanatiker der Luftkuren und der staubfreien, salzhaltigen Luft, um ein großes ›Sanatorium für Winterkuren‹ dem Buckenhagener Sommer sinnreich anzugliedern . . . Aber komm, lassen wir Buckenhagen sowie meine und Fräulein Buttes fieberhafte Werbetätigkeit für das Seebad der Zukunft einmal auf sich beruhen! Machen wir lieber für diesen Abend oder eigentlich für diesen späten Nachmittag ein vernünftiges, unser würdiges Dessin.«

»Wenn dir's recht ist – ich habe meinen Zwicker gestern zerbrochen und bei einem kleinen Optiker in der Uhlandstraße zur Reparatur gegeben – könnten wir diesen Helfer meiner Sehkraft zunächst abholen.«

»Schön, lieber Addo – ich spreche diesen Vornamen zu gern, weil er so blöd ist – schön, da wir nichts Lieberes haben zum ›Abholen‹ – holen wir zunächst deinen Zwicker in der Uhlandstraße ab! Ich habe übrigens solche Abende gern, die wenigstens mit einem ›Zweck‹ anfangen. Nachher – wenn wir den Zwicker haben – könnte man vielleicht mal so im Vorbeigehen . . .«

»Ich weiß schon«, Addo blieb stehen und schüttelte bedenklich den Kopf. »Du bist eigentlich ein unglaublicher Kerl, Veit. Du bildest dir ein, weil die hübsche Kleine –«

»Klein – war sie gar nicht.«

»Na also, weil die hübsche Unbekannte einmal in der Post der Marburger Straße ein Zettelchen schrieb, müsse sie da nun an jedem Abend –«

»Zunächst, du hast recht, ich ginge ganz gern mal nach der Marburger Straße, so beiläufig einen Blick in die Schalterräume zu tun. Aber dann – Logik schwach! Das Zettelchen – das ich übrigens noch immer in meinem Portefeuille verwahre – das schrieb sie doch sicherlich nicht an dem Pult in der Marburger Straße, weil sie am Wedding oder in Erkner wohnt. Ihre Wohnung, nehme ich an, ist vielmehr dort in der Nähe. Vielleicht wohnt sie auch – trotz ihrer schwarzen Haare – im Christlichen Hospiz. Und in das Postamt wird sie sich auch – wenn die Annonce mittlerweile erschienen ist – so nehm' ich an, wieder begeben, um –«

»Ach, – jetzt erkenne ich den Zweck der dort gehäuften Zeitungen, Voß, Lokalanzeiger, Tageblatt, Morgenpost – auf deinem Pult! Du suchst –«

Veit nickte zustimmend. »Du hast lichte Momente, Addo. Ich dachte mir, irgendwo muß ich nun doch bald die verteufelte Annonce finden, die ähnlich abgefaßt ist, wie der zunächst von der schönen Schreiberin gemißbilligte und zerknüllte Text, den ich – sauber geglättet – in der Brusttasche trage. Bis jetzt habe ich zwar auf der Jagd nach dieser kleinen Anzeige eine Fülle der wunderlichsten Bitten und Angebote gefunden, die einem ›edlen Menschen‹ – besonders, wenn er den Verstand verloren hat – zu tun geben könnten. Aber keine dieser Anzeigen weist in der Fassung auf meine schöne Unbekannte und die Marburger Straße hin.«

»Armer Veit! Und die kleine Annemarie – erste Plätterin im herrschaftlichen Wasch- und Plättgeschäft der Frau Emmerich in Nowawes?«

Veit blieb in sinnender Bewunderung vor einem Blumenladen stehen. »Ist das nicht reizend?«

»Was? Das Grabkreuz aus Veilchen?«

»Nein – ich meine nicht gerade das Grabkreuz, aber diese farbige Fülle der Blumen überhaupt. Und das Feinste, Sublimste daran, das vielleicht heimlich aber stark in unserer Bewunderung mitklingt: daß all sowas morgen schon, spätestens übermorgen verwelkt und für immer dahin ist. Sieh mal, so geht das auch mit dem Blühen in unserer Brust. Die kleine Annemarie, vor ein paar Tagen noch für mich eine Augenlust und Sinnenfreude, ist – ja also, Addo, ich kann nicht anders sagen – ist wie weggewischt aus meiner Erinnerung. Das heißt, soviel Anstand hatte ich natürlich immer noch, ihr nett zu schreiben, daß ich plötzlich verreisen muß – nach Buckenhagen.«

»Ausgerechnet jetzt nach Buckenhagen, das du mir vorhin selbst zu dieser Jahreszeit nicht empfehlen konntest.«

»Na Gott – ich empfehl's ihr ja auch nicht. Aber Buckenhagen lag nahe – für diesen Rückzug. Sie weiß doch Bescheid, daß ich – durch meinen alten Herrn – heftig mit diesem Fleckchen Erde zusammenhänge. Das schien also das Geeignetste und Wahrscheinlichste. Ich richte da eine ›Winterkur‹ ein, habe ich ihr geschrieben, und kann nicht genau sagen, wie lange ich damit zu tun habe.«

»Der Winter beginnt ja erst.«

»Nicht wahr? Das habe ich mir auch gedacht. Na, und nach ein paar Wochen, wie so Mädels schon sind, nicht wahr, wenn sie mich nicht mehr sieht – hübsch ist sie auch – und das werden ihr andere Männer auch gelegentlich durch Blicke, Worte und Konfitüren mitteilen –«

»Vor vierzehn Tagen hast du noch auf ihre Treue geschworen und du bist mir beinahe grob geworden, als ich von der Möglichkeit sprach –«

»Na ja, erlaube mal, aber damals war das auch eine Frivolität von dir, sowas anzudeuten – solange ich sie noch einen über den anderen Tag sah und – – Ich habe ihr noch einen kleinen Schmuck mitgeschickt, den sie sich lange gewünscht hat, und ein Kästchen Pralinen, das heute, wie ich sie kenne, schon erledigt sein wird.«

»Also wirklich aus?«

»Aus, außer, am außesten!«

»Und nur, weil du – zufällig – auf der Post eine dir gänzlich Unbekannte . . . von der du nicht einmal ahnst, wo und wie . . . Also, weißt du –«

»Du willst mir doch nicht mit dem Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach kommen?!«

»Nein, ich hatte überhaupt an keinerlei Vergleiche aus dem Tierreich gedacht. Aber weißt du – an wen du mich, wenn ich dich jetzt so ansehe und deine leichtfertige Rede höre – an wen du mich da erinnerst?«

»An Karl den Großen?«

»Unsinn! An Romeo! An den Shakespeareschen Romeo!«

»Na, wenn der gut gespielt wird, auch nicht der Schlimmste! Wenn meine liebe alte Mutter von ›Romeo und Julia‹ spricht, setzt sie immer die Brille ab, um sich die Tränen aus den Augen wischen zu können. Und dann sagt sie ›Kinder‹, sagt sie, ›daß ihr den Kainz nicht als Romeo gesehen habt –‹ Weiter kommt sie nicht, denn da unterbreche ich immer, kühn aber logisch: ›Mama, das war doch bloß deine Schuld, weil du uns offenbar zu spät geboren hast‹ . . . Aber sage mal, Addo, warum erinnere ich dich eigentlich an den Edlen aus Verona? Gerade jetzt, wo ich dir sage, daß die kleine Annemarie für mich erledigt ist . . . Ich denke, Romeo ist das Sinnbild des treuen, bis über die Ohren verliebten Schwärmers?«

»Da sieht man eben, ein wie schlechter Shakespearekenner du bist . . . Du solltest, statt mit Fräulein Butte egal Halma zu spielen hinter der spanischen Wand, solltest du mal deinen Shakespeare wieder vornehmen!«

»Mach' ich – aber bitte, warum bin ich Romeo?«

»Romeo – erinnere dich – kommt aus den Armen der Rosalinde und schwört: ›Ein schöneres Weib, als sie? Seit Welten stehen, – hat die allsehende Sonn' es nicht gesehen!‹ Und nun sieht er sie beim Fest der Capulets mitschmausen – das heißt: er sieht sie nicht mehr, die Rosalinde – er sieht nur noch Julia – die ihm bis dahin Unbekannte.«

»Also wenn ich davon absehe, daß meine unbekannte Julia ganz bestimmt nicht in dem ›Herrschaftlichen Wäsche- und Plättgeschäft‹ der Frau Emmerich in Nowawes mitschmaust – mag der Vergleich angehen.«

»Danke. Es fehlt nur, daß du die Tochter Capulets findest. Fehlt, daß sie in der Nähe hält, was sie aus der Ferne versprach. Daß sie nicht lispelt oder stottert beim Sprechen, und daß sie dich nicht enttäuscht im Sinne des Goetheschen Wortspiels: ›Ehe ich sie ansprach, sprach sie mich an. Als ich sie aber angesprochen hatte, sprach sie mich nicht mehr an.‹ Und das Drama, das mit einem Blick begann, kann seine wortreichere Szenenfolge entrollen.«

»Findest du es sehr nobel, dich auf Kosten eines Unglücklichen, der verliebt ist, lustig zu machen? Wie oft hat übrigens Faust das Gretchen, hat Dante die Beatrice, hat Petrarca die Laura gesehen, ehe der zündende Funke sprang!«

»Du bist wahrhaftig nicht schüchtern in deinen Vergleichen. Hier wohnt übrigens der Optiker, der mein Augenglas verarztet. Warte, bitte, einen Augenblick.«

Als Addo, den reparierten Kneifer auf der Nase, wieder aus dem Lädchen herauskam, hatte Veit seinen Ärger und seine Anklage zu wohlgesetzter Rede zusammengelegt. »Du bist mir ein schöner Freund! Dein famoser Vater hat die Großzügigkeit, dich nach bestandenem Referendar und Doktor und ehe du deine juristischen Kenntnisse auf seine Fabrik in Paderborn loslässest, für drei Monate hierher zu schicken. Bloß um Großstadtluft zu atmen und Berlin kennen zu lernen. Du hast das Glück, hier einen vortrefflichen Jugendfreund, als wie mich, zu treffen, der – zum Unterschied von dir – an die Kette eines, ich will nicht sagen aufreibenden, aber immerhin zeitraubenden Berufes gelegt ist. Diesen Freund findest du in tiefer Seelennot. In sehnsüchtigem Verlangen nach einer Frau, deren Spuren zu folgen ihm, dem Pflichtgetreuen, beruflich Gebundenen die Zeit fehlt. Anstatt nun zu sagen: ›Ich werde für dich Recherchen in die Hand nehmen‹, – was, bitte, tust du? Du zitierst ›Romeo und Julia‹ in einem Vergleich, der hinkt wie Richard III., und machst dich heimlich über mich lustig.«

»Erstens mach' ich mich nicht lustig. Zweitens: was sollt' ich denn, wenn ich wirklich meine Besuche in der Nationalgalerie, im Zeughaus, im Kaiser-Friedrich-Museum und im Zoo dem Dienst an deiner wunderlichen Sache opfere, was sollt' ich denn eigentlich unternehmen. Soll ich vielleicht jeden Verkehrsschutzmann im Umkreis von drei Meilen vom Postamt Marburger Straße ankrakeelen: ›Mein teurer Sir, haben Sie nicht zufällig eine junge Dame gesehen, von der ich nicht weiß wie sie heißt, und nicht weiß, woher sie stammt, und nicht weiß, was sie hier treibt!‹«

»Was sie treibt? Sie sucht einen Edeldenkenden!«

»Auch ein Erkennungszeichen im Berliner Westen! Oder soll ich vielleicht zu einer weisen Frau, einer Wahrsagerin, gehen und mir aus Kaffeesatz und Hühnermist –?«

Veit blieb plötzlich mitten auf dem Damm, den sie gerade überquerten, stehen. So plötzlich, daß der in dickem Pelz wie eine holde Zerbrechlichkeit verpackte Chauffeur eines eleganten Privatautos nur gerade noch unter wilden Flüchen, die weder zu dem Pelz, noch zu dem Wagen zu passen schienen, bremsen konnte.

Aber Veit beachtete die unfreundlichen Zurufe durchaus nicht, als er sich, fest in des Freundes Arm hängend, in ganz verändertem Tone sagte: »Addo – also du äußerst da etwas, was du selbst nicht ernst nimmst. Am Ende gar irrtümlich für einen Witz hältst. Es ist keiner!« Und nach einer Weile des Zögerns, als ob er innere Hemmungen überwinden müsse: »In meiner Familie gab es Hellseher. Die Schwester meines Großvaters hat – das ist erwiesen und belegt – einmal geträumt, das Testament eines verstorbenen Onkels läge in seiner Bibliothek im zweiten Band einer alten Kleist-Ausgabe beim ›Käthchen von Heilbronn‹. Und was soll ich dir sagen? Das wichtige Blatt fand sich – allerdings im dritten Band beim ›Prinzen von Homburg‹, aber es war tatsächlich das Original, – in das Buch, so als eine Art Lesezeichen, eingelegt. Aber später wurde es vom Gericht anerkannt und hat ihren und ihres Bruders, meines Vaters, Wohlstand begründet . . . Und hältst du etwa Swedenborg, der den Brand von Stockholm aus ungeheurer Entfernung, von Gothenburg aus, gesehen hat, und hältst du Jung-Stilling für einen Narren? Und Justinus Kerner, der jahrelang erfolgreich mit der Seherin von Prevorst experimentierte, für einen Scharlatan oder Betrüger? Wie blinde Hühner manchmal Körner finden, so hast du mich da eben auf eine gute Sache gebracht. Ich gehe – verlass' dich drauf –, sobald ich eine neue Wohnung habe, zu einer Wahrsagerin.«

»Du willst wirklich umziehen?«

»Sobald als möglich. In meiner Familienpension wohnen lauter ›Familien‹, die diesen gemütvollen Namen, weiß Gott, nicht verdienen. Links von mir wohnt ein dänisches Paar. Sie haben, hört' ich, in einem Vergnügungslokal eine Tanznummer. Den ganzen Tag zanken sie sich, überlaut und dänisch, so daß man nicht mal verstehen kann, über was man sich eigentlich ärgert. Und rechts von meinem Schlafzimmer – Grundgütiger! da kampiert ein Schlagerkomponist, dem um die Welt nichts einfällt, der aber den ganzen Tag auf einem gemieteten Klavier aus Einfällen anderer die eigene Anregung sucht. Nachts kommt dann plötzlich die Muse über ihn, und er sitzt – ich denke im Nachthemd – vor diesem Marterkasten und phantasiert Unsinniges . . . Halt, da hab' ich's! Du behauptest: du tust nichts für mich, bloß weil du keine Möglichkeit siehst. Gut, laß' meine Unbekannte auf sich beruhen! Aber da dir dein Vater Berlin kennenzulernen als Aufgabe gestellt hat, so suche du mir ein bißchen, – während ich im Büro die Ostsee populär mache – suche du mir eine Wohnung hier in der Gegend. Zwei Zimmer, nicht zu laut. Unten keine Kneipe und keinen Käseladen. Hübsch möbliert, keine Schreckenskammer alter Jugendstile, aber auch keine moderne ›Sachlichkeit‹ mit der Leere eines Löwenkäfigs. Das Wohnzimmer geräumig, vielleicht ein Erker, Telephon versteht sich, Bad wäre angenehm. Das Schlafzimmer, bitte, nicht zu klein. Das Fenster nicht in einen lichtlosen, stinkigen Hof hinaus. Möglichst nicht bei einer alleinstehenden Dame. Die wollen oft noch geheiratet sein oder sie führen Prozesse und riechen nach Kamillentee oder Opodeldok. Kein Klavier neben mir, keine Kinder über mir –«

»Noch was?«

»Nein, einfach eine Wohnung, die auch dir gefiele. Wenn du drei oder vier solcher Domizile gefunden hast, dann trete ich zur engeren Wahl in entscheidende Aktion. Und sobald ich den dänischen Invektiven und den internationalen Schlagern endgültig entflohen bin –«

»Gehst du zur Wahrsagerin und läßt dein verliebtes Herz beraten.«

»Ja, wie ein Mann mit schwerem Rheumatismus, der in zehn Bädern, bei zwölf Ärzten, Magnetiseuren, Kapazitäten, Nervenmasseuren in Berlin, München und Wien seine Leiden nicht los wurde, schließlich – Aufklärung her, Wissenschaft hin – mit aufgeschlagenem Rockkragen zum alten Schäfer nach Niedergrotzenburg fährt und – manchmal geheilt wird.«

Hier bog das Gespräch der beiden Freunde von dem interessanten Thema der Liebe und Wahrsagerei ab zur Medizin. Sie waren, wie sich's erwies, darin mit Mephisto einig, daß der Geist der Medizin schwer zu fassen sei. Während aber Addo die gemischte Kost und die Allopathie für das einzig Wahre hielt, verteidigte und empfahl Veit aufs wärmste die Homöopathie und aszetische Enthaltung von jeglichem Fleischgenuß. Ja, er zeigte in begeisterter Rede als fernes erstrebenswertes Ziel der Menschheit – gewissermaßen auch in ewiger Wiederkehr des gleichen – die Rohkost, wie sie zweifellos im Paradies, das keinen Tiermord, kein Feuer, keine Wurst und keine Wiener Köchinnen kannte, die einzige Nahrung der noch sündlosen Menschheit war.

Die geistige Beschäftigung mit den verschiedenartigen Möglichkeiten der Ernährung hatte den jungen Leuten beträchtlichen Appetit gemacht. So begaben sie sich, ihre Schritte beschleunigend, zu einem Restaurant am Zoo, das in Anbetracht der frühen Abendstunde schon recht gut besucht war.

Hier bestellte Addo, nachdem er die ganze Speisekarte nach seiner Gewohnheit zweimal von oben nach unten und von unten nach oben aufmerksam gelesen und geprüft hatte, das nicht aufregende Gericht Rührei und Schinken. Veit aber, noch eben der Apostel der vegetarischen Lebensweise, ließ sich ein englisches Beefsteak mit Zwiebeln geben und ordnete an – das hatte er in einem Restaurant in Budapest gelernt – daß eine nicht zu kleine Scheibe Gänseleber darauf placiert werde.

Als die beiden ihre Mahlzeit mit einer erfreulichen Flasche Mosel begossen hatten, wie das gesättigten Menschen gut ansteht, nahm das Gespräch eine neue Wendung.

Diesmal war es Addo, dem es keine Ruhe ließ, daß ihm Veit vorhin als einen mystischen Dingen gegenüber durchaus skeptischen, ja von billiger Frivolität nicht freien Menschen hingestellt hatte.

»Du bist vorhin von einer ganz irrigen Voraussetzung ausgegangen«, sagte Addo, der bedächtig aus der zweiten Flasche Mosel in die Gläser goß, »du wirfst mich nur so mit leichter Hand auf den üblen Haufen der aufgeklärten Nüchterlinge. Da gehöre ich keineswegs hin! Ich bin durch meine selige Mutter – mein lebender Vater glaubt nicht viel, aber er rechnet um so besser – bin ich ziemlich religiös erzogen. Und es ist merkwürdig, meine Mutter war eine kleine, zierliche, gebrechliche Frau – aber vielleicht gerade deshalb und daher – wie auch körperlich geschwächte und vom Leiden geschlagene Dichter und Philosophen sich oft den blutrünstigsten Phantasien hingeben – hatte sie eine ausgesprochene Vorliebe für das Alte Testament. Für die erste Hälfte des Buches der Bücher mit seinem stets auf Rache und Strafe bedachten Priestertum. Mit seinen wunderlichen Dienern Gottes, die nie lauter frohlocken, als wenn der Herr und Stammesgott wieder einmal tausend und aber tausend Feinde – Ammoniter, Moabiter, Edomiter oder Philister – in die Hände der Auserwählten gegeben, daß sie an den Besiegten den Bann vollstrecken. Was – wie man in und zwischen den Zeilen lesen kann – mit einem mitleidlosen, gräßlichen Hinschlachten in engster Verbindung mit Zerstörung und Plünderung identisch war. Die Propheten, die eigentlich meistens Dinge prophezeiten, die nachher durchaus nicht eintrafen – Babylon ist nicht, wie Jeremias in schrecklichen Gesichten geweissagt hat, in einem Blutbad untergegangen, sondern von den Juden an die Perser verraten und fast ohne Schwertstreich von Cyrus besetzt worden; Tyrus ist nicht, wie Hesekiels Zorn ›voraussah‹ von Nebukadnezar zerstört worden, und Jericho, dessen Mauern zwar dem Ansturm der jüdischen Nomaden aber nicht den sieben Widderhörnern der Priester standhielten, ist zwar in Grund und Boden verflucht worden, hat aber tatsächlich unter der Verwirklichung all dieser Prophezeiungen niemals gelitten.«

Veit staunte mit offenem Munde den Freund an. »Nanu, ich denke, du bist Doctor ›juris‹ und seit ein paar Tagen Referendar – und so beschlagen in der Geschichte des Orients!«

»Ich sagte dir schon, lieber Veit, meine Mutter hatte eine seltsame Schwäche für das Alte Testament. Ich habe – als Erinnerung an die Kinderstube und ihre Erzählungen – das Interesse dafür geerbt. Konnte mich aber später nicht mehr an den gehässigen Rasereien der Prophetenschulen erwärmen und der Logik der ganz andersartigen Tatsachen nicht mehr entziehen. Meiner Mutter aber – ich sagte schon, sie war klein, schwächlich und viel krank – haben's alle diese scheußlichen Prophezeiungen eines fanatischen Hasses – die dümmste, gänzlich unerfüllte stammte vom Propheten Elisa – nun mal angetan. Und dann hatte sie – vielleicht ganz logisch, wenn man sich den pfiffigen kleinen David mit der Schleuder vor dem blöden Riesen Goliath vorstellt – eine besondere Schwäche für alles, was mit dem großen König der Juden, seiner Jugend, seinem Saitenspiel, seinem Heldentum und vielleicht auch mit seinen allzu menschlichen Eigenschaften zusammenhing. So hat sie mir auch zuerst erzählt – und ganz anders, viel packender und eindringlicher, als später der trockene Religionslehrer – von jener Hexe von Endor.«

»Hexe von Endor – wart' mal« . . . Veit sah nachdenklich in sein Moselglas, als ob ihm aus dessen lieblicher Blume die düstere Weisheit des Alten Testaments aufgehen müßte. »War das nicht das Weib, das irgendwas mit dem Saul zu tun hatte?«

»Irgendwas? Das ist milde ausgedrückt. Sie hat dem Sohn des Kis – und das ist die wundervolle Erzählung der Bibel – sie hat ihm, dem schon an seiner Macht und seinem Glück Zweifelnden, den nahen Untergang geweissagt. Und die verachtete Hexe hat damit schärfer und richtiger die Zukunft gesehen als später gefeierte Propheten wie Hosea und Elisa . . . Aber das ist bezeichnend, du weißt mit Swedenborg Bescheid und redest so nebenher von der ›Seherin von Prevorst‹ – und das Urbild aller Seher und Zeichendeuter haftet nur ganz oberflächlich in deiner Erinnerung.«

»Schön, belehre mich, Sohn deiner Mutter, im Stil des alten Buches!«

Und nun geschah das Merkwürdige. Während rings herum an den gedeckten Tischen Studenten und junge Kaufleute laut mit ihren Freundinnen lachten, tuschelten und fuselten, während wohlbeleibte alte Herren aus der Provinz über gefüllte Rotspongläser hinweg mit ummalten Augen und künstlich vergrößerten Pupillen unter geschwärzten Wimpern verständnisvolle Blicke wechselten, während die schmissige Kapelle unter dem Taktstock eines amerikanisch zurechtgemachten östlichen Jünglings den zwingenden Rhythmus des ersten Jazz in den Saal klingen ließ, berichtete der junge zum Syndikus ausersehene Sohn eines angesehenen Vaters, gekleidet nach der letzten Mode und einen neunzehnhundertundeinundzwanziger Berncastler Doktor vor sich, von jenem König von Israel, der vor dreitausend Jahren mit seinem Heer zu Gilboa lag, den Streitkräften der Philister gegenüber.

Unwillkürlich kam etwas von der dunklen Wucht jenes Berichts im Buch Samuelis in Addos Rede, als er, ohne den werbenden Jazz, den Lärm der Eßgeschirre und das Liebesgeflüster um sich herum zu beachten, die mystische Begebenheit im Stamme Isaschar also erzählte.

»Das Herz König Sauls war finster und verstockt. Er hatte nach Samuels, des Propheten, Tode keine Träume und keine Seher mehr. Wahrsager und Zeichendeuter hatte er selbst in seinem Zorn verbannt und mit dem Tode bedroht . . . Nun liegt er seinen tapfersten Feinden gegenüber im verschanzten Lager und weiß, die Entscheidungsschlacht naht. Da quält den schlafenden König Angst und Unruhe. Er gewinnt's über sich und sagt befehlend zu seinen Knechten: ›Sucht mir ein Weib, das einen Wahrsagegeist hat! . . .‹ Die Knechte zögern und staunen. Sie kennen doch seinen Zorn und sein strenges Verbot. Er aber wiederholt sein Geheiß. Da spricht einer: ›Zu Endor, Herr, wohnt, das weiß ich, ein Weib, das hat einen Wahrsagegeist . . .‹ Rasch wirft Saul seinen Königsmantel ab und wechselt seine Kleider. Mit zwei vertrauten Männern geht er tief in der Nacht gen Endor und findet das Weib mit dem Wahrsagegeist in seiner Höhle. Aber die Hexe will nicht reden. Sie weigert sich. Der König hat, das weiß sie, die Todesstrafe gesetzt auf Zeichendeuten und Wahrsagen. Saul schwört: es soll dir nichts geschehen, und begehrt Samuel zu sehen, den Propheten, dem er die Königswürde verdankt, den er geliebt, gefürchtet und gehaßt hat. Und hinter dem Feuer, das das Weib entzündet hat, steigt plötzlich der Geist Samuels empor. Da erkennt das entsetzte Weib ihren Besucher und schreit auf: ›Du bist Saul!‹ . . . Und Saul – das starre Auge gerichtet auf Samuels Geist –: ›Fürchte dich nicht, Weib, heiße ihn reden!‹ – Und Samuel, weißhaarig, im Priestermantel, richtet sich auf und ruft dem König zu: ›Der Herr wird dich geben in der Philister Hand! Morgen wirst du mit deinen Söhnen bei mir sein!‹ – Da erschrak Saul bis ins innerste Herz und brach ohnmächtig zusammen. Als er aus langer Ohnmacht erwachte, saß er schweigend da, ohne Brot und Wein zu nehmen. Einen Tag und eine Nacht saß er so. Am dritten Abend brach er auf mit seinen Getreuen und schritt unerkannt zurück durch die Nacht dem Lager von Gilboa entgegen. Am anderen Tag aber verlor der König Saul kämpfend Schlacht und Leben. Wie der von der Hexe von Endor gerufene Samuel ihm kundgetan.« . . .

Donnernder Applaus. Der Jazz mußte wiederholt werden.

»Es liegt etwas seltsam Zwingendes in der Geschichte«, sagte Veit, »das könnte wahr sein!«

»Was wir glauben, ist immer wahr.«

Zwei geschminkte Weiberchen, galante Abenteuer in den flackernden Augen, schoben sich, die kurzen Röcke herausfordernd werfend, dicht am Tisch der beiden vorbei.

Aber die jungen Leute sahen sie gar nicht an. Sie drehten die Moselgläser spielend in den Händen und starrten nachdenklich in den Wein.

Ringsherum Lachen, Flirten und die Geräusche der Mahlzeiten. Kellner, die die versilberten Platten auf der in Achselhöhe gehobenen Hand halten, eilen schwitzend vorbei. Ein alter, plattfüßiger Zeitungshändler zwängt sich durch die Tanzenden und Tafelnden und bietet devot, mit heiserer Stimme die Journale des Abends, der Nacht und des nächsten Morgens an. Am Nebentisch streiten ein paar blasse Jünglinge hitzig über die Chancen des Sechstagerennens. Hinter ihnen zeigt ein alter Herr – lüstern lächelnd und leise tuschelnd – graubärtigen Freunden transparente Spielkarten, die er gestern in einem Kaffee der Passage von einem Zündholzhändler gekauft.

Die beiden Freunde aber saßen sich unbewegt gegenüber und schwiegen. Ihre Träume waren weit von diesem heißen, dunstigen, grellbeleuchteten Saal. Ihre scheuen Gedanken tasteten durch das nächtliche dunkle Land des Stammes Isaschar und suchten die Hexe von Endor.

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