Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Rudolf Presber

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»Kannst du dich nicht etwas geräuschloser waschen, Siegmund?« Melusine warf ihren schweren, massigen Körper, der etwas an einen zerlaufenden Pudding gemahnte, in dem krachenden Bett herum.

»Aber ich habe doch nur den Schwamm ausgedrückt!«

Siegmund Kern stand mit nacktem, wasserbeperltem Oberkörper vor dem kleinen Waschtisch. Gewohnt, die meiste Zeit seines Lebens hinter dem Pult zu sitzen, hatte er auf gute Körperhaltung nie sonderlich acht gegeben. Seine knochigen Schultern näherten sich einander in einem Bogen, während unter der reichlich behaarten Brust der schwabbelnde Ansatz eines Bäuchleins sich in den allzu straff sitzenden Bund des Unterbeinkleides verlor. Wie er eigentlich zu dieser seltsamen, weder schönen noch bequemen Fettablagerung gekommen, wußte er selbst nicht. Von der Reichlichkeit fetter Mahlzeiten, die ihm Melusine vorsetzte, kaum. Diese bestanden an Tagen, wo sie Proben hatte, oft nur aus aufgewärmten Kartoffeln mit etwas Schmalz oder aus ungaren Grießklößchen mit schlecht belesenen Kronsbeeren. Daher konnte dieses Schlemmerfett wirklich nicht kommen. Es war wohl eine ererbte Anlage. War schließlich eine ebensolche Vorspiegelung falscher Tatsachen, wie die von einem dünnen, melierten Haarkränzlein umgebene spiegelnde Glatze, die von Melusine als »Strafe für die Liederlichkeit seines Lebenswandels« – selbstverständlich ehe sie diesen persönlich überwachte – lieblos gedeutet wurde.

»Das ist's ja eben!« zürnte Melusine vom Bett her. Dabei betrachtete sie die bescheidenen Reize dieser halbentkleideten Männlichkeit ohne jede Begeisterung durch die Lorgnette, die sie, kurzsichtig wie sie war, selbst in der Nacht an einem leider schmutzenden Silberkettchen um den faltenreichen, speckigen Hals trug, »Wenn ein gut erzogener Mann morgens einen Schwamm ausdrückt, so hört man das kaum. Wenigstens nicht so, daß dadurch seine arme Frau, deren Nerven der Schonung bedürfen, roh aus dem Schlaf gestört wird. Aber wenn du deinen Schwamm ausdrückst, das hört sich gleich an, als ob der Riese Goliath seine Badebütte über die Philister ausgösse.«

Melusine war stolz auf solch unsinnigen Vergleich. Sie hätte – angenommen, daß der Riese Goliath überhaupt dem Reinlichkeitstrieb so weit nachgab, zu baden – nicht zu sagen vermocht, warum der Kerl das schmutzige Wasser gerade über die eigenen Landsleute ausschütten wolle. Aber sie freute sich ihres gefundenen Gleichnisses und glaubte durch seine Schlagfertigkeit jede Widerrede im voraus zerschmettert.

Siegmund Kern aber schwieg in der Hoffnung, daß Melusine, nachdem sie's ihm so gegeben, vielleicht wieder friedlich einschlafen möchte. Diese Frau hatte ein erstaunliches Ruhebedürfnis und eine Freude am Schlaf, wie er es noch nie erlebt. Lieber Gott, seine Beobachtungen schlafender Frauen waren ja überhaupt recht gering. Und meistens nur gesammelt in überfüllten Elektrischen, die, besonders wenn man, die Hand ins Gepäcknetz gekrampft, auf einem Stehplatz herumgestoßen wird, keinerlei schlechte Gedanken aufkommen ließen. Melusine legte sich, wenn sie nicht im »Grabbe-Theater« ein Röllchen hatte, am liebsten mit den Hühnern oder, besser gesagt, mit dem Hugochen zu Bett. Und wenn sie am anderen Morgen nicht um halb elf Uhr zur Probe mußte, so schlief sie, das Kind der Aufwartefrau überlassend und nur aus dem Halbschlummer unwirsche Ordnungsrufe erteilend, bis gegen Mittag. Alle wahrhaft genialen Menschen hätten viel Schlaf gebraucht, behauptete sie. Woher sie, die sich sonst wenig um die Kunde vom Erdengang großer Toter kümmerte, das wußte und ob die Behauptung überhaupt stimmte, das hatte Siegmund, obschon er es gern erforscht hätte, nie in Erfahrung gebracht. Denn das vom Großvater ererbte Pierersche Konversationslexikon schwieg sich in den Artikeln »Goethe«, »Lessing«, »Schiller« über deren Schlafbedürfnis aus; und die ihm zugänglichen Biographien berühmter Männer beschäftigten sich alle seltsamerweise mit dem, was ihre Helden im Wachen geleistet und, unbehindert vom Schlummer, Wissenswertes geschaffen, wesentlich ausführlicher, als mit der Zeit, die sie verschliefen.

Bei Melusine, deren von viel Schlaf sinnreich gesteigerte Genialität das Grabbe-Theater leider nicht genügend ausnützte, kam nun noch hinzu, – was den prominenten Männern nicht passieren kann – daß sie, wie sie wenigstens behauptete, bei Hugochens Geburt und bei einer nicht minder rätselhaften fausse couche, durch die das Kind der Liebe eines hochwertigen Vaters, dessen Name sie nicht preisgab, der Welt entzogen wurde, ungeheuerlich viel Blut verloren hatte. Dieses vor Jahren verlorene Blut zu ersetzen, diente am wirksamsten der Schlaf. Und es war eigentlich zu verwundern, daß Melusine noch immer keineswegs vollblütig war und der etwas käsigen Blässe ihrer Wangen, wenn sie endlich aufstand, mit viel Rouge künstlich aufhelfen mußte.

Ein ärgerlicher Seufzer vom Bett her belehrte Siegmund, daß seine Hoffnung leider nicht in Erfüllung gegangen war. Melusine blieb wach. Und wie bei Kindern und jungen hübschen Frauen, wenn sie morgens nach dem Genuß wohltuenden Schlafes aufwachen, die liebenswürdigen Eigenschaften durch die Morgenfrische gesteigert zu sein pflegen, so war auch Melusinens hervorstechendste Eigenschaft in der Frühe des Tages stets am ausgeprägtesten und für den Gatten, der sie zu dieser Zeit allein genoß, eine beträchtliche Last: die mürrische, bissige Unfreundlichkeit.

»Es ist vielleicht gut«, sagte Melusine und barg die Lorgnette in der Zäsur ihres geräumigen Busens, »vielleicht gut, daß du mich geweckt hast. Ich wollte dir noch sagen, du mußt den Kaffee für dich und Hugochen heute selbst zubereiten – die Schrippen hängen im Säckchen an der Küchentür.«

»Ist Frau Winzer denn krank?« Die Teilnahme Siegmunds für Frau Winzer, die alte spindeldürre Aufwartefrau, die sonst täglich von acht bis zehn Uhr hier wirkte, war nicht besonders herzlich. Er mochte die knochige Alte nicht, die mehr klatschte als arbeitete, in einem schrecklichen Baß Berliner Dialekt sprach und einen unreinen Atem hatte. Aber ihr Fernbleiben beunruhigte ihn doch, da er, wenn sie nicht kam, seine häuslichen Pflichten mit dem Kaffeekochen noch lange nicht erschöpft sah.

»Kümmere dich doch gefälligst nicht um Hausfrauensorgen, Siegmund!«

»Erlaube, liebe Melusine, wenn ich Kaffee kochen und das Hugochen besorgen soll, so darf ich doch wohl auch –«

»Du darfst mir auch etwas Kakao aufsetzen«, unterbrach sie ihn barsch. »In einer blauen Tüte findest du irgendwo einen Rest Kakao. Entweder im Küchenspind oder im Eßzimmerschrank oder vielleicht auch bei den Hyazinthenzwiebeln in der Diele. Solltest du's, talentlos, wie du für so etwas bist, gar nicht finden, so untersteh' dich nicht, mich wieder aufzuwecken! Nimm dann einfach vom Tischchen drin die Schokolade, die dem Hugochen gestern die alte Schumann geschenkt hat.«

»Frau« Schumann war die Souffleuse des Grabbe-Theaters. Ein zerknittertes altes Fräulein, das sich kümmerlich durchschlug und den Fleiß so weit trieb, daß sie in den Pausen einer Komödie in ihrem heißen Kasten sitzen blieb und, die Hornbrille tief auf der Nase, feinere Handarbeiten erledigte. Für das Hugochen aber sparte sie sich zuweilen ein Stückchen billige Schokolade. Vielleicht gerade, weil sie seine Mutter in den Tod nicht ausstehen mochte und das Bübchen wenig um diese nahe Verwandtschaft beneidete.

»Ich werde sehen«, sagte Siegmund, indes er sich das beträchtlich verschwitzte Hemd überstülpte, »daß ich den Kakao finde. Das Hugochen soll doch seine Schokolade behalten. Es kriegt sowieso nicht mehr viel extra, seit – seit –« Er merkte, daß ihn dieser unvorsichtig begonnene Satz aufs Glatteis lockte. So verschluckte er den Rest.

Aber Melusine saß bereits im Bett auf. In Kampfstimmung, man sah es. »Erst weckst du mich rüde aus dem Schlaf, wo du doch weißt, daß meine Natur den erquickenden Schlaf so nötig braucht. Und daß ich damals – zweimal – soviel Blut verloren habe –«

»Aber Melusine, erlaube mal –« Siegmund, der seine Strümpfe unter dem Bett suchte, redete bescheiden aus der Tiefe.

»Ich erlaube gar nichts!« Melusine schnitt ihm scharf das Wort ab – »Aber was nützt mich das? Erst machst du nebenan in der Kammer einen Heidenradau, als ob ein Dorf brennt – es war noch nicht fünf Uhr –«

»Das Hugochen rief immer von nebenan – ganz bescheiden: ›Mutti, ich muß aufs Töpfchen!‹«

»Das Kind muß sich gewöhnen, seine Zeiten einzuhalten. Glaubst du, daß die alten Spartaner jede Nacht aufgestanden sind, wenn so ein kleiner Leonidas oder Pausanias aufs Töpfchen wollte? Aber wenn du denn schon so unspartanisch und so inkonsequent bist und allemal aufstehst und ihm wirklich das Gefäß reichst, so brauchst du doch das nicht mit einem Aplomb zu tun, als ob du eine Hotelküche aufräumst! . . . Dann wäscht du dich hier – übrigens wieder eine Stunde zu zeitig – umständlich und wie ein Eisbär, der erst das Polareis mit den Tatzen durchhauen muß, um seine Flöhe schwimmen zu lassen. Und jetzt kommst du mir immer wieder mit der niederträchtigen Anspielung, daß es das Hugochen besser gehabt hätte ›damals‹, als noch deine famose Tochter Klara – das herzige Klärchen, das, trotz seines seelenvollen Augenaufschlages, im Leben keinen Egmont findet und einen Brackenburg auch nicht – –«

»Ich habe, liebe Melusine –« Siegmund, der zwar in seiner Schwäche nicht hatte verhindern können, daß Melusine die gekränkte Tochter aus dem Haus trieb, ließ nichts auf Klara kommen. Es war der einzige Fall, in dem ein Restchen von Energie in seiner zermürbten, geknechteten Seele revoltierend aufzuckte – »ich habe Klara nicht in die Debatte geworfen!«

»Nein, das hast du allerdings nicht. Du weißt auch sehr gut, warum! Sie hat sich ungehörig benommen gegen mich – deine Frau und ihre zweite Mutter.«

»Das Wort ›Mutter‹ mußt du wirklich in diesem Zusammenhang nicht anwenden, Melusine.« Etwas wie Erbitterung zitterte in Siegmunds Stimme, als er, die Socken in der Hand, auf dem verstaubten Papageienmuster des abgewetzten Bettvorlegers kniend, in einer bisher kaum erlaubten Kühnheit solche falsche Zärtlichkeit abwehrte.

»Ich sage es, wie ich gewohnt bin, alles zu sagen, was wahr ist. Sie war meine Tochter geworden, als ich den sträflichen Wahnsinn beging, ihren Vater zu heiraten. Und weiter sage ich: wer sein Kind liebt, der züchtigt es. Das steht in der Bibel. Die Luther übersetzt hat, nicht du.«

»Wieso – nicht ich?«

»Du hättest sonst diese Stelle sicherlich unterdrückt. Die wohlgezielte Ohrfeige, die ich dem renitenten Klärchen aus dem Affekt heraus verabreichte – ich gebe es zu – aber wer, bitte, soll Affekt haben, wenn nicht wir Künstler? Wir, die wir tagtäglich, unsere übervolle Seele den Dichtern hingebend, alle menschlichen Leidenschaften im Angesicht des dichtbesetzten Parketts zu mimen und zu ertragen haben . . . Apropos: dichtbesetztes Parkett! Es war gestern wieder hundeleer. Und für die drei schäbigen Sätze im letzten Akt meiner Elendsrolle muß ich bis halb elf Uhr dableiben und muß sehen, wie die letzten Mohikaner im Parkett gelangweilt nach der Uhr gucken und . . . Da fällt mir ein, Siegmund, du mußt mir heute zwanzig Mark Vorschuß aus der Kasse geben.«

Siegmund entfärbte sich, als er diesen Einfall zur Kenntnis nahm. Ein Frost kroch ihm über den Rücken, seine Knie zitterten. Die Forderung Melusinens klang so, als ob er persönlich das nur so aus seiner Tasche erledigen könnte oder an der Kasse des Grabbe-Theaters nur mit einem Federstrich anzuweisen brauchte. In Wirklichkeit aber stand es so damit: in seiner Tasche blieben nur die paar lumpigen Groschen, die ihm Melusine an jedem Ersten und Fünfzehnten für die Elektrische und ein paar billige Zigarren ließ. Sie führte – das hatte sie sich ausbedungen – die häusliche Kasse, da er sich – obschon er im Grabbe-Theater »Kassierer« war seit neun Jahren und elf Monaten – nach ihrer Ansicht nicht dazu eignete. Die »Führung der Kasse« bestand allerdings auch bei ihr nur darin, daß sie ab und zu ein paar Zahlen mit unleserlichen Erklärungen davor mit Bleistift in ein blaugedeckeltes Groschenheft schrieb, das sie einen Tag darauf verlegt hatte und nie mehr fand.

»Wo soll ich denn die zwanzig Mark wieder hernehmen?« Siegmund formulierte die ängstliche Frage, obschon er die üble Antwort schon kannte und fürchtete.

Sie kam auch prompt, genau wie er sie erwartet hatte.

»Mach' dich doch nicht lächerlich, Siegmund! Du buchst wie immer ein paar Eintrittskarten à vier und fünf, zusammen für zwanzig bis fünfundzwanzig Mark – fünfundzwanzig sind mir noch lieber – als angeforderte Freiplätze für Zeitungen. Vielleicht wählst du die Karten dafür, die an den Portier ins ›Adlon‹ gehen. Der arbeitet gut und verkauft fast immer.«

»Ich kann es nicht mehr!« seufzte Siegmund, sich mit beiden Händen an den erhitzten Kopf fassend. »Der Direktor hat erst neulich mißtrauisch gefragt: ›Wie kommt's eigentlich, Kern, daß diese miserablen Zeitungsschreiber immer wieder in ein Stück gehen, das sie doch selber in Grund und Boden gerissen haben?!‹«

»Darüber laß du den Böck sich sein jüdisches Köpfchen zerbrechen! Der macht sich doch vor Angst in die Hosen, wenn er bloß ›Journalist‹ hört! Der wagt doch der Presse nichts abzuschlagen. Und wenn einer von den Schmöcken, um besser sehen zu können bei der Premiere, den Wunsch äußerte, auf einem Trapez unter dem Kronleuchter zu sitzen, so ließ der Böck eben für viel Geld ein richtiges Trapez dahin hängen.«

»Aber, Melusine, ich leide schrecklich unter dieser – dieser –«

»Na, was? ›Gaunerei‹ oder wie sonst, mein Lieber? Wir wissen es nun doch wirklich: beim Theater ist gar nichts wahr. Ist alles nicht wahr. Nicht die Bäume und die Häuser in den Kulissen, nicht die Steine in der ›hohlen Gasse‹, nicht der Thronsessel von Heinrich IV., nicht der Schmuck vom Gretchen, nicht dem Falstaff sein Bauch, nicht die Krone der Königin von Saba. Nicht das Heldentum, die Prominenz und das Talent. Warum soll zum Teufel die Buchführung allein ganz echt sein?!«

»Ja, aber –«

»Ja, aber – laß doch die Burschen kommen! Das kalkulieren doch die Herren Direktoren schon ein bißchen mit ein, glaub' mir's, lieber Siegmund. Weißt du, was der Direktor von der kleinen artistischen Luxusbude, dem ›Chrysopras-Theater‹, neulich zu seiner Kassiererin gesagt hat? Ich hab's von ihr selbst. Immer wenn die pfiffige Person einen großen Schmu gemacht hat, verbreitet sie das Gerücht, sie hat ›eine Kleinigkeit geerbt‹. Damit die neuen Kleider nicht auffallen. Da klopft ihr der Direktor eines Tages wohlwollend auf die Schulter und sagt: ›Frau Bergschütz, Sie sind eine fabelhafte Kassiererin! Aber wenn Sie noch einmal was erben – entlass' ich Sie . . .«

»Aber der Böck, wenn der dahinterkommt – der entläßt mich nicht nur, weil ich ›geerbt‹ habe – daß ich nicht lache: ich und ›erben‹! – der zeigt mich auch noch an . . . Ogott, ogott!«

»Was wimmerst du so albern? So weit sind wir noch nicht!«

»Ich wimmere bloß, weil mir wieder der durchgescheuerte Schnürsenkel vom Stiefel gerissen ist. Hast du vielleicht noch Schnürsenkel?«

»Meinst du, ich liege mit Schnürsenkel für Herren im Bett?! Ziehe doch die Halbstiefel an!«

»Es regnet gräßlich; und an den Halbschuhen – zu weit sind sie mir auch – da sind in beiden die Sohlen durch.«

»Sohlen – ist auch ein Platz! Da sieht doch keiner hin. Aber auf deine verrückte Angst zurückzukommen. Du vergißt, daß du noch die große Karte in der Hinterhand hast im Spiel mit dem Ganeff Böck!«

»Ich? Eine große Karte?« Siegmund, der überhaupt nicht Karten spielte, war über diesen angesagten ungewohnten Glücksfall so perplex, daß er, den Kummer über den Schnürsenkel vergessend, sich erstaunt aufrichtete. Wovon er allerdings auch nicht viel größer und bedeutender wurde.

»Du weißt doch, der Böck hat sie geprüft und hat ihr gesagt, hat ihr sogar, als sie nicht wiederkam, in einem Briefchen geschrieben: sie hat Talent!«

»Also – Melusine!« Siegmund wollte auffahren.

Melusine kniff hochmütig die Augen halb zu, und als ob sie einem kleinen Pinscher eine Unart verweise, zischte sie: »Pscht! ganz stille! Wir wissen doch Bescheid, und sie hat kein Talent! Das heißt: ich weiß. Das ist aber in dem Fall das Entscheidende. Denn ich verstehe was vom Theater – und du verkaufst bloß Karten. Aber egal – Talent oder nicht. Wenn du willst – und sie will, wenn du willst – stellt sie der Böck in irgendeinem auf Pointen gearbeiteten Schmonzesröllchen heraus, wo sie ein bißchen lachen und ihre hübschen Beine zeigen kann –«

»Also, Melusine, das ist – das ist –«

Auch wenn Melusine die Geduld gehabt hätte, längere Zeit zu warten auf das Ende dieses Satzes, sie hätte kaum erfahren, was das nach Siegmunds Ansicht eigentlich war. Er suchte nach einem passenden Ausdruck, der seine ganze Empörung und Verachtung ausdrücken und ihr doch nicht allzu weh tun sollte. Solche Ausdrücke aber sind in der deutschen Sprache selten, und auch gewandtere Beherrscher ihrer Schwierigkeiten hätten Melusine nicht leicht in dem gewünschten Sinne bedient.

»Hab' dich nicht so, Siegmund! Ich habe die köstliche Klara doch nicht zum Theater bringen wollen. Das war doch ihr Wunsch, den sie ganz heimlich betrieben hat – aus meinen alten Rollenbüchern hat sie gelernt, wenn ich auf der Bühne war und gedacht habe, sie kümmert sich zu Hause um den Haushalt – und als sie dann damit herausrückte, hat's an deiner schwächlichen Erlaubnis natürlich nicht gefehlt. Und – wenn du mir immer mit der anderen – du weißt schon – zu kommen wagst – ich habe dir doch nicht gesagt, daß du zwei Logenkarten anschreiben solltest – Freikarten für ich weiß nicht was für ein Käseblatt – und zwei Orchesterfauteuils als Freikarten für einen Korrespondenten ›von auswärts‹ – das war doch die andere – die Heilige, die mir immer mit der Weihrauchpfanne unter der Nase herumgerückt wird. Die war's doch –«

Siegmund erwürgte sich fast mit dem Selbstbinder vor dem Spiegel. Das war die einzige Art, wie seine zitternden Hände – die seinen Hals mit dem einer anderen zu verwechseln schienen – ihre Wut auslassen konnten. »Also Melusine«, keuchte er endlich los, während er die armselige unechte Perle in die Halbseide der schon etwas fettigen Krawatte stach – »also Melusine, ich habe dir tausendmal gesagt, sie hat doch gar nichts davon gewußt, die andere! Sie lag – die Beine hochgebunden – mit ihrer Thrombose im dritten Monat im Bett. ›Gar nicht bewegen darf sie sich‹, sagte der Arzt. ›Ein Transport ins Krankenhaus ist gefährlich. Eine Schwester, die zart und sicher zufaßt, ist nötig‹ . . . Schwester – ja woher? Das kostet Geld, Essen – und ich war blank, blank, blank. Hatte schon mit Böcks Zustimmung – und was hat das gekostet an Demütigung! – schon fünfundzwanzig Mark Vorschuß . . . Da hab' ich in meiner Verzweiflung – damals zum erstenmal – – und ich habe mir gedacht, nie mehr! Drei Tage später war sie doch tot, die Ärmste. Und damit ich den Sarg und ein paar Blumen besorgen konnte – da hab' ich noch einmal . . . ›für auswärtige Zeitungen‹ hab' ich angeschrieben. Ach, es ist ja auch ganz egal – und dann, ich hatte ja immer vor, das bald wieder gutzumachen, wieder hineinzulegen in die Kasse. Dann aber – erinnere dich! – du lagst mir immer in den Ohren. ›Ach, Herr Kassierer‹ sagtest du und lächeltest in das Schiebefenster.«

»Herr Rendant!« korrigierte Melusine ohne Gemütsbewegung.

»Ja, Herr ›Rendant‹ sagtest du, ich weiß. Und ich war's doch gar nicht. Bloß Kassierer. Aber das tat mir wohl; und das wußtest du, wenn du sagtest ›Rendant‹. Gerade damals, als man von dir sprach und als du einmal eine große Rolle spieltest – wie hieß sie doch – ›die Ehebrecherin‹ in der englischen Komödie – die einzige große Rolle, die dir der Mack verschafft hat –«

»Laß' gefälligst den Mack aus dem Spiel, Siegmund! Alles was recht ist. Wie der Mann heißt, der mein Talent entdeckt und bei dem mir nicht wohlgesinnten Direktor durchgesetzt hat, das ist ganz gleichgültig. Steht auch hier gar nicht zur Diskussion. Was zur Diskussion steht und was du ja – hinter all den Winkelzügen und Fisimatenten auch zugibst, das ist, daß es deine erste Frau war, nicht ich . . .«

»Nein, nicht sie, nicht sie!« Siegmund hob die Arme und schüttelte beschwörend die gespreizten Hände, »ich hab's getan – für sie hab' ich's getan, das ist etwas ganz anderes!«

»Na, schön; und heute tust du's eben für mich. Und was den Böck und seine Hintermänner anbetrifft –«

»Den Mack und den –«

»Ich habe dir eben erst die Albernheit verwiesen, Siegmund, Namen zu nennen. Und auch den Ton deiner Stimme verbitte ich mir! Und weiter sage ich dir, dieser Böck ist einer, der schon alle Eventualitäten selbst erwägt. Und wenn er erst mal die Sache merkt – er muß sich doch selber sagen: er hat auf der anderen Seite seine Vorteile. Er hat eine so verwendbare Kraft, wie mich, für billiges Geld. Ich steigere ihn nicht, ich verlange keine höhere Gage –«

»Du würdest auch schön hinausfliegen, wenn du es tätest!«

Dieses Wort war eines der kühnsten, das Siegmund in seiner Ehe mit Melusine jemals gebraucht. Er bereute es auch sofort, denn er wußte, daß nun Tage der Qual für ihn und wahrscheinlich auch für das Hugochen folgen würden.

Er sah seine düstere Ahnung durchaus bestätigt in der Art, wie Melusine diese unvorsichtigen Worte, die ihrer künstlerischen Ehre zu nahe traten, quittierte. Ihre Stimme war ganz ruhig und kühl – und das war das schlimmste aller denkbaren Zeichen – als sie sagte: »Mein lieber Siegmund, unser großer Goethe hat mal – als ihn ein obskurer Kritiker, sagen wir: von unten ankläffte – in seiner olympischen Art geäußert: »Hätte er mich beurteilen können, wäre ich nicht, was ich bin!«

Mit diesem Goethewort und dem Triumphgefühl, es dem geknickten Siegmund gehörig gegeben und ihm nach olympischem Vorbild schreckliche Dinge nachgesagt zu haben, legte sich Melusine, die vor Jahren viel Blut und heute ein wenig Schlaf verloren hatte, auf die Seite. Schweigend überließ sie dem in sein, in allen Nähten spiegelndes Jackett schlüpfenden Siegmund den Anblick ihrer plastisch bemerkenswerten Kehrseite, die von der roten Wolldecke eher betont als gemildert wurde. Und die Überzeugung, daß er in dieser unliebsamen Morgenunterredung durch eine voreilige Wendung mal wieder den Kürzeren gezogen hatte.

Leise, auf den Zehenspitzen, betrübt über das Knarren seiner Stiefel, das ihm vielleicht wieder als beabsichtigte Böswilligkeit ausgelegt wurde, schlich Siegmund zunächst in das Kämmerchen nebenan.

Das Hugochen, das da in dem billigen Gitterbettchen lag, hatte sonst nicht viel von seiner Mutter Eigenschaften, wohl aber ihren Schlaf geerbt. Aber die Reinheit seiner kindlichen Züge bewies, daß dem Bübchen alle unedlen Gedanken, zuzüglich des solche leicht erzeugenden künstlerischen Ehrgeizes, fern lagen. In seinem festgeschlossenen Händchen hielt er den lustigen kleinen Wollesel, der ein letztes Geschenk der scheidenden Klara gewesen war.

Siegmund strich dem Bübchen über die hübschen, in der Morgensonne glänzenden goldenen Haare und zog ihm das etwas tief gerutschte Leinentuch wieder bis zur Schulter hinauf. Dann öffnete er für eine Minute das kleine Fenster, um etwas Morgenluft hereinzulassen, schüttete das in der Nacht benutzte Töpfchen über dem Eimer aus und stellte das gereinigte Gefäß leise für etwaige Bedürfnisse wieder an seinen Platz. Legte einen kleinen klebrigen Malzbonbon, den er noch in seiner Tasche gefunden und aus dem Stanniol gewickelt hatte, auf das Kopfkissen, dicht an das zu friedlichem Atem geöffnete Mäulchen; dann schlich er auf den Zehenspitzen zur Küche, den Kaffee für sich und das Hugochen und den Kakao, den er bei Äpfeln und Zwiebeln in der Stiefelkammer gefunden, für Melusine zu bereiten. Betrübt dachte er, während er die zwischen die Beine geklemmte Kaffeemühle bediente, das Gas ansteckte, die Milch aufsetzte und den Kakao anrührte, daß nun wieder diese unsympathische Unterredung mit seiner schrecklich erwachten Gattin ihm die Zeit geraubt hatte, rasch noch auf dem Postamt nachzufragen. Dort lag sicher ein postlagernder Brief für ihn unter der Chiffre »S. K. 100«. Ein Brief von Klara, den er unter der Chiffre »K. K. 100« dann heimlich an das Postamt in der Marburger Straße beantwortete. Drei solcher Briefe hatte er schon geholt, gelesen, vernichtet und beantwortet. In allen dreien schrieb das Mädel lieb und zärtlich und besorgt. Von Melusine kein Wort, aber viel vom Hugochen. In keinem beantwortete sie aber seine Frage, wo sie denn eigentlich Unterkunft gefunden, was sie treibe oder beabsichtige.

Jetzt nach dieser widerlichen Aussprache mit der bereits wieder im Schlaf röchelnden Melusine war es Siegmund fast lieb, daß er direkt ins Büro fahren mußte und ihm keine Zeit mehr blieb, den Umweg über das Postamt zu machen. Denn mit einem Brief Klaras in der Tasche hätte er vielleicht den Mut nicht gefunden, die Freikarten zu buchen.

O Gott, wenn er doch nie auf den gräßlichen Gedanken gekommen wäre, der nun die Kette um seine gequälte Seele legte! Jene böse Kette, deren Schlüssel und Ende Melusine in ihren gepuderten dicken Händen hielt.

Aber da war's ihm, als ob er, über die Tasse mit schwarzem ungezuckerten Malzkaffee hinwegschauend, in der Luft vor sich, in der goldenen Morgenfrühe draußen vor dem Fenster, ein ganz zartes Frauenköpfchen gewahrte, das freischwebend zu ihm hereinschaute. Ein leidensblasses Frauenköpfchen, das er Wochen und Wochen nur noch reglos ruhend von Kissen umrahmt gesehen hatte, wenn er ängstlich und müde heimkehrte vom Dienst. Und in dieses Köpfchen kam jetzt Blut und Farbe, und es lächelte, als wollte es sagen: »Die Schwester Martha, die du mir so lieb besorgt hast, hatte so gute, so verständige, hilfreiche Hände. Ich bin so sanft gestorben mit Dank für sie und mit Liebe für dich und unser Mädel.«

Da trank Siegmund seinen schwarzen Malzkaffee Schlückchen für Schlückchen aus und dachte: Und wenn ich tausendmal unrecht getan habe, ich kann nicht bereuen, ich kann nicht!

Dann nahm er seinen Lodenmantel vom Haken und seinen alten Hut und sagte leise, zur Treppe sich wendend, vor sich hin: »Damals nicht, Siegmund – aber heute – aber heute . . .? Und das alles – wofür!«

* * *


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