Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Der Einsame

Traurige Pilgerschaft

Pero stieg die steile Treppe empor, die aus dem großen, den Passagieren als Speisesaal dienenden Achterraum des Schiffes auf Deck führte. Es war ein Raddampfer des österreichischen Lloyd, ein neueres, schnelles Schiff, und Pero hatte es gewählt, um nicht zu viel Zeit mit der Fahrt nach Zara zu verlieren.

Seit er am Tag zuvor Motta verlassen hatte, war seine Trauer durch die wechselnden Eindrücke der bunten Reisebilder nicht überdämpft, sondern neu angefacht worden. In den letzten Tagen von Motta hatten die Gewöhnung des Alltags und das im Unterbewußtsein waltende Streben der menschlichen Natur, das Böse und Tödliche zu überwinden und wieder in eine dem gesunden Sein zugewandte Bahn einzumünden, ihm zu einem leidlichen Gleichgewicht verholfen. Nun aber, da er stark pulsendes Leben, vielerlei Menschengesichter und den gewaltigen Atem der strahlenden Meerwelt auf sich einwirken lassen mußte, empfand er den Gegensatz zwischen der jammervollen Zertrümmerung seines eigenen Daseins und der leuchtenden Unversehrtheit von Himmel und Meer sowie dem lebhaften Menschengetriebe, an dessen Oberfläche nur das Bunte, Laute und Frohe wahrzunehmen war, um so bitterer und unheilbarer. Er begriff mit einem Male den Instinkt, der Menschen und Tiere dahinbringt, sich im Leiden zu verkriechen. Er verstand, daß ein Schmerz, der durch »Zerstreuung« gemildert werden kann, ein bescheidener, lockerer und untiefer Schmerz ist, daß der seine jedoch ein festgegründetes Felsengebirge war, fortan aus der Landschaft seines Lebens nimmermehr wegzudenken, eine neue, steinige Welt, in der zu wohnen ihm Schicksal geworden war.

Er schritt langsam und mit tief in sich gekehrtem Gesicht die Reeling entlang. Die Balken, auf die er seine 366 Füße setzte, waren noch naß vom morgendlichen Deckwaschen, die meisten der Passagiere befanden sich unten, frühstückten oder richteten sich für eine längere Reise in ihren Kabinen ein. Der Golf von Triest, dieser weite und zauberblaue Bogen, der in hauchfeinem Morgendunst dalag, war durchfahren, nun glitt die istrische Küste in zarten und fahlen Pastellfarben an ihm vorbei. Er sah hochsommerliche Wiesen und Getreidefelder im Winde wogen, er sah Bäume in jenem stillen Graugrün, das die Vegetation des Mittelmeeres kennzeichnet und das ihm von Dalmatien her vertraut war, ihre Kronen ins Licht halten. Ganz sacht sah er das Land von der Küste ansteigen, und er sah weit rückwärts in blauer Ferne den Monte Maggiore, in dem all dieser leise Anstieg gegipfelt hatte, das Blickfeld majestätisch beherrschen.

Rastlos wanderte Pero auf und nieder. Er sah den weißen Kiessand verborgener Buchten herleuchten und verschwinden, hochgebaute Hafenstädte mit ragendem Dom und wimmelnder Reede wurden angelaufen und rasch wieder verlassen. Breite Fischerbarken mit rostrotem oder braunem Segel glitten zwischen der Küste und dem schnellfahrenden, wellenaufwühlenden Dampfschiff dahin. Man konnte sehen, wie die Fischer im Schatten ihrer bunten Segel an den Tauen hantierten, wie sie an kleinen Feuerchen ärmliche Mahlzeiten kochten und gleichmütig und grußlos zu der schwarzen hohen Deckwand des vorbeirauschenden Riesen emporsahen.

Während er wanderte, begann Pero sich eine Frage zu stellen, die er schon lange in sich hatte pochen fühlen, und die ihm durch das vorgestrige Gespräch mit Miho deutlicher geworden war. Wird all dies Entsetzliche, das ich durchschritten habe, sich nicht im Liede lösen? Werden keine Verse, keine süßen, traurig-seligen Rhythmen aufsteigen aus meiner Qual? Wird, was formlos als ein uferloser Leidenssturm mein Herz durchwütet, nicht Gestalt annehmen, wird es sich nicht einkleiden in das Fleisch und Bein gültigen, endgültigen Wortes? Werde ich nicht singen dürfen, was ich gelitten habe? 367

Pero setzte sich am Bug des Schiffes auf eine Taurolle. Er sah das Meer bis an die Unendlichkeit des Horizontes von Sonne beglänzt hinblauen. Er sah Geschwader von Möwen kreischend und flatternd dem Schiffe folgen. Er sah die zackigen Rückenflossen zweier Delphine immer wieder auftauchen und verschwinden. Er hörte das stets gleiche leise Rollen und Raunen der Wellen an der Schiffswand und das gewalttätige Schaufeln des Rades. Er roch das Salz des Meeres und schmeckte es auf seiner Lippe. Und er hielt ganz still, er hörte fast auf zu leben und horchte tief in sich hinein.

Erklang keine Stimme? Läutete kein Lied herauf aus den Abgründen geheimnisvoller, kaum bewußter Tiefe? Griff nicht jene dunkle Hand, die er seit seinen Jünglingstagen kannte und erschauernd liebte, nach seinem Herzen, es zusammenzudrücken zu neuer Geburtsqual? Entrang sich aus dem unendlichen Meer seiner Heimsuchung kein Eiland der Erfüllung?

Er schwieg und lauschte, versank tief in sich selbst und schwieg. Er schloß die Augen und hielt sein Herz an. Wenn nach so vielem Leid diese Weite und Bläue, dies Gleiten, Rauschen und Raunen, dies Möwenflattern und Segelblähen kein Lied in dir entbinden, Pero, kein Lied, in dem deine beiden Toten auferstehen dürfen, dann bist du kein Dichter mehr. Wenn diese Stunde dich nicht befruchtet, dann bist du auf ewig unfruchtbar geworden . . .

Eine eisige Angst erfaßte ihn. Keine Stimme wurde laut, kein süßer Rhythmus schwebte, noch namenlos, in ihm empor, und nach seinem Herzen faßte keine gewaltige Hand.

Er fühlte seine Seele brachliegen wie eine Steppe, die wilde Herden zertrampelt und siedende Hitze rissig und trocken gemacht haben. »Hier wächst kein Gras mehr«, hörte er sich flüstern. – Er schüttelte den Kopf, stützte die Ellenbogen auf die Knie und die Stirn in die gefalteten Hände. – Es war zuviel für mich. Es hat meine Seele getötet. Ein erträglicher, ein mittelmäßiger Schmerz mag zum Ackermann werden, der den Boden befruchtend 368 aufreißt, dieses mein übergroßes Leid aber war ein Bergsturz, der für immer alles Keimen und Wachsen unmöglich gemacht hat. Ich habe nicht nur meine Frau verloren und Cotia, den Jubel meiner Mannesjahre: nein, noch stärker bin ich gezüchtigt worden, denn ich bin kein Dichter mehr. Keine Bilder steigen vor meinem Auge auf, keine Melodie läutet neu und nie gehört in meinem Ohr; mein Herz ist tot vor Gram, es zittert nicht mehr bang und selig wie einst, wenn ein Lied sich aus der Tiefe unlotbarer Brunnen anmeldete.

Der Dampfer war schon eine Weile zwischen Inseln hingefahren, nun bog er in eine tiefe Bucht ein. Sacht begleiteten zu beiden Seiten graugrüne Küstenhügel das Vorwärtsrauschen des Schiffes, und endlich legte es an der gemauerten Reede einer Hafenstadt an. Aufschauend erblickte Pero mit Staunen ein riesiges, guterhaltenes römisches Amphitheater, das sich nahe der Anlegestelle erhob. Wir müssen in Pola sein, dachte er, rüttelte sich auf und trat an die Reeling. Plötzlich fühlte er sich heftig am Arm gepackt und hörte sich von einer leidenschaftlich erfreuten Stimme angeredet.

»Pero! Bist du's? Welche Freude! Oh, welche unerwartete Freude!«

Pero fand sich nicht sofort zurecht. Er sah ein mageres, bebrilltes, jedoch noch jugendliches Gesicht mit feinen Fältchen um die Schläfen sich zugewandt, und erst nach einigen Sekunden der Verwirrung erkannte er seinen alten Freund August Kaznačić, den Ragusäer Schriftsteller und Arzt. Sein eben noch dunkel umwölktes, vergrämtes Gesicht erhellte sich.

»Kaznaccio! Alter Kaznaccio! Welcher Wind weht dich her? Bist du hier in Pola eingestiegen? Oder wieso habe ich dich bisher nicht gesehen?«

»Wenn du es wissen willst, Pero: ich habe geschlafen. Ich bin die halbe Nacht von Görz nach Triest gefahren und habe mich auf dem Schiff gleich aufs Ohr gelegt. Wohin geht die Reise? Auch nach Ragusa vielleicht?«

»Nein, ich fahre nach Zara, zu den Verwandten 369 meiner Frau.« Pero sagte es leise, er sah voraus, daß er nun die ganze traurige Geschichte würde erzählen müssen und fühlte sich kaum dazu imstande. Doktor Kaznačić fing, wie Pero es vorausgesehen hatte, sofort mit Lebhaftigkeit an, sich nach Pave zu erkundigen. Wie es der Gnädigen und den Kindern gehe? Wieviele Kinder es denn nun eigentlich wären? Und ob sie sich noch alle in Wien aufhielten, wie zur Zeit von Peros letzten Briefen.

»Komm, August!« sagte Pero und zog den Freund zu der Taurolle hin. »Setzen wir uns hierher. Da sollst du hören, was bei mir von Heim und Familie noch übrig ist.«

In Motta waren es stets die anderen gewesen, die erzählt hatten; nun war es zum ersten Male an ihm, einem Menschen die furchtbare Geschichte von dem doppelten Tod und von Paves rätselhaftem Verschweigen, von seiner eigenen Ahnungslosigkeit und von der grauenhaften Verlassenheit, in der er nun zurückgeblieben war, mitzuteilen. Die Worte, die er gebrauchte, waren noch neu und unabgenützt, lebendige Abbilder seines immer neuen Schmerzes, und scharf und schaurig trafen sie den Freund ins Herz.

Kaznačić war niedergeschmettert. Tränen liefen hinter seinen Brillengläsern hinab, er sah entgeistert auf den Freund, dessen unerwarteter Anblick ihn noch vor wenigen Minuten mit so stürmischer Freude erfüllt hatte, und faßte zag und schamhaft nach dessen Hand.

»O Pero, was sind wir Menschen für undurchdringliche Festungen. Als ich dich eben da auf den Molo hinabblicken sah, da habe ich dir nichts, rein nichts von dem Entsetzlichen ansehen können, das dich getroffen hat. Nicht einmal den Trauerflor an deinem Ärmel habe ich bemerkt. Ich habe mich einzig und allein ganz unmäßig gefreut, und nun muß ich so unfaßbar traurige Nachrichten hören!«

»Ich muß dir gestehen, daß ich dich im ersten Augenblick nicht erkannt habe, so verloren habe ich vor mich hingestarrt. Wie lange mag es denn her sein, daß wir einander nicht gesehen haben?« 370

»Seit du im Oktober 1848 zu deiner Hochzeit nach Ragusa gekommen bist.«

»Freilich, seit meiner Hochzeit. Keine sieben Jahre sind es her, und wieviel ist unterdessen geschehen! Ich habe mir eine Familie aufgebaut, von vier Kindern sind mir zwei gestorben und Pave – – –. Du hast es ja gehört. Und unsere jubelnden Hoffnungen für Volk und Vaterland! Was ist uns Kroaten von der herrlichen Erfüllung übriggeblieben, die das Achtundvierzigerjahr uns zu verheißen schien!«

Pero schwieg bitter.

August Kaznačić räusperte sich und brachte zaghaft, den Schmerz des Freundes ehrend, vor: »Uns Dalmatinern geht es besser. Aber freilich, die illyrischen Träume sind dahin.«

Da schien Pero zu erwachen. Er sah den andern mit einem Blick an, der plötzlich flammend geworden war, er faßte ihn heftig am Arm und sagte mit wilder Stimme:

»Nein! Nichts ist dahin. Unsere Ideale bleiben, und jeder hat an seinem Fleck zu arbeiten. Je tiefer die Demütigung, desto unbedingter müssen Liebe und Einsatz eines jeden von uns sein. Und daß eine so herrliche Sache wie unser illyrischer Jugendaufschwung, der mir noch immer im Herzen nachtönt, wie der Jubel von hunderttausend Lerchen hoch oben über dem Land, daß er hat sein dürfen – welches Glück war das! Und wenn ich der treuen Freundschaft gedenke, die uns alle verbunden hat! August, was für eine starke, wahrhafte Brüderlichkeit war doch in dem Agramer Kreis lebendig, und wie hat sie auch die Fernwohnenden, dich, mich und viele, miteinbezogen! Gerade heute, wo ich arm und beraubt dastehe, spüre ich diese Zusammengehörigkeit als ein über alles kostbare Gut!« Er glühte, seine Trauer schien für einen Augenblick gewichen.

Der Dampfer hatte längst die Riva verlassen und fuhr nun, indem er die Stadt, die sich über die Hügel erstreckte und mit kaum fertigen Neubauten in das Land hinauslangte, links ließ, dem Hafenausgang zu. 371

»Schau, wie sie hier hämmern, nieten und bauen!« sagte Kaznačić und wies nach den Hafenanlagen, wo große Gerüste und Kräne sichtbar waren. »Hier soll ja nun der größte Kriegshafen unserer Marine eingerichtet werden!«

»Ein Land für unsere Enkel!« sagte Pero nachdenklich. »Einstweilen scheint noch alles im argen zu liegen, aber hier gibt es viele Möglichkeiten. Jedenfalls ist der Hafen besser als der von Venedig.« Kaznačić sah Pero vorsichtig an. »Was du mir vom Tod deiner Frau erzählst, läßt mich nicht aus. Sie hat dir vom Tod des Kindes nichts geschrieben, und als du an den Unglücksort kamst, wollte man dir das Schreckliche nicht sagen. Das Schicksal wiederholt sich oft. Weißt du, daß wir, meine Carolina und ich, im Sommer Achtundvierzig von Paves Verwandten den Auftrag hatten, ihr deinen Tod mitzuteilen, denn ein Gerücht war nach Ragusa gekommen, du seist bei Mantua gefallen.« Er hielt inne und sah den Freund an.

»Erzähl weiter!« sagte Pero.

»Ich bildete mir ein, es würde leichter sein, ihr die Schreckenskunde im Freien, in einsamer Landschaft mitzuteilen, und obgleich ich damals ein armer Assistenzarzt war, mietete ich einen Wagen, und wir führten deine Braut nach Lapad hinaus. Aber willst du mir glauben, daß ich die schlimme Nachricht nicht über die Lippen gebracht und deine Pave ahnungslos nach Ragusa zurückgeführt habe, wo ein Brief von dir sie erwartete, der freilich alles Böse auslöschte. Wir haben ihr nichts gesagt, und sie hat nie von dem Drohenden erfahren, das an jenem Tage über ihr gehangen hatte.«

»Merkwürdig!« sagte Pero nachdenklich. »Auch ich habe nie von dieser Geschichte gehört. Später, im Dezember, kam ein Gerücht von meinem Tod nach Agram, und Schulek hat, wie du vielleicht weißt, sogar einen Nekrolog über mich in den ›Narodne Novine‹ geschrieben. Daß schon im Sommer derlei Gerüchte umgingen, habe ich nicht gewußt! Aber du hast recht, es ist eigentümlich, wie in dem Erlebnis, das du mir erzählt hast, 372 Paves künftiges Schicksal gewissermaßen mit umgekehrten Vorzeichen vorgebildet erscheint. Doch damals hat noch das Heil über das Unheil siegen dürfen.«

Der Dampfer hatte den Hafen verlassen und durch die schmale Ausfahrt das offene Meer gewonnen. Mit unverändert südlichem Kurs fuhr er der Südspitze der istrischen Halbinsel zu. Eine tiefe Bucht nach der anderen lag da, von eifrigen, nimmermüden Wellen bespült, felsengesäumt, macchiaüberwachsen; lag da, bog sich zurück und verschwand. Noch immer stieg das Land gegen Norden sacht an, sanfte Hügel, von grauer Heide bestanden, wellten sich, ein mächtiger Kirchturm leuchtete weiß aus einem fernen und unsichtbaren Dorf, und immer noch krönte der Monte Maggiore die Landschaft. Sich mehr und mehr verjüngend lief die Halbinsel endlich in eine nadeldünne Spitze aus. Ein Leuchtturm ragte auf winzigem Scoglio, auf dessen schmalem Klippenrand unzählige Möwen rasteten; das bleiche istrische Land blieb zurück, und ein neues Meer öffnete sich nach Osten. Im Süden aber, fernher, dämmerte jenseits des Quarnero und seiner Inseln nun schon Dalmatien herauf.

Die Sonne neigte sich gen Westen, und das Meer war stärker bewegt; Inseln erschienen sanft leuchtend im milderen Licht des Nachmittags, glitten vorbei und versanken.

Immer noch saßen die Freunde am Bug und sahen in das brausende Kielwasser, über dem die Möwen dahinzogen und durch das die Delphine tanzten.

»Verstehst du dieses schreckliche Leben, August?« fragte Pero, nachdem beide lange geschwiegen hatten.

»Wer sollte es uns deuten, wenn nicht du, Pero!« entgegnete Kaznačić, und sein Blick leuchtete dem Freunde so vertrauend entgegen, daß die Wolke für einen Augenblick von dessen Stirn wich und ein Seufzer seine Brust erleichterte . . .

Das kahle, steinern steile Eiland von Sansego schimmerte im Westen, Pero aber sandte den Blick nach Osten, wo hinter der schönbewachsenen Insel Lussin das 373 kroatische Festland sichtbar war. Eine lange, hohe Bergkette mit gleichmäßigem, wenig gegliedertem Kamm dämmerte herüber. »Siehst du den Velebit?« sagte Pero. »Von hier wäre es nicht weit nach Agram.«

Die Freunde wanderten nun auf Deck auf und ab. Plötzlich packte Pero heftig die Hand des Gefährten.

»Glaubst du, daß man einen Toten wiedersehen kann, August?« fragte er leise und heftig.

»Einmal sehen wir uns wohl alle wieder«, sagte der Arzt.

»Das meine ich nicht. Jetzt meine ich, jetzt. Gerufen durch die Kraft der Sehnsucht.«

»An solche Dinge glaube ich nicht«, sagte August Kaznačić leise und entschieden.

»Ich will dir etwas erzählen.« Pero wandte sich flüsternd dem Freunde zu. »Als ich Pave bereits liebte, sehr liebte, aber noch nicht wußte, ob ich jemals in der Lage sein würde, um ihre Hand anzuhalten, saß ich einmal allein in meinem Mietzimmer zu Zara, das im zweiten Stock gelegen war, und arbeitete an meinem Schreibtisch. Plötzlich erfaßte mich eine wütende Sehnsucht nach ihr. Ich wußte mir vor Liebesleid und Verlangen nicht zu helfen, ich stöhnte, schlug die Hände vors Gesicht und rief ihren Namen. Und da, August, stand sie mit einem Mal vor mir. Sie war da, leibhaftig und doch nicht wirklich, nahe und doch nicht greifbar. Sie stand da, ging durchs Zimmer, blickte mich mit einer Sehnsucht an, die gleich stark zu brennen schien wie meine eigene, und entschwand mir wieder. Ich war außer mir, August, denn auf irgendeine Weise war sie dagewesen. Nachher nun erzählte sie mir, daß sie zu jener Stunde unten an meinem Haus vorbeigegangen war und sehnsüchtig meiner gedacht hatte. – Wenn ich sie damals rufen durfte, aus ihrem behüteten Mädchendasein in mein armes Leutnantszimmer, glaubst du nicht, ich könnte sie heute wieder zu mir holen, aus dem Land, wo sie jetzt ist? Glaubst du nicht, daß es möglich sein müßte, August?«

Pero grub seine Finger in den Arm des Freundes, er 374 wandte ihm sein Gesicht mit einem verzehrenden und angstvollen Blick zu, so daß es Kaznačić fröstelte.

»Hole sie zurück, Pero, aber nicht so, wie du es jetzt meinst. Laß sie in neuen Liedern leben, in deinen Versen laß sie auferstehen. Dann lebt sie nicht nur dir, dann lebt sie dem ganzen Volke.«

»Ich kann nichts mehr schreiben. Dieser Schlag hat mich stumm gemacht.« Pero biß sich auf die Lippen und sah auf die Wellen hinaus, die ein blutroter, strahlenloser Sonnenuntergang wie Feuer färbte.

»Dein Mund wird wieder geöffnet werden. Du bist unser Dichter, Pero, wir erwarten alles von dir.«

Wieder sah Kaznačić mit einem Blick voll begeisterten Vertrauens auf den Freund. Dieser entgegnete nichts, er wies nach Westen, wo der riesige, glühende Sonnenball soeben mit seinem untersten Rand in die stahlblauen Wasser tauchte. 375

 


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