Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Rudolf Presber

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Ilia war von ihrer Reise zurückgekommen. Im ganzen war sie knapp zwei Tage weggewesen.

Sie hatte den Herzog, blaß im Lehnstuhl sitzend, in dem reich mit Geweihen und ausgestopften Raubvögeln geschmückten Jagdzimmer seines Schlößchens vorgefunden, den düsteren Blick gerichtet auf den gewaltigen Kopfschmuck eines Achtzehnenders, den im Vorjahre sein Förster und nicht er geschossen.

Die Hoheit hatte gerade am Morgen dieses Tages den durch anderthalb Jahrzehnte gewohnten Arzt hinausgeworfen, weil er ironische Zweifel geäußert hatte an der Kunst der Berliner »Seherin«, deren mit Unruhe erwartete nahe Ankunft ihm durch Indiskretionen eines Lakaien bekannt geworden. Nach dieser anstrengenden Lebensäußerung war der hohe Herr in dumpfes Brüten verfallen.

Ilia hatte auf der Hinfahrt mit einem gewissen Glück, das ihre Unternehmungen meist begünstigte, scheinbar interessevoll einen Roman lesend, das Wesentlichste eines von zwei Herren geführten Gesprächs belauscht. Die Unterhaltung drehte sich, wie sie bald erkannte, um den Herzog, der als solcher nicht genannt wurde, und um seine unstandesgemäße Liebe. Aus Rede und Gegenrede ging hervor, daß irgendein naher Verwandter, Vater, Onkel oder Vormund der Erzieherin der Prinzessin in dem Städtchen gewesen war und die schöne Beatrice, ohne den kranken Herzog zu sprechen, einfach, und zwar in einem Verkehrsflugzeug, mit heimgenommen hatte. Den einen der beiden Fahrtgenossen, die von einer Weinprobe kamen und entsprechend laut und unbekümmert redeten, stellte Ilia unschwer als den Besitzer des Gasthofes fest, in dem der Verwandte, Vater, Onkel oder Vormund während seines Aufenthaltes wohl gewohnt hatte.

Als Ilia nicht ohne Stolz dem Wagen entstieg, den ihr der fürsorgliche Herzog an die Bahn geschickt hatte, wurde sie sofort – das war wohl eine listige Vorsichtsmaßregel des hohen Herrn, damit sie keinesfalls irgendwie »informiert« wurde – noch im Reisekleid zu dem Patienten gebeten.

So hatte sie Gelegenheit, gleich unmittelbar nach der ersten Begrüßung eine neue, ganz erstaunliche Probe ihrer geheimnisvollen Kunst zu geben. Sie äußerte, während der Herzog vorgebeugt in seinem Krankenstuhl mit großen Augen an ihren Lippen hing, sie vermöge gerade heute – bei den üblen Witterungsverhältnissen und nach den Anstrengungen der Fahrt, die sie ganz allein im Kupee zurückgelegt habe – leider nur etwa eine knappe Meile weit mit geschlossenen Augen zu sehen. Aber in diesem Umkreis, das müsse sie leider bekennen, vermöge sie nicht unter den vielen Frauen, die ihre Augen in respektvoller Neugier oder in heimlicher Zärtlichkeit nach dem Jagdschloß Seiner Hoheit gerichtet hätten – hier erhellte ein geschmeicheltes Lächeln flüchtig das Antlitz des leidenden Fürsten – das Gesicht der ihr persönlich unbekannten Frau zu erspähen, nach der das Herz des Herzogs, wie sie wohl fühle, in heißer Neigung sich sehne. Wohl aber höre sie jetzt Schritte leichter und jugendlicher Füße von elastischem Sohlenschlag, die über eine mit schweren Persern belegte Treppe zu eilen schienen. Sie habe den Eindruck, daß eine froh oder reuig Heimkehrende – nein doch, so könne sie nicht sagen, denn die Dame sei hier nicht eigentlich zu Hause – also daß eine Zurückkehrende in naher Zukunft den Herzog suchen werde.

Dann hatte sie mit leisem, sicherm Griff die Hand des Herzogs, die locker auf seinem spitzen Knie lag, aufgenommen. Diese Extremität war wohltemperiert, wie die Hand eines gesunden Menschen das sein soll. Nur wies sie, wie Ilias tastender Finger das unschwer spürte, einen etwas beschleunigten Puls auf. Ilia konstatierte mit leichtem Erstaunen eine kleine überraschende Veränderung der Linien in diesem höchst verwirrten Handinnern, das sie von früheren Besuchen und Lesekünsten genau kannte. Die Deutung für diese Erscheinung wäre nach den Regeln der indischen Geheimlehre, wie sie sagte, durchaus nicht schwer. Der Herzog habe – dem tief in ihm lebenden Willen zum Glück fast mit Widerstreben folgend – beinahe schon einen Entschluß gefaßt, der ihm mit der Gesundheit des zu langem Leben berechtigten Körpers die heitere Ruhe der Seele wiedergeben würde, wenn er ihn ausführte. Dieser Entschluß nun sei ihm in den letzten beiden Tagen mit derselben Geschwindigkeit näher gerückt, mit der irgendein Verkehrsmittel, das sie nicht genau zu sehen vermöge, Wagen oder D-Zug oder Flugzeug – das letzte schiene ihr fast bei der Heftigkeit des Pulses das Wahrscheinlichste – die geliebte Frau von ihm entfernt habe. Diese sei übrigens bei ihrer fluchtartigen Abreise, wie sie jetzt sehe, nicht allein gewesen. Soweit sich das in der bereits etwas in die Nebel zurückfliehende Vergangenheit noch feststellen ließ – befand sie sich in Begleitung eines anscheinend älteren, mit einer gewissen Energie auftretenden Herrn. Eines Kavaliers, mit dem die sich entfernende Frau keinerlei erotische Beziehungen, wohl aber eine gewisse Zugehörigkeit des Blutes oder doch der Gewohnheit verbinde. Diesen Mann habe der Herzog – sie vermöge nicht zu sagen: brüskiert, immerhin, vielleicht ohne ihn selbst überhaupt zu sehen oder zu sprechen, nicht mit der sonst seiner Herablassung eignenden herzgewinnenden Freundlichkeit behandelt. Aber der Entschluß, mit dem der hohe Herr jetzt kämpfe oder besser, der jetzt schon alle Bedenken in seinem zunächst widerstrebenden Herzen besiegt habe, werde sich in einer Nachricht an die Adresse der auch bereits von der jungen Prinzessin schwer vermißten Dame auswirken. Eine Nachricht, durch die jene bekannte, dem Herzog eignende mutige Klugheit sofort die ganze Krise zu lösen wisse.

Als Ilia ihre immer noch sehr hübschen Augen, sich scheinbar schwer in der Trophäenumgebung orientierend, wieder aufschlug, hatte der Herzog bereits dem diensttuenden Kammerherrn, der mit einer der ganzen Familie dieses Uradligen eignenden tiefhängenden Unterlippe verblüfft und respektvoll dabeistand, ein Zeichen gegeben. Mit einer Verbeugung kam der Aufgeforderte diensteifrig näher.

Das erste, was Ilia jetzt, aus der außerirdischen Sphäre der Prophetie in die reale Welt der Liebe und der Jagderlebnisse zurückkehrend, wieder vernahm, war ein energisch hervorgestoßenes Wort des Herzogs.

»Mein lieber Herr von Klütz, telegraphieren Sie, bitte, sofort – ich betone: so-fort – an den Vater – ehem – Sie sind ja wohl im Bilde – ich lasse bitten, mit Fräulein Tochter umgehend zurückzukommen! Deuten Sie – diskret, aber verständlich – an, ich sei entschlossen, Fräulein Beatrice – unter Verleihung des meiner morganatischen Gattin zustehenden Titels einer Gräfin Robertsburg zu heiraten. Unsere liebe Frau Endler speist heute abend mit uns. Ich lasse meine Tochter, die Prinzessin Erna, bitten, ebenfalls zur Abendtafel zu erscheinen. Kleiner Abendanzug. Einhalb acht Uhr, wenn ich bitten darf. Danke, mein lieber Herr von Klütz.«

Diese rasche und bis jetzt so glückliche Abwicklung der Angelegenheit hatte Ilia einen hübschen Abend und ein sehr anständiges Honorar eingebracht. Bei der Tafel hatte der befriedigte Herzog, sein Kelchglas erhebend, mit Dank auf die Gesundheit der hellsehenden Frau von Endler getrunken und hatte dann in Aussicht gestellt, daß in allernächster Zeit eine Kusine mütterlicherseits von ihm, eine wenig glücklich verheiratete Reichsgräfin – auf seine Veranlassung – Ilia persönlich in Berlin aufsuchen und in delikater, persönlicher Angelegenheit befragen werde. Ilia hatte dann, nach Aufhebung der Tafel, als sie mit der hübschen, frischen, aber just nicht durch besonders sprühende Geistesgaben ausgezeichneten Prinzessintochter durch die merkwürdige, bilderreiche Gemäldegalerie ging, durch geschickte Fragen über Art, Geistesrichtung, Vergangenheit und Zukunftspläne der angesagten Reichsgräfin so viel herausgefragt, daß sie mit großer Ruhe dem Besuch dieser nach der lieblosen Schilderung der Prinzessin Erna nicht übermäßig sympathischen Dame, die sich eine poetische Ader und ein Leberleiden einbildete, entgegensah.

. . . Dies alles hatte Ilia gleich nach der Heimkehr, beim Tee, von hübschen Lichtbildern des Jagdschlößchens und seines herzoglichen Herrn in Jagduniform und im Tennisanzug unterstützt, ihrer schönen Base erzählt. Hatte ihr auch eine aparte Brosche mit einem geschliffenen Aquamarin – gewissermaßen als Dank und als eine Art Tapferkeitsorden für die Vertretung hier am Kartentische – mitgebracht.

Nun erwartete sie, mit der brennenden Zigarette im Mundwinkel, sich behaglich in den kissenreichen Sessel zurücklehnend, Klaras Bericht über ihre beruflichen Erlebnisse und Erfolge. Davon, daß die zum Empfang ihrer Herrin wie ein Christkindchen geschmückte Berta Babusch vorhin, als sie ihr beim Auspacken des Köfferchens half und in Dankbarkeit die mitgebrachten Seidenstrümpfe in Empfang nahm, in gedrängter Kürze über einiges Nichtige bereits berichtet, sagte Ilia allerdings kein Wort. Denn eine gewisse diplomatische Verschwiegenheit erschien ihr als eine der nicht unverständlichen Grundbedingungen aller Erfolge in ihrem Metier. Besonders in solchen an sich nicht schwierigen Fällen wie dieser.

Und Klara berichtete. Sie erzählte wahrheitsgemäß, wie ihr zunächst sehr wenig wohl gewesen sei bei dieser ganzen Geschichte; und wie es immer wieder der Erinnerung, für wen sie es tue, bedurft habe, sie tapfer bei der Stange zu halten. In diesem Sinne habe sie denn auch Berta Babusch, die sich übrigens vortrefflich bewährt habe, gebeten, etwaige ihr, der Babusch, bekannte Besucher gefälligst an der Tür schon dahin zu informieren, daß »Madame Ilia« leider unpäßlich sei und höflich bitten lasse, in fünf oder sechs Tagen wiederzukommen. Solche Besuche seien – fünf an der Zahl, drei Damen und zwei Herren – dagewesen und, entsprechend belehrt, betrübt wieder abgezogen. Aber alle mit dem glaubwürdigen Versprechen, in fünf bis sechs Tagen wieder zur Stelle zu sein. Berta Babusch habe über diese, von ihr, Klara, nicht gesehenen Besucher übrigens eine gewissenhafte Liste geführt, die sie sicherlich ihrer Herrin vorlegen werde.

Von neuen Klienten aber seien an diesen zwei Nachmittagen nur drei dagewesen. Eine alte Dame, die sich über das Benehmen ihrer Kinder und Enkel sehr beunruhigt gezeigt, denen, wie sie andeutete, ihr kaum allzu fernes Ableben offenbar noch nicht zeitig genug erfolge. In Erinnerung an die Grundlinien der ihr von Ilia gewordenen Belehrungen habe sie, Klara, dieser sehr aufgeregten alten Dame aus der mumienhaften Hand geweissagt, daß sie »sehr alt« werde.

Hier unterbrach Ilia den Bericht, indem sie, ein originell geformtes Wölkchen aus dem Munde entlassend, bemerkte: »Recht so, Kind – eine derartige Prophezeiung hat stets die besten Chancen. Wenn sie nicht erfüllt wird, kann sie von der Klientin selbst nicht mehr nachgeprüft und übelgenommen werden. Und – wie dieser spezielle Fall erweisen wird – die lachenden Erben nehmen selten Veranlassung, solche – gewissermaßen zu ihren Gunsten nicht eingetroffene – Prophezeiung, wenn sie überhaupt davon wissen, anders als mit einer stillen oder lauten Genugtuung über die Unzuverlässigkeit unserer Kunst zu beurteilen. Weiter, bitte!«

Klara fuhr fort zu berichten. Eine junge Frau – angeblich glücklich aber kinderlos verheiratet – war erschienen, um sich Rat zu holen in einer heiklen Frage. Ihr habe der Arzt gesagt, sie sei durchaus gesund und auch fähig, Kinder zu bekommen, die sich ihr Mann – sie sagte rührenderweise immer: »mein lieber Mann –« dringend wünsche. Ihr Gatte aber – der durch zwei uneheliche Kinder leider schon bewiesen habe, daß es an ihm nicht liegt – glaube an die Richtigkeit dieses ärztlichen Attestes nicht. Und da er den Vorwurf, daß er auch heute noch der schuldige Teil sei, von sich abwälzen wolle, so habe sie ihn im Verdacht, daß er das auf eine dritte Probe außerhalb des Hauses und ihrer Ehe ankommen lasse. Nicht aus Zügellosigkeit, sondern bloß, um sich selbst und ihr den Beweis zu liefern, daß seine vorgerückten Jahre seine Fähigkeit, eine legitime Familie zu gründen, durchaus nicht beeinträchtigt hätten. Nun sei ihr aber plötzlich, wie eine Erleuchtung, der Verdacht gekommen, daß schon jene beiden ersten Fälle auf einer die Gutmütigkeit ihres sehr liebenswerten, aber – sie gab es errötend zu – geistig nicht überragenden Mannes ausnützenden unverantwortlichen Täuschung beruhten. Und daß er zu Unrecht die recht lästigen Alimente für einen anderen zahle, der jetzt – angeblich in großzügiger Wallung – die Frau mit den beiden ledigen Kindern geheiratet habe. Sie wünschte nun, daß die Dame mit der silbernen Maske einmal für sie in die Zukunft sehe.

»Nun bin ich aber neugierig!«, Ilia ließ vor Spannung ihre Zigarette ausgehen – »wie da – deine Prophezeiung kann man's ja eigentlich nicht nennen – wie da dein salomonisches Urteil gelautet hat.«

»Ich habe ihr gesagt, in ihren Handlinien stehe – die Karten, die sie befragt wünschte, bestätigten es – stehe die Anwartschaft auf ein nicht gewöhnliches Glück in der Ehe. Wie die Zeiten aber nun einmal geartet seien – und bei den nicht gerade üppigen Verhältnissen, in denen die Besucherin und ihr Gatte, wie sie zugab, lebten, sei dieses Glück – besonders da ihr Mann ja schon außereheliche Verpflichtungen habe – durch Kinder und die Sorgen für solche ernstlich gefährdet. Deshalb – so deutete ich die betreffenden Glückslinien sowohl wie die günstige Lage der Karten – deshalb werde ihr Glück in diesen wirtschaftlich so schweren Zeiten just durch die Kinderlosigkeit solider und dauernder sein. Aber wenn wieder die besseren Jahre kämen, so nähme ich nach Art und Lage der Linien und Karten an, daß sie noch späte Mutterfreuden erleben werde. Worauf sie mich nach einer kleinen Pause errötend fragte: ›Durch meinen Mann?‹ – Was ich ohne Gewissensskrupel nach einem nachprüfenden Blick in Hand und Karten bejahte.«

»Darin hast du durchaus recht getan«, lobte Ilia. »Denn in einer schwachen Stunde sagt sie ihm doch, daß sie bei mir – pardon, bei dir war. Überhaupt – du hast dich einfach großartig aus der Affäre gezogen! Meine Hochachtung! Und der dritte Fall?«

»War minder großartig. Da kam ein Student – er sagte es zwar nicht gleich, aber er hatte zwei noch nicht ganz verheilte Schmisse. Er behauptete, eine Dame der hohen Aristokratie habe ihn geschickt. Die ›Dame‹ hab' ich geglaubt, die ›hohe Aristokratie‹ weniger. Denn seine Manieren verrieten keineswegs den täglichen Umgang mit Leuten, die sich vielleicht kein Vermögen und keine Vorrechte mehr, wohl aber die sicheren Formen des Umgangs aus dem Umsturz gerettet haben.«

»Gut gesagt – gut gesagt! Und wie hast du den wackeren Scholaren mephistophelisch bedient?«

»Er wollte angeblich wissen, ob er das Examen, das medizinische Staatsexamen, wie er sagte, bestehen werde. Ich erinnerte mich deiner sehr nützlichen Winke und drückte zweimal heimlich mit dem Knie, während ich die Hände mit den Karten spielen ließ, auf den Schellenknopf unter dem Tisch. Worauf mich die tüchtige Berta Babusch prompt ›für einen Augenblick‹ in dringender Angelegenheit an die Türe rief. Der wißbegierige Jüngling hatte – nach den gedruckten Vorschriften, die du im Korridor hast annageln lassen – seinen Mantel, Hut und Stock draußen abgelegt. Berta Babusch hatte rasch und gewissenhaft, während ich ihn empfing, die Taschen des Paletots durchsucht und in der Brusttasche in einem Portefeuille neben gleichgültigen Papieren und einigen unanständigen Postkarten zwei Briefe gefunden. Beides adressiert: ›Herrn cand jur –‹ den Namen hab' ich vergessen; aber er klang polnisch aus und war nicht adlig. Die Adressen zeigte mir die Berta mit affenartiger Geschwindigkeit, wies dann auf die polnische Marke des einen Briefes und dann – alles wortlos – mit dem Finger auf den Schlußpassus dieses Briefes, der – in einer schon etwas krakeligen Frauenhand – etwa lautete: ›– so kann ich dir diesmal unmöglich die erbetenen hundert Mark schicken und lege nur fünfzig Mark ein. Warne aber dringend, weder zu spielen oder zu wetten. Du weißt, daß dein armer Vater . . .‹ Das Folgende war in der Eile nicht zu lesen. Darunter stand: ›Unser Häuschen und Garten läßt grüßen. Deine besorgte, dich liebende Mama‹. Diese wertvolle Information hatte höchstens eine halbe Minute gedauert. Ich hatte die Tür hinter mir ein ganz klein wenig offen gelassen und – auch dessen war ich eingedenk! – die Fingerspitzen meiner einen Hand blieben dem Besucher sichtbar. Beim Wiedereintreten sagte ich halblaut, aber doch so, daß er's verstehen mußte, zurücksprechend zu Berta, wiederum deinen wertvollen Winken folgend: ›Sagen Sie, bitte, Seiner Exzellenz, daß ich morgen um fünf Uhr zur Verfügung stehe‹ . . . Das ironische Gesicht, das ich erwartet hatte, feixte meine silberne Maske an, als ich wieder dem Jüngling gegenüber Platz nahm. Ich sagte ruhig: ›Ich bitte um Entschuldigung. Ein für mich wichtiges Telephongespräch.‹ – ›Ich habe gehört‹, lächelte der Jüngling maliziös. ›Sie haben wohl außer mir – lauter Exzellenzen zu Kunden?‹ – ›Nein‹, antwortete ich ruhig, ›die meisten sind gut bürgerlich, wie Sie – auch ziemlich viel Polenabkömmlinge darunter –, was Sie vielleicht interessiert . . . Aber reden wir von Ihren Angelegenheiten!‹«

»Also famos! Das hätt' ich, weiß Gott, nicht besser machen können. Und was hast du ihm prophezeit?«

»Ich habe den Kristall herangezogen, den größeren. Habe längere Zeit mit starren Augen hineingeschaut und dann ein bißchen zögernd gesagt: ›Ich sehe ein Zimmer – es kann in einer Universität sein – viele würdige ältere Herren darin – Gelehrtenköpfe – scheinbar Professoren.‹ – ›Sie meinen eine Klinik?‹ fragte er und sah mich dabei gespannt an. ›Die medizinischen Prüfungen – ich bin Mediziner – finden doch in den Kliniken statt.‹ – Ich wartete ein Weilchen, immer mit dem Kristall beschäftigt, den ich langsam drehte. Dann sagte ich ruhig, aber ohne besondere Betonung: ›Nein, es ist keine Klinik – sondern – nach ihren Gesprächen, die ich undeutlich höre, sind die alten Herren alle Juristen.‹ – Wie ich erwartet hatte, sah ich jetzt in ein sehr verblüfftes Gesicht. – ›Juristen‹, stotterte der Jüngling. ›Ja, aber was sehen Sie noch?‹ – ›Jetzt – treten Sie ein. Sie haben eine weiße Binde um den Hals . . . Der eine alte Herr sieht recht finster nach Ihnen hin. Er erwidert kaum Ihren Gruß‹ – – ›Verdammt noch mal!‹ das kam ganz unbewacht heraus. ›Wie sieht er aus, der alte Ekel?‹ – Innerliche Erregung zitterte aus seiner dringenden Frage. – ›Sie müssen nicht so viel unterbrechen‹, sagte ich, ›jetzt ist er weg.‹«

»Ausgezeichnet – aus–ge–zeich–net! Weiter!«

»›Was können Sie jetzt wahrnehmen?‹ fragte er, schon wesentlich respektvoller, ›ist der alte Herr vielleicht wieder da?‹ – ›Nein‹, sagte ich, ›er kommt auch nicht wieder. Die Herren sind jetzt alle weg. Alle, Sie auch.‹ Nach einer Pause: ›Ich sehe jetzt – eine Dame.‹ – ›Eine junge Dame?‹ fragte er. – ›Nein, eine ältere Dame. Sie sieht Ihnen ein wenig ähnlich, scheint mir‹ – ›Mir – ähnlich?‹ – ›Ja. So um die Augen und . . . sie scheint in einem Häuschen zu wohnen, das in einem Garten liegt, aber – sie denkt an Sie. Und jetzt – jetzt nimmt sie etwas vom Tisch . . . Spielkarten.‹ – ›Spielkarten?‹ – ›Ja.‹ – ›Und was tut sie mit den Spielkarten?‹ – ›Sie betrachtet sie bloß traurig und mir scheint mißbilligend – jetzt, jetzt zerreißt sie die Spielkarten.‹ – – ›Warum denn?‹ – ›Das weiß ich doch nicht. Aber ich fühle das, sie denkt ein wenig, nein, sie denkt nur, während sie das tut, an Sie.‹«

»Also fabelhaft! Fa–bel–haft! Und nun war er erschlagen, was?«

»So erschlagen, daß er vergaß, das Honorar neben die Karten zu legen.«

»Macht nichts, macht nichts!« Ilia rieb sich die Hände. »Der Spaß ist wahrhaftig einen kleinen Verlust wert. Und deinen Triumph beeinträchtigt das durchaus nicht. Du warst doch gewiß sehr stolz, als –«

»Stolz? Nun, eine kleine versteckte Eitelkeit regte sich schon und – jetzt muß ich dir noch ein kleines Geständnis machen.«

»Ein Geständnis? Da bin ich neugierig!«

»Als der Student – er war mir etwas sympathischer geworden, als die posierte, ironische Überlegenheit unter der Wucht meiner Prophezeiung von ihm abfiel – als er schon an der Türe war und sich noch einmal umwandte, nestelte ich, als ob mir da was unbequem sei, hinten an meinem Haarknoten und richtete es so ein – scheinbar zufällig – daß die silberne Maske vom Gesicht herabrutschte. Ein kleiner Schrei des Erstaunens. Er schien sprachlos und . . .«

»›Sieh her und bleibe deiner Sinne Meister!‹ heißt es in der ›Turandot‹.«

»Na, so schlimm war's nicht gleich. Aber er stand wie angewurzelt. Ich glaube, die weiße Perücke saß ganz gut – und meine schwarzen Augenbrauen und die Farben, die ja noch ganz frisch sind – er sah jedenfalls, daß ich nicht so alt und vielleicht auch nicht so häßlich war, wie er befürchtete.«

»Also, du hast einfach bezaubernd in der Perücke ausgesehen, Klara, schon bei unserer Probe neulich! Und es hat mir direkt leid getan, daß die törichte Maske – – Jetzt hat er wohl die Konsultation ausdehnen wollen der edle, wissensdurstige Pole?«

»Er machte allerdings Miene, sich mir wieder zu nähern. Aber ich hatte schon im selben Moment, als ich die Maske rutschen ließ, wieder auf den verborgenen Knopf gedrückt – diesmal dreimal – und Berta Babusch stand schon in der offenen Tür mit dem Mantel des Besuchers bereit. Und die gute Berta hat eine so resolute Art, die Leute hinauszukomplimentieren.«

»Ja, also darin ist die Berta wirklich fabelhaft. Die faßt schon zu, Sie hat da so eine Art höflichen Polizeigriff – und eine Kraft in den Händen, die man der unansehnlichen Person gar nicht zutrauen sollte. Kommt hinzu ihre unerhörte Häßlichkeit, die auf Unbekannte so eine ähnliche Wirkung hat, wie das schlangenumzingelte Haupt der Gorgone Medusa.«

»Jedenfalls – mein letzter Klient war draußen.« Mit einem Lächeln hatte Klara ihren Bericht beendet.

Forschend sah Ilia zu ihr hinüber. »Dein Letzter – Hat dir – sei einmal ganz ehrlich – hat dir die anfangs gefürchtete ›Vertretung‹ nicht ein wenig Spaß gemacht? Mindestens als jeu d'esprit, als Probe auf deine Geistesgegenwart und Kombinationsgabe?«

»Ja, Ilia, wenn ich ehrlich sein soll, du hast nicht ganz unrecht. Es gab besonders im Fall des polnischen Studenten ein paar Momente, wo mir die Überlegenheit über diesen zynischen und arroganten Jüngling, der zusehends immer kleiner und verwirrter wurde, so etwas wie Vergnügen gemacht hat. Aber ich habe auch seltenes Glück gehabt. Daß die – übrigens wie ein Jagdhund dressierte – Berta Babusch gleich ein so ausgezeichnete Winke enthaltendes Schriftstück in dem Paletot finden würde, war ja wirklich nicht vorauszusehen.«

»O doch . . . Etwas, was uns auf den Weg führt, findet die tüchtige Berta immer. Und ein wenig Psychologie tut das übrige. Sieh mal, der Besucher ist gezwungen, fragend und hörend immer auf das glatte Metall meiner blanken Maske zu sehen, oder in das zurechtgemachte, unechte Gelock einer Perücke. Ihm sitzt die Undurchdringlichkeit, sitzt das Rätsel selbst gegenüber. Das war schon, denk' ich, vor vier-, fünftausend Jahren der ganze Erfolg der Sphinx. Du aber siehst sein durch jedes deiner Worte bewegtes Gesicht, das durch Zucken, Farbenwechsel, durch geistige Mitarbeit oder gestrafften Widerstand deinem unbeirrbar lauernden Auge schon verrät, ob du mit deinen behutsam tropfenden Prophezeiungen das Wesentliche streifst, oder ob du auf dem Holzwege bist . . . Wenn du mich mal öfter vertreten willst – natürlich gegen Beteiligung – so wirst du selbst . . .«

»Danke, liebe Ilia«, unterbrach Klara schnell, »einmal war das wirklich ganz interessant. Man muß schließlich alles kennen lernen, wozu man Gelegenheit hat. Und in diesem – ja, wie soll ich sagen, in diesem Kampf mit dem Rätselhaften, in diesem Ringkampf mit einem Unbekannten, dem man doch eigentlich erst entreißen will, was man ihm nachher als ›prophezeit‹ wiedergibt, habe ich schließlich auch ein bißchen vergessen –«

»Was?« Ilia fragte das ruhig. Aber ihre Augen wurden klein, und ihre Züge verloren die Heiterkeit.

»Es laßt sich nicht so recht ausdrücken«, wich Klara aus und stand auf.

Ilia nickte nur. Sie wußte, was Klara meinte. Die Unehrlichkeit dieses seltsamen Berufs, die, im mystischen Mäntelchen, im wesentlichen nur einer disziplinierten Intelligenz über die Leichtgläubigkeit und die Wundersucht seelisch Aufgewühlter oder Verwundeter zu Sieg und Gewinn verhalf, hatte sie abgestoßen.

Das Unausgesprochene lag für den Rest dieses Abends zwischen den beiden Frauen.

Sie saßen beim Abendessen, dem Berta Babusch, die alles Festliche liebte, im Tischschmuck und Menü den Charakter eines bescheidenen »Festmahls« verliehen hatte. Die zwar billigen, aber reich über den Tisch verteilten Blumen, die sonst nicht übliche Nachspeise, der auf eigene Verantwortung von der tüchtigen Berta besorgte Rheinwein, das alles schien mehr die glückliche Heimkehr von einer Polarexpedition zu feiern, als eine nach zwei Tagen geschäftlicher Abwesenheit Heimkehrende zu begrüßen. Berta Babusch selbst aber genoß abends nur gewärmten Kaffee vom Nachmittag, da sie einmal gelesen hatte, daß der Orient daran glaube, die Sultane der Osmanen hätten durch große Portionen dieses Trankes, vor dem Schlaf der Nacht genossen, das sie auszeichnende schöne und vornehme Äußere gewonnen. Auf die Erfüllung dieses hoffentlich nicht nur für Sultane gültigen Naturwunders wartete Berta Babusch nun, obschon sie auch ohnedies ihre monströse Häßlichkeit durchaus übersah und der Ansicht huldigte, daß es nur an ihr und an der Festigkeit ihrer Prinzipien liege, wenn sie noch nicht die Gattin eines soliden Bürgers oder gar die verwöhnte, heimliche Geliebte eines klugen und vornehmen Herrn sei.

Einen Augenblick, als die heimkehrende Ilia mit echter Herzlichkeit in sie gedrungen war, zu erzählen, was alles in ihrer Abwesenheit passiert, war Klara nahe daran gewesen, alles unter der Maske und Perücke Erlebte beiseite zu schieben und das zu erzählen, was ihr selbst wirklich als Erlebtes die Gedanken erfüllt und das Herz hatte höher schlagen lassen. Der Drang eines jungen erwachten Weibes, sich irgendeiner befreundeten Seele mitzuteilen, ein Wort des Staunens, der Mitfreude zu hören, etwas Glückwunschähnliches, und sei's nur einen Händedruck, zu empfangen, war so mächtig in ihr gewesen. Aber in diesem Augenblick war ihr Auge auf die silberne Maske und die weiße Lockenperücke gefallen, die dort unter dickbäuchig prangenden goldenen Buddhas bei den gehäufelten Karten lagen. Und mit einmal kam ihr die ganze theatralische Unechtheit dieses Raumes und des mystischen Geschäfts, dem er diente, so zwingend und ernüchternd zum Bewußtsein, daß all das Neue, Junge, Heiße, Beglückende in ihr wieder scheu und ängstlich in den Winkel des seit ein paar Tagen so unruhigen Herzens zurückfloh.

* * *


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