Rudolf Presber
Die Hexe von Endor
Rudolf Presber

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Die Notwendigkeit, umzuziehen, hatte sich für Veit noch rascher ergeben, als er geahnt und befürchtet hatte.

Der alltägliche Streit des dänischen Ehepaares war eines Abends bös ausgeartet. Die beiden hatten in dem »Vergnügungslokal für die elegante Welt«, das sich etwas ruhmredig »Paradiso« nannte und durch den Höllenspektakel seiner Veranstaltungen im ganzen Westen bekannt war, ihre Nummer »Turteltauben« absolviert. Dann waren sie gegen ein Uhr, schon schrecklich zankend und die Türen werfend, in ihr Zimmer links von Veit heimgekehrt. Auf der anderen Seite ließ sich der hoffnungsvolle Schlagerkomponist noch allerlei Reminiszenzen an jüngst in Paris Gehörtes einfallen. Wenn Veit der dänischen Sprache mächtig gewesen wäre und die Worte verstanden hätte, die sich die beiden Künstler laut genug an die erhitzten Köpfe warfen, so wäre er vielleicht besser vorbereitet gewesen auf das, was sich nun begeben sollte. So aber erschrak er ganz außerordentlich, als er – gerade damit beschäftigt, sich seufzend eine besonders starke Packung Oropax in den Gehörgang zu stopfen – schaudernd vernahm, wie ein, zwei, drei Schüsse im Nebenzimmer fielen.

Fluchen des rabiaten Mannes. Schrille Schreie der bedrohten Frau. Das Klirren von Fensterscheiben. – Veit sprang mit gleichen Füßen aus dem Bett und riß sich die noch warme Hose über die Beine. Tat dies so eilig, daß sich das gewölbte Gesäßteil vorn befand und die fieberhaft suchenden Hände umsonst hinter dem Rücken die Hosenträger zu erhaschen trachteten, die er beim Ausziehen stets an den hinteren Knöpfen des Bundes befestigt ließ. Der Anordnung der Garderobe nicht weiter achtend, stürzte er in höchster Eile auf den Korridor, um – Angst war nicht seine Sache – ritterlich der vom eifersüchtigen oder verrückt gewordenen Gatten bedrohten Dänin beizustehen.

Auf dem halbdunklen Flur traf er zunächst den wie irrsinnig sich gebärdenden Schlagerkomponisten, einen feisten kleinen Herrn mit wie immer, auch jetzt in seiner tödlichen Angst, ritzeroten Backen. Der tastete sich in einem wattierten gesteppten Schlafrock aus roter chinesischer Seide, auf dem schwarz gelockten Kopf den Fes, ohne den ihm, der an Kopfgrippe litt, nichts einfiel, mit zitternden Händen an der Wand entlang, immerzu stöhnend: »Hier wird geschossen!«

Einen Augenblick zuckte der Gedanke durch Veits Kopf, das sei eine passende Gelegenheit, diesen elenden Kerl, der ihm mit seinen Reminiszenzen so manche Nachtruhe geraubt hatte, einmal »irrtümlich« zu verprügeln. Eine unerwartete, eigentlich ganz erstaunliche Gelegenheit: denn wer hieß den Künstler, wenn er sich vor den Schüssen fürchtete, auf den Korridor laufen? Dann aber siegte in Veits rascher Erwägung die Ritterlichkeit. Er ließ den Tondichter nach der Toilette entweichen, wo er sich hastig einriegelte, und drängte, ohne anzuklopfen, durch die nicht verschlossene Tür in das Zimmer der Dänen.

Hier war es jetzt plötzlich still geworden. Die kleine, ganz hübsche Frau lag in dem sehr unordentlichen Raum halb angekleidet auf dem Diwan. Unverwundet, wie Veit dicht herantretend mit raschem Blick konstatierte. Der Gatte aber, der eine Fensterscheibe, einen Rasierspiegel und eine Biedermeierstanduhr durch seine sinnlosen Schüsse erledigt hatte, war damit beschäftigt, seinen stark blutenden Daumen der linken Hand, in den er sich beim letzten Schuß getroffen hatte, in der Waschkanne zu kühlen.

Auch die anderen Pensionäre waren erschienen. Ein Referendar, der morgen ins Assessorexamen steigen wollte und die Dänen schon heute nacht für seinen nunmehr unvermeidlichen Durchfall verantwortlich machte; und ein altes Fräulein aus Riga, das russischen Sprachunterricht gab und jetzt durch ihre russischen Brocken das Sprachendurcheinander noch vermehrte. Zuletzt die durch bereits genossenen Schlaf keineswegs verschönte Frau Zirbel selbst, der diese »ruhige und solide Pension für In- und Ausländer« gehörte. Alles redete wüst durcheinander.

Irgendwer hatte einen Sipo aus dem zerschossenen Fenster herausgewinkt, der mit wichtiger Miene allerlei Überflüssiges in sein dickes Notizbuch schrieb und nebenher konstatierte, daß eigentlich gar nichts passiert war.

Frau Zirbel, aufgelöst auf einem Stuhl neben dem zweischläfrigen Bett der Dänen sitzend, nahm von sämtlichen Mietern schweigend die Kündigung in Empfang. Nur der Schlagerkomponist blieb in seinem verriegelten sicheren Gewahrsam, wo ihm, wie er am nächsten Tag nicht ohne Stolz erzählte, endlich das lang gesuchte Finale zum zweiten Akt seiner Operette eingefallen war, das er an Ort und Stelle gleich auf etwas unwürdiges Papier skizziert hatte.

Das Unglück für Veit, der unbedingt so rasch wie möglich die gräßliche Unterkunft verlassen wollte, hatte es gefügt, daß Fräulein Butte gerade am nächsten Morgen einen Urlaub von drei Tagen antrat. Das brave Mädchen fuhr nach Köln, um dort die Hochzeit einer Cousine mitzufeiern, die nach fünfjähriger, etwas stürmischer Brautschaft einen um sieben Jahre jüngeren Oberpostsekretär heiratete.

Veit hatte mit seinem Freund Addo telephoniert. Hatte dem Teilnehmenden die Greuel dieser Nacht wahrheitsgetreu geschildert und seinen festen Entschluß mitgeteilt, so rasch wie möglich eine neue Wohnung zu beziehen. Hatte freilich auch seine Unfähigkeit, jetzt selbst eine zu suchen, zugeben müssen, da ihn Fräulein Butte für drei Tage treulos verlassen und er die »Ostseebadestube«, wie er sein Büro nannte, nicht schließen könne. Dieses im Hinblick auf die plötzlich aufgetauchte Möglichkeit, daß sein alter Herr, der im letzten Brief freundliche Andeutungen in dieser Richtung gemacht, ihn just in diesen Tagen besuchen könne.

So übernahm es Addo, der eigentlich an diesem Morgen das Reichspostmuseum und den Funkturm hatte besichtigen wollen, sich für den Freund nach einer besseren Wohnung umzutun.

Schon am späten Nachmittag war Addo persönlich bei Veit erschienen, der gerade hinter der spanischen Wand in der »Ostseebadestube« saß und sich aus verzweifelter Langeweile mit Fräulein Buttes neuem Wildlederchen die Nägel polierte. Mit ehrlicher Genugtuung hatte Addo dem Freunde mitgeteilt, er habe zu seiner Freude eine wirklich schöne kleine Wohnung für ihn gefunden. Und zwar in dem oberen Teil der Uhlandstraße. Im zweiten Stock. Bei offenbar sehr anständigen Leuten. Als Alleinmieter. Ein kleines Schlafzimmer mit erfreulichem Bett, ein größeres Wohnzimmerchen – alles fast genau so, wie es Veit angegeben und gewünscht. Unten keine Kneipe und kein Käseladen, sondern ein »Orientalischer Teppichbasar«, der ungefähr so vom Publikum überlaufen schien, wie das Ostseebadebüro im Winter. Die Zimmer durchaus nicht modern sachlich möbliert, eher etwas altväterlich gemütlich. Ganz nette Bilder. Etwas viel aufregende Historien und entbehrliche Familie. Das könne man ja aber weghängen und ersetzen. Erker, Telephon im Wohnzimmer, Bad nicht direkt am Schlafraum, aber vorhanden und zur Verfügung. Die Fenster nicht nach einem lichtlosen, stinkigen Hof, sondern auf die saubere, mit Bäumen bepflanzte Uhlandstraße. Kein Klavier, kein Opodeldokgeruch. Auch keine alleinstehende Dame. Eine Dame allerdings. Etwas korpulent, etwas von sich eingenommen, anscheinend von der Kunst, wohlgesetzte Worte äußernd und vielfach ihren abwesenden Mann zitierend, der Kassenbeamter in einem ersten Theater sei und sehr auf Ordnung und gute Sitten im Hause zu halten scheine. Kinder? Nein. Wenigstens nicht im Pluralis. Ein ruhiger, etwa fünfjähriger Junge, der ihm gleich als »das Hugochen, ein stilles, gutes Kind«, vorgestellt worden sei, und der dann bei den Verhandlungen über Heizung, Morgenkaffee, Ruhe, Schlüssel und Preis nicht weiter gestört habe.

Veit war dem Freund, der die Aussicht vom Funkturm seinem Wohl geopfert hatte, herzlich dankbar. Als er gerade dabei war, ihm dies mit herzlichen Worten zu versichern, kam ein Telegramm seines Vaters. Obschon es verstümmelt schien, war ihm zu entnehmen, daß der alte Herr den Sohn heute abend »nach Geschäftsschluß« an dem Zug, der aus Süddeutschland komme, auf dem Perron des Anhalter Bahnhofs erwarte.

»Ein Pech, was?« sagte Veit und betrachtete das Telegramm, als ob durch längeres ernstes Anschauen sich angenehme Veränderungen in seinem Text vollziehen könnten.

»Warum? Paßt ja ganz gut.« Addo hatte es gern, wenn sich die Ereignisse, besonders wenn sie einen anderen betrafen und durcheinander wirbelten, ein bißchen jagten. »So kannst du jetzt deinem Herrn Vater gleich deine neue Wohnung zeigen.«

»Die ich selbst noch nicht betreten habe? . . . Nein, das geht nicht. Du kennst meinen alten Herrn nicht. Er ist wirklich ein ganz famoser Kerl. Auch persönlich durchaus kein eigensinniger Kleber am Alten und Überkommenen. Aber merkwürdig, was seine Kinder und sein Personal anbetrifft, ausgesprochener Pedant. Will immer oberste Instanz bleiben, letzte Direktiven geben und vor allen Dingen um Rat gefragt sein.«

»Mein Gott, wenn in dieser Pension ein verrückter Däne plötzlich einen Revolver zieht und auf seine Frau schießt – in den Zeitungen steht übrigens, sie sei gar nicht seine Frau und sie habe zuerst geschossen –, also dann kannst du doch kein Telegramm mit Rückantwort an deinen Vater schicken oder nachts um zwei Uhr ein dringendes Ferngespräch anmelden für die Frage: »Soll ich umziehen – und wohin?«

»Natürlich nicht. Aber glaub' mir, es macht ihm – so ist er nun einmal – einen schlechten Eindruck, wenn ich gerade an dem Tag umziehe, an dem er kommt.«

»Aber du hast doch nicht geschossen! Und du hast doch seine Ankunft nicht bestimmt.«

»Alles nein – und alles richtig. Aber er empfindet das peinlich. Nu stell dich auf den Kopf! Und peinlich empfinden ist schon halb übelnehmen. Aber weißt du, er hat mir ja immer hierher ins Büro geschrieben – nie in die Privatwohnung. Auch so eine Marotte von ihm. So kann ich sagen, ich wohne schon längere Zeit da.«

»Natürlich – und machst heute hier zeitig Schluß, ziehst rasch noch mit deinen zwei, drei Koffern um nach der Uhlandstraße und hast morgen, wenn der hohe Vorgesetzte deine Wohnung besichtigen will, das herrlichste Nest.«

»Schön, schön. Bloß – heute zeitiger hier Schluß machen? Das geht auch nicht. Da kennst du meinen alten Herrn wieder schlecht. Der ist imstande und kommt einen Zug früher, überrascht mich hier oder telephoniert aus dem Hotel, ob ich auch noch bis zur letzten Minute im Dienste bin und –«

»Na, dann ist eben dein Fräulein Butte da.«

»So, die ist da? Siehst du sie? Ich nicht.«

»Ja, ist sie krank?«

»Im Gegenteil. Sie ›feiert‹. Auswärts. Das heißt eigentlich nicht sie. Sie hat wieder eines ihrer üblen Familienfeste. Also was dieses späte Mädchen für eine ereignisreiche Familie hat – du machst dir keinen Begriff! Nein – wie die Dinge liegen – muß ich schon aushalten, bis – aber weißt du – ein Einfall: Du – du hast doch Zeit. Du ziehst mich einfach heute nachmittag um. Die alte Zirbel kennt dich ja. Außerdem bezahlst du ihr den halben Monat noch. Schmeißt einfach meine Sachen in die zwei großen Koffer – die rechts von der Heizung –«

»Na, zwei große Koffer würde ich ja schon finden . . . Aber ich wollte eigentlich heute nachmittag auf den Funkturm, da ich noch kein –«

»Was machst du denn immerzu auf dem Funkturm?«

»Ich war doch noch gar nicht drauf.«

»Na, also! Der läuft dir doch nicht fort, der Funkturm. Und die Aussicht von dort oben – nachmittags soll's übrigens sehr windig sein – die ist ja morgens viel schöner. Überhaupt Berlin in der Morgenbeleuchtung, direkt berühmt! Abgemacht, du ziehst mich um und bist so lieb und fragst die neue Schloßherrin – wie heißt sie denn –?«

»Frau Rendant Kern-Möller – Melusine Kern-Möller. Auf den Vornamen scheint sie sehr stolz zu sein.«

»Kann sie auch. Melusine – wie die berühmte gute Tante – die Idealistin. Weißt du, die da mit Nietzsche und dem Doktor Rée in Sorrent war . . . So sag's doch schon! Herrje, die Freundin von Wagner –«

»Die Meysenbug?«

»Natürlich, wie dies Fräulein von Meysenbug.«

»Die hieß allerdings Malwida, nicht Melusine.«

»So? Na also, dann ist die Frau Kern-Möller noch origineller, als ich gedacht habe. Und die Schlüssel – die Schlüssel, die bist du so gut und –«

»Die Schlüssel hab' ich dir schon mitgebracht.« Addo zog zur größten Verwunderung Veits die Schlüssel an einem Ring aus der Tasche. »Die Dame Melusine meinte, du kommst vielleicht zu einer Zeit, wo sie zufällig mal nicht da ist – sie spielt Theater, glaub' ich – spielt auch ein bißchen, wenn sie nicht spielt, scheint mir.«

»Ich verstehe. Ich komme mir ganz geborgen vor und bin nun außerordentlich neugierig auf meinen neuen Wigwam, den ich deiner Güte verdanke. Also, Addo, wenn du dir später mal ein Schloß kaufen willst, bin ich gern bereit – nur gegen Erstattung der Reisekosten – ein paar Monate für dich am Rhein, an der Riviera, in Oberitalien, wenn du willst auch in Dalmatien – aber das würde ich dir nicht raten; das ist dort ein bißchen aus der Welt – herumzureisen und dir eines auszusuchen. Eines, in dem ich dann gern mal ein paar Monate zu Besuch absteige. So nobel revanchiere ich mich! . . . Und nun – mach' dich auf, mein Sohn! Hier sind meine Schlüssel – zur Wohnung der Zirbel. Tröste die Gute ein wenig – sie befürchtet immer, daß sie Mittelohrentzündung bekommt – eine Zahnwurzelhautentzündung hat sie schon. Es zog heute nacht so eklig durch die zerschossene Scheibe, und sie hatte leider so wenig an unter dem Pelz ihres Seeligen, den sie immer trägt, wenn sie über den hundekalten Korridor geht.«

* * *


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